3 minute read

Der Nachtwächter von Rostock Rainer Schwieger

Warum gehen Sie gerade diese Route zwischen St. Petrikirche und Neuem Markt? Oder ändern sich ihre Wege auch?

Das ist meine klassische Erlebnisführung. Sie dauert etwa anderthalb Stunden. Selbstverständlich sind private Bitten möglich. Ich hole die Gäste auf Wunsch auch vom Hotel, Restaurant, von der Kneipe oder wo auch immer ab oder begleite sie am Schluss der Führung dorthin, natürlich in schwarzem Umhang, mit Hut, Hellebarde, Laterne und Signalhorn.

Advertisement

Woher kamen Ihre am weitesten gereisten Gäste?

Aus Chile, Japan und Neuseeland.

Es gibt sehr viel zum Staunen auf Ihrem Rundgang in der Östlichen Altstadt. Was ist für Ihre Gäste ganz besonders überraschend und faszinierend?

Da wäre das einzige Chronogramm in Rostock über dem Eingang des ehemaligen Pfarrhauses bei der St. Petrikirche zu nennen: Ein Code, wie bei „Illuminati“, ein verblüffendes Zahlenrätsel mit römischen Zahlen, ihrer Wertigkeit nach so gereiht, dass die im Text versteckten Zahlen in der Summe ein Ereignis verraten – den Bau des Hauses 1723. Der Altstädter Born ebenfalls, hier eine Kopie unweit der 2014 gefundenen Fundamente mit freigelegten hölzernen Wasserleitungen, den Piepen. Auch die neuen Wohnungen im Dach über dem Kirchenschiff der St. Nikolaikirche gehören dazu, gebaut in den 1980er Jahren. Und die kuriose Geschichte von Krahnstövers Cola-Nuss-Likör, der Ende des 19.Jahrunderts leider nicht so gefragt war; die Limonade aus dem Extrakt der Cola-Nuss wurde dann woanders entdeckt.

Gibt es eine Lieblingsgeschichte von Ihnen, die Sie uns verraten würden?

Ich muss meine Frage wiederholen. Rainer Schwieger kann auch nachdenklich. Nicht auf jede Frage schießt gleich eine Antwort heraus; auf viele ähnlich lautende in den unzähligen Interviews wohl schon. Aber bei dieser stützt er sich auf den Ellenbogen und schaut wortlos hinaus. Dann, zu mir gewandt: Nein.

Ich erkenne wieder, er liebt alle seine Geschichten. Schon während seiner Nachtwächterführung ein paar Abende zuvor habe ich gesehen, wie seine Leidenschaft mitgerissen hat. Nicht ein Satz war zu viel. Er erzählte von dem verfemten Beruf: Vor 500 Jahren nur eine reine Bürgerpflicht, dann mit regelmäßigem Einkommen von Naturalien wie Bier und Holz bedacht und ab 1821 mit der ersten gedruckten Dienstanweisung. Die zitiert Rainer Schwieger auswendig und in alter Sprache, wie vieles andere auch. Dennoch blieb der Beruf stigmatisiert, weil im Dunkel, ja Schwarz der Nächte ausgeübt. Unheimlich, aber so bitter nötig, um bei hellem Schein in denselben und bei Brandgeruch zu warnen, damit sich ein Feuer nicht durch die Holzhäuserzeilen fressen konnte. Und wenn doch, alsbald gelöscht wurde - notgedrungen, weil Wasser knapp war, sogar auch mit Milch. Rainer Schwieger schafft Bezüge zwischen Vergangenem und Gegenwart, z.B. wenn er nach dem Ausrufen der Zeit von dem damaligen DDR-Nachtjackenviertel erzählt, wo heutzutage sehr gerne gewohnt wird. Seine Gäste lachen viel.

Er spricht jede Altersgruppe an, erklärt die Herkunft und Bedeutung der Straßennamen. Und guckt zwischendurch auch noch über den lokalen Tellerrand: Solche Gaslaternen, wie am Ende unserer Lohgerberstraße, werden noch im Klostergarten in Berlin und in Paris betrieben. Es ist bitterkalt an diesem Sommerabend und windig dazu. Meinen Stift und das Papier muss ich verstauen, um meine Hände dicht in den Jackentaschen zu wärmen, wie alle anderen Gäste es auch tun. Niemand geht früher, alle folgen dem lang und breit wallenden, schwarzen Mantelrock mit der flackernden Laterne bis schlussendlich auf den Neuen Markt. Chapeau, Chapeau auf beiden Seiten!

Was erfreut Sie am meisten an Ihrem Beruf?

Ich liebe die direkte Interaktion. Die Tour erlebe ich jedes Mal anders. Das Wahrnehmen des Miteinanders, das Emotionale.

Sie haben noch andere Arbeitsaufgaben in Ihrem eigenen Unternehmen. Welche sind das?

Die Nachtwächterführungen sind eingebettet in die Rostock-Touristik GmbH, mit der vielfältige touristische Dienstleistungen erbracht werden, wie Stadtrundfahrten, Gästeführungen, Ausflüge organisieren und durchführen, Verkauf von Tickets und Souvenirs. In der St. Petrikirche betreuen wir den Turm mit der Panoramaplattform, die als „Rostocks Höhepunkt“ auch mit dem Lift zu erreichen ist. Das Aufziehen der Astronomischen Uhr in der St. Marienkirche und die dortigen Kirchenführungen mache ich rein privat, aus Leidenschaft, Verantwortungsbewusstsein, aus Liebe zu alten Sachen und der Anerkennung der Leistungen unserer Vorfahren heraus.

Gibt es einen Herzenswunsch von Ihnen? Er schweigt kurz, sucht und sagt:

Gute Frage (was recht anerkennend für mich klingt), bis er mit Nein antwortet und dann doch noch eher sachlich zehn Parkplätze mit E-Ladesäule benennt und dass die Gäste hier weiterhin Urlaub machen können und werden, um seine Dienstleistungen anzunehmen.

Gewissermaßen wachen Sie ja noch immer über unsere Stadt, zumal Sie diese beim Blick aus Ihrer Wohnung im Turm der St. Nikolaikirche in westlicher Richtung voll überschauen können. Empfinden Sie das auch so?

Rainer Schwieger lacht: Nein, nein. Ich kann sehr gut Privates von Beruflichem trennen. Ich spiele die Figur, bin nicht im Auftrag einer Obrigkeit unterwegs. Ich habe es zwar nicht weit bis zu meinem Arbeitsplatz, aber die Zeit der wirklichen Nachtwächter ist vorbei.

Ich denke, es lohnt sich, diesen Mann im Gefolge durch die Östliche Altstadt zu begleiten, ihm zu lauschen, sei es bei einer Familienfeier, einem Klassentreffen oder Betriebsausflug. Er ist der Nachtwächter von Rostock. Und ich wünsche ihm und uns allen, dass diese Leidenschaft bei ihm noch sehr lange anhalten wird, damit wir erfahren, spüren und begreifen können, was kulturelles Erbe wert ist.

Text: Viola Harder

This article is from: