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Wohin geht die Reise in der Stadthotellerie?

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«Viele Köche sehen Kräuter und Blumen als praktische Dekoration für ihre Gerichte und gehen nicht in die Tiefe.»

DAVID KRÜGER

Darauf kommen wir noch. Sie sammeln selbst Blumen, Kräuter, Pflanzen auf Wiesen und in Wäldern. Später kreieren Sie daraus Rezepte. Wie kamen Sie eigentlich auf diese Idee?

Ich bin mit der Natur aufgewachsen, da ich viel Zeit bei meinen Grosseltern verbringen durfte, die für ihr Restaurant selbst anbauten und sammelten, so war es für mich eine ganz normale Sache, unsere Natur in die Mahlzeiten einfliessen zu lassen. In meinen Lehrjahren durfte ich unter anderem auch bei Harald Wohlfahrt arbeiten und die Perfektion in der Verarbeitung von Produkten in der 3-Sterne-Küche erlernen. Die Zeit war sehr lehrreich und ich bin sehr dankbar über das Erlernte. Über Jahre hinweg hat es mich nicht mehr losgelassen, diese beiden Welten zusammen zu bringen. So habe ich mich dann entschieden, diesen anderen Weg zu gehen. Menükreationen entstehen in meinen Gedanken bereits beim blossen Riechen oder Schmecken der Urkräuter.

Die meisten Köche verwenden Kräuter und Blumen in ihren Küchen. Worin unterscheiden Sie sich von diesen Kolleginnen und Kollegen?

Ich denke, viele Kolleginnen und Kollegen sehen Kräuter und Blumen als praktische Dekoration für ihre Gerichte und gehen nicht in die Tiefe. Ich dekoriere auch mit Blüten, Wurzeln und Urkräutern, aber der Unterschied ist, dass die Pflanzen ein ge schmacklicher Teil vom Gericht sind und nicht nur Dekoration. Dafür ist es wichtig, sich mit der Pflanze zu beschäftigen, das heisst Inhaltsstoffe der einzelnen Teile analysieren: wie reagieren die Inhaltstoffe auf Wärmeeinwirkung, wie kann man die Aromen konservieren, wie verändert sich die Aromatik der Pflanzen in Bezug auf Jahreszeit und Standort.

Wie wichtig sind für Sie Bio Produkte? Ja, was halten Sie grundsätzlich von «Bio Labels»?

Dazu möchte ich von einem Erlebnis be richten. Um die Organisation eines Grossanlasses zu erlernen, habe ich mich vor einigen Jahren bei einem Messeveranstalter als Koch für einen Anlass angemeldet.

[01] Portrait von mir.

[02] Wildkräuterjalousie, Knoblauchsraukenmousse mit Lammsalami.

[03] Terrine von Alpgeiss mit Rauchspeck, eingelegte Birne, Haferbiskuit und Haselnusskrokant.

[04] Fische von Zuger Fischer.

[05] Portrait von mir im Bach.

[06] Sauerampfergelee & gebackenen Blättern von Gundelrebe & Meringue von Pastinakenwurzel.

Buch-Tipp

Ten Seasons. Kochen mit Urprodukten

David Krüger führt den Lesenden ein in die Geheimnisse des Suchens, Sammelns und Kochens von unverfälschten und seit Jahrhunderten in unseren Gegenden vorkommenden Urprodukten. Dazu gehören Kräuter, Wildfrüchte, die Fische und Krustentiere unserer Gewässer und das Wildfleisch der Wälder, aber auch Honig der Berge und Täler. Mit detaillierten Rezepten und bebilderten Gerichten wird der Leser durch die Zubereitung von mehrgängigen, anspruchsvoll präsentierten Menüs begleitet.

Autor: David Krüger 272 Seiten, 24 × 30 cm, gebunden, Hardcover Mit zahlreichen Abbildungen. ISBN 978-3-03922-115-8

CHF 75.00

Werd Verlag, 2021

An dem Anlass gab es als Vorspeise Nüsslisalat, dieser war aber voller Erde, also nicht oder schlecht gewaschen. Auf meine Beanstandung hin, wurde der Salat nicht etwa gewaschen, sondern der Service angewiesen, bei Reklamationen mit dem Hinweis darauf zu reagieren, dass der Salat Bio sei und zudem aus der Region komme.

In meinen Augen zeigt dies, wie «schwarze Schafe» das Vertrauen von Gästen ausnützen können – und Labels unglaubwürdig gemacht werden können. Ich persönlich gehe gerne auf den Bauernhof in meiner Nähe, da kann ich mir selbst ein Bild machen. Spannender finde ich Labels wie «ProSpecieRare». Die unterstützen meine Küchenphilosophie der unverfälschten Produkteauswahl aus unserem Lebensraum sehr.

Deutschlands Jahrhundertkoch Eckart Witzigmann hat mir in einem Interview gesagt, «Bio» sei nichts anderes als «platte Werbung» für ganz normale Produkte …

Leider sind viele Produkte heute nicht mehr «normale Produkte», in Bezug auf Genetik, Dünger und Inhaltstoffe und deswegen braucht es leider eine Unterscheidung. Ob man es Bio nennen muss oder «normale Produkte», ist am Ende Ansichtssache.

«Der Star in der Küche ist nicht der Koch, sondern immer das Produkt», hat Witzigmann ebenfalls gesagt. Teilen Sie diese Meinung?

Ich mag dieses Zitat sehr, es lehrt dem Koch eine Demut, die wichtig ist, um sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen. Aber schlussendlich braucht es beides, ein sehr gutes Produkt und einen sehr guten Koch, um ein hervorragendes Ergebnis zu erhalten.

Sie haben einige Jahre im Hotel AmbassadorOpera in Zürich gekocht und dort Ihre «Naturküche» lanciert. Wie ist die Küche dort bei den Gästen angekommen?

Die Feedbacks waren sehr gut. Die Naturküche haben wir in Form eines Inspirationsmenüs präsentiert. Die Gäste waren oft überrascht von der geschmacklichen Vielfalt und der grossen Auswahl ➤

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Wer ist David Krüger?

David Krüger hat sich dem Erforschen alter Naturaromen und der Verarbeitung von vergessenen Rohstoffen verschrieben und zeigt, wie nachhaltig und aromatisch das Kochen damit sein kann. Die perfekte Verarbeitung von Produkten erlernte er beim renommierten Küchenchef Harald Wohlfahrt. Die Ausbildung zum Küchenmeister schloss er mit Auszeichnung ab. Er ist Food-Fotograf und Chefreferent in Kochschulen. Seine Urprodukteküche wurde von Gastroführern hervorragend bewertet. David Krüger lebt in Rotkreuz ZG. der Urprodukte, die sie zum Teil aus früheren Kindheitserinnerungen heraus als «nicht essbar» in Erinnerung hatten. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Vogelbeere.

Was tun Sie eigentlich aktuell?

Da ich alle Bilder im Buch selbst fotografiert habe, bilde ich mich im Bereich Fotografie gerade etwas weiter, teste Restaurants, gebe Kochkurse und organisiere Food-Wanderungen, bringe meine Küche als Gast- und Event-Koch in interessierte Hotels – und tüftle am nächsten Buch. Spannend wäre es auch, für ein Kochbuchprojekt eines Gastronomiekollegen zu fotografieren.

Im Werd & Weber Verlag ist im Frühjahr ein Buch von Ihnen erschienen. Warum ein Buch in Zeiten, wo fast alles digital passiert?

Kochen, und dies mit Urprodukten, die ge sucht und gefunden werden wollen, ist in meinen Augen etwas Emotionales. Diese Stimmung habe ich auch durch sorgsam ausgewählte Bilder zu vermitteln versucht. Gleichermassen sind Bücher etwas Emotionales; einen gebundenen Band mit dem Geruch von frisch gedrucktem Papier in den Händen zu halten, über das sorgsam ausgesuchte Material zu streichen und Seite für Seite mit Zeit und Musse seinen Inhalt auf einen einwirken lassen …

Wenn Sie das Buch in wenigen Worten verkaufen müssten, wie würde dieser Werbeslogan lauten?

Es gibt gute Kräuterenzyklopädien und es gibt gute Kochbücher, aber keines verbindet die Themen auf hohem Niveau. «Ten Seasons – Kochen mit Urprodukten» ist nicht nur ein Kochbuch, sondern auch eine Enzyklopädie und ein Bildband, nachhaltig produziert und mit Liebe gestaltet.

Wie bereits erwähnt, In Ihrer Küche geht es um «Agefood». Können Sie mir dieses Konzept kurz erklären?

Hinter Agefood steht der Gedanke einer Küche aus unverfälschten Produkten aus unserem Lebensraum, die schon seit Generationen bei uns vorkommen; schonend verarbeitet, nicht verfremdet, ohne künstliche Inhaltsstoffe, überraschende und emotionale Aromen, mit wertvollen In haltsstoffen und ansprechend präsentiert.

Sind Sie der «Erfinder» dieser «Agefood»Philosophie?

Ja, und ich habe die Kriterien definiert und den Namen gesichert.

Viele Köche setzen derzeit auf vegane und vegetarische Küche. Auch Daniel Humm in New York hat jetzt ein rein veganes Restaurant eröffnet. Ist «Vegan» eine nachhaltige Geschichte oder bloss ein Trend?

Ich bin der Meinung, dass man die Naturküche den Naturköchen überlassen sollte, und die vegane Küche den veganen Köchen, da sie die Produkte und ihre Tätigkeit lieben. Sich vegan zu ernähren, ist nicht nur eine geschmackliche Frage, sondern eine Lebenseinstellung, in der es um das Wohl von anderen Menschen und Tieren geht. Darum ist es für mich nicht nur ein Trend.

Apropos Trends: vegan, vegetarisch, nordisch, molekular. Alles nur kurzfristige Trends – oder verändern diese Kochstile langfristig unsere Küche?

Da ich doch schon etwas länger in der Gastronomie tätig bin, hat mir meine Erfahrung gezeigt, dass aus jedem Trend etwas in unserer Gastrokultur zurückbleibt und die Kochstile beeinflusst. Spannend ist auch, wie alte Trends neu interpretiert werden und so wieder zurückkommen, ähnlich wie in der Mode.

Was halten Sie von den Gastronomieführern GaultMillau und Michelin?

Am Ende ist ein Gastroführer in meinen Augen ein Marketingmittel. Ob der Guide für den jeweiligen Gastronomen relevant ist, entscheidet das Gästesegment.

Aber viele Köche definieren sich über Punkte und Sterne. Wie erklären Sie sich das?

Es steckt sehr viel Arbeit und Passion hinter hochstehender Gastronomie, und Punkte und Sterne sind eine Art Belohnung für das Team. Sterne und Punkte sind immer eine Teamleistung. Kein Koch erbringt die Leistung allein. 

«Die Nähe zur Natur und das Interesse daran muss ein innerer Antrieb sein, und nicht aus gesellschaftlichen Strömungen und Moden heraus entstehen.»

DAVID KRÜGER

«Hotelier»-Porträt: Marcus G. Lindner kocht jetzt im neuen Design-Hotel «Bergwelt» in Grindelwald

Wie lautet Marcus Lindners neue Küchenphilosophie?

Er ist ein Star am Herd. Er blickt auf eine über 30-jährige Karriere als Top-Koch und Küchenchef zurück: Jetzt kocht Marcus G. Lindner

im soeben eröffneten Designhotel «Bergwelt» in Grindelwald. Was tut

er dort? Wie lautet sein neues Küchenkonzept?

TEXT Daniela Dambach BILDER Anja Zurbrügg

Irgendwo in Wien. Irgendwann vor fünfzig Jahren. Aus der Küche klappert es rhythmisch, sodass nur noch ein Refrain fehlt, um daraus ein Kinderlied abzuleiten. Kurz darauf stellt die topfbehandschuhte Mutter den Schmaus auf den Mittagstisch, an dessen Kante sich hungrige Mägen drücken. Die herzhaften Düfte von Schmorbraten und Käsespätzle entweichen schon während des Schöpfens von der Holzkelle und steigen dem Sohn in die gewunderige Nase; als würden sie ihm in den Kopf setzen wollen: «werde Koch». Die frühste kulinarische Erinnerung von Marcus G. Lindner – und nicht zuletzt der Auslöser, den Beruf des Kochs zu erlernen, – ist die traditionelle, österreichische Küche seiner Mutter – der frottierende Duft von Daheimsein. «Schon damals warnte man mich vor, der Kochberuf sei kein Zuckerschlecken, gerade deshalb erschien mir dieser umso reizvoller», erinnert sich der 59-Jährige, der seit diesem Sommer schmorend, grillierend oder dämpfend Düfte in die gebirgige Gegend entlässt: er ist der Küchenchef im neuen Designresort «Bergwelt», das eröffnete, als sich im Juni die weissen Pixel des Digitalkalenders zu einer «11» formierten. ➤

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Es sollte nicht das letzte Mal bleiben, dass der Rebell aus ihm emporstach wie die Flamme am Gasbrenner bei noch so flüchtigem Kontakt mit dem lodernden Streichholz. Früher noch mehr als heute, da oftmals marketingkomponierte synthetische Duftflotten die Nasenflügel am olfaktorischen Höhenflug hindern, hatte jeder Ort seinen eigenen Geruch. Denn nimmt die Nase einen Duft auf, analysiert der Riechkolben im Gehirn diesen, um die Information sowohl in das Gedächtnis wie auch das Emotionszentrum weiterzuleiten. Diese verknüpfen sich miteinander, weshalb jeder Duft ein bestimmte Emotion auslöst: Geruch und Gefühl liegen nahe beieinander.

Manchmal, da tritt ein Geruch so unverhofft zu einem Raum herein wie ein alter Kumpan, bei dem man sich längst melden wollte, bis man seine Nummer im Gleichgang mit älter gewordenen Gedächtniszellen vergessen hatte. Mit einem flüchtigen Nu tänzeln dann die unscharfen Szenerien von damals vor dem geistigen Auge. Es ist ein Gefühl von Vertrautheit, selbst wenn das Vergangene weit zurückliegt, übertüncht von der Intensität des Hier und Jetzt. In etwa dieses Gefühl, einen Bekannten wiederzusehen inmitten des Unbekannten, überkommt einen, wenn man die designte, aber keineswegs durchgestylte «Bergwelt Grindelwald» betritt. Allein der Eingangsbereich ist eine Entdeckung für sich: Schieben sich die Glastüren auf, findet man sich in einem Atrium aus Backsteinen wieder, in dem einem ein saurolithartiger, tranchierter Grindelwaldner Marmorfindling zu Füssen liegt. Dem Un bekannten nicht genug, ziehen sogleich geruchlose Nebenschwaden auf, sodass dessen Maserung mystisch verschwimmt. Man kann sich leicht vorstellen, dass in mitten des Schauspiels ein Hubschrauber auftaucht, von dem ein geheimer Agent in noch geheimerer Mission abspringt. Doch der Novembernebel zur Sommerzeit verzieht sich binnen Minuten und gibt die Sicht auf die Felsmassive frei. «Diese Höhe – das sind noch Berge!», kommentiert Marcus G. Lindner im Vorbeihuschen.

«Wir zelebrieren den kleinen Luxus»

Getreu dem gastronomischen Leitmotiv «Seeking the unknown», das durchaus als Titel für einen Agentenfilm taugt, erriecht und ertastet man es,

Versteckwinkel für Versteckwinkel: das Unbekannte. Die Hotelerfinder Luzius Kuchen und Patrik Scherrer haben im Herzen des Gletscherdorfs ein Luxusresort zum Anfassen geschaffen.

Einerseits in Bezug auf den Look; denn die haptisch begehrlichen Materialstrukturen kommen in Zeiten der Dauer-«Bescreenung» einem Manifest «zurück zum Spüren» gleich. Den Spirit der Sehnsuchtswelten von Bergen und Entdeckern fühlt man mit jeder Berührung, welcher die Hände intuitiv nachgehen, wenn sie sich im Gourmetrestaurant dem Samt der Sitzbank oder in der Sauna dem porenlosen Fichtenholz nähern. Der dort befindliche Ruheraum mit Glasfronten, die den Blick in das felsflankierte Draussen freigibt, nennt Luzius Kuchen als einen seiner Lieblingsorte in seinem Luxushotel.

Andererseits in Bezug auf das «Feel»; weil das Gefühl von Geborgenheit die Gäste durchdringen soll, als gehörten sie einem ungezwungenen Club an. Dafür steht auch die Zigarrenlounge «The other Club», be nannt nach dem gleichnamigen Londoner Club, den Sir Winston Churchill nach der erfolgreichen Wetterhornbesteigung gründete. «Wir zelebrieren den kleinen Luxus: small is the new big», beschreibt Luzius Kuchen und meint damit: sich in der Suite gut aufgehoben zu fühlen, statt sich in der quadratmeterprotzigen Weitläufigkeit zu verlieren. Sich in privaten Saunaeinheiten von heuduftendem Dampf schläfrig kosen zu lassen, statt sich vor unerwünschten Blicken schützend das Frottiertuch noch fester um die Hüfte zu binden. ➤

[01] Bekannter Küchenchef: Seinen mediterran-rebellischen Stil verfeinerte Marcus G. Lindner an namhaften gastronomischen Adressen wie dem «Mesa» in Zürich, dem «Hotel Victoria Jungfrau» in Interlaken oder dem «The Alpina» in Gstaad.

[02], [03] Nahbar und naturnah: Marcus G. Lindner pflegt in der «Bergwelt Grindelwald» zwar eine gehobene, aber keine abgehobene Küche, die auf vertrauten, natürlichen Zutaten basiert.

[04] Kunstfertig, aber bodenständig: Trotz seinen 18 GaultMillau-Punkten und zwei Michelin-Sternen empfindet er sich selbst mehr als Handwerker, denn als Künstler.

[05] Schwarzer Trüffel über ein Gemüsegericht.

[06] Kulinarischer Pioniergeist: Zwar ist der Holzkohlegrill für saftige Fleischspezialitäten ein glutvolles Herzstück im «Bergwelt»-Restaurant, doch hat Marcus G. Lindner bereits vor über zehn Jahren Normen umgestossen, indem er Fisch und Fleisch zu Beilagen erklärte.

«Nachhaltigkeit darf kein Aufhänger sein, sondern muss selbstverständlich sein.»

MARCUS G. LINDNER, GOURMETKOCH «Wir definieren Luxus auf der Höhe der Zeit: Weg von goldenen Wasserhähnen und Kronleuchtern, hin zu Privatsphäre und Zeit für sich…», veranschaulicht Luzius Kuchen, der als einstiger Leiter der Hotelklassifikation jährlich an die zweihundert Gasthäuser von innen sah. Durch diese Erfahrungen kam er zum Schluss, dass Ratings oft allzu technisch und starr auf bestimmte Faktoren bezogen sind: «Die Formalitäten sind zu eng – erst dessen Seele macht ein Hotel aus». Um eigene und eigenwillige Visionen der Gastlichkeit nicht nur zu kreieren, sondern selbst zu verwirklichen und zu betreiben, machte er sich selbstständig. Schliesslich tat er sich als «Swiss Design Collection» mit Patrik Scherrer zusammen, dessen Lebenslauf verdeutlicht: Der «Ruf des Unbekannten» kommt nicht von Unbekannten. Patrik Scherrer war unter anderem siebzehn Jahre in Führungsfunktionen im Berner «Kursaal» und «Hotel Allegro» tätig. Der Prozess, Papierflieger zum Pilgerort für weltoffen Entdecker zu entfalten, treibt die Unternehmer an. «Luxus bedeutet auch …:», fügt Patrik Scherrer an, «sich frei bewegen zu können, sich nahe zu sein, was nach dem vergangenen Jahr keine Selbstverständlichkeit mehr ist.»

Gastronomische «Gesetze» brechen

Nahbar ist die Kulinarik an diesem urbanalpinen Inspirationsort: Denn mit seinen 18 GaultMillau-Punkten und zwei Michelin-Sternen pflegt Marcus G. Lindner zwar eine gehobene, aber keine abgehobene Küche. «Damit die Gerichte zugänglich sind, stelle ich mich auf den Gast ein, den es in den Ferien auch mal nach einem saftig-krossen Backhendl oder einem Wiener Schnitzel gelüstet», beschreibt der gebürtige Vorarlberger. Speisen wie diese müsse er nicht neu erfinden, aber gut zubereiten: «Typisch traditionelle Gerichte repräsentieren Kultur und Heimat, wieso sollte man diese verändern?» Ansonsten scheut Marcus G. Lindner Veränderungen keineswegs – oder man nenne es – absichtliches Abweichen von den ungeschriebenen Gesetzen der Gastronomie. Als erster Spitzenkoch der Schweiz wagte er es, Fleisch und Fisch zu kombinieren, indem er beispielsweise einen Steinbutt auf eine geröstete Kalbshaxe bettete. «Das verstärkt wechselseitig den natürlichen Geschmack», erklärt Marcus G. Lindner, dessen Eigenwilligkeit sich schon während der Lehre in Vorarlberg abzeichnete. Für seinen väterlich strengen Lehrmeister galt er als Rebell: «Ich versuchte stets, nicht genau das zu tun, was er verlangte.»

Kunstvoll, obwohl Optik an dritter Stelle steht

Sein Lehrmeister war seiner Zeit voraus und nahm den wirbligen Jungspund mit an Ausstellungen, die ihm den künstlerischen Zugang zur Kulinarik eröffneten; doch verstehe er sich heute als Handwerker. Wer dies augenschmausend in Anbetracht seiner porzellangerahmten Gemälde nicht nachvollziehen kann, der schaue ihm in der Showküche zu, wie er mit konzentriert versteinerter Miene mit Trüffel und Reibe hantiert und glasierte Jungkarotten aufschichtet. Marcus G. Lindner kreiert seine Rezepturen aus vertrauten Zutaten mit gustatorischer Vorstellungskraft, indem er sich diese im Kopf ausmalt und förmlich im Gaumen schmeckt. Je länger, je mehr ist ihm die Serviertemperatur der Speisen sogar wichtiger als deren Optik und Ge schmack: «Ein zu heisses oder zu laues Gericht macht sowohl den ästhetischen wie auch den geschmacklichen Eindruck zunichte.» Ein antauende Eiskugel? Ein lauwarmes Gulasch? Marcus G. Lindner verwirft die Hände vor dem Kopf. Er bringt jungen Teamkollegen bei, dass ein Teller, auf den sie mit der peinlich präzisen Pinzette Türmchen um Türmchen hinkünsteln, – in einer Dichte, die an die Bauweise von Hongkonger Stadtvierteln erinnert, – niemals in wohltuendem Wärmegrad beim Gast ankommen könne. Auch gibt er sein visionäres Verständnis von vegetarisch-veganer Küche weiter, mit dem er bereits vor mehr als einer Dekade Normen umstiess.

Pionier der vegetarischveganen Küche

Im Gstaader «The Alpina», – nur eine der namhaften gastronomischen Adressen, an denen er seine kulinarische Kunstfertigkeit verfeinerte, – stellte er die Vegetarier in den Vordergrund, indem er Fisch oder Fleisch zur Beilage erklärte. «Ersatz ist der falsche Ansatz; es reicht nicht, etwas Existierendes vegan zu machen, man muss etwas Veganes neu kreieren», so der Spitzenkoch, der selbst selten Fleisch isst und seine Energie aus Hülsenfrüchten oder Rösti zum Frühstück zieht. «Die vegane Küche wird sich etablieren», ist er überzeugt. Für konsequent hielte er es, folglich Bereiche des Herdes oder des Kühlschranks explizit für die vegetarisch-veganen Speisen zu reservieren. «Wenn man dem veganen Gast, der dereinst nicht mehr wegzudenken ist, gerecht werden will, ist ein solcher Systemwechsel zwangsläufig», sagt einer, der wohl die Zukunft zu wittern vermag.

Seine eigene Zukunft als Gastgeber be ginnt gerade in der «Bergwelt», deren Eröffnung er gelassen entgegenblickte. Durch die Erfahrung habe er eine gewisse innere Ruhe erlangt, sodass sein Nervenkostüm nicht so schnell knittert. «Aber ganz tief in mir rebelliert es schon noch», lacht er, «sehr sogar». Noch durchströmt ein Neugeruch das Nobelresort, was sich bald ändern wird, wie Luzius Kuchen umschreibt: «Ich freue mich darauf, wenn das Hotel riecht wie ein Hotel: nach Holzkohlegrill, nach Kerzen, nach Zigarren und nach verschiedenen Kulturen.» Irgendwo. Irgendwann. Die Ge rüche von Badewasser, Bergluft und Backhendl wecken Erinnerungen. Schliesslich hat man diese nicht nur im Gedächtnis abgespeichert, sondern auch im Emotionszentrum. Und zwar in der Abteilung: sich geborgen fühlen. 

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«Der wahre Luxus von heute ist nicht Prunk, sondern Privatsphäre.»

LUZIUS KUCHEN, HOTELENTWICKLER

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Maximilien von Reden über die Erfolgsstory des Wiener Schnitzels im Hotel Schweizerhof Bern

Verraten Sie uns Ihr Schnitzel-Rezept, Herr von Reden?

Das beste Wiener Schnitzel der Schweiz gibt es laut Gault & Millau in der Jack’s Brasserie im Hotel Schweizerhof in Bern. Hier steht das Schnitzel schon seit über 50 Jahren

auf der Karte. Es war das Lieblingsessen des ehemaligen Schweizerhof-Besitzers Jack Gauer. Pro Tag werden im Durchschnitt 52 Schnitzel serviert. Die Schweizerhof-Küche

«produziert» jährlich über 20 000 Wiener Schnitzel. Ein Gespräch mit Schweizerhof-Direktor

Maximilian von Reden.

INTERVIEW Hans R. Amrein

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