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Zwölf Jahre in der Waldorfschule –aus der Sicht einer Schülerin
Anna Brand (Schülerin der 12. Klasse im SJ 2018/2019)
Es ist ein wunderschöner Septembertag, die Sonne scheint, die Vögel zwitschern ihre Morgenlieder, und ich laufe aufgeregt im blauem Kleid durchs Haus, vor Aufregung ganz zappelig: Heute ist mein allererster Schultag!
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Meine beiden älteren Brüder betrachten mich schmunzelnd, als ich unbedingt meine blaue Schultasche auch mitnehmen will… Meine Schultasche habe ich tatsächlich nicht gebraucht, obwohl ich sie „für jeden Fall“ mitgenommen habe.
Als meine Familie und ich im kleinen Festsaal saßen, den LehrerInnen zuhörend, wie sie das „Auf der Erde steh’ ich gern“Lied sangen und schließlich mein Name aufgerufen wurde, mir ein damals so riesig erscheinendes Zwölftklassmädchen eine Sonnenblume in die Hand drückte und mich auf die Bühne stellte… da war meine Aufregung am Höhepunkt. Dass ich aufgeregt auf der Bühne stand, würde nicht mein letztes Mal sein, denn in den folgenden Jahren war ich jedes Jahr mehrere Male auf der Bühne, zuerst als Teil der ganzen Klasse und später ganz alleine als eigene Persönlichkeit.
Zwölf Jahre Waldorfschule kann man sich wie ein Schloss mit zwölf verschlossenen Türen vorstellen, hinter denen verschiedene Aufgaben warten. Einige Höhepunkte, die mir besonders in Erinnerung geblieben sind, will ich kurz erwähnen.
In der dritten Klasse hatten wir Hausbauepoche, wo wir für den Waldorfkindergarten ein Lehmhaus bauten. Ebenso erinnere ich mich auch gerne an die Handwerksepoche, in welcher verschiedene Handwerker (Schuster, Goldschmied, Bäcker etc.) ihre Berufe vorstellten.
In der vierten Klasse umwanderten wir ganz Wien und führten ein Kasperltheater auf, mit selbstgenähten Puppen. Ich erinnere mich noch allzu gut, wie ich ängstlich meine Mutter fragte, als sich das Ende der Unterstufe näherte, ob ich mich im anderem Gebäude, das heißt im Maurer Schlössel, auskennen würde, das mir damals so riesengroß erschien.
In der fünften Klasse übernachteten wir das erste Mal als ganze Klasse ohne Eltern in Schönau. Was für eine Aufregung herrschte auf der Wiese, wo wir unsere Zelte aufbauten und voller Neugierde die anderen SchülerInnen betrachteten, mit denen wir zusammen die Olympischen Spiele beginnen würden.
Unser erstes gemeinsames Theaterstück, Parzival, zeigte uns, dass wir als Klasse zusammenhalten mussten, um so ein Projekt auf die Bühne zu stellen.
Aber auch die verschiedenen Reisen wie zum Beispiel die Fahrradtouren nach Budapest und Basel vereinten unsere Klassengemeinschaft. Gemeinsam machten wir neue Erfahrungen und erlebten viele schöne Momente, an die ich mich gerne zurückerinnere.
Als ich nach der achten Klasse schließlich in die Oberstufe kam, warteten im Schloss nur noch vier verschlossene Türen, und langsam wurde mir bewusst, dass sich das Ende der Schulzeit näherte. Und was dann?
Doch bevor ich mir Sorgen über „und was dann“ machen konnte, warteten verschiedenen Praktika wie Landwirtschafts-, Forst-, Vermessungs-, Sozial- und Wirtschaftspraktikum auf mich. In der Oberstufe wurde auch „richtig“ gelernt.
Ein Schüleraustausch in der zehnten Klasse bewies mir, dass ich kein kleines und ängstliches Kind mehr war. Mein Selbstbewusstsein hatte sich enorm gesteigert.
Selbstbewusstsein und eigene Einschätzung braucht man auch beim Singabend in der elften Klasse, da man alleine einen Song auf der Bühne singen muss.
Jetzt bin ich in der zwölften Klasse; die letzte Türe habe ich im September geöffnet, nahezu alle Herausforderungen gemeistert, und jetzt taucht wieder die Frage auf: „…und was dann?“ Extern maturieren und studieren, das ist die Antwort. Viele Menschen werfen der Waldorfschule vor, dass sie mit dem Schulstoff nahezu ein Jahr zurückhängt. Das stimmt zum Teil auch, aber das, was man in der Waldorfschule lernt und erlebt, und dass die Menschlichkeit an erster Stelle steht, kann keine andere Schule ersetzen.
Den Schulstoff kann man nachlernen, doch die Erfahrungen und die schönen Erinnerungen bleiben für immer.