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Drei Mal Kunst
«Haben Sie auch eine exklusive Création? Speziell für Sie gemalt? Für Sie als EinwohnerIn von Amriswil? Als Kunstliebhaber und Heimatverbundenen?» So stand es auf einem Werbeblatt, das in alle Amriswiler Briefkästen verteilt wurde. Und weiter: «Sichern Sie sich Ihr persönliches Exemplar, eine bleidurchzogene Buntglas-Wappenscheibe für Amriswil, limitierte Auflage.» Die Wappenscheibe zeigt das Schweizerkreuz, die Thurgauer Löwen und den Amriswiler Apfelbaum. Dazu die bedeutsamsten Bauten; das Gemeindehaus oben links und die Kirche, die einen gedrungenen Turm abbekommen hat, unten rechts. Alles bunt verziert mit Blumenranken und wallenden gelben Schleifen. «Dieses unersetzliche Meisterwerk wird Ihrem Wohnraum einen Hauch von Eleganz verleihen», steht bescheiden im Werbetext. Und weiter: «Unter einfallendem Sonnenlicht entfaltet das Buntglasbild Farben von magischem Ausdruck.» Wer könnte da widerstehen?
Gibt es noch weitere heimatverbundene Andenken an Amriswil? Beim Durchwühlen meiner Primarschulzeichnungen habe ich eine Farbstiftkomposition des damals elfjährigen Rolfli gefunden. Vom Naherholungsgebiet Eisweiher. Im Vordergrund der runde Brunnen mit der knienden Mädchenfigur. Sehr unbeholfene Strichführung. Dahinter die grosse, blaue Wasserfläche, lausig ausgemalt. Zwei weisse Kleckse mittendrin erinnern nur sehr entfernt an Schwäne. Aber je länger ich diese Zeichnung ansehe, desto mehr Poesie entdecke ich darin. Schliesslich handelt es sich um eine limitierte Auflage, handsigniert. Ein echter Hess und erst noch ein Frühwerk.
Weder ein Frühwerk noch ein Spätwerk, am ehesten ein ewiges Werk, ist die Fahrbahn unserer Bahnhofstrasse, der «First Street of Amriswil». Sie präsentiert die moderne Kunst am Bau – lustig, vielseitig, grosszügig. Ein Belagsflick nach dem anderen. Ein richtiges Patchwork. Da reihen sich Flecken in allen Grauschattierungen aneinander. Grosse, kleine, ineinandergreifende, der Länge nach oder quer über die ganze Strasse. Besonders frech sind die schiefen Asphaltreparaturen. Und erst die runden, die meistens einen Dolendeckel umgeben und uns wie grosse Augen ansehen. Erstaunlich auch, wie oft mehrere Belagsausbesserun-
gen zeitlich aufeinander folgen. Mit schönen, geraden Rändern oder locker aufgesetzt. Und ganz unten guckt gleich an mehreren Stellen die ehemalige Pflästerung durch. Es ist schon erstaunlich, wie viel Poesie in so einer Strasse steckt. Kunst im Asphalt. Dabei kommt sie doch Tag für Tag unter die Räder. Kein Passant schätzt das aufgelockerte Spiel mit den vielen Schattierungsstufen. Bei der dermassen verkannten Strassenkunst ist die Gefahr doch riesengross, dass plötzlich jemand daherkommt und einen schönen, ebenen, eintönigen Deckbelag darüber zieht. Übrigens, wie viele Belagsausbesserungen findet man auf dieser 500 Meter langen Strasse? Sind es 17 oder 91? Nein, es sind genau 187.
Amriswiler Anzeiger, Marktplatzgeflüster, 7. Oktober 1989
Die Sanierung und umfassende Neugestaltung der Bahnhofstrasse erfolgte 2014.