USZinside 3/2022

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Nr. 3 — 2022

Dossier: Autoimmunerkrankungen 16

«Ich gehe auf die Betroffenen und ihre Anliegen ein.» Esther Stadelmann, Pflegeexpertin MS

Prostatakrebs: Kunst der schonendsten Therapie 10

Der Umgang mit Essen als Krankheit 32


Inhalt 16

Angriff auf den eigenen Körper Wenn das Immunsystem aus dem Gleichgewicht gerät, kann es seine Waffen gegen den eigenen Körper richten. Autoimmunerkrankungen können schwere Verläufe nehmen und müssen meist lebenslang behandelt werden.

4 Der Skidaumen

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28 Kein Standardfall

Ein Fachbegriff einfach erklärt

Wie rheumatoide Arthritis das Leben der Patientin auf den Kopf stellte

7 Qualitätsbericht 2021 online Qualität messen, sichern und so ständig verbessern

8 Der Schockraum Schwerverletzte Patientinnen und Patienten werden hier erstversorgt

Malcolm Kohler

20 Häufiger, als man denkt Eine Auswahl von Autoimmunerkrankungen, kurz vorgestellt

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22 Lupus trifft auch Männer

Prostatakrebs behandeln Unerwünschte Nebenwirkungen vermeiden mit präzisen Diagnosen und innovativen Therapien

Dragan Djukic stand mitten in seiner Fussballkarriere, als die Krankheit ausbrach

#facesofusz Sonia Cardoso empfindet ihren Beruf als anstrengend, aber schön

32 Zentrum für Essstörungen Anorexia athletica, ein Thema auch im Breitensport

34 Allergische Reaktionen 23 Diagnose MS Marc K. erzählt, wie die Behandlung voll angeschlagen hat

11 Aortenoperation Risiko minimieren dank interdisziplinärer Arbeit im Operationssaal

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Was den neuen Ärztlichen Direktor des USZ antreibt und was er anpackt

Die vier Phasen der anaphylaktischen Reaktion

35 Diagnose Demenz 24 Rheumatoide Arthritis Medikamente als Grundpfeiler der Therapie

Abklärung bei ersten Anzeichen einer Erkrankung

36 Das Geisterspital 13 derma2go Telemedizin: Expertise per Mausklick

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26 Wie eine Diagnose erfolgt Manche Autoimmunkrankheiten haben eindeutige Symptome

Einblicke in verlassenen Gebäude, die den Neubauten weichen


Liebe Leserin, lieber Leser

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as Jahr 2023 steht vor der Tür. Ein Jahr, das wiederum viele Veränderungen mit sich bringen wird: Auf dem Areal des USZ wird das ehemalige Dermatologiegebäude rückgebaut, ebenso wie mehrere Pavillons, um Platz für die Neubauten Campus MITTE 1|2 zu schaffen. Das neue Spitalplanungs- und Finanzierungsgesetz tritt in Kraft, und mit ihm ändert das Lohnsystem der Ärzteschaft – und es greifen die neuen Leistungsaufträge des Kantons Zürich.

Gregor Zünd, CEO

Das USZ hat die Leistungsaufträge in allen beantragten Kategorien erhalten. Das ist erfreulich. Ebenfalls sehr erfreulich ist, dass sich die Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich entschieden hat, die Anzahl Traumazentren und Schlaganfallzentren zugunsten des USZ zu reduzieren. Dies dient direkt einer hohen Beha­ndlungs­ qualität für die betroffenen Patientinnen und Patienten. Medizin funktioniert immer als Teamleistung. Besonders augen­ fällig ist dies, wenn die Zeit drängt – wie dies bei Schlaganfall­ patientinnen und -patienten und Schwerverletzten der Fall ist. Jede Minute ist kostbar, um Leben zu retten oder dauerhafte Schädigungen zu verhindern. Das bedeutet aber auch, dass das Spital eine Vielzahl an Spezialistinnen und Spezialisten direkt vor Ort haben muss, damit diese innert Minuten zur Verfügung stehen können. Im Magazin ist dazu eine Illustration zum Schockraum zu finden, der Herzstück und Drehscheibe zur Aufnahme und Erstbehandlung von Schwerstverletzten ist. Die Interdisziplinarität ist aber auch in vielen anderen Fällen ein grosses Plus für die Patientinnen und Patienten. Sie werden in dieser Ausgabe des USZinside einiges über Autoimmunerkrankungen erfahren. In manchen Fällen ist der Weg zur Diagnose kein einfacher – auch hier kommt die Systemleistung eines Universitätsspitals zum Tragen. Und zwar sowohl in Bezug auf die grosse Erfahrung unserer Spezialistinnen und Spezialisten mit komplexen Fällen als auch in Bezug auf die diagnostischen und therapeu‑ tischen Möglichkeiten. Unseren Mitarbeitenden danke ich für ihren täglichen Einsatz zum Wohle unserer Patientinnen und Patienten und wünsche allen eine interessante Lektüre.

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Neue Räume für die Gebärabteilung Die erste Etappe der Erneuerung ist abgeschlossen. Die Mitarbeitenden und die Patientinnen dürfen sich auf einen neuen, modernen Empfangsund Wartebereich sowie auf einen Vorbereitungsraum freuen. Direkt im Anschluss startet die zweite Etappe, in der unter anderem drei Gebär‑ zimmer und das Intensivzimmer saniert werden.

FACHBEGRIFF EINFACH ERKL ÄRT

Was ist eigentlich ein Skidaumen?

Olga Politikou, Oberärztin der Klinik für Plastische Chirurgie und Handchirurgie

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Skidaumen ist der umgangssprachliche Begriff für eine «ulnare Seitenbandruptur». Damit ist eine Verletzung des ellenseitigen Bandes am Daumengrundgelenk gemeint, die durch übermässige seitliche Abspreizung des Daumens entstehen kann, beispielsweise nach einem Sturz auf die Hand. Eine Überdehnung, ein Anriss oder gar ein kompletter Riss des ellenseitigen Bandes kann die Folge sein, was sich durch starke Schwellung und Schmerzen im Bereich, Bluterguss und Druckschmerz bemerkbar macht. Treten solche Symptome auf, sollte man die Hand sofort k ­ ühlen, einen Druckverband anlegen und einen Arzt konsultieren. Die Diagnose erfolgt meist durch Röntgen und Ultraschall. Ohne nennenswerte Instabilität im Daumen kann das überdehnte oder gerissene Band mittels Gips in sechs Wochen stabilisiert werden. Ist die Verletzung hingegen grösser, ist oft ein operativer Eingriff nötig. Nach etwa zwölf Wochen ist die Vollbelastung in den meisten Fällen wieder möglich. Skidaumen heisst die Verletzung, weil sie häufig auftritt, wenn man in der Schlaufe des Skistocks hängenbleibt und dadurch der Daumen beim Sturz nach aussen abgespreizt wird. Allerdings treten Skidaumen bei Weitem nicht nur beim Skifahren auf. Und nicht nur der Daumen ist von dieser Verletzung betroffen: Jeder Finger hat ein Seitenband, das durch übermässige Abspreizung Schaden nehmen kann.


Aktionen des Netzwerks LGBT PLUSZ Seit der Gründung des Netzwerks LGBT PLUSZ am USZ haben alle Mitar­ beitenden die Möglichkeit, sich in einem geschützten Rahmen zu entspre­ chenden Themen auszutauschen. LGBT+ steht für Lesbian (L), Gay (G), Bisexual (B) und Trans (T). Das Plus­ zeichen dient als Platzhalter für alle Geschlechtsidentitäten sowie sexuellen Orientierungen, die sich nicht durch die anderen Buchstaben und Worte ausdrücken lassen. Das Komitee von LGBT PLUSZ besteht aus vier Personen aus den Bereichen HRM, Pflege und Betrieb: Eliane Meyer, Lisa Fuchs, Ramon Müller und Carmen Matter. Gemeinsam mit der Fachstelle Diversity & Inclusion Management unterstützt das Komitee verschiedene Initiativen am USZ. Im Pride-Monat Juni zum Beispiel, in dem Menschen weltweit ihre Unterstützung für die LGBT+-Community zeigen, hat auch das USZ verschiedene Aktionen durchgeführt, Mitarbeitende liefen zum ersten Mal im Namen des USZ an der Zurich Pride mit.

Passend zum Motto der Pride «Trans – Vielfalt leben» wurde für Mitarbeitende ein Netzwerkanlass durchgeführt. Dabei wurde über Möglich­keiten einer noch inklusiveren Unternehmenskultur für die TransCommunity diskutiert, zu der Mitarbei­ tende und Patient*innen gehören. An der Trans Conference im Circle am Flughafen Zürich, die von mehreren

Circle-Unternehmen für ihre Mitarbei­ tenden organisiert wurde, stand das Thema Transgender im Vordergrund. Mit diesen Aktionen steht das USZ für die Vielfalt seiner Mitarbeitenden und Patient*innen ein. Für sein Engage­ ment wurde das USZ bereits mit dem Swiss LGBTI-Label ausgezeichnet.

Frühgeborenenfest Das 9. Frühgeborenenfest, das durch die Neonatologie USZ in Zusammen­ arbeit mit dem Spital Zollikerberg und dem Stadtspital Zürich organisiert wurde, fand am 3. September 2022 statt. Es trafen sich fast 700 Personen in der Heslihalle in Küsnacht, um die Früh­ geborenen zu feiern und Erfahrungen auszutauschen. Ein vielfältiges Pro­ gramm unterhielt Kinder und Eltern bestens, und alle Beteiligten freuen sich bereits auf die nächste Ausgabe.

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Seit Kurzem steht diese topmoderne E-Rikscha am Flughafen Zürich bereit, um unsere Patientinnen und Patienten bequem, fast lautlos und umweltschonend zum USZ Flughafen zu bringen. Ein Transfer kann vorreserviert, aber auch spontan in Anspruch genommen werden.

398 Meter Bauzaun

+41 43 253 20 02 www.usz.ch/transfer

wurden Anfang August rund um das Baufeld für die Neubauten MITTE 1 | 2 errichtet. Dadurch wurde der Perimeter offiziell zu einer Baustelle, und die Vorbereitungsarbeiten konnten gestartet werden.

Physiotherapie bei Autoimmunkrankheiten

Benjamin Diem, Physiotherapeut Therapie Neurologie

Autoimmunkrankheiten haben gemeinsam, dass sie fortschreiten. Die Physiotherapie ist deshalb bei diesen Patientinnen und Patienten nicht auf die Wiederherstellung des Gesundheitszustands wie vor der Krankheit ausgerichtet, sondern darauf, individuell

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den physischen Einschränkungen beim Fortschreiten der Krankheit vorzubeugen, die noch vorhandenen Fähigkeiten wie Kraft und Beweglichkeit zu erhalten und eingetretene Defizite zu kompensieren. Sind beispielsweise durch die Erkrankung die Augenmotorik und die Verarbeitung der visuellen Eindrücke beeinträchtigt, kann dies zu schneller Erschöpfung beim Fokussieren des Blicks und damit zu Schwindel führen. Ein Training von Reaktionsund Gleichgewichtsübungen, der bewusste Umgang mit der noch vorhandenen Energie und die Bewegung der Augenmuskulatur beispielsweise mit mehr Kopfdrehen zu kompensieren, können dem Patienten helfen, weniger rasch zu ermüden und bei Schwindel besser zu reagieren und Stürze zu ver-

meiden – ein Plus an Lebensqualität. Dabei bauen die Therapien nicht nur auf dem Potenzial des Patienten auf. Zentral ist bei beschränkten Möglichkeiten, was dem Patienten wichtig ist und in welche Fähigkeit er seine Energie legen will. Die Physiotherapeutinnen und -therapeuten begleiten viele Betroffene häufig über Jahre hinweg und beraten sie auch beim Umgang mit den körperlichen Veränderungen. Dazu gehört auch die Beratung zu Hilfsmitteln wie einem Rollstuhl oder Anpassungen zu Hause sowie der Einbezug und die Rolle der Angehörigen.


Qualitätsbericht 2021 online Der Qualitätsbericht ist ein wesentliches Element der Transparenz, die das USZ anstrebt. Seit mehr als zehn Jahren erfassen die Kliniken und Institute mit grosser Sorgfalt aussagekräftige Kennzahlen, weisen diese aus und zeigen, mit welchen Interventionen sie Qualität und Patientensicherheit stetig weiterentwickeln. Massnahmen und Daten sind digital und übersichtlich im Online-Qualitätsbericht des USZ dargestellt. Im Fokus «Medizin für alle» führt der Qualitätsbericht zudem Massnahmen auf, die am USZ ergriffen werden, um die gesundheitliche Chancengleichheit zu ermöglichen. CEO Gregor Zünd betont: «Das USZ hat einen vollumfänglichen Leistungsauftrag für alle Patientinnen und Patienten rund um die Uhr. Dies verpflichtet und motiviert uns, ihnen allen unsere teils hochspezialisierte Medizin zukommen zu lassen.» Die Gesundheit der Menschen unterliegt zahlreichen Faktoren. Neben den sozialen, kulturellen und ökono-

mischen Aspekten, dem Alter oder dem Beruf spielen zum Beispiel auch geschlechtsspezifische Faktoren eine Rolle. Im Qualitätsbericht 2021 lesen Sie mehr über den Umgang damit, aber auch über zahlreiche Massnahmen, mit denen besonders vulnerablen Personengruppen begegnet wird. ALLE KENNZAHLEN ONLINE

Den vollständigen Qualitätsbericht mit zahlreichen Beiträgen und den Kennzahlen, die 2021 erhoben wurden, finden Sie online: www.usz-jahresbericht.ch

Traumazentrum Stadt Zürich Die Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich hat bei der Vergabe der Leistungsaufträge für 2023 zwei wichtige Entscheidungen getroffen: Zum einen wurde die Anzahl Zentren für Schlaganfallpatienten auf sieben Standorte reduziert. Die schwersten Fälle sollen immer an eines der beiden hochspezialisierten Stroke Center gebracht werden, das heisst ans USZ oder an die Klinik Hirslanden. Für schwerverletzte Unfallopfer gibt es noch drei Traumazentren: am USZ, am Universitäts-Kinderspital und, für den nördlichen Kantonsteil, am Kantonsspital Winterthur. Traumazentren können schwerstverletzte, akut

lebensbedrohte Patientinnen und Patienten behandeln. Zentrale Eintrittspforte und Drehscheibe ist der sogenannte Schockraum. Von den jährlich rund 800 Schockraumpatienten im USZ ist knapp die Hälfte unfallchirurgisch. Wie alle Schockraumpatienten benötigen auch die Schwerstverletzten sofortige medizinische Hilfe durch eine Vielzahl unterschiedlicher Spezialistinnen und Spezialisten. Die Möglichkeit, umgehend zu operieren oder auf eine Intensivstation zu verlegen, ist ebenfalls entscheidend. Auf den nächsten beiden Seiten erfahren Sie mehr über die Funktion dieser zentralen Einheit.

V E R A N S T A LT U N G E N

Was am USZ läuft, erfahren Sie unter www.usz.ch/veranstaltungen

Öffentliche Vorträge Forum Die Veranstaltungen werden jeweils live auf dem Facebookund dem YouTube-Kanal des USZ übertragen. Dort können sie auch später nachgeschaut werden. Infos zu den öffentlichen Vorträgen unter www.usz.ch/forum

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Der Schockraum Im Schockraum erfolgt die Erstversorgung von lebensbedrohlich erkrankten oder verletzten Patientinnen und Patienten. Fachpersonen aus verschiedenen Disziplinen unternehmen alles, um die Betroffenen so schnell wie möglich zu stabilisieren und deren Leben zu retten. Am USZ können mehrere schwerverletzte und akut lebensbedrohlich erkrankte Personen gleichzeitig versorgt werden. Text: Martin Brüesch Bild: Oculus Illustration

4 Die Behandlung der Patient:innen erfolgt im Schockraum (3), im OP (5), im Neuroangiografielabor (6), im Herzkatheterlabor (7) oder im Ver­ brennungsbad (8).

Einsatzplanung und Zusammen­ stellung der Notfallteams (9) sind nach Eingang der Meldung am Monitor ersichtlich: Anästhesistin­ nen, Unfallchirurgen, Neurochir­ urginnen, Radiologinnen, Experten für Anästhesiepflege, Technische Operationsassistenten, MTRA, Not‑ fallmediziner, Rettungssanitäter, Notärztinnen, Kardiologinnen, Neu‑ rologen, Plastische Chir­urgen, Geburtshelfer, Hebammen, Neo­ natologen, Kieferchirurginnen, Herzchirurginnen, Gefässchirurgen, Intensivmedizinerinnen, Viszer­ alchirurgen, Thoraxchirurginnen, Pneumologen. Weitere Helfer:innen kommen aus den Bereichen Care Team, Polizei, Forensik, Sicherheit, Reinigung, Lagerungspflege und Patiententransport.

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Die Diagnose der Patient:innen erfolgt im Schockraum (3), im CT oder im MRI (4).

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Der Eintritt (1) der Patient:innen kann mit dem Helikopter, dem Rettungswagen, über die Notfallaufnahme oder von der Bettenstation aus erfolgen. Wiederherstellung der Vitalfunktionen (2) anhand der Anwendung des ABCDESchemas: A = Airway = Atem‑ wege, B = Brea­thing = Atmung, C = Circulation = Kreislauf, D = Disability = neurologischer Zustand, E = Exposure = Patienten entkleiden.

1 Je nach Patient:in (3) wird unterschiedliches Material benötigt: Nar‑ kosegerät mit Patientenmonitoring (17), EKG-Gerät (18), Defibrillator (19), Wärmelampe (20), Blutreserven vor Ort (21), Verbrauchsmaterial (22), digitale Uhr und Telefon (23).

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Das Team im Schockraum wird von verschiedenen anderen Bereichen unter‑ stützt: Labore (10), Toxikologie (11), Blutbank (12), Reinigung (13), Security/Polizei (14), Kantonsapotheke (15), Patienten­begleitung (16).

25/26 Austritt: Die Patient:innen werden vom Schockraum in den Aufwach‑ raum (24), zur Intermediate Care (25), zur Intensivstation (26) oder in die Pathologie (27) gebracht.

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Die Kunst der schonendsten Therapie Noch vor zehn Jahren führten Behandlungen von Prostatakrebs häufig zu schwerem Blutverlust, Inkontinenz und Impotenz. Heute gelingt es der Urologie am USZ immer besser, unerwünschte Nebenwirkungen abzuwenden – dank präziserer Diagnosen und innovativer Therapien. Text: Claudio Jörg Bilder: Christoph Stulz

schwere Nebenwirkungen bei nahe‑ zu jedem zweiten Patienten in Kauf zu nehmen.

Grosse technologische Entwicklung

Klinikdirektor Daniel Eberli bespricht die Operation im Team.

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ie Familie leidet im‑ mer mit, wenn ein Mann an Prostatakrebs erkrankt», weiss Daniel Eberli. Der Direktor der Klinik für Urologie am USZ spricht aus Erfahrung. Er sieht regelmässig Patienten und kennt deren Sorgen und Anliegen. «Vielfach schwingt die Angst mit, dass der Be‑

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Dank des wissenschaftlichen Fort‑ schritts und der rasanten Entwicklung der Technologie ist man heute bereits viele Schritte weiter. Moderne Bildge‑ bungsverfahren können einen Tumor präziser lokalisieren. Neue pathologi‑ sche Methoden bestimmen die Ag‑ gressivität des wuchernden Gewebes genauer. Die Therapien sind vielfäl‑ tiger und differenzierter geworden. Bei weniger aggressiven Tumoren wählen die Ärzte deshalb weniger radikale The‑ rapien als die vollständige Entfernung der Prostata. Die Folge: deutlich weni‑ ger Nebenwirkungen.

Vorteil für Universitätsspitäler troffene impotent wird und die Kont‑ rolle über das Wasserlassen verliert.» Diese Befürchtungen sind verständlich, bestand doch die Standardbehand‑ lung gegen Prostatakrebs lange darin, die Prostata chirurgisch vollständig zu entfernen. Mangels Alternativen sahen sich die Ärztinnen und Ärzte noch vor zehn Jahren gezwungen,

«Unser oberstes Ziel ist, die Lebens‑ qualität der Patienten so weit wie mög‑ lich und so lange wie möglich auf‑ rechtzuerhalten – also die schonendste Therapie zu wählen», sagt Daniel Eberli. «Als universitäres Spital haben wir in diesem Punkt einen riesigen Vorteil, weil wir jeweils zu den ersten gehören, die innovative Methoden in der Schweiz anwenden.» Ein Bei‑


spiel: 2014 behandelten Urologin‑ nen und Urologen am USZ erstmals in der Schweiz einen Patienten mit der fokalen Therapie. Dabei werden Krebs‑ zellen mit hochintensivem Ultraschall punktgenau erhitzt und zerstört. Nebenwirkungen konnten stark reduziert werden.

in der Strahlentherapie konnten Fort‑ schritte erzielt werden. 2019 nahm das USZ den ersten MRI Linac der Schweiz in Betrieb – ein Gerät, das Strahlenthe‑ rapie und Bildgebung in einem Gerät vereint und neue Möglichkeiten der Tumorbehandlung schafft.

Früherkennung empfohlen Roboterassistierte Chirurgie Auf dem Gebiet der Roboterchirurgie nimmt das USZ schweizweit eine Pio‑ nierrolle ein. Die Chirurgen operieren die Prostata in der Regel laparosko‑ pisch, das heisst mithilfe der Schlüssel‑ lochtechnologie. Seit Jahren erfolgt dies ausschliesslich roboterassistiert. Über 2’000 Prostataoperationen wurden am USZ mit dem Da-VinciRoboter durchgeführt. Die Roboter‑ chirurgie bringt den Patienten Vorteile: weniger Blutverlust, geringere Schmer‑ zen und eine raschere Genesung. Auch

Prostatakrebs ist auch heute der mit Abstand häufigste Krebs bei Männern. In der Schweiz erhalten über 6’000 Männer pro Jahr die Diagnose. 1’500 sterben an der Krankheit. Zum Glück wächst der Krebs oft relativ langsam und führt nicht zum Tod. Viele Pati‑ enten können erfolgreich behandelt werden, vor allem, wenn der Krebs früh erkannt wird und sich noch nicht verbreitet hat. Daniel Eberli empfiehlt deshalb Männern ab 50 regelmässige Vorsorgeuntersuchungen (vgl. Box).

VORSORGE

Ab 50 Jahren sollte ein Mann zum Arzt gehen und die ent‑ sprechenden Tests durchführen lassen. Wenn der Krebs früh‑ zeitig entdeckt wird, hat er noch wenig Schaden angerichtet und kann besser behandelt wer‑ den. Je nach Testresultat sollen die Tests im Abstand von einem bis fünf Jahren wieder‑ holt werden. Neben regelmäs‑ sigen Vorsorgeuntersuchungen gibt es kaum Möglichkeiten, Prostatakrebs vorzubeugen. Kontakt Klinik für Urologie: urologie@usz.ch, +41 44 255 54 40

Lebensrettender Kunststoffschlauch Die Aorta – unsere Hauptschlagader – ist rund 30 bis 40 cm lang und reicht vom Herzen bis ins Becken. Sie ist das grösste Blutgefäss eines Menschen und versorgt über abzweigende Arterien den gesamten Körper mit sauerstoffreichem Blut. Eine intakte Aorta ist deshalb lebensnotwendig. Entsprechend wichtig und gleichzeitig riskant ist der Ersatz des Gefässes, sollte es erkranken. Text: Manuela Britschgi Bilder: USZ

«W

as viele nicht wis‑ sen: Grosse Operationen sind echte Knochenarbeit», sagt Alexander Zimmermann, Direktor der Klinik für Gefässchirurgie, während er eine Aortenprothese zeigt. Der aus speziel‑ lem, flexiblem Kunststoff gefertigte Schlauch ersetzt den erkrankten Ab‑ schnitt der Aorta und muss über einen

offenen Schnitt eingesetzt werden. «Wird die gesamte Aorta mit einer Pro‑ these ersetzt, benötigt es dazu einen Schnitt vom Schulterblatt schräg nach vorne bis zum Unterbauch», erklärt Ale­xander Zimmermann. Dann ope‑ rieren bis zu vier Chirurginnen und Chirurgen gleichzeitig während sechs bis acht Stunden. Während dieser Zeit wird der Körper des Patienten von der

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Herz-Lungen-Maschine ECMO mit sauerstoffreichem Blut versorgt. Durch die medizinische Entwicklung ist es inzwischen bei bis zu 70 Prozent der Patienten möglich, die erkrankte Hauptschlagader von innen mit einem sogenannten Stentgraft abzu­ dichten. Dabei handelt es sich um einen Kunststoffschlauch, der durch kleine Metallfedern offen gehalten wird. Dieser wird nach einem radiolo­ gischen Modell für die jeweilige Per­ son speziell angefertigt und kann über eine kleine Punktion in der Leiste in die Aorta des Patienten eingebracht werden.

Überwacht von Kopf bis Fuss Wird die Aorta mit einem offenen Ope­ rationsverfahren ersetzt, muss oftmals eine Vielzahl von abzweigenden Ge­ fässen einzeln wieder angenäht werden, um die Durchblutung der Organe und des Rückenmarks zu gewährleis­ ten. Dazu muss das jeweilige Gefäss kurzfristig von der ECMO abgehängt werden. Die betreffende Körperre‑ gion ist dadurch nicht mehr mit Sauer­ stoff versorgt, bis das Gefäss mit der Prothese verbunden ist. «Das ist der be‑ sonders heikle Teil der Operation», verdeutlicht Alexander Zimmermann. «Eine Niere zum Beispiel kann maxi­ mal 30 Minuten ohne Sauerstoffversor­ gung bleiben, bevor sie Schaden nimmt. Wir müssen hier also zügig und äusserst genau arbeiten.» Um Schäden auszuschliessen, werden die einzelnen Organe streng überwacht, aber auch nicht sichtbare Bereiche wie die Nervenbahnen im Rückenmark. «Wir stimulieren während der gesamten Operation die Nerven in den Armen und Beinen mit leichten Stromstössen. Reagieren die Nerven unverändert, wissen wir, dass keine Beeinträchtigung vorliegt», erklärt Johannes Sarnthein, Neurophysiologe in der Klinik für Neu­ rochirurgie. Ohne diese Überwa‑ chung liegt die Komplikationsrate für temporäre Schädigungen der Nerven bei einer Aortenprothese bei bis zu 18, für irreparable Schäden bei bis zu 5 Prozent. Das Risiko für eine Schädigung – vor allem eine dauerhafte – kann mit der neurophy­

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Patient:innen profitieren von einer Risikominimierung während der Operation.

siologischen Überwachung signifikant reduziert werden. «Wir stehen im ständigen Austausch mit dem Operati­ onsteam. Dass wir dabei mit im Ope­ rationssaal sind, ist ein riesiger Vorteil und einzigartig in der Schweiz. Es er­ leichtert die direkte interdisziplinäre Arbeit enorm», ergänzt Johannes Sarnthein.

wenn ich sage, dass es überlebens­ wichtig ist, dass jede und jeder im Team den Patienten und das individu­ elle Vorgehen detailliert kennt, was natürlich auch eine gewisse Erfahrung und Fallzahl voraussetzt», betont Alexander Zimmermann. Deshalb wird vor dem Eingriff eine Besprechung mit allen Beteiligten abgehalten. Mit dabei sind die Operateure, die Kar­ diotechniker für die Herz-LungenMaschine, die Neurophysiologinnen, die Operationspflege, die Anästhe­ sistinnen und die Intensivmediziner für die Nachbetreuung.

Premiere in der Schweiz

«Nur wenige Spitäler in der Schweiz führen diese Art von Aortenoperationen durch.» Alexander Zimmermann, Direktor der Klinik für Gefässchirurgie

Interdisziplinäre Meisterleistung Überhaupt braucht eine derart grosse und komplexe Operation wie eine vollständige Aortenprothese ein ein­ gespieltes und erfahrenes interdis‑ ziplinäres und interprofessionelles Team. Das USZ ist eines von wenigen Spitälern in der Schweiz, das diese Art von Aortenoperationen durchfüh­ ren darf. «Es ist nicht übertrieben,

Eine neuartige Prothese macht den Ersatz der Aorta im USZ nun noch sicherer. Sie kombiniert die Vorteile des minimalinvasiven Verfahrens mit dem des offen operativen. Mit die­ ser Prothese kann die gesamte Aorta ersetzt werden, ohne dass der Brust­ korb geöffnet werden muss. Zusätzlich bleibt ein kontinuierlicher Blutfluss gewährleistet, was die Benutzung der ECMO überflüssig macht. Die Pro‑ these wurde durch das Aortenzentrum Hamburg entwickelt. Die Klinik für Gefässchirurgie am USZ ist das zweite Zentrum weltweit, das sie einset‑ zen darf. Im August 2022 wurde der erste Eingriff im USZ erfolgreich durchgeführt. Die Patientinnen und Patienten profitieren durch das neue Verfahren von einer Risikomini­ mierung während der Operation und erholen sich schneller.


Expertise per Mausklick Vor vier Jahren gründete Christian Greis, Oberarzt der Dermatologischen Klinik, die Firma derma2go. Immer mehr Patientinnen und Patienten schätzen das Angebot. Wo sieht er die Grenzen der Telemedizin in der Dermatologie? Text: Moritz Suter Bilder: USZ

Wie kamen Sie auf die Idee der Teledermatologie? Mir fiel auf, dass es trotz aller technischen Fortschritte der letzten Jahre noch verhältnismässig wenige Bestrebungen in Richtung Telemedizin im Allgemeinen und Dermatologie im Speziellen gab. Dies wollte ich ändern. Ich gründete deshalb 2018 in Zürich die Firma derma2go und baute mit meinem Team den ersten Prototyp. derma2go beschäftigt inzwischen zehn Mitarbeitende und ist in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland aktiv. Wir arbeiten mit verschiedenen Spitälern zusammen – auch mit dem USZ.

lich, schicken wir den Betroffenen ein Aufgebot für einen Termin, wir lassen sie selbstverständlich nicht mit ihrem Problem allein.

Wo sehen Sie noch Potenzial für Telemedizin? In der Zukunft sehe ich beispielsweise einen Ausbau der Telemedizin im Bereich der Allergologie, denn auch diese Symptome können bildlich

In wie vielen Fällen ist es mit der Teledermatologie möglich, eine Diagnose zu stellen? Wir können in 85 Prozent der eingeschickten Fälle eine Diagnose stellen. Oftmals handelt es sich um Ekzeme wie Neurodermitis, in einem grossen Teil der Fälle im Gesicht. Bei Muttermalen hingegen sind uns oft Grenzen gesetzt. Ist eine Diagnose nicht mög-

Nein, das glaube ich nicht. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass in Zukunft viel mehr Erstkonsultationen, auch in anderen Bereichen der Me­ dizin, online durchgeführt werden. So könnte ein hybrides Modell entste‑ hen, bei dem viele Kontakte zuerst online abgewickelt werden, integriert in den Alltag der Patientinnen und Patienten. Alle Diagnosen werden aber nie online gestellt werden können, oftmals ist eine physische Konsultation unerlässlich.

Wie viele Konsultationen werden in Zukunft online durchgeführt?

Was ist das Ziel der Telemedizin? Wir möchten den Patientinnen und Patienten ein möglichst nieder‑ schwelliges Angebot einer Diagnosestellung bieten. Damit sparen sie sich die Wartezeit auf einen Termin, die schnell einmal Wochen dauern kann, ebenso wie die Anfahrts- und Wartezeit im Spital oder beim Hausarzt. Und was man nicht vergessen darf: Menschen gehen ungern in ein Spital. Sie zeigen nicht gerne öffentlich, dass sie gesundheitliche Probleme haben.

Wird die Telemedizin die klassische Konsultation bei einer Ärztin ganz ersetzen können?

Ich sage 20 bis 50 Prozent. SO FUNKTIONIERT DERMA2GO

«Mit Telemedizin können wir in 85 Prozent der Fälle eine Diagnose stellen.» Christian Greis, Oberarzt der Dermatologischen Klinik

festgehalten werden. Weiter sind Projekte möglich, um Menschen ohne die Möglichkeit einer physischen Konsultation dennoch medizinische Diagnosen stellen zu können. Zum Beispiel in einem Gefängnis: Es gibt zwar ärztliches Personal, das aber nicht in allen Bereichen spezialisiert ist. Mit einem niederschwelligen Angebot könnten wir sie unterstützen.

Patientinnen und Patienten können sich über ein OnlineFormular auf der Klinikseite der Dermatologie USZ registrieren, einen Fragebogen ausfüllen und im Anschluss an eine Zahlung Bilder ihrer Hautveränderung hochladen. Innerhalb von 24 Stunden erhalten sie ein detailliertes Feedback inklu‑ sive Arztbericht, Therapievorschlag und, falls nötig, einem Rezept. Bis im Sommer 2022 fanden so am USZ über 1’000 Beratungen statt.

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«Für mich gibt es die Pflicht und die Kür» Ein Gespräch darüber, was Malcolm Kohler, den neuen Ärztlichen Direktor des USZ, antreibt und was er anpackt. Text: Cindy Mäder Bilder: Christoph Stulz

«Es ist meine Aufgabe, das medizinische Angebot und die Leistung des USZ als Ganzes im Blick zu haben.»

Malcolm Kohler, seit dem 1. August 2022 sind Sie nicht mehr Klinik‑ direktor, sondern Ärztlicher Direktor. Was ist für Sie der grösste Unter‑ schied zu früher? Als Ärztlicher Direktor ändert sich die Perspektive ziemlich stark. Als Kli‑ nikdirektor fokussiert man natürlich auf seine eigenen Themen. Jetzt ist es dagegen meine Aufgabe, das medizini‑

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sche Angebot und die Leistung des USZ als Ganzes im Blick zu haben, mich um die gesamte Bandbreite zu kümmern.

Welche Themen stehen für Sie im Zentrum? Für mich gibt es die Pflicht und die Kür. Unsere Patientinnen und Patien‑ ten dürfen von uns eine hohe Quali‑ tät der medizinischen Dienstleistung

erwarten. Und wir müssen dafür sor‑ gen, dass unsere Mitarbeitenden gerne bei uns arbeiten. Beides gehört für mich zum Grundanspruch und ist da‑ her Pflicht. Zur Kür gehört, dass wir auch eine exzellente Forschung betrei‑ ben und ausgezeichnete Lehre an‑ bieten wollen. Und dann stellen sich natürlich Fragen der Weiterentwick‑ lung des Spitals: Wie und mit wem ar‑


beiten wir zusammen? Wie sehen Kooperationen in Zukunft aus? Wohin entwickelt sich das USZ im Gesamtmarkt?

Sie sprechen von der Weiterentwicklung der USZ-Medizinstrategie? Ganz genau. Das ist aber nicht ein Thema, das ich als Ärztlicher Direktor alleine tun kann oder will. Es ist wichtig, dass sich die Kaderärzte mit einbringen, mitdenken und mit‑ entwickeln. Ich habe bereits sehr gute Rückmeldungen von Kaderärzten und Kaderärztinnen. Wir müssen die Weichen wohlüberlegt neu stellen, damit sie auch nachhaltig Wirkung erzielen können. Das USZ soll ein Grundstein in der Gesundheitsversor‑ gung im Kanton Zürich bleiben und bereit für die nächste Generation sein.

Wo sehen Sie die grössten ­Herausforderungen für das USZ in den nächsten Jahren? Die ganz grosse Herausforderung, und zwar schon heute, ist das Personal: Wie können wir Fachkräfte gewinnen und vor allem auch halten? Mein Be‑ streben ist es, dass die Mitarbeitenden

«Wir müssen beweglich bleiben und immer wieder aufs Neue gute Lösungen suchen.» Malcolm Kohler, Ärztlicher Direktor

gerne bei uns arbeiten. Ich selbst ar‑ beite sehr gerne, auch wenn es manch‑ mal schwierige Tage und Themen gibt. Aber ich bin stolz, mich für das USZ einsetzen zu können und dazu beizu‑ tragen, etwas Nachhaltiges für die nächste Generation zu erreichen. Die‑ selbe Motivation und denselben Stolz sehe ich auch bei vielen Mitarbeiten‑ den. Zentral scheint mir, dass wir ihnen eine Perspektive bieten, dass sie sich bei uns entwickeln können. Das zweite grosse Thema sind die ganzen baulichen Veränderungen: komplexere Zugänge, Immissionen

verschiedener Art, weniger Parkplätze für Personal und Besuchende – wir werden lernen müssen, mit manchen Dingen zu leben, weil wir sie nicht ändern können. Und uns anpassen, um das Beste aus der Situation zu ma‑ chen. Sprich: Wir müssen beweglich bleiben und immer wieder aufs Neue gute Lösungen suchen.

Dass das USZ bzw. seine Mitarbeitenden anpassungsfähig sind, haben sie in den letzten Jahren mit der Pandemie gezeigt. Absolut! Ich stelle immer wieder fest: Wenn es wirklich darauf ankommt, in kritischen Situationen, sind alle ma‑ ximal engagiert, leisten extrem viel und übertreffen oftmals die Erwartun‑ gen. In diesen Situationen treten alle kleinen Differenzen zurück und man zieht am gleichen Strick. Diesen Spirit wünsche ich mir auch im Alltag. Die Gesellschaft und der Gesundheits‑ markt verändern sich sehr schnell – das USZ muss hier mithalten, ja vor‑ ausschauend handeln können. Denn die Evolution hat gezeigt: Nicht etwa das klügste oder stärkste Lebewesen setzt sich über die Zeit durch, sondern das anpassungsfähigste. Und gerade auch die Erfahrung aus den letzten zwei Jahren hat uns gelehrt, dass sich auch vermeintlich stabile Verhältnisse plötzlich stark verändern können.

Veränderungen sind für viele dennoch nicht ganz einfach. Was wünschen Sie sich von den Klinik­ direktorinnen und Klinikdirektoren? Den Klinikdirektorinnen und -direkto‑ ren, generell dem ärztlichen ebenso wie dem pflegerischen Kader, kommt eine Schlüsselrolle zu, um Verände‑ rungen zu tragen und die Mitarbeiten‑ den mitzunehmen. Ich wünsche mir, dass wir im Dialog bleiben und das Ka‑ der des Kerngeschäfts sich einbringt. So können wir gemeinsam die Zukunft des USZ gestalten. Ich erhoffe mir zu‑ dem, dass sie bereit sind, mit mir zu‑ sammen die Extrameile zu gehen. Ich nehme die USZ-Mitarbeitenden als überdurchschnittlich engagiert wahr – genau das zeichnet uns aus und macht am Schluss den Unterschied.

Sie sind nun vor allem strategisch und auf oberster Ebene des USZ tätig – werden Sie den direkten Kontakt zu Patientinnen und Patienten vermissen? Den intensiven klinischen Austausch mit Patienten und meinen Kollegen und Kolleginnen werde ich schon et‑ was vermissen. Allerdings führe ich einmal die Woche weiterhin eine Sprechstunde durch. Es ist für mich elementar, den klinischen Alltag aus der eigenen Erfahrung zu kennen. Zudem behalte ich auch meine For‑ schungsgruppe. Ich empfinde die Forschung als Bereicherung und es ist mir wichtig, aus erster Hand zu wissen, welche aktuellen Themen es im USZ in dieser Hinsicht gibt. Ich bin überzeugt, dass ich damit auch meine Aufgaben als Ärztlicher Direktor besser wahrnehmen kann.

ZUR PERSON

Malcolm Kohler Malcolm Kohler verfügt über einen Facharzttitel für Allgemeine Innere Medizin und für Pneumologie sowie den Fähigkeitsausweis für Schlafmedizin. Er habilitierte 2009 an der Universität Zürich und wurde 2013 auf den Lehrstuhl für Pneumologie an der UZH berufen. Vom 1. Juli 2017 bis 31. Dezember 2021 leitete Malcolm Kohler neben seiner Funktion als Direktor der Klinik für Pneumologie den Medizinbereich Herz-Gefäss-Thorax und war ab 1. Januar 2022 als Ärztlicher Co-Direktor tätig. Seit dem 1. August 2022 ist er Ärztlicher Direktor. Malcolm Kohler ist verheiratet, hat zwei Kinder und wohnt in Küsnacht.

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Angriff auf den eigenen Körper Wenn das Immunsystem aus dem Gleichgewicht gerät, kann es seine Waffen gegen sich selbst richten. Autoimmunerkrankungen können schwere Verläufe nehmen und müssen meist lebenslang behandelt werden. Die Ursachen sind noch nicht vollständig geklärt. Text: Helga Kessler Bild: iStock


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aller Menschen leiden an einer Autoimmunerkrankung.

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reund oder Feind? Das mensch­ liche Immunsystem klärt lau­ fend ab, ob Material, das es ent­ deckt, zum Körper gehört oder nicht. Findet es Erreger wie Bakterien oder Viren oder krankhaft veränderte Krebs­ zellen, fährt es sein Waffen­arsenal auf. Fresszellen, Antikörper und Killer‑ zellen sorgen dafür, dass als «fremd» Identifiziertes entfernt wird und der Mensch gesund bleibt. Doch so effizi­ ent das Immunsystem beim Abweh‑ ren von Erregern oder anderem Fremd­ material ist, so gravierend sind die Folgen, wenn es Fehler macht und sich gegen den eigenen Körper richtet. Bei einer Autoimmunerkrankung greift das Immunsystem körperei‑ gene Strukturen, Zellen oder Gewebe an, indem es Autoantikörper bildet und Immunzellen aktiviert. Diese grei­ fen dann Organe, Haut, Knochen oder Nervenzellen an und schädigen das gesunde Gewebe, die betroffe‑ nen Areale entzünden sich. Ist das Im­ munsystem einmal auf Abwehr von eigenem Material gestellt, lässt es sich

kaum noch stoppen. Entzündungen werden chronisch und richten zuneh­ mend Schaden an. Das kann fortschrei­ tende und degenerative Erkrankungen zur Folge haben, die bei einem schwe­ ren Verlauf zum Tod führen können.

Zerstörte Organe Welche Symptome resultieren und wie sich die Erkrankung entwickelt, hängt davon ab, welcher Teil des Körpers be­ troffen ist. Das Immunsystem kann sich spezifisch gegen ein bestimmtes Organ richten und dieses durch die chronischen Entzündungen nach und nach schädigen oder zerstören. Bei

Mehrere Faktoren müssen zusammenkommen, damit die Erkrankung ausbricht. der Hashimoto-Thyreoiditis produ­ ziert die Schilddrüse irgendwann kein Thyroxin mehr; beim Typ-1-Diabetes versagen die Insulin produzierenden Zellen der Bauchspeicheldrüse ihren Dienst; bei der Multiplen Sklerose wer­ den Teile der Nervenfasern in Ge‑ hirn und Rückenmark so geschädigt, dass die Nervenleitung irreparabel gestört ist; bei der Colitis ulcerosa ent­ zündet sich die Schleimhaut im Dick­ darm schubweise, was starke Schmer­ zen und Blutungen hervorrufen kann. Von einer «organspezifischen Autoimmun­erkrankung» kann fast jedes Organ im Körper betroffen sein.

100 verschiedene Erkrankungen

In der Klinik für Immunologie wird nach der Ursache der Erkrankung gesucht.

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Sind mehrere Organe und Gewebe im Körper Ziel der Attacken, spricht man von «systemischen Autoimmun­ erkrankungen». Sie sind besonders komplex und können bei den betroffe­ nen Personen sehr unterschiedliche Verläufe nehmen. Bei der rheumatoi­ den Arthritis entzünden sich vor allem die Gelenke, bei den Vaskulitiden die Gefässe, bei der Polymyositis die Muskulatur. Als typische systemische Erkrankung gilt der Lupus erythe­‑ m­atodes, bei dem sich neben den Ge­


lenken meist auch die Haut und häufig zudem die Nieren entzünden. Bekannt sind rund 100 verschie­ dene Autoimmunerkrankungen, welt­ weit erkranken geschätzte fünf bis acht Prozent der Bevölkerung, Frauen viermal häufiger als Männer. Je nach Krankheit können unterschied­ liche Ethnien stärker betroffen sein. Manche Erkrankungen beginnen be­ reits im Kindes- und Jugendalter, so Typ-1-Diabetes, andere im jungen Erwachsenenalter wie etwa die Mu­l‑ tiple Sklerose oder Lupus erythema­ todes. Bei anderen, etwa der rheu­ matoiden Arthritis, steigt das Risiko mit zunehmendem Alter.

Risikofaktor Östrogen

Weshalb das Immunsystem bei den Betroffenen auf Selbstangriff schaltet, ist nicht vollständig geklärt. In der Regel müssen mehrere Faktoren zu­ sammenkommen, damit die Er‑ krankung ausbricht. Das Geschlecht und damit die andere Ausstattung an Hormonen spielt eine wichtige Rolle. Etliche Autoimmunerkrankun­ gen scheinen durch Östrogene beför­ dert zu werden. Testosteron anderer­ seits, das vorherrschende Geschlechts‑ hormon bei Männern, scheint das Immunsystem zu dämpfen. So tritt die Multiple Sklerose, die Frauen dreimal häufiger betrifft als Männer, in der Regel erst im gebär­ fähigen Alter auf. Während einer Seltene Spontanheilungen Schwangerschaft gehen die MS-Be­ Autoimmunerkrankungen sind in schwerden meist zurück, weil dann der Regel nicht heilbar. Selten ver­ der höhere Progesteronspiegel die Im­ schwindet die Krankheit von alleine munreaktion dämpft. Nach der Ent­ wieder, so bei der Sarkoidose, einer bindung, wenn sich die Hormon­ systemischen Erkrankung, die lage wieder dramatisch ver­ vor allem in Lunge und ändert, kehren die Symp‑ Lymphdrüsen auftritt. Hier Mehr zu tome meist verstärkt wie­ kommt es bei sieben den verschiedenen der. Auch beim Lupus von zehn Betroffenen in Autoimmunerythematodes scheinen einem frühen Erkran­ erkrankungen finden die weiblichen Hormone kungsstadium zu Spontan­ Sie ab Seite 20. eine Rolle zu spielen – neun heilungen, selbst chroni­ von zehn Betroffenen sind sche Formen können heilen. Frauen. Auch hier beginnt die Er‑ Sind dagegen viele Organe krankung meist im Reproduktions­ betroffen und diese zudem schwer alter. Männer tragen ein erhöhtes Ri­ entzündet, steigt das Risiko, an siko, wenn ihr Testosteronspiegel der Sarkoidose zu sterben. Die meis­ niedrig ist. ten Autoimmunerkrankungen werden behandelt, indem man die Entzündungen hemmt oder das Erbliche Anfälligkeit und Schadstoffe Immunsystem unterdrückt (s. Box Die Sexualhormone können jedoch Immunsuppressiva). nur teilweise erklären, weshalb Auto­ Die Behandlung übernehmen, je immunerkrankungen entstehen – nach Erkrankungstyp, entweder Organ­ manche brechen ja aus, ehe sich die spezialisten oder ein Team von Spezia­ Hormonspiegel geschlechtstypisch list:innen aus verschiedenen Kliniken. verändern. Andere, wie die Colitis ul­ Am USZ sind sowohl an der Diagnose cerosa, treffen Männer und Frauen wie an der Behandlung meist mehrere gleich häufig. Eindeutig eine Rolle spie­ Fachkliniken beteiligt. Auf Einladung len erbliche Faktoren. So gibt es in der Klinik für Immunologie treffen Familien Häufungen von Erkrankun­ sich die Spezialisten einmal pro Woche gen mit Colitis, Lupus oder MS. Ver­ zum interdisziplinären Board, um erbt wird aber nicht die Autoimmun­ komplexe Fälle zu besprechen. Wird erkrankung selbst, sondern eine er­ eine Erkrankung rechtzeitig diagnosti­ höhte Anfälligkeit. Diese könnte auch ziert, können die Beschwerden meist dazu beitragen, dass Autoimmun­ gelindert und Folgeschäden verhin­ erkrankungen bei Betroffenen gehäuft dert oder zumindest verzögert werden. auftreten: Liegt eine MS vor, kommt

nicht selten eine Colitis oder die Schild‑ drüsenerkrankung Hashimoto dazu. Doch selbst eineiige Zwillinge ent­ wickeln nicht zwangsläufig dieselbe Autoimmunerkrankung. Also müssen weitere Faktoren eine Rolle spielen. Von manchen Umweltschadstoffen weiss man, dass sie das Immunsystem zur Bildung von Autoantikörpern animieren können. Bei der Sarkoidose gelten von der Lunge aufgenommene Chemikalien oder Feinstaub als mögli­ che Verursacher, beim Lupus UVLicht. Medikamente, Infektionen mit Bakterien oder Viren, aber auch chronischer Stress und eine bestehende Tumorerkrankung können ebenfalls zur Folge haben, dass das immunolo­ gische Gleichgewicht aus dem Takt gerät. Diskutiert wird auch, ob die Zu­ sammensetzung der Darmflora einen Unterschied macht.

I M M U NS U P P R E SSI VA

Wenn das Immunsystem verrückt spielt, kann man versuchen, es zu bremsen – dafür steht heute ein breites Spektrum an Stoffen mit unterschiedlichen Wirk‑ prinzipien zur Verfügung. Korti‑ sonpräparate unterdrücken Entzündungen. Zytostatika wie Azathioprin oder Methotrexat hemmen die Vermehrung von Zellen, Ciclosporin oder Tacroli‑ mus blockieren die Funktion von T-Zellen. Zu den Biologika zählende Wirkstoffe wie die mo‑ noklonalen Antikörper oder TNF-alpha-Inhibitoren greifen sehr selektiv in Signalwege von Zellen ein. Alle Immunsuppres‑ siva können unerwünschte Wirkungen hervorrufen, am häu‑ figsten sind Infektionserkran‑ k­ungen, die dann zudem schwe‑ rer verlaufen können, weil die körpereigene Abwehr medi‑ kamentös gedämpft ist.

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Häufiger, als man denkt Der Oberbegriff «Autoimmunerkrankung» mag nicht besonders geläufig sein. Aber fast jeder und jede kennt jemanden, der von einer betroffen ist. Hier stellen wir einige der häufigsten, aber auch ganz seltene Autoimmunkrankheiten kurz vor. Text: Cindy Mäder Bilder: iStock

Diabetes Mellitus Typ I Im Volksmund «Zuckerkrankheit» genannt, handelt es sich beim Diabetes mellitus um eine chronische Stoffwech­ selerkrankung. Perma­ nent kursiert zu viel Zucker im Blut, was Gefässe und Organe mit der Zeit schädigt. Grund dafür ist entweder eine gestörte Insulinpro­ duktion oder eine Insulinresistenz. Die häufigere Form ist der Diabetes Typ 2, eine klassische Zivilisations­ krankheit, begünstigt durch Über‑ gewicht. Der Typ-1-Diabetes mellitus ist dagegen eine Autoimmunerkran­ kung, bei der alle insulinproduzieren­ den Zellen in der Bauchspeichel‑ drüse durch die körpereigene Abwehr zerstört werden. Nur etwa 5 von 100 an Diabetes Erkrankten leiden an die­ sem Typ, wobei Frauen und Männer gleichermassen betroffen sind. Sie müssen ihr Leben lang regelmässig das Hormon Insulin injizieren, um ihren erhöhten Blut­zuckerspiegel in Schach zu halten. Moderne, sensorgestützte Insulin­ pumpen, wie sie das USZ an­ bietet, können den Betro­f‑ fenen das Leben heute deut­ lich erleichtern.

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Multiple Sklerose

Multiple Sklerose (MS) ist eine auto­ immune, chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensys­ tems. Entzündungszellen, soge‑ nannte T- und B-Lymphozyten, zer­ stören Nervenzellen, vor allem aber die Umhüllung der Nervenfasern, das Myelin. Dieses ist für die rasche Weiterleitung der elektrischen Impulse über die Nervenbahnen verantwort­ lich. Ist das Myelin geschädigt, wird die Nervenleitung verlangsamt oder vorübergehend sogar unterbrochen. Es kommt zu den typischen Anzeichen wie Empfindungsstörungen, Sehstö­ rungen oder Muskellähmungen. Multiple Sklerose ist nach der Epilep­ sie die zweithäufigste neurologische Krankheit. In der Schweiz leben rund 10’000 Betroffene. Meist wird sie zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr entdeckt, wobei Frauen dreimal häufiger betroffen sind als Männer. Am USZ werden Patientinnen und Patienten mit MS in einem spezialisier­ ten Zentrum behandelt. Ziel ist eine optimale interdisziplinäre und inter­ professionelle Versor­ gung. Entsprechend umfasst das An­ gebot neben der ärztlichen auch eine MSPflegeSprechstunde.

Hashimoto-Thyreoiditis

Die nach einem japanischen Arzt bezeichnete Form einer Schilddrüsen­ entzündung entsteht, weil sich das körpereigene Abwehrsystem irrtümlich gegen Schilddrüsenzellen richtet. Fast jede zehnte Person Mitteleuropas ist davon betroffen, Frauen fünfmal häu­ figer als Männer. Oft tritt ein «Ha‑ shimoto» erst im Erwachse­ nenalter auf, meist ab 30 Jahren, und bleibt lange un­ entdeckt, weil praktisch keine Früh­ symptome auftreten. Die Folge dieser chronischen Krankheit: Die Schilddrüse entzündet sich, die Zellen werden mit der Zeit zerstört, und es kommt zu einer Unterfunktion. Die Entzündung selbst muss aber nicht behandelt werden. Vielmehr wer­ den mittels Hormonersatztherapie die Symptome behandelt. Die Auslöser dieser Autoimmunerkrankung sind nach wie vor unbekannt. Weil Hashi­ moto-Thyreoiditis aber in manchen Familien gehäuft auftritt, könnten die Gene eine Rolle spielen. Zudem scheint eine Infektion mit bestimm‑ ten Bakterien oder Viren die Krank‑ heit zu triggern.


Es gibt eine ganze Reihe von Autoimmunerkrankungen, die nur selten auftreten. Dazu gehören zum Beispiel die Myasthenia gravis und der aufgrund prominenter Opfer etwas besser bekannte Lupus erythematodes.

Myasthenia gravis

Bei dieser Krankheit ist die Signalübertragung vom Nerv auf den Muskel gestört. Das körpereigene Abwehrsystem greift die Rezeptoren an den Nervenenden an, sodass die Signale zur Muskelkontraktion abnehmen. Dadurch werden bei den Betroffenen einzelne Muskeln oder Muskel­ gruppen abwechselnd geschwächt oder lassen sich gar nicht mehr bewegen. Oft zeigt sich eine Myasthenia gravis zuerst im Gesicht, vor allem an den Augen, mit her­ unterhängenden Lidern oder verminderter Mimik. Breitet sich die Muskelschwäche auf die Kau- und Rachenmuskulatur aus, kommt es zu Schluckbeschwerden. Auch Arme und Beine können betroffen sein. Lebensbedrohlich wird eine Myasthenia gravis, wenn die Atemmuskulatur beeinträchtigt ist. Die Krankheit ist nicht heilbar, die The­ rapie zielt auf eine Linderung der Symptome ab. Im Durchschnitt erkranken jährlich etwa 0,25 bis 2 pro 100’000 Menschen daran. Die Krankheit kann in jedem Lebensalter auftreten, aber nur etwa zehn Prozent der Erkrankten sind jünger als 16 Jahre.

Lupus erythematodes

Beim systemischen Lupus erythema‑ todes (SLE) ist die normale Zellentsorgung gestört. Die Krankheit betrifft in neun von zehn Fällen Frauen und bricht zumeist im Alter von 20 bis 30 Jahren aus. Die genauen Ursachen sind nicht bekannt, es gibt aber Faktoren, die eine Entstehung begünstigen.

Dazu zählen eine genetische Veranlagung und virale Infekte, aber auch Nikotinkonsum. Ein SLE verläuft meist in Schüben und ist nicht heilbar. Er kann jedes Organ betreffen. Ziel der Therapie ist es daher, Organ­ schäden zu verhindern und Symptome zu lindern. Typisch ist das so­ genannte Schmetterlingsexanthem, eine symmetrische Rötung von Wangen, Nasenrücken und Stirn. Weitere Symptome sind ausgeprägte Müdigkeit (Fatigue), Gelenkschmerzen, Haarausfall und Aphten im Mund. Bei mehr als der Hälfte der Betroffenen kommt es zu einem Befall der Nieren. Für diese komplexe Krankheit ist die Behandlung in einem spezialisierten Zentrum wichtig. Das USZ bietet eine interdisziplinäre Sprechstunde an und für Patientinnen und Patienten mit Nierenbefall eine eigene Spezialsprechstunde.

R H E U M ATO I D E ARTHRITIS ist eine relativ häufige Autoimmunerkrankung. Dazu lesen Sie mehr auf Seite 24.

Z E N T R U M F Ü R S E LT E N E K R A N K H E I T E N Z Ü R I C H

Zwischen sechs und acht Prozent der Bevölkerung sind von einer seltenen Krankheit betroffen, die oft schon im Kindesalter beginnt. In der Schweiz entspricht dies etwa einer halben Million Menschen. Der Weg zur Diagnose ist oft lang und mühsam. Damit seltene Krankheiten frühzeitig erkannt und die Betroffenen bestmöglich behandelt werden, ist eine Bündelung der Kompetenzen notwendig. Mit dem Zentrum für seltene Krankheiten Zürich soll die Versorgung für diese Patientinnen und Patienten verbessert und diejenigen, die noch ohne Diagnose sind, bestmöglich bis zu einer Diagnosestellung unterstützt werden. Am Zentrum beteiligt sind das USZ, das UniversitätsKinderspital Zürich, die Universitätsklinik Balgrist sowie das Institut für medizinische Genetik der Universität Zürich. www.usz.ch/zentrumseltenekrankheiten

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Der zweite Schub hat tiefe Spuren hinterlassen Dass der Lupus erythematodes – kurz Lupus – auch Männer treffen kann, zeigt das Beispiel des 35-jährigen Dragan Djukic. Als bei ihm die Krankheit ausbricht, ist er mitten in seiner Fussballerkarriere. Er muss sich beruflich umorientieren und findet schliesslich auch positive Seiten an der Krankheit. Text: Marcel Gutbrod Bild: Nicolas Zonvi

Dragan Djukic hofft, künftig von weiteren Schüben verschont zu bleiben.

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ereits 2004, im Alter von 17 Jahren, bekam ich die ersten Anzeichen von Lupus. Plötzlich schwollen meine Knöchel an, ohne dass ich mich verletzt hatte, und kurz danach wurden auch meine Handgelenke richtig dick. Ich ging ins Unispital und wurde für eine Woche stationär aufgenommen. Damals spielte ich noch Fussball auf hohem Niveau. Ich war im Nachwuchskader der Schweizer Nationalmannschaft und machte mir dementsprechend mehr Sorgen um meine Karriere als um meine Gesundheit. Nach zwei, drei Monaten war das Schlimmste vorbei, und ich war wieder fit genug, um das Training aufzunehmen. Im Herbst 2010 kam dann der zweite Schub. Er war um einiges heftiger als der erste und beendete quasi meine Fussballkarriere. Ich war bereits seit fünf Jahren Profi und spielte damals in der zweithöchsten Schweizer

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Liga. Nach einem Spiel fühlte ich mich extrem erschöpft und ausgelaugt. Ausserdem hatte ich an Gewicht zugelegt, ohne mehr zu essen. Ich ging zuerst für eine Untersuchung zum Teamarzt. Dieser untersuchte meinen Urin und schickte mich dann, als er die Er‑ gebnisse sah, sofort ins USZ. Es stellte sich heraus, dass der Lupus bereits meine Nieren angegriffen hatte. Wasser lagerte sich in meinem Körper ab und ich nahm innerhalb weniger Monate 20 Kilogramm zu. Dieser Schub hinter‑ liess bei mir tiefe Spuren – sowohl körperlich als auch mental. Ich verlor viel Muskelmasse, und als ich nach ein paar Monaten wieder trainieren konnte, war ich kaum noch fähig, über eine Hürde zu springen – und das als Torhüter. Ich spielte danach zwar noch eineinhalb Jahre weiter Fussball, kam aber nicht mehr auf mein altes Niveau. Ich hatte schlicht das Vertrauen in meinen Körper verloren. Danach be-

endete ich meine Fussballerkarriere und spielte nur noch hobbymässig weiter. Ich begann ein Jusstudium und bin gerade dran, meine Weiterbildung zum eidgenössisch diplomierten Steuerexperten abzuschliessen. Derzeit lebe ich ganz gut, wenn ich keinen Schub habe. Ich bin immer noch sehr aktiv, treibe sehr viel Sport und habe gelernt, mit der Gewissheit zu leben, dass jederzeit etwas passieren kann. Die Krankheit hat für mich sogar positive Seiten: Ich achte mehr auf mich und höre auf meinen Körper. Vieles erachte ich nicht mehr als selbstverständlich, und ich bin dankbarer für das, was ich habe. Aber ganz ehrlich: Es zieht mich schon runter, wenn sich ein Schub ankündigt. Umso wichtiger ist in solchen Situationen, dass ich mich im Spital gut aufgehoben fühle. Die Ärztinnen und Ärzte sind dafür enorm wichtig. Sie sollten die Patientinnen und Patienten kennen und auch die Vorgeschichte beachten. Das war leider nicht immer so, aber zur‑ zeit fühle ich mich sehr gut aufgehoben. Letztes Jahr habe ich meinen dritten und vorerst letzten Schub erlitten. Zum Glück habe ich schnell reagiert und mich rechtzeitig in Behandlung begeben. So war er nicht ganz so heftig wie der zweite. Trotzdem konnte ich für einige Monate nicht so aktiv sein, wie ich es gerne gewesen wäre. Ich hoffe natürlich, künftig von weiteren Schüben verschont zu bleiben. Es gibt immer wieder neue Medikamente, die die Behandlung noch effektiver machen. Das gibt mir Hoffnung.

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«Als ich die Diagnose MS bekam, fiel mir ein Stein vom Herzen» Marc K.* war gerade im Ausland, als er merkte, dass etwas nicht stimmt. Er liess sich untersuchen und bekam die Diagnose Multiple Sklerose. Warum dies für den 38-Jährigen in jenem Moment eine Erleichterung war und wie er heute mit der Krankheit umgeht, erzählt er gleich selbst.

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ngefangen haben die Beschwerden im Jahr 2016 im März. Ich weiss es noch so genau, weil ich mich damals in einem Sprachaufenthalt in Strassburg befand. Plötzlich bemerkte ich im Gym, dass ich gewisse Übungen nicht mehr machen konnte. Ich hatte schlicht keine Balance mehr. Das zog sich ein paar Wochen hin. Zurück in der Schweiz, kamen noch ein Taubheitsgefühl auf der Zunge und Schwierigkeiten beim Klavierspielen hinzu. Da machte ich mir schon ein paar Gedanken. Die Unsicherheit nagte an mir. Was konnte das sein? Geht das wieder weg? Schliesslich ging ich in den nächsten Notfall meines Wohnorts und liess mich zwei Tage lang untersuchen. Während dieser Zeit bereitete ich mich mental auf das Schlimmste vor. Ich habe in meinem familiären Umfeld jemanden mit der extrem schweren Nervenkrankheit Amyotrophe Lateral­sklerose (ALS). Als ich dann

Text: Marcel Gutbrod Bild: Christoph Stulz

nach einigen Untersuchungen «nur» die Diagnose Multiple Sklerose bekam, war ich tatsächlich sehr erleichtert. Das klingt komisch, weil man MS ja auch nicht auf die leichte Schulter nehmen kann. Aber da ich mich bereits halb gelähmt im Rollstuhl sah, fiel mir ein Stein vom Herzen.

«Mittlerweile hat die Behandlung voll angeschlagen.» Marc K., MS-Patient

Im ersten Jahr meiner Erkrankung hatte ich immer wieder Durchhänger. Aber ich bin ein sehr positiver Mensch und dachte mir auch hier: Was ist wohl das Schlimmste, was mir passieren kann? Ich wusste, es gibt mittlerweile sehr wirksame Medikamente, die die Erkrankung stoppen können, wenn auch nur für eine bestimmte

Marc K. hat die Ba­lance wieder‑ gefunden und fühlt sich kerngesund.

Zeit. Sollte die Krankheit fortschreiten und ich in ein paar Jahren zum Beispiel meinen Arm nicht mehr richtig bewegen können, müsste ich halt meine Hobbys anpassen. Dieses Gedankenspiel half mir sehr. In dieser Zeit wechselte ich auch ans Unispital, da der Wissensstand zu MS hier einfach am besten ist. Ich fühlte mich hier von Anfang an super aufgehoben. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind wirklich fachlich kompetent, herzlich und beraten mich auch bei der allgemeinen Lebensunterstüt‑ zung. Momentan komme ich regelmässig hierher zur Pflegesprechstunde, zum MRI und zur Infusion. Mittlerweile hat die Behandlung voll angeschlagen. Alle meine Beschwerden sind komplett verschwunden. Ich fühle mich kerngesund – mache unter anderem Thaiboxen und Langlauf. Das Bild, das die Leute vor sich sehen, wenn sie an MS denken, ist wirklich veraltet. Das versuchte ich auch meinem engeren Umfeld zu vermitteln, als ich ihnen die Diagnose erläuterte. Auch wenn die Verläufe von Patienten sehr individuell sind, muss MS das Leben der Betroffenen nicht mehr zwingend bestimmen, und ich möchte das auch ein Stück weit vorleben. Wobei, eine Einschränkung habe ich doch: Als ich mich selbstständig gemacht habe, gab es gewisse Hürden bei den Sozial‑ ver­sicherungen – im Gesamtbild aber eigentlich eine Nebensächlichkeit. * Name von der Redaktion geändert

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Zusammenspiel von Klinik und Forschung Rund ein Prozent der Schweizer Bevölkerung erkrankt an rheumatoider Arthritis. Dabei führen körpereigene Abwehrzellen zu Entzündungen der Gelenkhaut. Der Rheumatologe Raphael Micheroli erklärt, wie die Krankheit behandelt wird. Text: Moritz Suter Bilder: iStock

Raphael Micheroli, was ist rheuma­toide Arthritis? Rheumatoide Arthritis ist eine Autoim­ munerkrankung und betrifft haupt­ sächlich, und häufig symmetrisch, die Gelenke der Hände und Füsse. Körper­ eigene Abwehrzellen führen zu Entzündungen von Gelenkhaut, Schleimbeutel und Sehnenscheiden, da das Immunsystem diese Teile fälschlicherweise als fremd und problematisch betrachtet.

Wie kommt unser Abwehrsystem zu diesem Irrtum? Die Ursache für die Erkrankung ist leider noch immer nicht geklärt. Das Immunsystem, ein äusserst kom­ plexes Konstrukt, entwickelt über mehrere Schritte eine «Fehlprogram­ mierung». Die körpereigenen Abwehrzellen lösen im Synovium, der Gelenkhaut, entzündliche Prozesse aus, um die «fremden» Stoffe zu besei­ tigen. Diese Entzündung führt unbe­ handelt zur Zerstörung von Knorpeln, Knochen, Sehnen und Bändern.

Und was kann dagegen unter­ nommen werden? Rheumatoide Arthritis ist leider nicht heilbar. Das Ziel der Behandlung ist, die Patienten medikamentös, aber auch mit anderen konservativen Massnahmen wie Physio- oder Ergo­ therapie so einzustellen, dass sie

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Bei der Gelenkbiopsie wird Gewebe entnommen und standardisiert ausgewertet.

weder von der Krankheit Symptome erfahren, noch – und das ist für die Patienten fast noch wichtiger – Nebenwirkungen entstehen. Bei rechtzeitiger Diagnose können wir die Be­ schwerden mit einer individuell angepassten Therapie lindern und den Betroffenen ein möglichst normales Leben ermöglichen. Die rechtzeitige Diagnose ist dabei entscheidend.

Welche Personengruppe ist besonders betroffen?

Warum?

Gibt es dafür eine Erklärung?

Eine frühe Diagnose und Therapie sind mit einem insgesamt besseren Verlauf verbunden.

Bei den meisten Autoimmunerkran­ kungen beobachten wir diese Ge­ schlechtertendenz. Den Grund dafür

Da spielen verschiedene Faktoren mit. Vor allem langjähriges Rauchen, Para­ dontitis und erbliche Einflüsse scheinen eine Rolle zu spielen. Auch das Alter hat einen Einfluss, denn der Beginn der Krankheit wird oft zwischen dem 40. und 50. Lebensjahr festgestellt. Frauen sind dreimal häufiger betroffen als Männer.


kennen wir nicht genau, vermuten aber, dass eine Kombination aus hormonellen Faktoren ausschlagge‑ bend ist. Besonders wichtig ist die Erkenntnis, dass Therapien und Medi‑ kamente bei Frauen anders wirken als bei Männern. Zu diesem Thema be‑ teiligt sich das USZ an der schweiz‑ weiten Forschung.

Wie wird die Krankheit diagnostiziert? Zuerst steht immer eine ausführliche Befragung nach den Symptomen an: Wann hat die Patientin Schmerzen? Leidet der Betroffene unter Morgen‑ steifigkeit? Wie lange dauert sie? Gibt

Was sind die aktuellen Fragestellungen in der Forschung?

Bleibt es bei der rheumatoiden Arthritis bei den Gelenkschmerzen? Zum Glück haben Gelenkverformun‑ gen durch die Fortschritte in der The‑ rapie deutlich abgenommen. Die Krankheit kann allerdings weitere Ent‑ zündungsherde an anderen Organen herbeiführen, etwa an der Lunge, am Herzbeutel oder an den Gefässen. Ganz allgemein haben Betroffene zu‑ dem ein erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse. Dagegen hilft die Änderung gewisser Lifestyle-Faktoren, wie gesunde Ernährung, ausreichend Bewegung und nicht zu rauchen. Wir achten auch speziell auf die Ein‑ stellung zusätzlicher kardiovaskulärer Risikofaktoren wie Blutfettwerte, Blutzucker oder Blutdruck. Die Zusammenarbeit mit der Kardiologie ist bei Risikopatienten von zentraler Bedeutung.

suchung werden alle Gelenke auf Druckschmerz oder Schwellungen überprüft und das Blut auf Entzün‑ dungswerte und Autoantikörper untersucht. Nicht selten sehen wir aufgrund der chronischen Entzün‑ dung bei rheumatoider Arthritis auch eine leichte Blutarmut.

«Die Grundpfeiler der Therapie bilden weiterhin Medikamente.» Raphael Micheroli, Oberarzt in der Klinik für Rheumatologie

es sonstige Begleitsymptome oder Ein‑ schränkungen im Alltag? Bei der anschliessenden körperlichen Unter‑

Noch immer ist sehr viel über die Krankheit unbekannt. Deshalb ist sie auch noch nicht heilbar. Prävention ist daher eine wichtige Massnahme. In der Schweiz wird zum Beispiel noch viel zu wenig auf die explizite Gefahr durch das Rauchen hingewiesen. Ein weiterer Schritt ist die gezielte, persona‑ lisierte Medizin. Mit der synovialen Gelenkbiopsie machen wir Fortschritte, damit Betroffene von Anfang an das passende Medikament erhalten. Wich‑ tig ist auch das Zusammenspiel von Grundlagenforschung und Klinik, um translationale Erkenntnisse zur Er‑ krankung zu gewinnen. Dieser Aus‑ tausch findet bei uns laufend statt. Nur so werden wir in der Therapie Fort‑ schritte machen und irgendwann eine kurative Lösung finden – auch wenn der Weg dorthin noch lange scheint.

Wie sieht eine individuell an­gepasste Therapie am USZ aus? Grundpfeiler der Therapie bilden weiterhin Medikamente. Inzwischen gibt es enorm viele verschiedene Medikamente, wobei bisher nicht vor‑ hergesagt werden kann, welches Medikament bei welchem Patienten am besten wirkt. Es gibt neue Ansätze, um die Medikamentenwirkung bereits vor Beginn der Therapie vor‑ herzusagen. Sie liegen in der Analyse des entzündeten Gewebes, des Synoviums. Zu diesem Zweck führte das USZ als erstes Schweizer Spital standardi‑ siert ultraschallgesteuerte synoviale Gelenkbiopsien ein. Dabei wird das Ge‑ webe standardisiert ausgewertet. Diese Methode soll Ansatzpunkte für die Wirksamkeit der Medikation finden. Den Patienten soll damit die müh­ selige Suche nach dem für sie wirk‑ samsten Medikament erspart bleiben.

SCHMERZFREI BEWEGEN

Das USZ ist an vielen nationalen und internationalen Forschungsprojekten beteiligt. Caroline Ospelt, Forschungsgruppenleiterin der Klinik für Rheumatologie, untersucht in einem aktuellen Projekt, warum viele Gelenkentzündungen nur bestimmte Gelenkregionen betreffen. Die rheumatoide Arthritis etwa beginnt häufig an den Händen, während der M. Bechterew hauptsächlich die Wirbelsäule betrifft. Ospelt und ihr Team wollen verstehen, warum manche Gelenke von rheumatischen Erkrankungen betroffen sind und andere nicht. Dazu tauchen die Forschenden tief in die Molekularbiologie ein und gehen bis zur embryonalen Entwicklung der einzelnen Gelenke zurück. Unterstützt werden sie von der USZ Foundation. Die Forschenden hoffen, im Verlauf des auf zwei Jahre angelegten Projekts die Entzündungsreaktion in den Gelenken besser nachvollziehen zu können und zu klären, ob verschiedene Gelenke auch unterschiedlich auf Therapien ansprechen.

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Unspezifische Symptome – schwierige Diagnose Manche Autoimmunkrankheiten haben eindeutige Symptome und zeigen einen typischen Verlauf. Sind die Symptome jedoch unspezifisch, braucht es eine umfassende immunologische Diagnostik und interdisziplinäre Zusammenarbeit. Text: Helga Kessler Bilder: Nico Wick

Ein eingespieltes Team: Miro Räber, Oberarzt i.V., und Ayla Yalamanoglu, Oberärztin i.V. der Klinik für Immunologie.

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auchschmerzen, Blut im Stuhl und Durchfall sind Symp‑ tome, die auf eine entzündliche Darm­erkrankung hinweisen können. Die Diagnose lässt sich in vielen Fällen mit einer Darmspiegelung und einer Biopsie erhärten. Bei Vorliegen der typischen Krankheitszeichen und Befunde ist auch die Diagnose anderer Autoimmunerkrankungen wie Typ-IDiabetes oder Multiple Sklerose zumeist verlässlich möglich. Schwieriger wird es bei untypischen Verläufen, nicht eindeutigen Befunden oder wenn mehrere Organe betroffen und die Symptome zudem unspezifisch sind. Müdigkeit, Fieber, Gewichtsverlust, Gliederschmerzen können Anzeichen einer Sarkoidose oder eines systemischen Lupus erythematodes sein, sie könnten aber auch Folge eines Infekts oder einer Tumorerkrankung sein. Wie kommt man in solchen Fällen zu einer klaren Diagnose? «Oft ist es so, dass wir uns annähern, indem wir zuerst häufige Erkrankungen ausschliessen», sagt Ayla Yalamanoglu, Oberärztin i.V. der Klinik für Immunologie, die auf die Diagnose und Behandlung systemischer Autoimmunerkrankungen spezialisiert ist. «Wir schaffen uns einen Gesamtüberblick, indem wir die vorgängigen Befunde, den bisherigen Verlauf und das aktuelle Beschwerdebild berücksichtigen und entsprechend weitergehende Abklärungen einleiten.» Da sich die Krankheitsbilder häufig in mehreren Organen manifestieren, ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit am Immunoboard des USZ ein wichtiger Bestandteil, um zur Diagnose zu gelangen.

Sarkoidose: eine multisystemische Krankheit Die Sarkoidose ist eine multisystemische Krankheit, das heisst, es können mehrere Organe gleichzeitig betroffen sein. Die Ursache ist noch ungeklärt. Es wird jedoch vermutet, dass ein bisher unbekanntes Antigen das Immunsystem aktiviert und zu einer Entzündung führt: Dabei werden Granulome gebildet, ein Nest von Entzündungszellen, das versucht, das Antigen zu

MARKER FÜR ENTZÜNDUNGEN

Bei Verdacht auf eine Autoimmunkrankheit wird im ersten Schritt mit Bluttests untersucht, ob Anzeichen einer Entzündung vorhanden sind. Leukozytenzahl, Blutsenkungsgeschwindigkeit und der Wert für den Entzündungsmarker CRP (C-reaktives Protein) können dann erhöht sein. Um das Vorliegen einer Autoimmunkrankheit genauer beurteilen zu können, werden abhängig von der vermuteten Erkrankung weitere Laborwerte bestimmt, darunter spezifische Entzündungsproteine und Autoantikörper.

eliminieren. Meist findet eine spontane Abheilung statt, jedoch kann es auch zu chronischen Verläufen kommen. Das am häufigsten betroffene Organ bei der Sarkoidose ist die Lunge, jedoch kann praktisch jedes Organ, darunter auch das Herz, das zentrale Nervensystem und die Augen, befallen sein. Im Blut können häufig

«Die Diagnosestellung ist nicht immer einfach.» Ayla Yalamanoglu, Oberärztin i.V. der Klinik für Immunologie

nannte Schmetterlingsexanthem, auftreten. Die definitive Diagnose erfolgt über den Nachweis von spezifischen Autoantikörpern im Blut. «Typischerweise können wir beim Lupus sogenannte antinukleäre Autoantikörper und Doppelstrang-DNA nachweisen», sagt Oberarzt i.V. Miro Räber. Weil sich dieser und andere antinukleäre Antikörper gegen den Kern von Zellen richten, können viele Organe geschädigt werden. Entsprechend vielfältig sind die Symptome. Generell bilden sich Autoantikörper, wenn das Immunsystem fälschlicherweise ein körpereigenes Molekül als fremdartig erkennt und eine gezielte Abwehrreaktion einleitet. Manche

für Sarkoidose typische Entzündungswerte nachgewiesen werden. Um die Diagnose definitiv zu stellen, wird versucht, die typischen Granulome im Gewebe mittels Biopsie nachzuweisen. Nach Diagnosestellung erfolgen eine individualisierte immunsup­ pressive Therapie sowie regelmässige Verlaufskontrollen, um das Ansprechen zu beurteilen.

Systemischer Lupus erythematodes: spezifische Autoantikörper Bei einem systemischen Lupus erythematodes können zusätzlich zu den eher unspezifischen Symptomen wie chronische Müdigkeit und Gelenkschmerzen charakteristische Hautveränderungen im Gesicht, das soge-

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Autoantikörper sind sehr spezifisch für bestimmte Erkrankungen, so der Doppelstrang-DNA-Autoantikörper beim Lupus oder der CCP-Autoantikörper bei der Gelenkerkrankung rheu‑ matoide Arthritis. Andere Autoantikör-

«Oftmals ist zur Diagnosestellung interdisziplinäre Zusammenarbeit unumgänglich.» Miro Räber, Oberarzt i.V. der Klinik für Immunologie

per sind eher unspezifisch und können, wie beispielsweise der antinukleäre Antikörper, bei verschiedenen Autoimmunerkrankungen nachgewiesen werden. «Dies erschwert oft die Interpretation der Befunde, wobei uns hier der direkte Austausch mit dem Diagnostiklabor weiterhilft», so Miro Räber.

BILDGEBENDE VERFAHREN

Sollen Organe oder Gewebe untersucht werden, um möglichst frühzeitig spezifische Fragestellungen zu klären, gibt es dafür verschiedene technische Verfahren, die sehr unterschiedliche Arten von Bildern liefern. Häufig werden zusätzlich Kontrastmittel eingesetzt, um die Strukturen noch deutlicher darzustellen. – Endoskopie: Untersuchung mit Licht plus Kamera, die über einen biegsamen Schlauch eingeführt werden, zum Beispiel Darmspiegelung – Sonografie: nutzt Ultraschall, um in Echtzeit Veränderungen sichtbar zu machen, wie Vergrösserung oder Verkleinerung der Schilddrüse – Röntgen: liefert durch Bestrahlung sehr schnell Bilder, zum Beispiel von Lungen- oder Herzerkrankungen – CT: Computertomografie, kombiniert Röntgenverfahren mit einem Computer, der aus elektronischen Daten sehr präzise Schnittbilder produziert und zum Beispiel Gefässe sehr präzise darstellt – MRI: Magnetresonanztomografie, nutzt Magnetfeld und Radiowellen, um Schnittbilder herzustellen, wird zum Beispiel zur Diagnose der Multiplen Sklerose eingesetzt – PET: Positronen-Emissions-Tomografie, beruht auf Strahlung von radioaktiven Substanzen, macht Stoffwechselaktivität sichtbar und zeigt beispielsweise die Entzündungsaktivität Sämtliche bildgebenden Verfahren können miteinander kombiniert ­werden, etwa Endoskopie mit Ultraschall oder CT mit PET.

«Ich verstand den Ernst der Lage nicht» Zuerst war es nur ein geschwollener Finger. Ein halbes Jahr später konnte Petra Meier* vor Schmerzen kaum noch schlafen. Wie die rheumatoide Arthritis ihr Leben veränderte.

«A

ls ich eines Morgens im Oktober 2019 erwachte, stellte ich fest, dass mein Zeigefinger über Nacht angeschwollen war und sich steif anfühlte. In den folgenden Monaten kamen immer mehr schmerzende Körperteile dazu: die Hand, die Ellenbogen, die Füsse. Zuerst hoffte ich,

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Text: Claudio Jörg Bild: Christoph Stulz

dass es sich um eine Überbelastung handeln könnte. Doch es war seltsam, dass die Gelenke immer nachts und am Morgen am meisten weh taten. Ich verdrängte die Probleme lange – wohl auch, weil es im Verlauf des Tages jeweils besser wurde. Ich redete mir ein, Gebresten wie diese gehörten nun mal einfach zum Älterwerden. Aber

sie verstärkten sich zusehends. Viele Freunde und Bekannte fühlten mit mir und gaben mir gut gemeinte Tipps – zum Beispiel, worauf ich beim Essen verzichten solle.

Bis zur Erschöpfung Im März 2020 wurde es dann so richtig schlimm. Weil ich nachts immer öfter


Petra Meier ist sehr dankbar für die wiedergewonnene Bewegungsfreiheit.

mit Schmerzen erwachte, war ich nach einer Weile total erschöpft. Genau in dieser Zeit ordneten die Behörden wegen der Corona-Pandemie den Lockdown an. Ich war unsicher, ob ich zum Arzt gehen durfte, da ich dachte, bei mir handle es sich nicht um einen Notfall. Stattdessen entwickelte ich immer raffiniertere Methoden, um mit der Situation klarzukommen. Morgens schwang ich mich mit einer speziellen Technik aus dem Bett. Auf dem Weg ins Badezimmer nahm ich kleinstmögliche Schritte. Ich konnte keine Faust mehr machen, keinen Waschlappen mehr auswringen. Ob Haare waschen oder Treppenlaufen – alles war eine Qual. Schwere Türen stellten ein Hindernis dar. Mein persönlicher Tiefpunkt waren die höllischen Schmerzen am Tag, nachdem ich eine Holzpalette über einen Parkplatz geschleppt hatte. Ich brach in Tränen aus. Dieser Schlüsselmoment gab mir die Kraft, endlich die Hausärztin aufzusuchen. Zuvor hatte ich den Ernst der Lage lange nicht erkannt.

Kein Standardfall Meine Hausärztin schoss Röntgenbilder, führte Labortests durch und tastete meinen Körper ab. Schliesslich überwies sie mich zur genaueren Abklärung an einen Rheumatologen.

Da ich gleichzeitig an einer Borreliose erkrankte, verzögerte sich die Diagnosestellung. Der Rheumatologe stufte mich als untypischen, komplexen Fall ein und überwies mich ans USZ. Im Herbst 2020 erhielt ich dort die Diagnose rheumatoide Arthritis. Zur Behandlung bekomme ich seither wöchentlich Spritzen mit Immunsuppressiva, die verhindern, dass sich mein Immunsystem gegen meinen eigenen Körper richtet.

Emotionale Achterbahnfahrt Die Diagnose war ein Schock für mich. Gleichzeitig war ich nach der langen Phase der Unsicherheit auch erleichtert, dass ich endlich wusste, woran ich litt. Ich war froh, mit der Behandlung beginnen zu können. Einerseits fand ich es schwierig zu verdauen, dass die Krankheit unheilbar ist. Ande‑ r­erseits beruhigte es mich, dass sie zumindest behandelbar ist. Im Winter schossen die Corona-Fallzahlen in die Höhe und ich war aufgrund meiner Medikamente auf einmal eine Risikoperson. Es war eine emotionale Achterbahnfahrt.

aufgehoben fühle. Ich injiziere mir einmal pro Woche eine bis zwei Spritzen. Nebenwirkungen spüre ich keine. Ich fühle mich nicht eingeschränkt und bin extrem dankbar für das, was ich jetzt alles wieder kann. Es ist nicht selbstverständlich, dass man von einem derart guten Gesundheitssystem, wie wir es in der Schweiz haben, profitieren kann. Wenn man meine Krankheit googelt, finden sich erschreckende Bilder von verformten Gliedmassen. Heute können diese Gelenk­deformationen dank moderner Therapien zum Glück verhindert werden. Ich geniesse die wiedergewonnene Bewegungsfreiheit in vollen Zügen. Für mich ist es wie ein zweites, geschenktes Leben. Ich rege mich heute nicht mehr so schnell auf über die kleinen Zumutungen des Alltags. Manchmal ertappe ich mich, wie ich unbewusst in Schonhaltung zurückfalle. Zum Beispiel beim Schalten auf dem Velo. Jetzt geht es wieder mit dem Daumen, aber lange brauchte ich dazu den ganzen Handballen.

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Weg aus der Schonhaltung Ich gehe alle drei Monate zur Blutkontrolle zur Hausärztin und alle sechs Monate ins USZ, wo ich mich sehr gut

* Name von der Redaktion geändert

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#facesofusz Sonia Cardoso

Für eine KV-Ausbildung in Portugal fehlte ihr nur noch die Deutschprüfung. Nach einem Aufenthalt in der Schweiz kam alles anders. Seit fast 20 Jahren ist Sonia Cardoso am USZ. Text: Moritz Suter Bilder: Christoph Stulz

Steckbrief Sonia Alter: 44 Jahre Beruf: Fachfrau Gesundheit (FaGe) Heimatland: Portugal Am USZ seit: September 2003 Arbeitspensum: 100 Prozent Lieblingstätigkeit: Arbeit an der Werkbank Grösste Herausforderung: Allgemeine Entwicklung der Pflege in den letzten Jahren

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#facesofusz ist unsere Serie auf Instagram. Jeden zweiten Mittwoch erscheint ein Porträt über engagierte, interessante und aussergewöhn­ liche Mitarbeitende, die sich mit Haut und Haaren ihrer Arbeit am USZ verschrieben haben. www.instagram.com/ universitaetsspitalzuerich


«A

ls ich vor mehr als 20 Jah‑ ren in die Schweiz kam, um meine Deutschkennt‑ nisse zu verbessern, hätte ich mir einen Beruf in der Pflege nie vorstellen können. Ich wollte eigentlich nur einige Wochen bleiben und danach in meiner Heimat die Deutschprüfung ablegen. In dieser kurzen Zeit lernte ich meinen Mann kennen und entschied, hierzubleiben. Ich arbeitete zunächst in der Gastronomie und fand nur zum USZ, weil ein Gast mir einen Job in der Pflege ans Herz legte: «Sonia, das wäre genau das Richtige für dich», meinte er. Nach der Ausbildung zur Pflegehelfe‑ rin folgte umgehend jene zur Pflegeas‑ sistentin. Die darauffolgende Weiterbil‑ dung zur FaGe sicherte mir eine Arbeit am Patienten, während andere Pflegeas‑ sistent*innen in Zeiten der Reformen in die Logistik oder Hotellerie wechselten. Seither arbeite ich in der Medizinischen Onkologie und Hämatologie, immer mit viel Freude – und einem 100-ProzentPensum; daran änderten auch die Gebur‑ ten meiner drei Kinder sowie die vielen Ausbildungen nichts. Diese Zeit war extrem intensiv, Freizeit blieb praktisch keine. Gerne würde ich noch die Zusatz‑ ausbildung HF machen – dafür fehlt mo‑ mentan aber schlicht die Zeit. FaGe ist ein schöner Beruf, vor allem der Kontakt mit den Patientinnen und Patienten macht mir Freude. Bei uns auf der Stammzelltransplantationsstation sind eigentlich alle Betten immer besetzt. Menschen, die hier therapiert werden, sind sehr schwach. Hier interessiert es niemanden, welches Auto der Patient fährt, wie viel Geld die Patientin auf dem Konto hat oder welchen Job sie ausüben: Bei uns sind alle gleich, alle sind stark auf unsere Betreuung angewiesen. Ein erfolg‑ reicher Tag endet für mich dann, wenn ich durch die Türe gehen kann im Wissen, medizinisch gesehen für meine Patienten alles gegeben zu haben. Durch die Knapp‑ heit an Personal haben wir immer weniger Zeit für die einzelnen Menschen, müssen ihnen aber dennoch eine optimale medizinische Versorgung geben können. Das ist herausfordernd, macht den Beruf aber durchaus spannender. Ich würde zukünftigen FaGe gerne mit auf den Weg geben, dass es ein an‑ strengender, aber schöner und dankbarer

Beruf ist. Immer wieder erlebe ich, wie Patienten sich bei einer Verlaufskon‑ trolle an mich erinnern und sich bei mir bedanken. Wir sind sehr prägend für den Patienten und seinen Aufenthalt im Spital. Leider sehe ich immer wieder, wie Lernende ihre Ausbildung abbrechen. Durchhaltevermögen und Ausdauer sind Fähigkeiten, die man als FaGe mit‑ bringen sollte.

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Mein Arbeitsplatz am USZ

Hier ist Sonia tagtäglich unterwegs: die Bettenstation im SUED 2.

S TA M M Z E L LT R A N S P L A N TAT I O N AM USZ

Seit 1976 werden an der Klinik für Medizinische Onkologie und Hämatologie allogene Blutstammzelltransplantationen bei bösund gutartigen hämatologischen System­erkrankungen und angeborenen Immundefekten durchgeführt. Dies geschieht mit Stammzellen aus dem Knochenmark oder dem Blut von verwandten, aber auch nicht verwandten Spenderinnen und Spendern. Insgesamt wurden im Laufe der vergangenen 40 Jahre am USZ über 900 Stammzelltransplantationen durchgeführt.

Die Präparation der Medikamente erfordert hohe Präzision. Die Patient:innen auf der Station sind darauf angewiesen.

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Der Umgang mit Essen als Krankheit Das Zentrum für Essstörungen sorgt seit 30 Jahren für die stationäre und ambulante Behandlung von Betroffenen, zu denen vermehrt Sportlerinnen und Sportler gehören. Text: Jolanda van de Graaf Bilder: Shutterstock

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on einer Essstörung Betroffene schränken ihr Essverhalten übermässig stark ein, kontrollieren es ausgeprägt oder verlieren komplett die Kontrolle darüber. Die damit verbundenen seelischen und körperlichen Begleiterscheinungen sind vielfältig und schränken das Leben der Erkrankten stark ein. Kommt hinzu: Der Übergang von einem gestörten Essverhalten zu einer krankhaften Essstörung verläuft fliessend und ist nicht leicht zu erkennen. Zu den bekanntesten Essstörungen zäh-

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len die Magersucht (Anorexia nervosa), Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa) und unkontrollierbare Essattacken (Binge Eating). Die gesundheitlichen Folgen sind weitreichend wie zum Beispiel Muskelschwund, brüchige Knochen (Osteoporose), Haarausfall und ausbleibende Monatsblutung oder Potenzverlust. Zudem ist das geschwächte Immunsystem anfällig auf Infektionen. Dauerhaftes Erbrechen im Fall der Bulimie schädigt Zähne und Speiseröhre.

Im Fokus: junge Frauen «Über 95 Prozent der Betroffenen, die sich bei uns befinden, sind junge Frauen zwischen 17 und 25 Jahren», erklärt Patrick Pasi, Leiter des Zen‑ trums für Essstörungen. Je schneller sie sich nach Krankheitsausbruch in Behandlung begeben, desto besser die Prognose zur Rehabilitation. «Wir haben aber auch über 40-jährige Frauen an unserem Zentrum. Es ist nie zu spät, aus destruktiven Mustern auszubrechen.» Überhöhte Schönheitsideale, soziale Medien und der


gesellschaftliche Druck belasten zunehmend auch junge Männer. «Für einen muskeldefinierten Körper verändern die Männer das Trainings- und Essverhalten und rutschen schliesslich in eine Essstörung ab.» Mehr als jede zweite Essstörung ist behandelbar. Ein wichtiger Baustein der Behandlung ist die Psychotherapie. Unbehandelt bleibt eine Essstörung häufig dauerhaft bestehen.

Grosse Nachfrage Derzeit verfügt das Zentrum für Essstörungen über 14 Betten. «Mit dieser Infrastruktur behandeln wir etwa 60 Patientinnen und Patienten pro Jahr stationär», sagt Patrick Pasi. Aufgrund der schweizweiten Unterversorgung zur Behandlung von Essstörungen plant das USZ für 2023 eine Erhöhung um zwei weitere Betten. «Wer bei uns eintritt, befindet sich meistens in einer massiven Unterversorgung. Deshalb ist die Nähe zur somatischen Klinik und zur Intensivstation wichtig.» Weitere 60 Patientinnen und Patienten können pro Jahr in der Tagesklinik behandelt werden. «Hier werden wir das Angebot per 2023 erhöhen.» In ambulanten Therapien finden weitere 600 Patientinnen und Patienten Hilfe. Das 14-köpfige Team am Zentrum für Essstörungen ist sich bewusst, dass lange Wartelisten kontraproduktiv sind. Patrick Pasi: «Ist der Entschluss einmal gefasst, sich aufgrund einer Essstörung in Behandlung zu begeben, ist eine rasche Aufnahme wichtig.» Zudem gebe es Fälle von sehr tiefem Body-Mass-Index (BMI), die umgehend stationär behandelt werden müssten, um ein Organversagen zu verhindern. Lebensgefährliches Untergewicht besteht bei einem BMI unter 12. Als extrem untergewichtig gelten Menschen mit einem BMI von unter 15. Rund zehn Prozent der Betroffenen sterben an der Anorexie.

Schwerpunkt Spitzensport und Essstörungen Die Anorexia athletica, die eine reduzierte Nahrungszufuhr mit hartem körperlichem Training verbindet, tritt

mittlerweile selbst im Breitensport zunehmend auf. «Betroffene befinden sich auf einer steten Gratwanderung, genügend Energie für ihre sportliche Leistung aufzubringen bei reduzierter Ernährung», erklärt Franziska HeldBeck das Dilemma. Nicht selten komme es dabei zu wiederholten Ess­anfällen, auch Binge-Eating-Störung genannt. Die Psychologin widmet sich am USZ den von Essstörungen betroffenen Leistungssportlerinnen und -sportlern. Zuweisungen aus dem ärztlichen Umfeld von Spitzensportlern haben

zugenommen. Franziska Held-Beck: «Sportlerinnen und Sportler sind aktiv an einer lösungsorientierten Therapie interessiert, um zur vollen Leistungsfähigkeit zurückzukehren.» Nach Entlassung aus der Therapie sind die Betroffenen längst nicht von ihrer Essstörung geheilt. Das Ablegen von Denkmustern und das Erlernen neuer Automatismen dauert Jahre. Patrick Pasi: «Unser Ziel ist es, Betroffene mit dem Rüstzeug auszustatten, um den eigenen Alltag erfolgreich und gesund meistern zu können.»

DREI FRAGEN AN

Angelica Moser (24) Stabhochspringerin

Angelica Moser, Sie waren Binge-­Eaterin. Was führte Sie ans Zentrum für Essstörungen? Ich habe während der CoronaPandemie eingesehen, dass mein ungesundes Verhältnis zum Essen für mich eine zu grosse Belastung ist und ich professionelle Hilfe benötige. Deshalb meldete ich mich direkt beim Zentrum für Essstörungen, auch weil es hier Fachleute in Bezug auf Essstörungen im Spitzensport gibt. Welches sind die wichtigsten Erkenntnisse aus Ihrer Behandlungszeit? Ich musste von einigen Gewohnheiten wegkommen. Der Weg dorthin war nicht immer einfach. Aber für mich hat es sich definitiv gelohnt. Ich habe einerseits einen

bewussteren Umgang mit dem Thema Ernährung, andererseits mache ich mir aber auch viel weniger Druck. Wie gehen Sie heute mit dem Thema Essen um, und was raten Sie betroffenen jungen Sportlerinnen und Sportlern? Ich denke heute nicht mehr oft über das Thema Ernährung und Gewicht nach und gehe viel gelassener damit um. Zudem kann ich das Essen wieder wirklich geniessen, ohne mir danach den Kopf zu zerbrechen. Mein Rat an junge Sportlerinnen und Sportler ist, sich das Problem zuerst selbst einzugestehen, danach professionelle Hilfe zu suchen und die Hilfe auch anzunehmen.

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Die vier Phasen des allergischen Schocks Allergische Reaktionen können vielerlei Ursprünge haben. Jeder Mensch reagiert anders auf bestimmte äussere Reize wie Partikel, Nahrungsmittel oder Insektenstiche. Es ist wichtig, die Allergiesymptome rechtzeitig zu erkennen. Text: Moritz Suter und Allergiestation USZ Grafik: Tobias Willa

Phase

1

Wie schwer die Reaktion ausfallen wird, ist anhand der Symptome der ersten Phase nicht vorauszusehen. Die Reaktion kann trotz vergleichsweise harmlosen ersten Symptomen schwer verlaufen.

• Rötung • Juckreiz • Schwellung

Phase

2 • erhöhter Blutdruck

Nahrungsmittel sind bei Kindern die häufigsten Auslöser. Auch Insektenstiche sind oft vertreten, selten auch Medikamente (in Tabletten- oder Spritzenform). Meist bleibt nur wenig Zeit, um einen schwereren Verlauf zu verhindern.

• Herzrasen • Atembeschwerden • Übelkeit

Phase

3

• Durchfall

•K reislaufinstabilität • verlangsamter Herzschlag

Besonders schwere Reaktionen treten meist innert weniger Minuten nach Kontakt mit dem allergieauslösenden Stoff auf.

• Atemnot • Konfusion • Kontinenzverlust

Phase Geschätzt erleben pro Jahr rund 10 Personen auf 100’000 Einwohner*innen einen lebensbedrohlichen allergischen Schock. Auf eine Million Einwohner*innen sterben 1 bis 3 Personen nach einer schweren allergischen Reaktion.

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4 •H erzkreislaufstillstand • Atemstillstand • Lungenödem • Tod


? Diagnose Demenz? Nicht jede Vergesslichkeit bedeutet eine Demenz­erkrankung. Bei Anzeichen sollte aber eine frühe Abklärung gemacht werden. Die Memory Clinic am USZ ist darauf spezialisiert. Text: Martina Pletscher Bild: Partner & Partner

H

äufig fallen erste Ausfallserscheinungen zuerst den Angehörigen auf. Die betagte Mutter kann sich an jüngste Ereignisse nicht erinnern und verliert beim Erzählen den Faden. Beim Ehemann, der früher ohne Karte wanderte, versagt der Orientierungssinn. Die Tante spricht und bewegt sich seit dem letzten Besuch auffallend langsamer. Ist es einfach der altersgemässe Abbau oder vielleicht doch eine Demenz­erkrankung? «Bei einem Verdacht, spätestens, wenn die Ausfälle die Bewältigung von Alltagssituationen beeinträchtigen, sollte man eine umfassende Abklärung machen», rät Hans Jung. Der Neurologe ist Spezialist für Demenzerkrankungen und Leiter der Memory Clinic der Klinik für Neurologie am USZ. «Demenzerkrankungen – Alzheimer ist die häufigste – haben verschiedene Ursachen und zeigen sich ganz verschieden. Immer wieder stellen wir bei der Abklärung aber auch fest, dass gar keine Demenz vorliegt, sondern beispielsweise eine Al­tersdepression, die sich recht gut behandeln lässt», so Jung. Demenz­ erkrankungen sind leider immer noch nicht heilbar, ihr Fortschreiten kann mit medikamentösen und nichtmedikamentösen Massnahmen jedoch in vielen Fällen verlangsamt werden. Je früher die genaue Art der Demenz festgestellt wird und Massnahmen einsetzen, umso besser. Und: Wichtige Entscheide und Wünsche für eine fortgeschrittene Phase der Krankheit können dann noch in aller Ruhe überlegt und festgehalten werden.

Nur eine umfassende Abklärung bringt die sichere Diagnose

Die meisten Patienten werden vom Hausarzt ans USZ überwiesen, wenn erste Tests einen Verdacht auf Demenz ergaben und weitere Untersuchungen nahelegen. Die Abklärung erfolgt im Rahmen der Memory Clinic am USZ nach standardisierten Vorgaben. Ausgangspunkt für den Diagnoseprozess ist immer ein ausführliches ärztliches Gespräch mit dem Patienten – und mit Angehörigen. «Die Krankheitsgeschichte bildet die Basis. Die Aussensicht eines Angehörigen liefert jedoch wichtige zusätzliche Informationen zur Situation des Patienten. Unabdingbar ist auch eine fachärztliche neurologische Untersuchung», so Jung. Neben der körperlichen Untersuchung gehören Blutuntersuchungen, Bildgebung mit MRI und bei entsprechenden Hinweisen auch eine Lumbalpunktion für biochemische Hinweise für eine AlzheimerErkrankung dazu. Auch eine neuropsychologische Untersuchung ist ein integraler Bestandteil einer Demenzabklärung; mit verschiedenen Tests lassen sich unter anderem die Sprachkompetenz, die Konzentrations- und Gedächtnisleistung ermitteln. Damit die Tests aussagekräftig sind, werden sie individuell an das Alter, das Geschlecht, die Ausbildung und nach weiteren Kriterien auf die Patien­ tinnen und Patienten abgestimmt.

Demenz. Jedes Jahr erhalten etwa 30’000 Menschen diese Diagnose; die Zahl steigt altersabhängig an. «Für die Patientinnen und Patienten ist es immer ein Schock, wenn die Diagnose feststeht, auch wenn sie schon im Raum stand», sagt Hans Jung. «Häufig haben sie das Bild eines rasanten Abbaus ihrer Fähigkeiten vor Augen. Wir können ihnen aber etwas von diesem Schrecken nehmen, indem wir aufzeigen können, wie der Krankheitsverlauf positiv beeinflusst werden kann.» Mit der Diagnose erhalten die Patientinnen und Patienten einen individuell auf sie abgestimmten Therapievorschlag. Neben Medikamenten werden Ergo- und Physiotherapie, Gedächtnistraining, Verhaltens- und Musiktherapie eingesetzt. Wichtig ist auch, dass die Patientinnen und Patienten regelmässig körperlich, geistig und sozial aktiv sind und ihre noch vorhandenen Fähigkeiten nutzen, um ihr Wohlbefinden und ihre Selbstständigkeit zu fördern. «Ein gesunder Lebensstil zeitlebens», so Hans Jung, «mit regelmässiger Bewegung, geistiger Aktivität, Nichtrauchen, keinem über­mässigen Alkoholkonsum und normalem Blutdruck ist denn auch die beste Vorsorge gegen eine Demenzerkrankung im fortgeschrittenen Alter.» I N F O S U N D KO N TA K T

www.usz.ch/ neuropsychologie-memory-clinic

Die individuelle Therapie kann den Verlauf positiv beeinflussen In der Schweiz leben rund 140’000 Personen mit einer diagnostizierten

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Unterwegs im Geisterspital Der Abbruch der Gebäude auf dem Baufeld von MITTE 1 | 2 hat im Oktober begonnen. Die Projektleiter gewährten USZinside letzte Blicke in die verlassenen Gebäude. Wo früher Mitarbeitende und Patientinnen und Patienten ein und aus gingen, herrschte eine gespenstische Leere. Text: Moritz Suter Bilder: Christoph Stulz

Blick in den OP-Saal: Nur die speziellen Leuchten erinnern noch an die frühere Tätigkeit in diesen Räumen.

Früher operierten hier die Dermatologie-Teams ihre Pa­tientinnen und Patienten. Nun ist alles ruhig und leer.

Auch die unterirdischen Gänge unter der Alten Anatomie sind leergeräumt. Strom-, Wasser-, Telefon-, Luft- und Sauerstoffleitungen sind gekappt.

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Die Grünflache vor dem Dermatologiegebäude, zuvor ein beliebter Pausenort, ist verlassen.

Diese Veloabstellplätze wurden von den Mitarbeitenden rege genutzt. Sie warten auf den Abbruch – ihr Ersatz ist an einem anderen Standort bereits in Gebrauch.

Verwaister Empfang: Bis zu 80’000 Patientinnen und Patienten kamen pro Jahr zur ambulanten Behandlung in die Dermatologie.

In die Badewanne, in der Patientinnen und Patienten gewaschen wurden, fliesst kein Wasser mehr.

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Das medizinische Bilderrätsel Bild: Martin Oeggerli mit Universitätsspital Basel und Universität Basel

Erkennen Sie das Motiv auf dem Bild? Raten Sie mit beim medizinischen Bilderrätsel. Die Auflösung finden Sie unterhalb des Bildes, kopfüber geschrieben.

Impressum USZinside Das Magazin richtet sich an Mitarbeitende sowie Besucherinnen und Besucher des USZ. Herausgeberin Universitätsspital Zürich, ­Unternehmenskommunikation Redaktionsleitung Barbara Beccaro Redaktion USZ Martin Brüesch, Manuela Britschgi, Marcel Gutbrod, Claudio Jörg, Cindy Mäder, Martina Pletscher, Nathalie Plüss, Moritz Suter Externe Autoren Helga Kessler, Jolanda van de Graaf Layout Partner & Partner Druck Staffel Medien AG Korrektorat Susanne Brülhart Bilder Christoph Stulz, iStock, Martin Oeggerli mit Universitätsspital Basel und Universität Basel, Nico Wick, Nicolas Zonvi, Oculus Illustration, Partner & Partner, Shutterstock, Tobias Willa, Universitätsspital Zürich Auflage 12’500 Exemplare Erscheinungsweise Dreimal jährlich: März/Juli/November Kontakt uszinside@usz.ch

F O LG E N S I E U NS ! UniversitaetsspitalZuerich

Darm-Mikrobiom Das Bild zeigt das Darm-Mikrobiom eines Kindes einen Monat nach der Geburt. Es

besteht aus Billionen von Bakterien und spielt in der Darmgesundheit eine wichtige Rolle.

Unispital_USZ universitaetsspitalzuerich Universitaetsspital Zuerich Universitätsspital Zürich Drucksache myclimate.org/01-22-122706

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Universitätsspital Zürich


Brustkrebs. Bei wem bin ich in guten Händen? Gibt es neue Therapien? Ich will gesund werden!

Wir wissen weiter. usz.ch/brustkrebs


ZUR PERSON

Esther Stadelmann, Pflegeexpertin für MS-Patientinnen und -Patienten

Nach ein paar Jahren Berufserfahrung hat Esther Stadelmann berufsbegleitend den Master of Science in Pflege absolviert. Am USZ hat sie ein Jahr auf der interdisziplinären Abteilung Innere Medizin/ Onkologie als Fachexpertin gearbeitet, bevor sie dort Pflegeexpertin wurde. Auf der damaligen Abteilung wurden die ersten MSPatient:innen Stammzell-transplantiert. Esther Stadelmann hat sich zur MS Nurse Pro ausbilden lassen und zahlreiche Weiterbildungen absolviert. Als auf MS-Patient:innen spezialisierte Pflegeexpertin ist sie als konstante Ansprechperson für diese da und hilft ihnen bei all ihren Fragen und Anliegen weiter. Für die bestmögliche Betreuung von MS-Patient:innen braucht es zwingend ein ganzes Netzwerk an Fachpersonen mit ganz unterschiedlichem Know-how, denn das Krankheitsbild Multiple Sklerose hat viele Gesichter und kann daher vielfältige Herausforderungen mit sich bringen. So etwa im Umgang mit der Diagnose und der damit verbundenen Unsicherheit, sei es bezüglich Therapie oder Symptommanagement, aber auch bezüglich zahlreicher existenzieller Aspekte.

15’000 Menschen

20

sind in der Schweiz von MS betroffen.

Fachpersonen

umfasst ein Team am USZ, das sich explizit um MS-Patient:innen kümmert.

2’404

Kontakte

mit betroffenen Patient:innen erfolgten 2021 in der Pflegesprechstunde für MS.


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