Anästhesie Journal / Journal d'anesthésie 3/2021

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Anästhesie Journal 32 (4) 2021 Praxis

Flüssigkeitstherapie – breit eingesetzt mit gleichem Effekt?

Esther Locatelli, Marcel Rainer und Andrea Burch

Grundinfusionslösungen spielen im stationären sowie im a­ mbulanten Bereich eine zentrale Rolle als Therapiebestandteil von zahlreichen ­medizinischen Interventionen. Sie finden bei unzähligen Patienten täglich Einsatz. In den letzten Jahren konnte anhand diverser ­Studien gezeigt werden, dass klinisch-therapeutische Unterschiede unter den Standardinfusionslösungen – insbesondere zwischen Natriumchlorid(NaCl) und balancierten Vollelektrolyt­lösungen (VELG) vorliegen.

Infusionstherapie stellt eine der fundamentalen Behandlungen zur Aufrechterhaltung des physiologischen Wasser-, Elektrolyt-, Blut- und Substratgleichgewichts dar, sowohl während eines stationären Aufenthalts als auch als wichtige Massnahme in kritischen Notfällen. Im Alltag zählen einige Grundinfusionen zu den Trägerlösungen zur parenteralen Gabe von Medikamenten. Diese transportieren Arzneistoffe in gelöster Form in den Blutkreislauf. Jedoch eignen sich viele Grundinfusionen nicht als Trägerlösung, da sie zu Inkompatibilitäten zwischen Grundinfusion und Arzneistoff führen können. Bis vor Kurzem wurden NaCl-Lösungen 0.9 % als erste Wahl zur Flüssigkeitstherapie angesehen. Jedoch wurde in den letzten Jahrzenten in der Literatur vermehrt beschrieben, dass sich der exklusive Einsatz von NaCl-Lösungen negativ auf das klinische Outcome von bestimmten Patientengruppen wie kritisch-kranken Patienten auswirken kann (1). Es wurden unerwünschte Arzneimittelwirkungen wie hyperchlorämische metabolische Azidose, akutes Nierenversagen sowie eine erhöhte Mortalität beobachtet (1, 2, 3). Das Auftreten einer Hyperchlorä-

mie dürfte ebenfalls zu extra-­ renalen Komplikationen führen (4):  Ödem der Darmschleimhaut  veränderte Heilung einer IleumAnastomose  höherer intraoperativer Blutverlust  höherer Transfusionsbedarf Was sind Alternativen zu NaCl-Lösungen? Trotz dieser Evidenz und des etablierten Stellenwerts der Flüssigkeitstherapie in der Allgemein-, Intensivmedizin, Anästhesiologie und Anästhesiepflege, scheint immer noch eine Tendenz zur Verabreichung von NaCl-Lösungen vorzuherrschen. Dies beeinflusst die klinisch-pharmazeutische Therapiequalität insbesondere bei kritisch-kranken Patienten (5, 13). Welche Auswirkungen hat welche Infusionslösung auf die Patienten? Kann die Auswahl der adäquaten Infusionslösung evidenz-basiert nach dem Krankheitsbild des Patienten erfolgen, um eine sicherere Flüssigkeitstherapie sicherzustellen? Dieser Artikel hat sich als Ziel vorgenommen, eine kurze Zusammenstellung der vorhandenen Datenlage beim Einsatz der verschiedenen Lösungen in der Flüssigkeitstherapie zu präsentieren und einige wichtige pharmazeutische Überlegungen aufzuzeigen.

Die Zusammensetzung der ­Infusionslösungen Die Flüssigkeitstherapie ist eine etablierte und häufig notwendige Intervention. Gemäss der Kampagne «Choosing Wisely Switzerland» wird eine restriktive Flüssigkeitsverabreichung als ein Qualitätsindikator betrachtet. Dies gilt vorwiegend bei Patienten mit Kreislaufeinschränkungen (6). In der Vergangenheit stellten 0,9-%-ige NaCl-Lösungen den Goldstandard in der Infusionstherapie dar: Seit der Einführung von balancierten VELG (u. a. Ringerlösungen) in der Infusionstherapie hat sich der Ansatz zur Aufrechterhaltung eines homöostatischen Gleichgewichts aber deutlich verändert. Die Zusammensetzung von VELG ähnelt dem Blutplasma mehr als die der NaClLösungen. Aufgrund eines ähnlichen Elektrolytgehalts und einer ähnlichen Tonizität (isoton) wird deshalb eine physiologisch bessere Verträglichkeit erwartet. Allerdings lagen bis vor kurzem keine substanziellen Daten zum direkten Vergleich des Einflusses der beiden Infusionslösungsgruppen auf die klinischen Outcomes der Patienten vor.


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