Urbane Künste Ruhr Magazin #4

Urbane KĂźnste Ruhr Magazin

Verschiebung

Shift

Über uns & Dank Urbane Künste Ruhr ist eine vielgestaltige, dezentrale Institution für Gegenwartskunst im Ruhrgebiet. Wir initiieren Projekte im öffentlichen Raum, Ausstellungen, ResidenzProgramme und Veranstaltungen, oft in Zusammenarbeit mit lokalen und internationalen Kooperationspartner*innen.

Neben Ruhrtriennale, Tanzlandschaft Ruhr und Chorwerk Ruhr ist Urbane Künste Ruhr ein Teil der Kultur Ruhr GmbH mit Sitz in Bochum, deren Gesellschafter und öffentliche Förderer das Land Nordrhein-Westfalen und der Regionalverband Ruhr sind.

Das Urbane Künste Ruhr-Magazin erscheint halbjährig, informiert über all unsere Aktivitäten und setzt sich auf vielfältige Weise − in Form von wissenschaftlichen, essayistischen oder popkulturellen Beiträgen − mit dem Ruhrgebiet und dem Themenfeld Kunst im öffentlichen Raum auseinander. Im Besonderen begleitet das Magazin das Ruhr Ding, das wir als wiederkehrendes Ausstellungsformat in den Monaten Mai und Juni im öffentlichen Raum in verschiedenen Teilen der Ruhrgebietsregion realisieren. Vor dem Hintergrund der Entwicklungen um das Coronavirus waren wir in diesem Jahr gezwungen, das Ruhr Ding: Klima in den vier Ruhrgebietsstädten Recklinghausen, Herne, Marl und Haltern am See zu verschieben. Die geplante

zweite Ausgabe wird in aktualisierter und ergänzter Form vom 8. Mai bis 27. Juni 2021 stattfinden. Die Weiterentwicklung erfolgt in enger Zusammenarbeit mit den Künstler*innen und den Kooperationspartner*innen unter der künstlerischen Leitung von Britta Peters. Wir danken allen Unterstützer*innen auf dem Weg: Den Stadt- und Kulturverwaltungen der Städte Haltern am See, Marl, Recklinghausen, Herne und Gelsenkirchen, der Betreibergesellschaft Silbersee II GmbH, der DLRG Haltern e.V., den Louis Service Diensten, der Quarzwerke GmbH, dem TUS Haltern e.V., Hermann Döbber, Marcus Freund, Helmut Kuchel, Burkhard Lüning, Wolfgang Pörsch, Vlado Velkov, dem Skulpturenmuseum Glaskasten Marl, dem Blumenthal e.V., der Kunsthalle Recklinghausen, den Ruhrfestspielen Recklinghausen, der Vestische Straßenbahnen GmbH, dem Emschertal-Museum Herne, Carina Hommel, Stefanie Thomczyk, dem Ehepaar Vossen, sowie unseren Gesellschaftern, Förder*innen und Sponsor*innen: dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, dem Regionalverband Ruhr, der Kunststiftung NRW, der Innogy Stiftung für Energie und Gesellschaft und der KulturStiftung Masthoff.

About us & Thank You

every six months. In addition to providing an The municipal and cultural administrations of overview of our programme, it deals with the the cities of Haltern am See, Marl, RecklingRuhr area and the topic of art in public space in a hausen, Herne and Gelsenkirchen, Betreiber­ variety of ways — in the form of academic, essay- gesellschaft Silbersee II GmbH, DLRG Haltern e.V., Louis Service Dienste, Quarzwerke istic or pop-cultural contributions.

In particular, the magazine accompanies the GmbH, TUS Haltern e.V., Hermann Döbber, Urbane Künste Ruhr is a polymorphous decentralized institution for contemporary art in the Ruhr Ding, a recurring exhibition format that will Marcus Freund, Helmut Kuchel, Burkhard Ruhr region. It works together in co-operation be implemented in various parts of the Ruhr re- Lüning, Wolfgang Pörsch, Vlado Velkov, Skulpwith local and international partners to initiate gion in May and June. Against the background of turenmuseum Glaskasten Marl, Blumenthal projects in public spaces, exhibitions, residency the developments surrounding the coronavirus, e.V., Kunsthalle Recklinghausen, RuhrfestUrbane Künste Ruhr was forced to postpone the spiele Recklinghausen, Vestische Straßenbahprogrammes and events.

Along with the Ruhrtriennale, Tanzland- Ruhr Ding: Klima. The second edition of the exhi- nen GmbH, Emschertal-Museum Herne, Carischaft Ruhr and ChorWerk Ruhr, Urbane Kün- bition format in the public space is now scheduled na Hommel, Stefanie Thomczyk, Mr and Mrs ste Ruhr is part of Kultur Ruhr GmbH, whose to take place on 8 May — 27 June 2021 in an up- Vossen as well as our partners and public sector proprietors are the State of North Rhine-West- dated and expanded form. The further develop- supporters: the Ministry of Culture and Sciphalia and the Regional Association Ruhr and ment will be carried out in close collaboration ence of the State of North Rhine Westphalia, whose headquarters is located in Bochum. with the artists and the cooperation partners un- Regionalverband Ruhr, Kunststiftung NRW, Our magazine, which informs about all ac- der the artistic direction of Britta Peters. We Innogy Stiftung für Energie und Gesellschaft and KulturStiftung Masthoff. tivities of Urbane Künste Ruhr, is published thank all supporters along the way:

Neues Datum

8.5.– 27.6.21

Eine Ausstellung im öffentlichen Raum in Gelsenkirchen, Herne, Recklinghausen und Haltern am See

Post-Hamster Wheel 0 2 Post-Hamsterrad Britta Peters The Image of 08 Das Bild vom Klima?

Climate?

Eske Schlüters Voices Offstage 11 Stimmen aus dem Off Boris Sieverts, Jeewi Lee, Sibylle Peters, Nora Sdun, Raul Walch, Monika Gintersdorfer What Kind of 20 Welche Art von Sichtbarkeit?

Visibility?

Ellen Wagner Moved Botany — or 23 Bewegte Botanik Why Plants Migrate Annemarie Bucher Attack From the 26 Attacke von rechts Right Susanne Götze Earthing. On Gaia 29 Erden. Über Gaia und and Other Deities andere Gottheiten of the Climate Catastrophe der Klimakatastrophe Anja Breljak, Sophia Obermeyer, Jorinde Schulz & Shirin Weigelt Post from the Past 32 Post von gestern Christoph Schäfer Exponential Growth 34 Exponentielles Wachstum in a Finite World in einer endlichen Welt Till Briegleb 38 Cumulus homogenitus Etienne Dietzel Mind the Gaps 40 Mut zur Lücke Janne Tüffers Emscherkunstweg: 44 Emscherkunstweg.

A Lexicon from Von Alle bis Zeit.

All to Time Stop There, Please!

48 Einmal stehen bleiben, bitte!

Manischa Eichwalder, Emilia Sliwinski 50 Wandersalon 54 Auf triftenden Gründen Barbara Köhler Imprint 55 Impressum

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Editorial

Britta Peters

Post-Hamsterrad

Seit 2019 begleiten wir die Aktivitäten von Urbane Künste Ruhr durch zwei Magazine im Jahr. Im Frühjahr erscheint die Preview, die Einblicke in die Vorbereitungen auf das jeweilige Ruhr Ding gibt, das als wiederkehrendes Ausstellungsformat in den Monaten Mai und Juni in verschiedenen Teilen der Ruhrgebietsregion umgesetzt wird. Darauf folgt, neben dem Kurzführer, der direkt zur Ausstellung aufgelegt wird, im Spätsommer ein zweites Heft, das die realisierten Projekte dokumentiert. Soweit das Publikationskonzept, das bewusst aktuell und inhaltlich breitgefächert angelegt ist.

Unser drittes Magazin, dem Ruhr Ding: Klima gewidmet, kam gerade druckfrisch aus der Presse als die Entscheidung fiel, dass wir die Ausstellung aufgrund der Corona-Pandemie verschieben müssen. Jetzt ist also alles anders, in jeder Hinsicht.

Die globale Zeitrechnung zerfällt in eine Prä-Corona- und Post-Corona-Ära, wobei der Zusatz „post“, ähnlich wie in „postindustriell“, „postmodern“ oder „postkolonial“ gerade nicht impliziert, dass die Folgen und die Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Themenkomplex endgültig vorbei sind.

Statt auf eine Ausstellung zurückzuschauen, reflektieren wir nun gemeinsam mit den Autor*innen die Erfahrungen mit der Pandemie im Hinblick auf den öffentlichen Raum, auf die Möglichkeit sich zu versammeln, im Bezug auf die Rolle der Künste und Wissenschaften. Bei alledem behalten wir das soziale und ökologische Klima im Fokus, die uns als Themen in Vorbereitung auf das jetzt für Mai und Juni 2021 in erweiterter Form geplante Ruhr Ding: Klima weiterhin beschäftigen. Denn auch wenn wir uns im März diesen Jahres schon praktisch auf der Zielgeraden zur Eröffnung befanden, wird ja so ein großes ortsbezogenes Ausstellungsprojekt nicht einfach eingefroren und ein Jahr später wieder aufgetaut. Bei nahezu allen Arbeiten handelt es sich um Neuproduktionen, die für und in künstlerischer Korrespondenz mit bestimmten Orten

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entstanden sind. Es wird Verschiebungen und Adaptionen geben, mit Gelsenkirchen haben wir zusätzlich zu den Städten Herne, Recklinghausen und Haltern am See unseren Radius noch einmal erweitert.

In Post-Corona-Zeiten erscheinen viele Aspekte der Klima-Debatte in einem neuen Licht, allen voran die Erkenntnis, dass sich die Welt von einem Tag auf den anderen verändern kann.

Wenn eine entsprechend große Bedrohung wahrgenommen wird, kann daraus die Notwendigkeit zu Handeln erfolgen. Das ist eine sehr wichtige Erfahrung, die wir angesichts des realen Erderwärmungsszenarios als Möglichkeit nie wieder vergessen dürfen. Eindrucksvoll zeigte sich in den verschiedenen Luftaufnahmen aus China und anderswo ja auch bereits nach wenigen Wochen der heruntergefahrene Flug- und Autoverkehr als effektives Mittel zur Reduktion von CO2-Emissionen.

Leere Städte luden zum Spazieren ein und niemand wunderte sich darüber, dass sich hier und da Menschen auf Pollern und Bordsteinkanten niederließen, um ein wenig auszuruhen, mit ihrem Handy herumzuspielen oder sich mit Abstand zu unterhalten. Öffentliche Plätze wurden durch unterschiedlichste Nutzungen reaktiviert und Straßen zum Fahrradfahren freigegeben.

All das war, im Gegensatz zu den geschäftigen Zeiten vorher, ganz normal. Kein Konsumzwang, keine schrägen Blicke von Haus- und Ladenbesitzer*innen, keine Dominanz des Autoverkehrs mehr. Wenn der öffentliche Raum so genutzt werden kann, ist das eine fantastische Sache und es lassen sich noch viel weiterreichende Formen eines gemeinschaftlichen Zusammenleben denken.

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Editorial

Britta Peters

Gleichzeitig stürzt die Ansteckungsgefahr alle öffentlichen kulturellen und politischen Versammlungsformen in eine nie dagewesene Krise — und es bleibt abzuwarten, wie es diesbezüglich weitergeht. Feststeht, dass für den Kulturbereich jede Form von finanzieller Unterstützung und eine neue Art administrative Kreativität benötigt werden, um unter virologischen Schutzauflagen weiterhin aktiv sein zu können. Die zeitgenössische Kunst in all ihren Spielarten, ob performativ oder in Form von Installationen, ist ein fundamental wichtiger Resonanzraum, um die Gegenwart zu reflektieren. Zu Zeiten, in denen unzählige Menschen durch die Folgen des Coronavirus ihre Existenzgrundlage und soziale Stabilität verloren haben, brauchen wir sie mehr denn je!

Neben Experimenten mit digitalen oder hybriden Formaten — und bald auch wieder analogen Veranstaltungen — freuen wir uns ab dem 23. August die auf Objekten und Filmaufnahmen aus dem Archiv von Anita und Werner Ruhnau basierende Ausstellung Die Spielstraße München 1972. Kunst als Kommentar zu den Olympischen Spielen zu zeigen. Anita Ruhnau war an der — im Gegensatz zur Olympiade — ausgesprochen partizipativ und performativ angelegten Spielstraße unter der Generalintendanz des Architekten Werner Ruhnau als Projektleitung für die Sektion Bildende Kunst beteiligt. Die Ausstellung über das bislang wenig bekannt gewordene Projekt ist von Urbane Künste Ruhr gemeinsam mit dem Skulpturenmuseum Glaskasten Marl konzipiert und wird dort bis zum 1. November zu sehen sein.

Unter den Exponaten befindet sich auch die Olympische Tretmühle von Timm Ulrichs, ein Laufrad, in dem er als Performance täglich die Marathon-Distanz von 42 Kilometern absolvierte.

Das Hamsterrad als Metapher für ein erschöpfendes, unsolidarisches und fremdbestimmtes Leben erfreut sich bis heute großer Beliebtheit. Jetzt hat die Pandemie das Rad weltweit für einen Moment aus dem Rhythmus gebracht und es liegt an uns, es anders wieder in Schwung zu bringen. Oder noch besser, ein neues Leben zu erfinden, für das sich dieses Bild als Metapher gar nicht mehr eignet.

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Post-Hamster Wheel Since 2019 we have accompanied the activities of Urbane Künste Ruhr with two magazines each year. In spring comes the preview, offering insights into the preparations for the upcoming Ruhr Ding, which as a recurring exhibition format takes place in various parts of the Ruhr region through the months of May and June. Besides the short guide published at the very start of the exhibition, in late summer we issue a second magazine documenting the implemented projects. Thus far our publication plan with its emphasis on being upto-the-minute with a broad thematic outlook.

Our third magazine, focussing on the Ruhr Ding: Klima, had just come fresh off the press when the decision fell to postpone the exhibition due to the corona pandemic. So now everything has changed, in all respects. The global time scale has split into a pre-corona and a post-corona era — whereby the prefix “post”, just as in “post-industrial”, “post-modern” or “post-colonial”, indeed does not imply that the consequences of and coming to terms with the respective thematic complex belong definitively to the past.

So instead of retrospectively surveying an exhibition we, together with the authors, intend to reflect on our experiences with the pandemic in regard to public space and the possibilities of people coming together, in relation to the role of the arts and science. In spite of this we will not let the social and ecological climate out of our focus, which in an extended form continue to preoccupy us as themes in preparation for the Ruhr Ding: Klima now scheduled to take place in May and June 2021. Because even though in March we had already practically been on the home stretch before the opening, a site-specific exhibition project of this dimension cannot simply be shock frozen and then defrosted again one year later. Nearly all the works here consist of new productions that have been created for and in artistic dialogue with certain sites. There will be shifts, postponements and adaptations, and we have again further broadened our radius by now incorporating Gelsenkirchen in addition to the towns of Herne, Recklinghausen and Haltern am See.

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Editorial

Britta Peters

In post-corona times many aspects of the climate debate appear in a new light, especially the realisation that the world can change from one day to the next. In response to a threat of this magnitude we can indeed grasp the imperative to act. This is a very significant experience, the possibility of which we must never allow ourselves to forget in the face of the real scenario linked to global warming. The various aerial photographs from China and elsewhere have given us striking evidence that even after just a few weeks, reduced air and road traffic are effective means of cutting CO2 emissions.

Empty towns and cities became invitations to go for walks, and no one was surprised to see people simply sitting down here and there on bollards or by the kerb to take a break, play with their mobiles or chat (at a distance). Public spaces were reactivated through a wide variety of new uses; roads were given over to cycling. All this, in contrast to the frantic bustle of the time before, felt entirely normal. Gone the pressure to shop, the disapproving glances from house and shop owners, the dominance of car traffic. It’s fantastic when public space is used in this way and even more far-reaching forms of communal life are conceivable.

At the same time, the risk of infection plunged all forms of public cultural and political assembly into an unparalleled crisis — and it is yet to be seen how in this respect things will progress. Certainly, the realm of culture in every form requires financial support and a new kind of administrative creativity if it is to remain active under the current infection control regime.

Contemporary arts of all variants, whether in performative or installative forms, provide a fundamentally important resonance space to reflect upon

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the present world. As innumerable people lose their means of existence and social stability by the consequences of the coronavirus, we need them more than ever!

Beside ongoing experiments with digital or hybrid formats — and soon also with analog events again — we look forward to presenting the exhibition, starting on 23 August, based on objects and film footage from Anita and Werner Ruhnau’s archive, entitled Die Spielstraße München 1972. Kunst als Kommentar zu den Olympischen Spielen (Avenue of the Games Munich 1972. Art as commentary on the Olympic Games). Anita Ruhnau was involved as project manager for the fine arts section of the Spielstraße which, unlike the Olympic Games themselves, aimed to be distinctly participatory and performative, and was directed by the architect Werner Ruhnau. The exhibition about this hitherto barely known project was conceived by the Urbane Künste Ruhr in cooperation with the Skulpturenmuseum Glaskasten Marl, where it will be on display until 1 November.

Among the exhibits is also the Olympic treadmill by Timm Ulrichs, a wheel inside which he covered the marathon distance of 42 km every day as a performance. As a metaphor for a life of exhaustion, lacking solidarity and externally controlled, the hamster wheel is still in widespread use. Now, for a moment, the pandemic has brought the wheel’s rhythm to a stop world-­ wide, and it is up to us to set it in motion again, but to a different rhythm. Or better still: to invent a new life for which this image no longer qualifies as a metaphor.

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Eske Schlüters

Das Bild vom Klima?

Wie könnte ein Bild vom Klima aussehen und sieht es Verrat der Bilder) hinweist: Ein gemaltes Bild von einer überhaupt aus, sprich: ist es visuell? „Alles kann ein Bild Pfeife, über der in schulmeisterlicher Handschrift geschrievon allem sein“, hat der bedeutende Philosoph Ludwig ben steht, dass dies keine Pfeife sei. Ein Bild von einer PfeiWittgenstein in einem seiner Dialoge mit sich selbst ge- fe (genauer: ein Bild, das eine Pfeife darstellt) kann ein Bild schrieben. Wenn alles ein Bild von allem sein kann, kann von einer Pfeife sein, obwohl ein Bild einer Pfeife einer dann auch alles ein Bild vom Klima sein?

Pfeife nur scheinbar ähnlicher ist als das Wort Pfeife. Doch Alles kommt von mittelhochdeutsch al(l). Alles teilt (wie) kann ein Apfel ein Bild von Macht, Verführung, Ermit dem Nomen All, das sich bis ins Unendliche erstrecken kenntnis und Zwietracht sein, ein Eishockeyschläger ein und damit alles, was existiert beinhalten soll, die gleiche Bild von Klimawandel, oder Wasser ein Bild von Leben, etymologische Herkunft. Das klingt schon mal irgendwie aber zu viel davon ebenfalls von Klimawandel sein? Ja, nach Klima. Alles beschreibt eine nicht definierbare Men- eben weil „[j]edes ‚Ding’ […] in Wirklichkeit ‚mehrere Dinge von etwas, hat den denkbar größten Umfang und zu- ge’ zugleich [ist]“3 und das Vernehmbare „[v]on dem ungleich die geringste inhaltliche Bestimmung. Alles gibt sich mittelbaren Vernehmen allein […] den Anblick eines Bildberuhigend und beunruhigend zugleich. haften, eines Aussehens [bekommt], das eine Fülle von Bild kommt von mittelhochdeutsch bilde, althoch- Gestaltungen in sich birgt“4. „Dieser Stein ist eine Waffe. deutsch bilidi. Die älteste Bedeutung ist Vorbild, Muster, Dieses Lachen ist ein Geräusch. Diese Farbe ist ein Zeierst später überwiegt Abbild. Bild wird in der Alltagsspra- chen für Gewinn. Die menschliche Hand vielförmig.“5 che ebenso im Sinne von Idee, Ansicht und so etwas Ähnli- „Das Wasser zum Beispiel ist nicht dasselbe Ding, je nachches wie Bedeutung verwendet: ein schönes Bild, ein schwa- dem, ob ich an Chemie, Poesie, Mechanik, Psychologie, ches Bild, ein Bild des Jammers, ein Bild für die Götter, im Bedürfnis, Physiologie, Metaphysik oder Malerei denke.“6 Bilde über etwas sein, Bild im Kopf, in Bild und Ton, in Oder an Klima. Denn „die Anschauung eines Wirklichen Wort und Bild, jemanden über etwas ins Bild setzen, (nicht) als solchen ist garnicht möglich, ausser mit der Anschauins Bild passen, sich ein Bild von jemandem / von etwas maMann / Bradley / Hughes 1999. Die chen, ein Bild von etwas (sein). Wie kann man sich ein Bild 1 Hockey-Stick-Graph, Daten wurden aus verschiedenen Quellen (Baumringe, vom Klima(wandel) und seinen Folgen machen, wo es doch Eisbohrkernen, Seesedimente) rekonstruiert und seit dem verhältnismäßig unsichtbar zu sein pflegt? Redewendung: 19. Jahrhundert direkt gemessen.

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Daher die Suche nach 2 René Magritte, Die Wörter und die Bilder (Les mots et les images) 15.12.29, in: La Révolution surréaliste, Nr. 12, 1929, mindestens einem Bild, das uns über die Veränderungen S. 32 — 33), in: Ders., Sämtliche Schriften (Écrits complets, des Klimas ins Bild setzt.

Paris 1979), aus dem Französischen von Christiane Müller Alles kann ein Bild von allem sein. und Ralf Schiebler, hg. von André Blavier, Frankfurt / M., Berlin, Wien 1985, S. 43 — 44, S. 43.

In dem Satz klingt auch an, dass etwas ein Bild (von Valéry, Philosophie, aus dem Französischen von Max etwas) sein kann, was nicht unbedingt für alle als Bild für 3 Paul Looser und Hartmut Köhler, in: Ders., Cahiers / Hefte 2, hg. dieses, jenes, das Klima oder überhaupt als Bild gilt. Warvon Hartmut Köhler und Jürgen Schmidt-Radefeldt, um zum Beispiel, könnte man in diesem Zusammenhang Frankfurt / M. 1989, S. 15 — 358, S. 64f. fragen, ergeben einige bestimmte und nicht andere Sterne 4 Wilhelm Szilasi, Über das Einbildungsvermögen (1964), in: Ders., Phantasie und Erkenntnis, Bern 1969, S. 58 — 75, S. 63. ein gewisses (Stern-)Bild?

5 Valéry, Philosophie, in: Cahiers / Hefte 2, S. 64f.

Wenn man allerdings die Punkte in einem Diagramm 6 Valéry, Philosophie, in: Cahiers / Hefte 2, S. 126. verbindet, das die Veränderung der Temperaturen in der 7 Johann Gottlieb Fichte, Die Thatsachen des Bewußtseyns, vorgetragen zu Anfang des Jahres 1813, in: Fichtes Werke, nördlichen Hemisphäre der letzten 1000 Jahre darstellt, die Bd. IX, Nachgelassenes zur theoretischen Philosophie I, laut einer Studie von Mann / Bradley / Hughes (1999) bis (fotomechanischer Nachdruck von: Johann Gottlieb Fichte, zum Beginn der Industrialisierung schwach abfielen, seit Sämmtliche Werke, Berlin 1834 / 35), hg. von Immanuel der Industrialisierung jedoch exponentiell ansteigen, erinHermann Fichte, Berlin 1971, S. 401 — 574, S. 486f. nert das an die Form eines Eishockeyschlägers, der diesem Hervorhebung E.S. Sensibilität, in: Cahiers / Hefte 3, S. 356 (1915. Ohne Diagramm seinen Namen gibt.1 Ein Eishockeyschläger als 8 Valéry, Titel, V, 572).

Bild für die Veränderung des Klimas? Kann mithin tatsäch- 9 Michel Foucault, Dies ist keine Pfeife (1974), (Ceci n’est pas lich alles ein Bild (von allem) sein, wo selbst trotz gewisser une pipe. Sur Magritte, 1973), aus dem Französischen von Walter Seitter, München / Wien 1997, S. 33. Ähnlichkeiten „[a]lles […] darauf hin[deutet], daß es wenig 10 Michel Foucault, Einführung (zu Traum und Existenz), Beziehung gibt zwischen einem Gegenstand und dem, was (Introduction (1954), aus dem Französischen von Hans-Dieihn darstellt“2, worauf René Magritte mit einem seiner ter Gondek, in: Ders., Dits et Ecrits, Schriften in vier Bänden, Bd. I (1954 — 1969), Frankfurt / M. 2001, S. 107 — 174, S. 173. wohl bekanntesten Gemälde La trahison des images (Der

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ung eines Vermögens, zu bilden, v e r e i n t“7. Wir bilden (uns) ein Bild, denn „[w]ir sehen nicht das, was wir sehen.

Wir sehen das, was das Gesehene uns erwarten läßt. Das Gesehene handelt, und es wird gesehen als Folge dieser Handlung. Wahrnehmung ist also Produktion, die durch etwas ausgelöst wurde, und sie ist im Wiederholungsfalle möglicherweise nicht mehr mit sich selbst deckungsgleich“8. Mal dieses, mal jenes Bild, weil das Entscheidende an Wittgensteins Satz vom Bild der unbestimmte Artikel ist: Nicht alles kann das (eine) Bild von allem sein, sondern alles kann ein (mögliches) Bild von allem sein.

Na schön, das Bild — bzw. das Wort — eines Eishockeyschlägers als Bild für die Klimakatastrophe. „Manchmal steht“ eben bloß „der Name eines Gegenstandes für ein Bild“9. Etwa wenn es sich um eines von etwas handelt, das (noch) nicht zu sehen ist, das jedoch ins Bild setzen kann, trotz und wegen seiner Unvorstellbarkeit. Da es einen Sinn im Sinne von Bedeutung und Empfindung hat, weil der Sinn eines Bildes nie ein für alle Mal gegeben ist. Schließlich haben wir es mit einem Bild zu tun, das nicht „Bild von etwas [ist], voll und ganz auf eine Abwesenheit hin entworfen, die es ersetzt; es wird an sich empfangen und gibt sich als die Fülle einer Anwesenheit; es bezeichnet nicht mehr etwas, sondern wendet sich an jemanden“10.

Eske Schlüters ist Künstlerin und Dozentin aus Hamburg.

The Image of Climate?

The modern German word Bild (picture, image) comes from the Middle High German bilde, Old High German bilidi. The oldest meaning is model or pattern, and only later did it come to mean representation (Abbild). In everyday language, Bild, What might an image of the climate look like, and like the English picture and its semantic field, is does it actually look like anything, that is, is it also used in the sense of idea, view or quintesvisual? ‘Anything can be a picture of anything (Al- sence: a beautiful picture, a feeble image, a picture les kann ein Bild von Allem sein)‘, Wittgenstein of misery, a sight to behold, to be in the picture wrote in one of his dialogues with himself. If any- about something, an image in your mind, in thing can be a picture of anything, can anything sound and image, in word and image, to put somealso be a picture of the climate? body in the picture, (not) to fit into the picture, to The German word alles (all and anything but visualize someone / something, to be the (very) also everything) comes from the Middle High picture of something. How can we make an image German al(l). Alles has the same etymological of climate (change) and its consequences when it root as the noun All (outer space), which extends tends to be relatively invisible? We all know the into infinity and thus includes everything that ex- old adage: A picture is worth a thousand words. ists. And that sounds a bit like the climate. Alles Hence the search for at least one image that puts describes an indefinable quantity of something, us in the picture about changes to the climate. with the greatest extension and also the smallest Anything can be a picture of anything. defined content. Alles appears at once comforting This assertion also suggests that something that and discomforting. not everybody considers a picture of this or that

thing, the climate or in fact anything at all, can be a picture (of something). For example, we could ask in this connection why specific stars and not others combine to form a certain constellation.

If, however, we connect the points in a diagram depicting changes in temperature in the northern hemisphere over the past 1000 years, which, according to a study by Mann, Bradley and Hughes (1999), fell slightly up to the beginning of industrialization but rose exponentially after industrialization, it recalls the shape of a hockey stick, which lends its name to this diagram.1 A hockey stick as a picture of climate change? Can anything therefore actually be a picture (of anything) in a situation where, despite certain similarities, ‘everything tends to make us think that there is little relationship between a thing and what it represents’,2 as René Magritte pointed out in what is probab­ly his most famous painting, La trahison des images (The Treachery of Images): A painted

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Eske Schlüters

picture of a pipe above which he wrote, in a schoolmasterly hand, ‘this is not a pipe’. A picture of a pipe (or, to be more precise, a picture representing a pipe) can be an image of a pipe, although a picture of a pipe is only apparently more similar to a pipe than the word ‘pipe’. But (how) can an apple be an image of power, seduction, knowledge and discord, a hockey stick an image of climate change or water an image of life, but too much of it can also be an image of climate change? Yes, exactly because ‘every “thing” is in fact “several things” at once’,3 and the perceptible acquires ‘from immediate perception alone the appearance of something pictorial, which contains within it a plethora of configurations’.4 ‘This stone is a weapon. This laugh is a noise. This colour is a sign of winning.

The human hand is multiform’.5 ‘Water, for instance, is not the same thing according to whether I think chemistry, poetry, mechanics, psychology, need, physiology, metaphysics, painting.’6 Or about climate. After all, ‘the intuition of something actual as such is quite impossible, except when united with the intuition of a capacity to form images’.7 We form an image (for ourselves), for ‘we don’t see what we see. We see what the thing seen leads us to expect to see.

The thing seen is active, and it is seen as a result of that action. All perception is thus a manifestation that has been provoked, and may not exactly duplicate itself….’8 Now this picture, now another, because the key to Wittgenstein’s statement about pictures is the indefinite article: Not anything can be (a) picture of anything, but anything can be a (potential) picture of anything.

So there we are, a picture of a hockey stick or the words — as an image of climate catastro— phe. ‘Sometimes the name of an object [just]

takes the place of an image’.9 For example when it is a picture of something that we cannot see (yet), but which we can visualize, despite and because of its inconceivability, since it has a meaning in the sense of significance and sensibility, because the meaning of an image is never set once and for all. Ultimately, it is an image that ‘is no longer the image of something, totally projected towards an absence which it replaces; rather, it is gathered into itself and is given as the fullness of a presence; it is addressed to someone’.10 Eske Schlüters is an artist and lecturer from Hamburg.

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Hockey stick graph in Mann, Bradley and Hughes 1999. The data were reconstructed from various sources (tree rings, ice cores, lake sediments) and directly measured since the nineteenth century.

2 René Magritte, Les mots et les images, in: La Révolution surréaliste, 12 (1929): 32 — 3.

3 Paul Valéry, Philosophy, in Cahiers / Notebooks, vol. 5, trans. Paul Gifford, Norma Rinsler, Stephen Romer and Brian Stimpson (Oxford, 2010), 121–366, 161.

4 Wilhelm Szilasi, Über das Einbildungsvermögen (1964): in W. Szilasi, Phantasie und Erkenntnis (Bern, 1969), 58–75, 63.

5 Valéry, Cahiers / Notebooks, vol. 5, 161.

6 Valéry, Cahiers / Notebooks, vol. 5, 207.

7 Johann Gottlieb Fichte, ‘Die Thatsachen des Bewußtseyns, vorgetragen zu Anfang des Jahres 1813’, in Fichtes Werke, vol. IX: Nachgelassenes zur theoretischen Philosophie I, facsimile of Johann Gottlieb Fichte, Sämmtliche Werke (Berlin, 1834 / 35), ed.

Immanuel Hermann Fichte (Berlin, 1971), 401 — 574, 486–7, emphasis added.

8 Valéry, Cahiers / Notebooks, vol. 3, trans. Norma Rinsler, Paul Ryan and Brian Stimpson (Oxford, 2007), 310.

9 Michel Foucault, This is Not a Pipe, trans. and ed.

James Harkness (Berkeley, 1983), 38.

10 Michel Foucault, ‘Dream, Imagination and Existence’, introduction to Ludwig Binswanger, Dream and Existence, ed. Keith Hoeller, trans. Forrest Williams (1986; Atlantic Highlands, NJ, 1993), 31–80, 74.

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Stimmen aus dem Off Der Frühling 2020 fand im Privaten statt, in den eigenen vier Wänden — einem eigentlich so vertrauten und doch ganz neu erlebten Raum.

Einem Raum, der durch die Corona-Maßnahmen geschlossener wirkte und gleichzeitig öffentlicher wurde als je zuvor.

Sechs Stimmen aus der Kunst widmeten sich in Zeiten von „Social Distancing“, Ausgangssperren und geschlossenen Grenzen den Fragen: Welchen Einfluss haben diese veränderten Verhältnisse auf den urbanen Raum, das öffentliche Leben und Gemeinschaft? Wie schaffen wir den Transfer zwischen Innen- und Außenraum? Oder liegt gerade in der Trennung von Innen und Außen die Chance, Positives aus der Pandemie mitzunehmen?

Voices Offstage Spring 2020 was held in private, inside one’s own four walls — a space seemingly so familiar that now suddenly felt so new. And a space that the corona measures made feel more enclosed, yet at the same time more public than ever before.

In these times of social distancing, curfews and closed borders, six voices from the world of art have considered certain questions: What impact have these changed conditions had on urban space, public life and the community? How can we create a transfer between our interior and exterior spaces? Or is it precisely the divorce between inside and outside that offers an opportunity to draw positive aspects from the pandemic?

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Boris Sieverts

Festplatz o hne Kirmes

Was mir zu öffentlichem Raum in Corona-Zeiten einfällt?

Vielleicht, dass öffentlicher Raum endlich auch leer sein darf, ohne dass er als untergenutzt, verschenktes Potential oder gleich als Schandfleck und Baulandreserve betrachtet wird. Diese funktionale Bemessung des öffentlichen Werts von Orten anhand ihrer Nutzungsintensität war ja immer schon auf dem anderen — dem ästhetischen — Auge blind. Nun, wo auch die repräsentativen Plätze unserer Städte nicht nur leer sein dürfen, sondern sogar sollen, kann man sie endlich gleichstellen mit den anderen öffentlichen Orten, die schon immer leer und trotzdem oder gerade deshalb schön und wichtig waren: Die brachliegenden Industrieareale, die leeren Baumarktparkplätze am Wochenende, die obersten Parkdecks der Parkhäuser, die Orte under the bridge, der einsame Weg zwischen Grabeland und Bahndamm, die schon seit langem verfüllte Deponie, das Lärmschutzwäldchen, der Festplatz für die Kirmes außerhalb der Kirmes-Zeit. Was diese Orte auszeichnet, ist ihre Anmutung zum Beispiel der Weite, der Unheimlichkeit, des Übergangs, der Erinnerung an exotische Vergnügen, des Echos einer größeren Landschaft.

Eine in meinen Augen gute Stadt braucht solche Orte zur Kompensation: Eine Teilnahme an Öffentlichkeit ist ohne

die Möglichkeit, aus ihr herauszutreten, auf Dauer nicht möglich. Die städtischen „Freiräume ohne Öffentlichkeit” sind vielfach die einzige Möglichkeit zu einem solchen Heraustreten jenseits des Rückzugs in die eigenen vier Wände. Sie sind somit Regenerationsräume für eine erschöpfte Öffentlichkeit und übernehmen im Gegensatz zu den institutionalisierten urbanen Räumen alle Funktionen von Gegenwelten. Diese reichen vom Ort der ästhetischen Erfahrung des Anderen, der die Sinne wach und den Geist beweglich hält, bis zur Aufnahme von Tätigkeiten und Lebensformen, für die im institutionalisierten öffentlichen Raum kein Platz ist. Mein PostCorona-Traum sähe demnach so aus: Jetzt, wo die repräsentativen öffentlichen Räume genauso elegisch und auf ihre räumliche Anmutung zurückgeworfen sind wie die alten „Schandflecken“, lernen wir vielleicht, beide auf einer Ebene zu betrachten. Wenn dann irgendwann das öffentliche Leben in die einen Räume zurückkehrt, während die anderen so leer bleiben, wie sie immer waren, stellen wir fest, dass beide in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen.

Boris Sieverts veranstaltet Exkursionen in die unerforschten Randgebiete von Metropolen und Ballungsräumen.

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Boris Sieverts

Fairground Without the Fair What comes to mind about public space in the time of corona? Maybe that the public realm is at last also allowed to be empty without being considered as underused, wasted potential or simply an eyesore, or land waiting to be built on.

This functional measure of the public value of places according to the intensity of their use was always blind on the aesthetic eye. Now that all the representative spaces in our city are not only allowed, but even meant to stay empty one can finally put them on an equal footing with other public spaces that have always been empty, which in spite of this, or maybe precisely for this reason, are beautiful and important: the aban-

doned and fallow industrial sites, the DIY store car parks empty at the weekend, the uppermost decks of multi-storey car parks, the places under the bridge, the secluded path between arable land and railway embankments, the land tip long since filled in, the small copse planted as a noise barrier, the fairground when the fair has departed. What distinguishes such places is their suggestion of vast expanse, eeriness, transition, memories of exotic pleasures, of the echo of a broader landscape.

What I consider a good city needs such places as compensation: in the long term, participation in the public sphere cannot happen without the possibility of stepping out of it. Urban “free spaces without public life” are in many cases the only available possibility for such withdrawal beyond retreating into one’s own four walls. Thus they offer spaces for regeneration to an exhausted general public and, in contrast to institutionalised public

Jeewi Lee

33°31‘40.0“N 7°48‘15.8“W „Locked down“ in Casablanca seit über 70 Tagen „Die Zeit ist nur der sich zum Objekt werdende innere Sinn, der Raum der ihm zum Objekt werdende äußere Sinn.“ (Friedrich Schelling) Meine derzeitige Situation erinnert an die Arbeit von Beuys I like America and America likes Me: Eine absolute Isolation von der Umgebung des Ortes, an dem man sich eigentlich befindet. Man befindet sich zwar an einem fremden Ort, aber bisher erlebt sind bloß die vier weißen Wände, die einen umrahmen. Man fragt sich, ob dadurch die Ortschaft irrelevant wird, fast nicht existent. Es ist ein Zustand, überall und zugleich nirgendwo zu sein.

Nach einer einmonatigen Projektreise im Senegal war es mein Plan, über Casablanca wieder zurück nach Berlin zu fliegen. Aus einer Spontanität und Leichtigkeit heraus entschied ich mich dazu, auf dem Weg nach Hause ein paar Tage in der größten Stadt Marokkos zu verbringen,

spaces, adopt all the functions of alternative worlds. These counterworlds range from being places of aesthetic experience of the other, which keep the senses alert and the mind agile, to the assumption of activities and forms of life for which there is a lack of room in institutionalised public space. So my post-corona dream would be this: now that representative public spaces have become just as elegiac and thrown back on their spatial charm as the old “eyesores”, maybe we can learn to view both on a par. When at some point public life surges back into the one type of space while the other remains just as empty as it always has been, we will realise that both kinds of space are complementary to one another.

Boris Sieverts creates guided tours to unexplored areas of a cities and densely populated regions.

um dort einen Freund in seiner Künstler-Residency zu besuchen. Aus den geplanten sechs wurden mittlerweile über 70 Tage. Ich sitze in dieser Stadt fest, ohne sie gesehen oder erfahren zu haben, mittendrin im COVID-19-­Lockdown.

Marokko ist eines der Länder, die am schnellsten und radikalsten auf die Corona-Krise reagiert haben. Nicht nur alle Verkehrsmittel sind komplett eingestellt, sondern auch die Grenzen sind dicht. Von Anfang an herrschten Maskenpflicht und strengste Ausgangssperre. Die Ausgangssperre wird von der Polizei mit Hilfe von Wärmekameras überwacht und Drohnen werden für die Desinfektion der Straßen und Gebäude eingesetzt. Erlaubt ist nur ein kurzer Gang zur Apotheke oder zum Supermarkt innerhalb des eigenen Wohnviertels. Und selbst das geht nur mit einer Art „Erlaubnisbescheinigung“ vom Amt. Wer die nicht vorweisen kann, muss mit drakonischer Bestrafung seitens der Regierung rechnen.

Untergebracht in einem Haus am Meer nahe eines Resort-Orts in Casablanca, beobachte ich jeden Tag von meinem Fenster aus, wie Leute regelmäßig auf ihrem Strandspaziergang von Polizeiwagen eingesammelt werden. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, die Weite des Atlantiks vor der Nase zu haben, aber sie wie eine Landschaftsmalerei nur durch den Fensterrahmen erleben zu dürfen; die Welt nur über den viereckigen Fernsehbildschirm erfahren zu können. Ebenso merkwürdig ist es, so viel Zeit in einer Stadt zu verbringen, ohne die Stadt jemals wirklich gesehen zu haben. Das ist die Assoziation, die mich an das Werk I like America and America likes Me denken lässt.

Beuys ließ sich 1974 für seine Performance in der René

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Jeewi Lee

Block Galerie am JFK-Airport komplett in Filz einwickeln und von einem Ambulanzwagen in die Galerie fahren, weil er nichts von Amerika sehen und von der Außenwelt isoliert sein wollte. Er wollte stattdessen mehrere Tage nur in einem Raum verbringen und mit einem Kojoten namens Little John spielen.

Ich befinde mich an einem Ort, den ich bisher nur „imaginär“ erleben kann, aber dessen Traditionen und Systemen ich trotzdem so intensiv und konsequent ausgesetzt bin. Die Diskrepanz zwischen Außenraum und Innenraum war für mich noch nie so groß wie in diesen letzten Monaten, je mehr Zeit vergeht, desto weiter spreizen sich diese Räume auseinander. Mit extremen Einschränkungen und Isolation konfrontiert zu sein, eröffnet aber auch neue Türen — die Möglichkeit, das Konzept von Zeit und Ort zu reflektieren und zu überdenken. Diese außergewöhnliche Situation sensibilisiert mich für meine eigene Wahrnehmung von Dauer und Ort: Gefühlt anwesend und zugleich abwesend an einem Ort zu sein. Leere und Fülle von Zeit und Raum. Und ich beobachte, wie sich die Dimensionen verändern: Die Minuten, die sich wie Stunden am Anfang der Quarantäne anfühlten. Mittlerweile vergehen Tage wie

33°31’40.0”N 7°48’15.8”W “Locked down” in Casablanca for over 70 days “Time is simply the objectification of intrinsic meaning, space the objectification of extrinsic meaning.” (Friedrich Schelling) My current situation reminds me of the work by Beuys, I Like America and America Likes Me: Total isolation from the surroundings of a place where one happens to be. One might be in an unknown place, but the only thing as yet experienced there are the four white walls within which one is enclosed. One wonders whether the location has thus become irrelevant, almost non-existent. It is a condition of being everywhere and nowhere at one and the same time.

After a one-month project trip to Senegal my plan was to fly back to Berlin via Casablanca. Spurred by a mood of spontaneity and lightness I decided to spend a few days in Morocco’s largest city on my way home and to visit a friend in his artist’s residency there. The projected six days have now turned into more than seventy. I am marooned in this city without ever having been able to see or experience it. In the middle of the COVID-19 lockdown.

Morocco is one of the countries that reacted the fastest and most radically to the corona crisis.

Not only have all forms of transport been completely discontinued, but the borders have also been closed. From the very outset it has been compulsory to wear a mask and the strictest curfew

Stunden. Das geräumige Haus schrumpft dafür von Tag zu Tag. Im Gegensatz zu meiner gewohnten Arbeitsweise, bei der ich mich für meine konzeptionelle künstlerische Praxis insbesondere von äußeren Einflüssen inspirieren lasse und auf Spurensuche gehe, muss ich mir nun aus meiner Abgeschiedenheit meinen eigenen Kosmos bilden. Seit einigen Wochen setze ich mich auch mit einem für mich ungewöhnlichen Medium auseinander und experimentiere mit Malerei. Dabei spielt Geruch, wie beispielsweise der von marokkanischem Kaffee oder den Gewürzen aus der Küche, eine große Rolle. Er eröffnet ein neues sensorisches Erlebnis, eine neue Welt, die ich mir in mein temporäres „Zuhause“ hole. Geruch ist ein ephemeres Element, das nicht sichtbar ist, aber Räume füllen kann und im aktuellen Kontext Anwesenheit und Abwesenheit, Räumlichkeiten und Zeit hinterfragt.

Nach der ersten Ausdehnung des Lockdowns wurde gestern die Phase um weitere 30 Tage verlängert.

Die Künstlerin Jeewi Lee lebt in Berlin und Seoul und ist am Ruhr Ding: Klima 2021 mit der Installation Mute beteiligt.

has been imposed. The police surveil the stay-at- drift apart. But to be thus confronted with exhome order with thermal cameras, while drones treme restrictions and isolation also opens up are used to disinfect the streets and buildings. Peo- new paths — the possibility to reflect on and reple are only allowed out to go to the chemists or a assess time and space. This extraordinary situasupermarket in their own neighbourhood. And tion has sensitised me in my own perception of even that is only possible with a sort of “certified duration and place: to feel present in, yet at the permit” issued by the authorities. Anyone unable same time absent, from a certain place. Emptito show one on demand must reckon with draco- ness and abundance of time and space. And I nian punishment by the government. observe how these dimensions keep changing: I am accommodated in a house by the sea the minutes that felt like hours when quarantine near a tourist resort in Casablanca. From my started; meanwhile the days now pass by like window I have observed every day how a police hours. In turn, the spacious house has been van regularly rounds up people taking a walk on shrinking from day to day. the beach. It is an odd feeling to have the vast In contrast to my usual work procedure, expanse of the Atlantic directly before your whereby I seek inspiration for my conceptual eyes, yet only allowed to experience it as a land- artistic practice in particular from external scape painting set inside the window frame; stimuli, and go in search of clues, I now have to only able to experience the world through a rec- construct my own cosmos from within my setangular television screen. It is equally strange clusion. For some weeks now I have also been to spend so much time in a city without ever exploring a — for me — unfamiliar medium and having truly seen the city. This is the association experimenting with painting. An important that reminds me of I Like America and America part in this is played by smell, such as that of Likes Me. For his 1974 performance in the René Moroccan coffee or the spices emanating from Block Gallery Beuys was rolled up entirely in the kitchen. Smell has opened up a new sensorifelt at JFK airport and driven to the gallery in al experience, a whole new world that I have an ambulance, because he refused to see the US brought inside my temporary “home”. Smell is and wished to remain isolated from the outside an ephemeral element that, while not visible, world. Instead he spent several days nowhere can fill rooms and in the present context calls else but inside a single room and played with a into question ideas of presence and absence, coyote called Little John. spatiality and time.

I am situated in a place that as yet I have Yesterday, following the first extension of only been able to experience as “imaginary”, to the lockdown, the measure was prolonged for whose traditions and systems I am, nonetheless, another thirty days. so intensely and inescapably exposed. For me, the discrepancy between outside and inside has Jeewi Lee is an artist based in Berlin and never been so massive as in these past months; Seoul who will participate in Ruhr Ding: the more time passes, the further these spaces Klima 2021 with the installation Mute.

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Sibylle Peters

Krisen des V ersammelns Ein weltumspannendes Ereignis hat jedes der letzten Jahrzehnte gleich zu Beginn definiert: Das Ende des Ostblocks bestimmte die 90er–Jahre, 9 / 11 bestimmte die 00er–Jahre.

Die 10er–Jahre begannen — zumindest für mich — mit der Real Democracy Bewegung, mit Occupy, mit 15M in Spanien, der Besetzung des Syntagma-Platzes in Athen, mit dem Kampf um den Gezi–Park in Istanbul. Überall entstanden damals Versammlungen, die mit hergebrachten Regeln brachen. Plötzlich wandten sich die vielen gegen die Repräsentation durch die wenigen. Plötzlich waren Küche und Care-Arbeit im Zentrum statt außerhalb der Versammlung. Doch alsbald wurde diese Erneuerung des Versammelns gestoppt und zwar mit reichlich Tränengas.

So habe ich größere Teile des letzten Jahrzehnts damit verbracht, neue Formen des Versammelns dort zu proben und zu entwickeln, wo sie niemand verbieten konnte. Dachte ich. Nämlich im Theater. Denn zugleich schien doch klar, dass die Leute sich nicht nicht versammeln konnten: Bildung, Politik, Recht, Religion — alle zentralen gesellschaftlichen Systeme basieren darauf, dass wir zusammenkommen, in Schulen, Universitäten, Parlamenten, in Gerichten und Moscheen, und zwar nach ziemlich alten Regeln, die vielen von uns das Versammeln gründlich vergällen. Also brauchte es Spielräume um damit zu experimentieren, wie wir uns anders versammeln und so womöglich verändern könnten, was Bildung, Politik, Recht oder Religion ist und sein könnte. Das war nicht immer einfach. Sich in Gruppen zu orientieren, gemeinsames Handeln zu initiieren — immer mehr Leuten fiel das zuletzt schwer. Es wurde schwieriger, Menschen von ihren Screens loszueisen und sie in eine geteilte Präsenz zu locken.

Und nun — zu Beginn der 20er — ist das Theater zu, der Spielraum des Versammelns ist geschlossen, und die Screens haben übernommen, was noch übrig war. Nun haben wir eine Idee, welches Ereignis dieses Jahrzehnt definieren wird: Der Virus bringt Versammlung und Care-

Arbeit in einen schmerzlichen Gegensatz, und damit brechen viele der traditionellen Versammlungsformen ein, die wir im vergangenen Jahrzehnt zu verändern versuchten. Nun üben sich alle darin, ein neues Normal zu finden, das möglichst ohne Versammlungen auskommt. Und obwohl die Fußballfans trauern und die Festivalsaison abgesagt ist, spürt man in diesem neuen Normal doch auch eine große Erleichterung, eine große Versammlungsmüdigkeit. Es ist kein Geheimnis — die meisten von uns haben die Meetings und Plenen gehasst und den Moment des Tages ersehnt, in dem sie sich in ihre Kokons verabschieden durften. Das Recht auf Homeoffice ist die Forderung der Stunde. Und auch wenn wir gern daran glauben wollen, dass viele es gerade wahnsinnig vermissen, sich im Theater zu versammeln,— gerade die Versammlungsmacher*innen sollten die große Versammlungsmüdigkeit nicht übersehen.

Das Verkörpern neuer Regeln lässt neue Wirklichkeiten entstehen und zwar in einem weitreichenden Prozess der Ansteckung. Daran glaube ich. Es ist also möglich, dass ich die Situation überschätze. Denn ich frage mich schon: Wird diese Zeit der Distanz und der Isolation ein Bruch gewesen sein, in dem das Versammeln als Kulturtechnik grundsätzlich den Kürzeren zieht? Wäre das möglich? Ein Jahrzehnt ohne Versammlungen — diese Vorstellung macht mir Angst, denn ich glaube, dass wir Versammlungen brauchen, dass wir allein in unseren Kokons nicht überleben können. Und doch sehe ich in der Versammlungsmüdigkeit auch die Chance auf neue, unbequeme Fragen — auch für die Kunst der Versammlung: Welche Arten von Versammlung wollen wir nicht mehr und warum? Und welche Art von Versammlungen brauchen wir trotzdem, unbedingt und gerade jetzt?

Sibylle Peters ist Künstlerin und Forscherin mit dem Fokus auf partizipativen Formaten.

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Sibylle Peters

Assemblies in Crisis

parliaments, courtrooms and mosques, albeit according to fairly old rules that make assembling thoroughly unpalatable to many of us. So free spaces were needed to experiment how we might assemble in different ways, and thus possibly Each of the last decades was shaped at its incep- change what education, politics, law or religion is tion by some world-spanning event. The break- and could become. It wasn’t always easy. To find up of the Eastern Block defined the 1990s; 9 / 11 orientation within groups, to foster collective acdefined the 2000s. The 2010s began, for me at tion – more and more people found this arduous least, with the Real Democracy movement, with in recent years. It became ever-harder to pry peoOccupy, with 15M in Spain, with the occupa- ple away from their screens and lure them to partion of Syntagma Square in Athens, with the take in a shared presence.

And now — at the outset of the 2020s — the fight for Gezi Park in Istanbul. At each of those times, assemblies that broke conventional rules theatres are shut, the free space to assemble were held everywhere. Suddenly the many were closed down, and the screens have usurped standing up against being represented by the whatever was still left. Now we have an idea of few. Suddenly cooking and care work were tak- which event will define this decade. The virus ing place at the centre of rather than outside the has brought assembly and care work head to assembly. Yet straight away, a stop was put to head in painful opposition; with this, numerous this renewal of the assembly, and what’s more, other traditional forms of assembly, those we’d with quantities of tear gas. So I have spent large been seeking to change over the previous decade, parts of the last decade trying out and develop- are now also falling apart. Now everyone is going new forms of assembly in places where they ing through the motions of finding a New Norcould not be prohibited. Or so I thought. In the mal that ideally would do without assemblies. theatre, to be precise. For at the same time it And while football fans are bereaving and the seemed self-evident that people could not not festival season has been cancelled one can still assemble. Education, politics, law, religion — all sense in this New Normal a profound wave of pivotal social systems are based on the need for relief, a widespread assembly fatigue. It’s no seus to come together, in schools, universities, cret: most of us hated all those meetings and

plenums, and looked forward to the point in the day when we could leave and return to our cocoons. The right to home office is the demand of the moment. And even if we like to believe that many people desperately miss getting together in the theatre, in particular it is the assembly hosts who should take note of this deep-set assembly fatigue.

Enacting new rules engenders new realities and, at that, in a far-reaching process of infection. This is what I believe in.. So it is possible I am exaggerating the situation. However, I am beginning to ask myself, will this period of distance and isolation prove to have been a rupture from which assembly as a cultural technique essentially comes out the loser? Could that be possible? A decade without assemblies — the idea of this scares me because I believe that we need assemblies, that we cannot survive all isolated in our cocoons. But at once I also see assembly fatigue as a chance to raise new and sometimes difficult questions, also for the art of assembly: what kinds of assembly do we no longer want, and why? And what kinds of assembly do we nonetheless need, unconditionally and especially now?

Sibylle Peters is an artist and researcher focussing on participatory approaches.

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Nora Sdun

W andern in Gedanken „Man könnte den Ausspruch wagen, eine Hysterie sei ein Zerrbild einer Kunstschöpfung, eine Zwangsneurose ein Zerrbild einer Religion, ein paranoischer Wahn ein Zerrbild eines philosophischen Systems.“ (Sigmund Freud, Totem und Tabu, 1913) Ich bereite einen Spaziergang über die Kommunikationsapp Discord für die Not-JUZ-Gruppe vor, die Tilman Walther im März 2020 einrichtete. (Ich habe das „Not“ immer als englisches „nicht“ gelesen, also das „Nicht-Jugendzentrum“, nicht das „Not-Jugendzentrum“, was es wohl eher ist.)

Jedenfalls versammeln sich rund 20 Personen jede Woche am Donnerstag vor ihren jeweiligen Rechnern und gehen mit Hilfe von Google Street View oder Ähnlichem spazieren. Eine Person teilt dafür ihren Bildschirm mit allen anderen und gibt so den Weg vor. Auf diese Weise waren wir bereits in England, Polen, Bulgarien, Äthiopien, Benin, Somalia und im Einkaufszentrum Schenefeld. Ich leite die Menschen heute durch das schwedische Dorf Kåseberga zu einer Schiffssetzung, genannt Ales stenar — die Steine von Ale. Angeblich müssen alle schwedischen Bürger*innen einmal in ihrem Leben dieses Ding sehen: Riesensteine, die um 600 nach Christus von 1000 Jahre älteren Großsteingräbern zusammengeklaut wurden und in ihrer Anordnung ein Boot symbolisieren.

Ich verzettele mich komplett in der Vorbereitung. Ich möchte auf mir selbst unklaren Metaphern wie „Fähre“, „Magie“, „Verbindung“ oder „touristischer Hoax“ von der Schnellbootfähre, die zwischen Ystad und Bornholm verkehrt und im Hafen von Kaseberga „Schwell“ (etwa, große unklare Welle, physisch wie psychisch) macht, zu dem großen Steinschiff auf der Steilküste kommen. Dessen ursprüngliche Funktion ist ebenfalls nicht ganz klar.

Rambling in the Mind

Beim nervösen Herumklicken auf der Street-View-Karte lande ich im Spa von Kåseberga, in dem es diverse Badeund Saunaeinrichtungen gibt. Statt vor der Schiffssetzung aus Riesensteinen, komme ich also vor seltsamen Plexiglaskuben, in denen man vielleicht seine Beine baden soll, gedanklich zum Stillstand — ein typisches Phänomen der letzten Monate, man rast gedanklich in sehr tiefe Sackgassen hinein und wundert sich dann, warum man sich wundert.

Sprudelbäder mit Schwell wie im Hafen gibt es auch im Spa, die wassergefüllten Kuben bleiben mir aber ebenso rätselhaft wie die Schalensteine der Schiffssetzung, die zweckentfremdet (da sie eben zusammengeklaut wurden) nun die Schiffsform bilden. Apropos Schalensteine, magische Orte und hohler eigener Kopf — es ist, wie ich mir erklären lasse, „Fischpediküre“ die dort angeboten wird — die Fische fressen Hautpartikel, keine Ahnung ob das in Seuchenzeiten weiter angeboten werden darf. Zur Dekoration liegen pro Wasserkubus eine Amphore und einige Steinchen am Grund — vielleicht wohnen die Fische in der Amphore, vielleicht sind es genauso viele Steinchen wie die Schiffssetzung Steine hat, das wären 59 Stück.

Bei der Anordnung der Steine in der Ales-stenar-Anlage auf der hohen Steilküste im Süden Schwedens handelt es sich angeblich um einen bronzezeitlichen Sonnenkalender — eine Behauptung, die von der Fachwelt immer wieder dementiert wird, was das Tourismusamt Ystad aber nicht davon abhält, Informationstafeln mit dieser falschen Bezeichnung „Sonnenkalender“ aufzustellen. Eine bauliche Anlage so auszurichten, dass die Bug- und Hecksteine jeweils die Sommer- und Wintersonnenwende markieren, macht noch keinen Kalender. Altarräume sind auch geostet, oder „orientiert“, also in Richtung auf den Orient oder eben zur aufgehenden Sonne zeigend. Das macht nicht jede Kapelle zu einem Kalender, oder eben nur zu einem Viertelbestandteil eines Kalenders... Wenn die Sonne zum Ostfenster hineinscheint, ist es der Morgen eines Tages. Die Frage wäre, welchen Tages, welcher Woche, welchen Jahres?

Nora Sdun ist Mitherausgeberin des Magazins Kultur & Gespenster und Mitinhaberin des Textem Verlags in Hamburg.

lithic tombs dating back another 1,000 years and amphora and a few assorted stones have been whose arrangement symbolises a boat. placed at the bottom of each water cube. Maybe In my preparations I become completely the fish live inside the amphora and maybe bogged down in detail. I would like to use, for me, there are just the same number of pebbles as seemingly murky metaphors such as “ferry”, boulders in the ship arrangement, which would “We might say that hysteria is a caricature of an “magic”, “connection” or “tourist hoax” to get be fifty-nine The formation of stones on the Ales stenar artistic creation, a compulsion neurosis a cari- from the speedboat ferry that runs between Yscature of religion and a paranoiac delusion a tad and Bornholm and makes a “swell” (more or site up on the steep cliffs on Sweden’s southern caricature of a philosophic system.” (Sigmund less a large, indistinct wave, physically and psy- coast allegedly serves as a kind of Bronze Age chologically) in the harbour of Kåseberga to the solar calendar — a claim repeatedly denied by Freud, Totem and Taboo, 1913)1 I am preparing a walk with the communica- large stone ship up on the cliff coast. Its original the experts, but which does not prevent the tourist office in Ystad from putting up information app Discord for the “Not-JUZ”2 group es- function is likewise not fully clear.

After nervously clicking around on the tion panels falsely calling it a solar calendar. tablished by Tilman Walther in March 2020 (I have always read “Not” as the English word for Street View image I end up in Kåseberga spa Aligning a structural configuration in such a negative rather than the German word for where there are various swimming and sauna fa- way that the bow and stern stones respectively emergency, in other words the “Not Youth Cen- cilities. Instead of arriving at the shipshape ar- mark the summer and the winter solstice still tre” rather than the “Emergency Youth Centre”, rangement of enormous stones I find myself won’t give you a solar calendar. In churches the coming to a mental standstill in front of strange chancel is aligned eastwards, or “oriented”, that which it probably more likely is).

In any case, on Thursday each week some perspex cubes in which one might perhaps bathe is: pointing to the Orient, or simply in the directwenty people assemble in front of their respec- one’s legs — a phenomenon typical for the last few tion of the rising sun. That does not make every tive computer screens and, using Google Street months: one mentally hurtles into very deep cul- chapel a calendar, or even just a quarter compoView or such like, take a walk together. To do de-sacs and is surprised at being surprised. nent of a calendar… When the sun shines in this, one person shares their screen with all the In the spa there are Jacuzzis with swell as in the through an east-facing window it is the morning others, thereby prescribing the route. In this harbour, but for me the water-filled cubes remain of a new day. The question is: of which day, of way we have already been in England, Poland, just as puzzling as the cup-marked stones of the which week, of which year?

Bulgaria, Ethiopia, Benin, Somalia and in the ancient stone ship that were misused (they were, Nora Sdun is co-editor of the magazine Schenefeld shopping mall near Hamburg. To- after all, stolen from elsewhere) to delineate the Kultur & Gespenster and co-owner of the day I am guiding the group through the Swed- shape of a ship. Apropos of the cup-marked Textem Verlag in Hamburg. ish village Kåseberga and heading for the an- stones, magical sites and one’s own hollow cient stone ship called Ales stenar, Ale’s Stones. head — it is, as someone explains, “fish pedicure” 1 English translation by A. A. Brill, available online: http: / / s-f-walker.org.uk / pubsebooks / pdfs / They say that once in their life each Swedish they’re offering there. Fish nibble skin particles, Sigmund_Freud_Totem_and_Taboo.pdf citizen has to visit this thing: huge boulders that but no idea whether they’re still allowed to offer 2 JUZ, abbreviation for “Jugendzentrum”, youth in around 600 CE were stolen from older mega- that in these pandemic times. As decoration, an centre.

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Raul Walch

Die Kunst in den Zeiten der Cholera Schwört man auf die Ewigkeit, muss man hoffen, dass der Schwur nicht zum Fluch wird. So schwört die Romanfigur Florentino Ariza in Gabriel Garcia Marquez‘ Roman Die Liebe in den Zeiten der Cholera seine Liebe zu Fermina Daza und lernt bis an sein Lebensende mit der Hoffnung zu leben, dass sein Gefühl irgendwann einmal Erwiderung findet.

Die Entscheidung, als Künstler*in zu leben, stellt ähnliche Herausforderungen. Trotz der vielen eigenen Privilegien hierzulande wird man sich unter den jetzigen Bedingungen der Fragilität der Kulturlandschaft und der prekären Existenz als freischaffender Künstler bewusst.

Auf einmal stehe ich wieder am Anfang und beginne zu suchen. Ich haste nicht mehr von Projekt zu Projekt, von Ausstellung zu Ausstellung, sondern ich muss innehalten und frage mich: Was hat noch Relevanz angesichts der weltweiten Krisen?

Wie viele andere Reisende war ich froh, noch rechtzeitig vor dem Lockdown nach Berlin zurückkehren zu können, um dann aber zu sehen, wie Geflüchtete nach wie vor sich selbst überlassen blieben. Im Zeitraffer erleben wir die Rückkehr zu nationalen Grenzen und können von daheim beobachten, wie die globalen sozioökonomischen Ungleichheiten die Überlebenschancen der Menschen in der Pandemie mitbestimmen. Es beginnt die Suche nach neuen Formaten, die eine neue Gedankenwelt und die eigene Arbeit zusammenbringen könnten.

Mit Studierenden der Bauhaus Universität Weimar entsteht über das präsenzfreie Sommersemester nun ein Mail-

Art in the Time of Cholera

Art-Projekt. Zines und andere mannigfaltige Druckereierzeugnisse gehen ab durch die Post.

Die Suche aus der Isolation heraus richtet sich auch auf neue Orte für Kunst. Auf den Balkonen der Stadt ist man der Öffentlichkeit zugewandt und trotzdem zuhause in der Isolation. Das Projekt Die Balkone. Life, art, pandemic, and proximity auf dem Berliner Prenzlauer Berg schuf einen Mikrokosmos der künstlerischen Freiheit. Das Bündnis Die Vielen realisierte einen zweitägigen Livestream.

Trotzdem: Die meisten Kunstprojekte sind abgesagt oder verschoben. Schien es Anfang des Jahres noch undenkbar, dass Maschinen und Produktion stillstehen, ist jetzt das Gewohnte das Gefährliche. Nach einer neuen Normalität wird gesucht, während Wildtiere die vom Verkehr entleerten Städte zurückerobern. Ist die Natur dank Corona wieder da? Ganz im Gegenteil, meint der französische Philosoph Bruno Latour und versteht die anhaltende Corona-Krise als Generalprobe für die nächste, viel schlimmere Krise, die durch den Klimawandel ausgelöst werden wird.

Er stellt uns Fragen wie: Was sind momentan unterbrochene Aktivitäten, von denen Sie sich wünschen, dass sie nicht wieder aufgenommen werden? Von welchen Aktivitäten hoffen Sie, dass sie sich weiterentwickeln oder sogar von Grund auf neu geschaffen werden können?

Können wir in Zeiten einer Pandemie gesellschaftliche Utopien beleben? Wie wäre es, wenn es nicht das Gift der Einsamkeit wäre, das als Erfahrung dominiert, sondern ein zurückgewonnener Zustand der völligen Hingabe und Konzentration auf einen Lebensinhalt?

Nachdem sie Sehnsucht und Einsamkeit durchschritten hat, erreicht zumindest die Romanfigur Florentino Ariza im Lebensabend ihr Ziel: Am Ende des Romans von Gabriel García Márquez wird die gelbe Cholera-Flagge auf seiner Schiffsreise nur zum Schein aufgezogen, um das alte Liebespaar Florentino und Fermina vor der Gesellschaft zu schützen.

Der Künstler Raul Walch ist mit seiner textilbasierten Arbeit Teil des Ruhr Ding: Klima.

but only then to see how refugees were still being new normality; meanwhile wild animals are releft to their own devices. In fast motion we are claiming the roads now empty of traffic. Has witnessing a return to national borders. From our nature come back thanks to corona? Not so, says homes we can observe how worldwide socio-­the philosopher Bruno Latour who sees the coneconomic inequalities determine people’s chanc- tinuing corona crisis as a dress rehearsal for the next, by far worse crisis which will be unleashed es of survival during the pandemic.

I start searching for new formats that could by climate change. He asks questions such as: If you make a pledge to eternity you must hope that the pledge won’t turn into a curse. bring together a new world of ideas and my what kinds of activities have been momentarily interrupted that you wish would not be resumed Thus Florentino Ariza, protagonist in Gabriel own work.

Together with students from the Bauhaus-­ again? Which activities do you hope could be García Márquez’s novel Love in the Time of Cholera, swears his love to Fermina Daza and Universität Weimar, a Mail Art project about the further developed or even recreated completely until his dying days learns to live with the online summer semester is underway. Zines and from scratch?

Can we, in a time of pandemic, revive social hope that one day his feelings might finally be a range of different printed matter are being sent utopias? What would it be like if our predomiout by mail. reciprocated.

Seeking one’s way out of isolation is also nant experience of this were not the poison of The decision to live as an artist poses simiabout finding new places for art. From their bal- loneliness but regaining a condition of utter delar challenges.

In spite of one’s many personal privileges in conies throughout the city people seem open to votion to and concentration on a certain purthese parts, the current conditions make one public life, but in private they live in isolation. The pose in life?

Having lived through an eternity of yearnaware of the fragility of our cultural setting and project Die Balkone. Life, art, pandemic and proxone’s precarious existence as a freelance artist. imity in Berlin’s Prenzlauer Berg district created a ing and solitude, at least the novel’s hero FlorAll of a sudden I am back at the beginning and microcosm of artistic freedom. This was present- entino Atiza fulfils his aim in his twilight years: have to start searching again. No longer am I ed in a two-day livestream event produced by the on the ship journey at the close of Marquéz’s rushing from project to project, from one exhibi- campaign alliance Die Vielen (The Many). None- novel the yellow flag of cholera is hoisted, but tion to another, but need to pause for a moment theless, most art projects have been cancelled or only in pretence so as to protect the ageing lovand ask myself, what actually still has relevance postponed. While at the start of the year it still ers Florentino and Fermina from society. seemed unthinkable that machines and producin the face of global crises?

Like many other travellers I was relieved to tion might come to a standstill; now the danger Artist Raul Walch will contribute to Ruhr get back to Berlin on time before the lockdown, lies in what is familiar. People are looking for a Ding: Klima with his textile-based artwork.

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Monika Gintersdorfer

ensemble / zusammen

Eine sehr unangenehme Vision, die das Konstrukt, auf dem nicht nur die einzelnen Künstler*innen, sondern auch ihre Familien und Wahlfamilien, ihre Liebesbeziehungen und finanziellen Absicherungen beruhen, zerplatzen lässt.

Eine Rückkehr in eine lokale Existenz ist ein Albtraum für uns, wir wollen die transnationale Arbeit fortsetzen, um einer eurozentristischen Welt und Kulturauffassung etwas Vielstimmiges entgegenzusetzen. Nicht nur in der Anfang März 2020 haben wir uns nach der letzten gemein- Theorie, sondern in jedem Moment unseres Zusammensamen Vorstellung von Nana kriegt keine Pocken in Paris seins. Wir sind ein Ensemble, ein Ensemble ohne festen müde und eher glücklich getrennt und jede*r ist „heim“-ge- Spielort. Niemand ist für uns verantwortlich, keine Stadt, fahren. Einige mussten dafür nur die nächste Metro nehmen keine Institution. Wir können nur zusammen sein, wenn und andere bestiegen die Flugzeuge nach Abidjan, Berlin, wir reisen dürfen und wir können nur reisen, wenn wir Bremen, Wien, New York, L.A. und Mexiko City.

Arbeit haben und die Grenzen offen sind.

Wir verabschiedeten uns also, bisou bisou, und waren In Corona-Zeiten siegt das Formelle und Konforme: nicht allzu traurig, weil wir vier Wochen später in Bremen die Verheirateten, die Angestellten, die Steuerzahler*innen, die nächsten Nanas spielen sollten. die in Deutschland gemeldeten und die über die KünstlerDann kamen die Absage der Vorstellungsdaten, Corona-­ sozialkasse (KSK) versicherten Mitglieder können erfasst Ausgangsbeschränkungen und der Reisestop. Die Folgen: und im besten Falle auch unterstützt werden. Für viele von Aufenthaltsgenehmigungen können nicht rechtzeitig ver- ihnen bleibt es trotzdem schwierig. Aber was ist mit denen, längert werden, sie verfallen genauso wie die schon ge- die dazwischen liegen, die Doppel- und Trippel-Identitäten buchten Flüge zu den Vorstellungen. Einfach Puff — einige ohne ablesbaren Status, die Nicht-Kategorisierbaren? von uns sind seit April papier- und arbeitslos zugleich.

Wie kann man jungen La Fleur-Mitgliedern wie Alaingo, Wo ist die transnationale Gruppe jetzt, die wir seit vier Ordinateur, Annick das Reisen aus Klimagründen unterJahren aufgebaut haben? sagen? Reisen, die sie überhaupt erst seit kurzem machen Sie zerschellt gerade an den national gedachten Rege- können, Reisen, mit denen sie ihre Arbeit und Familie verlungen, die sich überall zumindest temporär durchsetzen. binden. Reisen, die die europäische Abschottungspolitik Die Corona-Bestimmungen machen uns unsere Abhän- immer wieder verhindern kann. Transnationalität und Kligigkeiten und die Fragilität unserer Verhältnisse noch ein- masorge dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, mal so richtig bewusst. Wir sind geübt, Restriktionen aus- sondern wir müssen neue Balancen finden. Fürs Klima zuhalten; manche Visa und titre de séjour haben wir nicht würden wir gerne weniger reisen, das könnte gehen, wenn rechtzeitig bekommen und mussten die enttäuschten Per- die Theater ihre Termine untereinander abstimmen würden. former*innen deswegen umbesetzen. Nur: da traf es einen Das könnte gehen, wenn wir Stipendien und Wohnungen oder zwei, nicht alle gleichzeitig. hätten, in denen man länger an Orten bleiben kann und Wenn wir in absehbarer Zeit nicht mehr reisen können, nicht dauernd hin und her hetzen muss. dann crasht das Leben zwischen den Kontinenten, das Kern unserer Arbeit und mittlerweile auch unseres künst- Die Regisseurin Monika Gintersdorfer wird mit einer Gruppe lerischen und persönlichen Selbstverständnisses ist.

Tänzer*innen Teil des Ruhr Ding: Klima 2021 sein.

ensemble / together

how dependent we are and how fragile our condi- who are insured members of the Künstlersotions are. We have practice in dealing with restric- zialkasse, the artists’ security fund in Germany, tions: maybe some visas and titres de séjour can be counted and will, at best, also receive couldn’t be acquired on time, forcing us to substi- support. For many of them, things nonetheless tute disappointed performers. Except that affect- remain difficult. But what about those who drop ed just one or two, not everyone at the same time. through the net, those with double and triple Being unable to travel for the foreseeable fu- identities without clearly legible status, those In early March 2020, after our last performance of Nana ou est-ce que tu connais le bara? in Paris ture will crash our lives between the continents, who fit into no category?

How can you prohibit young La Fleur we split up, tired and more or less happy, and the very heart of our work and, by now, also of members like Alaingo, Ordinateur or Annick everyone went “home”. For some this just our artistic and personal identities.

A highly unpleasant vision that shatters the from travelling for climate reasons? Travels they meant catching the next Métro, others had to board planes to Abidjan, Berlin, Bremen, Vien- edifice supporting not only the individual artists, weren’t even able to make until recently, travel but also their immediate and their extended fam- that connects them to their work and their famna, New York, L.A. or Mexico City.

So we said goodbye, bisou bisou, and wer- ilies, their personal relationships and financial ilies? Travel that European closed-door poli­cies have repeatedly impeded? Transnationality en’t that sad since we were scheduled to play the security.

For us, returning to a local existence is a night­- and climate concern should not be played off next Nanas four weeks later in Bremen.

Then came the cancellation of tour dates, mare; we want to continue our transnational against each other; instead, we need to find new corona curfews and the travel ban. The conse- work so as to counter a Eurocentric world and ways of balancing them. To protect the climate quences: Residency permits could no longer be notion of culture with our many-voiced alterna- we would be glad to travel less: This would be renewed on time; they expire in the same way as tive. Not only on a theoretical level, but also in possible if the various theatres coordinated their previously booked flights to the next perfor- each moment we spend together. We are an en- schedules among each other. This would be posmances do. Gone in a puff — some of us have semble, an ensemble without a fixed venue. No sible if we were given grants and accommodaone is responsible for us, no city, no institution. tion so we could stay for longer in certain places been without papers and work since April.

What has become of the transnational We can only be together when we are allowed to and not have to constantly rush back and forth. travel, and we can only travel when we have work group we built up over four years?

At present it is being blown apart by the na- and the borders are open.

In times of corona, formalities and conform- Together with a group of dancers, the tionally minded controls that have won through everywhere, at least for the time being. Current ity gain the upper hand. Married couples, sala- director Minika Gintersdorfer will be part corona regulations once more really bring home ried employees, taxpayers, registered residents of Ruhr Ding: Klima 2021.

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Ellen Wagner

Welche Art von Sichtbarkeit?

Es ist März 2020. Zwei Wochen nach den ersten Veranstal- ohne Messen, ohne Zusagen, ohne Aufträge. Es ist zentral, tungsabsagen hab ich nun die letzten Ausstellungen rezen- nicht zu vergessen, dass wir Kunst- und Kulturschaffende siert, die ich noch im analogen Raum besuchen durfte nicht nur dafür arbeiten, uns gegenseitig Plattformen der — „wegrezensiert“, so fühlt es sich an, alles kunstkritische Sichtbarkeit und diskursiven Relevanz zu bieten. In der Restpotenzial verbraucht, die letzten Einhörner erlegt, Masse verfügbarer Sichtbarkeiten wäre es vermutlich auch und ich weiß nicht, wohin ich mit dieser Metapher will, naiv zu glauben, es käme allein darauf an.

Man sollte lernen von den Fehlern der Zeitungsbranaber sie fühlt sich angemessen dramatisch an. Artensterben in der Kunsttextproduktion. Auch wenn die Themen, che, die sich viel zu spät darauf besann, die neu digitalisierten Inhalte über verschiedene Paywall-Modelle als Qualischaut man genauer hin, keineswegs auszugehen drohen.

Merkwürdig ist: Es wird mir trotzdem alles zu viel. Alle tätsprodukt auszuzeichnen, das sich ganz buchstäblich Ausstellungen haben geschlossen, doch sekündlich trudeln auch bezahlbar macht. Wenn „der Betrieb“ auch freiwillig neue installation views in meiner Timeline ein. Dinge, die und kostengünstig „funktioniert“, das heißt unter unsichtich hätte sehen können, wäre ich vor zwei Wochen, vor fünf baren, doch sehr realen, oft prekären Anstrengungen am Monaten oder letztes Jahr irgendwann an Ort x bei Künst- Laufen bleibt, stellt er sich autarker, als er ist, und riskiert ler*in y auf Vernissage z gewesen. Ein wenig habe ich letztlich seine Existenzgrundlage. Mancher Online-MusikAngst, dass nach überstandener Corona-Krise ich online dienst hat dies bereits verinnerlicht und umgesetzt — die so viel Kunst gesehen haben werde, dass ich ein dringendes Kunstwelt tut sich etwas schwerer mit dem Erzielen und Bedürfnis verspüren könnte, umzuschulen. Vielleicht zum der Weitergabe von Erlösen für die eigenen Akteure. VielTierpfleger oder Landschaftsgärtner. Auch Zahnärzte wer- leicht, weil entsprechende Strukturen ohnehin eher unterden immer gebraucht, und wenn sie Lücken stopfen, dann entwickelt, sofern überhaupt existent sind. mit solidem Kunststoff, nicht nervösen Klicks.

Vor etwa zwei Jahren auf einem Workshop am KaffeeDie Kunstwelt postet emsig, was das Zeug hält, um buffet. Ich: „I’m doing art criticism.“ Person gegenüber: Menschen, Dingen (manchmal Kunst), Institutionen jetzt „Oh, so you’re having a blog!?“ Und genau da fangen die (jetzt!) virtuelle Sichtbarkeit zu verschaffen. Das klingt Probleme an. erst einmal gut und ist es: Zahlreiche Streaming-Angebote Kultur muss auch mal Ehrenamt sein dürfen, muss einetwa für Theaterproduktionen, Festival-Talks, Führun- springen, wo politische Entscheidungen oder eben Katastgen durch große Ausstellungshäuser oder winzige Hinter- rophenfälle ihre Freiheit, Wahrnehmbarkeit und Lebenshofgalerien machen es möglich, auf lange Hand mit viel grundlage bedrohen, ohne gleich darauf zu schielen, wer Aufwand vorbereiteten Veranstaltungen den gebührenden das Engagement bezahlt. Doch wenn schlecht oder unbePublikumsrespekt zukommen zu lassen, den alle Beteilig- zahlte Arbeit ohnehin Normalfall ist, droht dies eher den ten und nicht zuletzt das künstlerische Ergebnis selbst ver- individualistischen Kampf um Slots und Features zu bedient haben. Wenn die Türen geschlossen bleiben, öffnen fördern, den man sich finanziell wie nervlich leisten können sich die Browserfenster. muss. Die eigene Produktion zu garantieren und sichtbar, Das Problem dabei: So positiv kulturbejahend kosten- konsumierbar zu halten, hat Priorität, ungeachtet der Tatfreie Angebote sind, so wenig helfen sie langfristig uns allen, sache, ob dies überhaupt gerade die tatsächliche Baustelle die eigene Arbeit in Lohn zu verwandeln. Wenn niemand ist, die das große Ganze in seiner Infrastruktur betrifft. Und zahlen muss, wird häufig leider auch niemand bezahlt. Zu- Infrastruktur ist nicht das gleiche wie ein Netzwerk, in dem mindest nicht, wenn man dieses Modell hochrechnet auf bestimmte Routen und Verbindungen immer schon näher mehrere Wochen und Monate, die uns noch bevorstehen als die anderen liegen, mutmaßlich schneller zum Ziel füh — ohne Openings, ohne bezuschusste Neuproduktionen, ren und damit auch ein Abseits ihrer Selbst kreieren.

What Kind of Visibility?

March 2020: Two weeks after events started to be cancelled I have now finished reviewing the last exhibitions I was still able to attend in the analogue space. It feels like they’ve been “reviewed away”, all their remaining potential for artistic criticism has been used up, the final unicorns have been slain, and I don’t know quite where I’m going with this metaphor but it feels suitably dramatic. The extinction of species has spread to the production of art texts. Even though, on closer inspection, there is no danger of the themes running out.

The strange thing is: it’s all too much for me nevertheless. All the exhibitions have closed but new installation views are turning up on my timeline every second. Things that I would have been able to see if I had been in place X with artist Y at private view Z two weeks ago, five months ago or even last year. I’m a little afraid that after withstanding the coronavirus crisis I will have seen so much art online I will feel some urgent need to retrain — to look after animals,

maybe, or become a landscape gardener.Dentists, that we do not forget that we art and culture too, are always in demand and if they fill in gaps professionals do not work solely in order to with something artificial, it’s something solid, not present each other with platforms of visibility and discursive relevance. In the mass of availanervous clicks.

The art world is busy posting away like mad ble visibilities it would probably also be naive to now (now!) to generate some virtual visibility for believe that this alone is what matters.

We should learn from the mistakes of the people, things (sometimes art) and institutions.

Initially this sounds like a good idea — and it is: newspaper industry, which was far too late to numerous streamed presentations of theatre pro- realise it needed to mark its newly digitised conductions, festival talks, guided tours through ma- tent as a quality product through various payjor exhibition spaces or tiny backyard galleries wall models that quite literally enable it to be make it possible for events that have been pre- paid for. If “the business” “works” in a way that pared over a long time with a great deal of effort is voluntary and cheap, i.e. it remains operationto receive the due respect of an audience that all al despite invisible but very real and often prethe participants and not least the artistic out- carious stresses, it presents itself as being more come itself deserve. While their doors remain self-sufficient than it actually is and ultimately risks the basis of its own existence. Many online closed, browser windows are open.

The problem with this is: for all the positive music services have already absorbed this and affirmation of culture provided by such free ac- put it into practice — the art world finds it harder cess, it does very little to help all of us turn our to obtain and distribute revenues to individual work into income in the long term. If no one has participants. Perhaps because the relevant to pay, then more and more often nobody will get structures are already underdeveloped inaspaid. At least not if this model is extended over much as they exist at all. the many weeks and months that lie ahead of Two years ago, queueing for coffee at a us — without any openings, without any new workshop. I say: “I do art criticism.” The person grant-funded productions, without fairs, without opposite me says: “Oh, so you’ve got a blog?” agreements, without commissions. It is essential And that’s exactly where the problems begin.

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Wichtig ist in Zeiten digitaler Homeoffices: Vorbereitet Geht man davon aus, dass Kultur in sich ein Plural ist, wird sein — auf eine Zeit, die kommen wird, sei es in drei Wochen es immer blinde Flecken geben, die sich entweder nur im oder in drei Monaten, wenn Veranstaltungen in real life Analogen oder nur im Digitalen so und nicht etwa anders zu wieder möglich sein werden. Und wer will dann schon da- erkennen geben werden — oder aber dann, wenn beide Räustehen und nicht loslegen können, ohne loszustolpern wie me zusammenwirken, ohne einander doch zu ersetzen. nach langer Bettlägerigkeit? Wer will riskieren, dass der „Anders“ nämlich bedeutet nicht schlechter — aber: Es ist Kulturbranche in ein paar Monaten die Beine wegknicken, auch nicht dasselbe. Kultur wird nicht zuletzt beeinflusst weil sie sich nicht oder zu spät zu bewegen getraut hat? von verschiebbaren, aber doch existenten Grenzen eines Natürlich bleibt es wichtig, Möglichkeiten zu erweitern Lebensumfelds, einer Reichweite, der jeweiligen Beweglichund zu verbessern, um Kultur und ihre Institutionen zu keit der Publika — die einschränken, aber auch Dinge erst virtualisieren. Entscheidend ist jedoch das Wie solcher An- ermöglichen können. Und diese sind im Analogen und im sätze. Wie macht man nicht nur die Aktivitäten der „Gro- Digitalen jeweils anders abgesteckt und definiert. ßen“ mit entsprechender Social-Media-Reichweite sichtbar, Aus all dem ergibt sich, dass es also keineswegs gilt, alle sondern auch kleinerer Initiativen und Einzelpositionen? Versuche, online Kunst zu zeigen, abzublocken. Vielmehr ist Wie erleichtert man es, neue Künstler*innen im Digitalen dafür zu plädieren, noch mehr auszuprobieren. Ausstellunzu entdecken, gegen die eigene algorithmisch eingeschwo- gen in virtuellen Räumen, die sich ihrer spezifischen Räumrene Filterblase? lichkeit auch bewusst sind, in Online-Spielumgebungen Bilder, Texte, Videos und Audiospuren — sie alle sind di- oder eingebettet in digitale 360°-Fotografien, als Website, gitalisierbar. Ob „die Kultur“ es ebenso ist, bleibt zu bezwei- die sich auch nicht einfach so auf 60 Zoll und LCD screenen feln. Natürlich, selbstverständlich — auch im Digitalen gibt lässt, ohne ihre Besonderheit zu verlieren — all das sind es eine Kultur. Sogar viele, ganz verschiedene spezifische Möglichkeiten, die man zuspitzen und erweitern kann. Weil Kulturen. Doch diese digitale Kultur ist nicht in Deckung zu Technologie einfach zu schade ist, um statt als Experimenbringen mit einer umformatierten analogen Welt, in der wir tierfeld nur zum Zuschneiden rechteckiger Bildausschnitte Leute treffen, über Hindernisse (auch im Kunstraum) stei- zu dienen. (Was nicht heißt, dass auch diese Funktion in gen, ganz buchstäblich Wände hochziehen, um Formate bestimmten Fällen wichtig ist.) Vielleicht muss man auch daran zu befestigen, die sich nicht über Dateiendungen, son- gar nicht immer ausstellen, sondern hält kurz inne, um sich dern durch physisch messbare Gewichte und Volumina de- — denn auch das ist digital ja hervorragend möglich — ausfinieren. Und diese analoge Kultur, zumindest manche ihrer zutauschen über Fragen nach dem Verhältnis von PräsenzAspekte, es tut weh, fehlen momentan nun mal. Sorry to say. zwang und Rückzug, das Visuelle und das Unsichtbare im

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Ellen Wagner

Bereich der Kunst und der Kultur. Natürlich ist es richtig, künstlerische Produktionen, die bereits präsent, doch ungesehen im Raum stehen, virtuell zugänglich zu machen.

Doch welche Inhalte lohnen darüber hinaus (re-)produziert zu werden? Wo hört das solidarische Anliegen auf, fängt der reine Content an?

Es geht nicht darum, eine Lücke zu füllen, sondern darum, sie als solche zu erfahren, was bedeutet, sie als Freiraum für neue Formate — abseits von Insta-Storys und -Kettenpostings — zu begreifen ebenso wie als Loch, aus dem wir uns gemeinsam für die Zukunft herausstrampeln müssen.

Wenn mehr Leute digitale Werkzeuge für das benutzen würden, was diese Werkzeuge ganz spezifisch können, wären sicherlich in der Vergangenheit noch unterschätzte Potentiale zu entfalten. Genauso aber sollte es mehr Raum geben, parallel zu dieser Versuchsanordnung — die momentan ja gerade nicht unter Laborbedingungen erprobt wird, was ein Ansporn sein sollte — die Lücke, die durch den Wegfall nicht-digitalisierbarer Kultur entsteht, zu reflektieren, ja, ein wenig auch in hoffender Vorfreude auf Künftiges zu betrauern, sie zumindest nicht gleich zuzustopfen, als gelte es, im Online-Stream noch schnell drei Kisten Werke zu hamstern für das Vorratsregal des individuellen Kunstkonsums.

Wer will denn nach drei Wochen noch jeden Tag fünf Teller Pasta essen? Wer verbraucht, ernsthaft, 112 Tampons pro Monat? Und wer soll bloß den ganzen Content noch verdauen, der seit einigen Tagen nun in drei- und vierfacher Menge per Social-Media-Lieferservice bei uns ankommt und hartnäckig Sturm klingelt? Vielleicht hilft es, einfach nicht aufzumachen und stattdessen auf einen Klingelstreich zu hoffen, auf eine Lieferung, die, nicht bestellt, dann trotzdem einfach ankommt, sich entpackt und eventuell zum Teilen, vor allem aber zum Denken anregt.

Ellen Wagner ist freie Autorin und Kuratorin.

Sometimes culture must also be allowed to take the lead, it must intervene where political decisions or disasters threaten its freedom, its ability to be seen and the basis of its existence without immediately straining to see who is paying for this engagement. But when working for poor or no pay is already the norm, this threatens to encourage individualistic competition for slots and features more than people’s finances or nerves can stand. Guaranteeing one’s ability to produce and ensuring this remains visible and consumable becomes the priority, irrespective of the fact of whether this is actually affects the infrastructure of the matter as a whole. And infrastructure is not the same as a network, in which certain routes and connections are always going to be closer than others, will presumably reach their target faster and thus also create something apart from themselves.

In the age of digital home working it is important to be prepared — for a time to come, whether it is in three weeks or three months, when events “in real life” will be possible once again. Who wants to be standing there then, unable to get cracking without stumbling as if they’d been bedridden for ages?Who is prepared to risk that culture’s legs will collapse under it in a few months because it didn’t dare keep moving or only started too late?

Of course it’s still important to extend and improve means of virtualising culture and its institutions. But what is crucial is how such things are done. How can we make the activities visible not just of the “major” institutions that have the social media reach to match, but also of smaller initiatives and individuals?How can we make it easier to discover new artists in the digital sphere overcoming our own algorithmically confirmed filter bubble?

Images, texts, videos and audio tracks can all be digitised. Whether the same goes for “culture” is open to doubt. Of course, obviously — there is a culture in the digital world. Indeed there are many, highly varied and specific cultures. But this digital culture cannot be aligned

with an unformatted analogue world in which we people meet, overcome obstacles (even in art spaces), literally put up walls in order to fix forms to them that are defined not by filename extensions but by weights and volumes that can be measured physically.And at the moment we are missing this analogue culture, at least some of its elements, and it hurts, I’m sorry to say.

Assuming that culture is in itself plural, there will always be blind spots that will be evident as such and not anything else either only in analogue or only in digital form — or when both spheres interact without replacing each other.“Anything else” does not necessarily mean worse — but it’s not the same, either. Culture is influenced not least by the movable but nevertheless existing boundaries of the world in which people live, of the range, the respective mobility of audiences — which can be restrictive and yet can also make things possible.And these are each pitched and defined differently in the analogue and digital spheres.

From all this it emerges that there is really no case for blocking all attempts to present art online. Rather, there is an argument for greater experimentation. Exhibitions in virtual spaces whose specific dimensions are known, in online game environments or embedded in digital 360° photographs, as websites, that aren’t simply screened on 60 inch LCDs without losing what makes them special — all these are possibilities that can be made sharper and taken further. Because technology is simply too good to be used as a frame for cutting out rectangular sections of images instead of a field for experimentation.

(Which doesn’t mean it’s not also important in the former function in certain cases.) Perhaps also we don’t always need to put things on show, but rather to pause briefly in order — and this is something that can also be done wonderfully in digital form — to exchange views on questions about the relationship between the urge to be present and withdrawal, the visual and the invisible in the fields of art and culture.

Of course it is right to make artistic productions accessible virtually that are already in the

space, present yet unseen. But besides these, what else is worthy of (re-)production? Where does solidary intention stop and the pure provision of content begin?

What’s important is not filling a gap but experiencing it as such and what it means to grasp it as an open space for new formats — other than Instagram stories and posting threads — as well as a hole that we will need to thrash our way out of together for the future. If more people would use digital tools to do what those tools are specifically able to do, it would be possible to release some potential that has previously been undervalued. However, in parallel to this experiment — which is currently being tried not exactly under laboratory conditions, which should be an incentive — there should also be more scope to think about the gap that has arisen due to the loss of culture that cannot be digitised, to grieve a little in hopeful anticipation of what is to come and at least not to fill it up immediately as if what mattered was to quickly hoard three crates of streamed online artworks for our personal stash of artistic consumption.

After three weeks, who is still going to want to eat pasta five times a day? Who, seriously, is going to use 112 tampons per month? And who is supposed to digest all this content that has been arriving for days in triple or quadruple quantities delivered by social media and ringing the bell insistently? Perhaps it will help simply not to open it and instead to hope that someone rings the doorbell as a prank, for a delivery that was never ordered but nevertheless simply arrives, unpacks itself and then encourages us to share and, above all, to think.

Ellen Wagner works as a freelance curator and writer.

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Annemarie Bucher

Bewegte Botanik.

Oder: Warum Pflanzen wandern

Migration ist gegenwärtig in aller Munde — insbesondere in Bezug auf Wanderungen von Menschen zwischen unterschiedlichen Lebenswelten. Getragen durch den weltweiten Personen- und Güterverkehr und in sich klimatisch verändernden Biosphären zeichnen sich noch ganz andere Migrationsbewegungen ab: Auch Pflanzen bewegen sich über ihre angestammten Lebensbereiche hinaus.1 Doch was bedeutet die Migration der Pflanzen im Kontext eines neu formatierten Natur-Kultur-Verhältnisses?

In den Naturwissenschaften wird Migration als Verbreitung von Pflanzen auf einem Territorium definiert, sie erfolgt mittels ihrer eigenen Reproduktionstechniken, durch Ableger, Ausläufer und Samen. Weitaus größere geografische Verbreitung erfuhren Pflanzen jedoch durch die Menschen, die als Siedler*innen neue Böden kolonisierten, die Pflanzen durch Züchtungen modifizierten, die

Moved Botany — or Why Plants Migrate

mit Saatgut und Stecklingen wanderten oder die von den Kriegszügen als Beute neue Nutz- und Zierpflanzen nach Hause brachten. Zahlreiche nahrungsrelevante Kulturpflanzen sind durch Aussäen gezielt verbreitet worden. So kamen Weizen, Gerste, Dinkel, Linse, Ackerbohne, Lein und Mohn vor etwa 6500 Jahren über Saatgutvermehrung mit den ersten Ackerbauern vom östlichen Mittelmeerraum nach Mitteleuropa. In diesem Saatgut reisten aber auch „blinde Passagiere“ wie Kornrade und Klatschmohn.

Ein bedeutender Schub von neuen Pflanzen war mit dem sogenannten Kolumbus-Effekt verbunden. Kolumbus’ Landung in Amerika 1492 bildete nicht nur den Auftakt für die Kolonisierung neuer Territorien und ihrer Bewohner*innen, sondern auch eine Veränderung der bestehenden Naturen.

Zahlreiche Nutzpflanzen aus der Neuen Welt, wie Kartoffel, Tomate, Feuerbohne oder Kürbis, gelangten zunächst nach Europa, dann nach Asien und Afrika, wo sie im Anbau- wie auf dem Speiseplan weniger einträgliche Nahrungsmittel ersetzten. Die Kartoffel beispielsweise veränderte die Landkarte der Nutzpflanzen sowie die Speisepläne nachhaltig. Im 16. Jahrhundert kam sie mit Seefahrern von Peru an den Spanischen Hof und von dort als königliches Geschenk zu Papst Pius IV nach Rom. Von diesen Zentren aus breitete sich die Kartoffel zunächst ihrer Blüte wegen in Botanischen Gärten und dann als Nahrungsmittel auf Äckern in ganz Europa aus. Als nützlicher Neophyt2 längst naturalisiert, wird ihr exotischer Ursprung 1 Die Bio–Migration, die Wanderung von Tieren und Pflanzen steht im Zusammenhang mit dem Problem der Neophyten, d.h.: Was ist einheimisch und was ist fremd in der Natur? verstärkt im Fokus. Vgl. Annemarie Bucher, Botanische Migration. Eine Spurensuche in der globalen Landschaft, in: Pflanzen auf Reisen. Topiaria Helvetica, 2012, S. 59 — 71; dies., Vom fruchtbaren Halbmond bis Spitzbergen. Saatgutbibliotheken und Samenbank als Wissensgeneratoren für den Pflanzenbau, in: Was keimt denn da? Von Samen und Sorten, Topiaria Helvetica, 2019, S. 6 — 19; dies., Pflanzen und Migration, in: Silke Wagner. Migration und Pflanze, Kunstverein Heilbronn, Snoeck: Köln 2019, S. 183 — 228

were intentionally propagated through sowing. versely, there were cultivated plants that travThrough seed cultivation, this is how wheat, barley, elled to the New World from Europe, Africa or spelt, lentils, field beans, linseed and poppyseed Asia. Among them was the banana which came with the first crop farmers from the eastern spread from South East Asia to Africa, then in Mediterranean to central Europe some 6,500 the course of the Transatlantic slave trade to the years ago. And with these seeds also came various Americas, where it was developed into a planta“blind passengers” such as corn-cockle and field tion fruit.3 poppies.

In conjunction with human settlement acA significant surge in new plants was linked tivities and expeditions of territorial conquest Currently, everyone is talking about migration — especially in respect to people on the move to the so-called Columbus effect. Columbus’s plants have proved particularly mobile.4 Interbetween different spheres of life. Yet borne by landing in America in 1492 not only marked the est in new food crops has always stood at the the global traffic of people and goods as well as start of the colonisation of new territories and fore. But the demand for ornamental plants climatically changing biospheres, altogether their inhabitants but also changes in the prevail- with exotic blossom and decorative forms also different kinds of migratory movements are be- ing states of nature. increased in the intercontinental exchange of Numerous agricultural crops from the New plants. Botanical gardens became veritable concoming evident: plants too can move beyond their original environments.1 But what does bo- World such as potatoes, tomatoes, kidney beans duits for plant migration, both for their acclimatanical migration mean in the context of a new- or pumpkins first arrived in Europe and then tisation and for breeding and multiplication of spread to Asia and Africa, where in terms both of “new arrivals”. Like the potato, the tulip also ly formatted nature / culture relationship?

Natural science defines migration as the cropping yield and diet they replaced other, less arrived in Europe in the sixteenth century. Origpropagation of plants over a certain territory; it bounteous food sources. The potato, for instance, inally a fairly nondescript wild plant, it was culoccurs through the plant’s own methods of re- permanently redrew the map of agricultural pro- tivated in Ottoman gardens, then spread as a production, through offshoots, runners and duction and diets. Seafarers brought it over in the botanical speciality to other botanic gardens in seeds. Yet plants have been subject to far broader sixteenth century from Peru to the Spanish court, Europe; during the seventeenth century, the tugeographical diffusion through human agency: from where it was sent as a royal gift to Pope Pius lip became — not least of all thanks to rare and people have colonised new lands with settle- IV in Rome. From these centres the potato, treas- spectacular breeds — a coveted luxury article ments; modified plants by selective cultivation; ured for its flowers, first found its way to botani- and object of speculation.5 have migrated, taking seeds and grafted shoots cal gardens, thereafter it spread as a foodstuff to In the hope that new ornamental plants with them; or brought home new agricultural or fields all over Europe. As an edible neophyte2 it would spawn lucrative business so-called plant ornamental varieties as spoils from military expe- has long since become naturalised and its exotic hunters were dispatched to previously unexditions. Countless nutritional cultivated plants origins are now seldom brought to notice. Con- plored regions. In the mid-seventeenth century

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Annemarie Bucher

kaum mehr geltend gemacht. Umgekehrt gelangten aus Europa, Afrika oder Asien stammende Kulturpflanzen in die Neue Welt. Zu ihnen gehört die Banane, die von Südostasien nach Afrika und im Zuge des transatlantischen Sklavenhandels nach Amerika gelangte, wo sie sich zur Plantagen-Frucht entwickelte.3 Im Kontext der menschlichen Siedlungstätigkeit und territorialen Eroberungspolitik erweist sich die Pflanzenmobilität als besonders hoch.4 Das Interesse an neuen Nahrungspflanzen stand im Vordergrund. Wegen ihrer exotischen Blüten und dekorativen Formen waren immer mehr auch Zierpflanzen Gegenstand des interkontinentalen Pflanzenaustauschs. Botanische Gärten bildeten regelrechte Schleusen für die Migration von Pflanzen: sowohl bei der Akklimatisierung als auch bei der Züchtung und Vermehrung von „Neuankömmlingen“. Ähnlich wie die Kartoffel wanderte im 16. Jahrhundert auch die Tulpe in Europa ein. Ursprünglich eine unscheinbare Wildpflanze wurde sie in den osmanischen Gärten kultiviert, gelangte dann als botanische Besonderheit in die Botanischen Gärten und wurde im 17. Jahrhundert — nicht zuletzt auch durch außergewöhnliche Züchtungen — zum begehrten Luxusartikel und Spekulationsobjekt.5 Von neuen Zierpflanzen erhoffte man sich ein lukratives Geschäft und schickte deshalb sogenannte Pflanzenjäger in noch unerforschte Gebiete. Mitte des 17. Jahrhunderts beflügelten neue Pflanzen aus der südafrikanischen Kap-Region botanische Forschungen ebenso wie die Gartenmode. Im 19. Jahrhundert waren es vor allem Geranien, die durch gesellschaftliche Prozesse naturalisiert wurden.

In den Gärten und Blumenkisten der Patrizier zur Wirkung gebracht, trugen Bedienstete Geranien-Stecklinge aufs Land, wo sie bald als typischer Bauernhaus-Fassadenschmuck zum Inbegriff von Heimat wurden.

Obwohl Pflanzen Wurzeln schlagen, d.h. als Lebensformen standortgebunden sind, folgen sie globalen Wanderbewegungen. Während die Verbreitung von Nutzpflanzen im Zuge der menschlichen Migration als Kul­­tur­­leistung angesehen wird, werden die unbeabsichtigten Begleiter dieser Wanderungsprozesse als biologische Invasion bezeichnet.

Der gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus Ostasien hierzulande eingeführte Schmetterlingsflieder zum Beispiel wurde 2018 aufgrund seiner unkontrollierten Ausbreitung zur invasiven Neobiota erklärt, die die einheimische Flora verdränge und deshalb ausgerottet werden müsse. Doch gibt es ein Wurzeln-schlagen im Richtigen oder im Falschen? Wie weit sind bestehende Zuordnungen von Pflanzen zu bestimmten Territorien mit Wertungen behaftet, die vielmehr aus dem Kontext der Migration von Menschen stammen?

Die überaus polemische Diskussion über invasive Neophyten, die vermehrte Beobachtung klimabedingter Veränderungen von Pflanzenstandorten und -gesellschaften, und insbesondere die gärtnerisch und landwirtschaftlich erzeugten Pflanzenkulturen, weisen darauf hin, dass die Kategorien der „Natur“ mobil geworden — im Wandel begriffen — sind. Erschüttert wird damit nicht nur unser alltägliches Verständnis von Natur als eine stabile und heile Gegenwelt6 zur Kultur. Auch sind wir kaum geübt, die komplexen und vielfältigen Vernetzungen und Zusammenhänge von Natur und Kultur zu lesen. Stattdessen begegnen wir sich überlappenden und sich kreuzenden Geschichten und hybriden Zuständen, die ein neues Verständnis von Pflanzen zur Folge haben.

Pflanzen gehören zu den Hauptakteuren der Biosphären, sie sind mehr als naturhafte Immobilien und biologisches Verbrauchsmaterial. In einer neuen und inzwischen immer populärer werdenden Sicht7 auf Natur werden Pflanzen als dem Menschen vergleichbare, wenn nicht gar ebenbürtige Lebewesen behandelt. Auch jüngste wissenschaftliche Forschungen8 bringen Pflanzen als rezeptive und vernetzte Lebensformen ins Spiel, die sowohl naturwissenschaftlich erklärbar als auch kulturell geprägt und mit Bedeutungen behaftet sind.

2 Auf dem europäischen Territorium siedelten sich nach der Eiszeit Pflanzen an, die als einheimische Flora klassifiziert werden. Als Archäophyten bezeichnet man Pflanzenarten, die vor 1492 (Kolumbus landet in Amerika) eingeführt wurden und sich in der Landwirtschaft wie in der freien Natur etablieren konnten. Als Neophyten bezeichnet wer­den Pflanzen, die nach 1492 in Europa eingeführt wurden.

3 Going Bananas, Bulletin Nr. 90, Vögele Kultur Zentrum, Pfäffikon, 2011.

4 Eine internationale Forschergruppe hat nachgewiesen, dass bei den biologischen Invasionen die menschengemachten Einflüsse grösser ist als die natürlichen. (Vgl. Disentangling the role of environmental and human pressures on bio­logical invasions. Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, 2010.

5 Vgl. Tulpenfieber; Holger Schuckelt: Der Weg der Tulpe nach Europa. In: André van der Goes (Hrsg.): Tulpomanie.

Die Tulpe in der Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts.

Uitgeverij Waanders: Zwolle, 2004.

6 Der Begriff der Natur als Gegenwelt entstammt der philosophischen Diskussion. Vgl.G. Grossklaus und E. Oldemeyer (Hrg.): Natur als Gegenwelt. Beiträge zu einer Kultur­ geschichte der Natur, Karlsruhe 1983.

7 Peter Wohlleben, Das geheime Leben der Bäume, 2015, u.a.

8 Vgl. Forschungsprogramme am Max-Planck-Institut in Jena, am Laboratorio Internazionale di Neurobiologia Vegetale der Universität Florenz oder an der Eidgenössischen For­schungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft in Zürich.

9 Emanuele Coccia. Die Wurzeln der Welt, Hanser, 2018.

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Insbesondere mit dem Blick auf ihre Re- haben insbesondere Donna Haraway und Bruno Latour produktionsformen und Umweltbezie- vorbereitet10. Mit ihren Denkperspektiven zeigen sie auf, hungen werden Pflanzen inzwischen ge- dass die Menschen nicht die einzigen machtvollen Akwisse Menschenähnlichkeit — ein soziales teur*innen auf der Welt sind. Nicht nur der Umgang mit Leben und ko­mmunikative Fähigkeiten sowie Lern- und der Welt, auch die Fakten der Natur erfahren dadurch Erinnerungsvermögen — zuerkannt. Bereits 1875 vergli- eine Revision aus nicht-anthropozentrischen Blickwinchen Charles und Francis Darwin Pflanzenwurzeln in Be- keln. Es macht durchaus einen Unterschied, wie die Dinzug auf ihre Umweltreaktionen mit dem menschlichen ge benannt werden. Ob der Kopfsalat gepflückt, oder ob Gehirn. In den 1970er-Jahren rückten Christopher Bird ihm der Kopf abgeschlagen wird. Auch die „Jagd“ auf und Peter Tompkins erneut Ähnlichkeiten zwischen Pflan- „fremde Pflanzen“ erinnert unweigerlich an koloniale und zen und Mensch in den Fokus. Und im 21. Jahrhundert neokoloniale Abwertungs- und Auslöschungsstrategien.

Das Wandern der Pflanzen hält uns deshalb mehrpräsentiert die Zellforschung dazu neue Einsichten: Der Neurobiologe Stefano Mancuso schreibt den Pflanzen fach einen Spiegel vor. Zum einen relativiert es anthropoeine Art sinnliche Wahrnehmung und „Kontextintelli- zentrische Positionen und zum anderen eröffnet es eine genz“ und damit eine Überlebensfähigkeit im Bezug auf Perspektive auf die Welt nach dem Anthropozän. Wenn schwierige Umweltbedingungen zu, die derjenigen des es darum geht, sich von alten hierarchisierenden und disMenschen weit übersteigt. Auch der Philosoph Emanuele tanzierenden Erzählungen von Natur versus Kultur zu Coccia9 argumentiert mit dem Leben der Pflanze als Para- verabschieden und Koexistenzen zu entwickeln, dann digma, neue Seinsprinzipien zu beschreiben. Pflanzen sei- muss auch neu beurteilt werden, nicht nur wer oder was en die eigentlichen Helden des Lebensraums. Dadurch, wo wächst und gedeiht, sondern auch, wer oder was sich dass sie durch die Blätter atmen, sich auf dem Territorium wie und wohin bewegt. durch Samen und Ableger verbreiten, und in anderer Weise mit ihrer Umgebung in Verbindung treten, zeigen sie Annemarie Bucher ist Kunst- und Landschaftshistorikerin.

Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit.

10 Donna Haraway, Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Mit diesen und ähnlichen Fragen und Geschichten Cyborgs und Frauen, Frankfurt a. M. und New York 1995; rückten Pflanzen immer mehr in den Rang von systemdies., Staying with the Trouble. Making Kin in the Chtulucene, Durham / London 2016; Bruno Latour, Das Parlament der relevanten, mobilen, kulturhaft geformten Mitweltwesen.

Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt a. M. 2001; Ihre Lebensberechtigung und ihr Status messen sich weders., Das terrestrische Manifest, Berlin 2018. Weitere niger an ihrem direkten Nutzen für die Menschen als vielwichtige Autor*Innen sind Anna Loewenhaupt Tsing und mehr an ihren Vernetzungen mit ihnen. Den Boden dafür Andreas Weber. new plants from Africa’s southern cape gave In particular, in terms of their reproductive forms rise to botanical research as well as new fash- and environmental relationships plants are now ions in garden design. In the nineteenth century acknowledged as bearing certain humanlike qualit was notably geraniums that were naturalised ities — such as social life, communicative abilities through social processes. Having been grown to and a capacity to learn and remember. Even as full effect in the gardens and flower boxes of early as 1875, Charles and Francis Darwin drew patrician families, geranium offshoots were tak- comparisons between the response of plant roots en by servants to the countryside, where as ar- to their surroundings and the human mind. In chetypal ornamentation of farmhouse façades the 1970s Christopher Bird and Peter Tompkins they became the epitome of “homeliness”. drew renewed attention to similarities between Although plants grow roots — thus forms of plants and human beings. And in the 21st century life with fixed locations — they also participate cellular research too has presented new insights: in global migratory flows. Whereas the spread plant neurobiologist Stefano Mancuso ascribes of nutritional plants as a consequence of human plants a kind of sensory perception and “context migration is considered a cultural achievement, intelligence”, suggesting a survival capacity in their unintended companions in these migrato- relation to adverse environmental conditions far ry processes are described as biological invasion. superior to that of human beings. Furthermore, For instance, summer lilac, brought here from the philosopher Emanuele Coccia9 discusses the eastern Asia in the late nineteenth century, was life of plants as a paradigm to describe new prindeclared an invasive species in 2018: its uncon- ciples of being. Plants, he claims, are the true hetrolled proliferation is a threat to indigenous roes of the biosphere. The fact that they breathe flora and now needs to be eradicated. But is through leaves, diffuse over terrain through seeds there such a thing as putting down “good” roots and offshoots, as well as connecting with their as opposed to “bad roots”? To what extent are surroundings in other ways, shows their ability to existing attributions of plants to certain territo- act and shape their world. ries fraught with value judgements that stem With these and similar questions and acmore from the context of human migration? counts, plants have increasingly assumed the The eminently polemic debate about inva- status of system-relevant, mobile and culturally sive neophytes, increasing observations of cli- formed beings within the social environment. mate-related changes in the habitats and com- Their right to live and their status are to be munities of plants, and particularly plant measured less in terms of their direct use for hupopulations generated by garden culture and man beings than by their connectedness with agriculture, indicate that what counts as “na- them. The ground for this thinking has been ture” has become a mobile concept — in the laid especially by Donna Haraway and Bruno process of change. Not only does this upset our Latour.10 With their lines of thought they reaeveryday understanding of nature as a stable son that human beings are not the only powerand sacred counterworld 6 to culture; in addi- ful agents in the world. Not only does our treattion we are barely adept at reading the complex ment of the world, but also the facts of nature and manifold correspondences and entwine- thereby undergo revision from non-anthropoments between nature and culture. Instead we centric perspectives. It indeed makes a differare faced with overlapping and crisscrossing ence how things are named: is a head lettuce narratives and hybrid conditions that call for a picked or is it beheaded? Equally, “hunting” for “unknown species” imevitably reminds us of conew understanding of plants.

Plants are among the major protagonists lonial and neo-colonial strategies of abasement of the biospheres; they are more than natur- and extinction.

Thus the migration of plants holds up a esque real estate and biological consumable material. In a new and increasingly popular mirror to us in several ways. On the one hand, it view7 of nature, plants are now viewed as living relativises anthropocentric positions, while at beings — comparable to, if not on a par with the same time opening up perspectives onto the human beings. Recent scientific research8 also world after the Anthropocene. If the question is suggests that plants are receptive and net- about abandoning the old hierarchising and disworked living forms which can be scientifically tancing narratives of nature vs. culture, and deexplained as well as culturally defined and veloping coexistences, then we also need to reassess not only who or what can grow and prosper charged with meanings.

where, but also who or what should move how and where.

Annemarie Bucher is an art and landscape historian.

1

Biological migration — the peregrination of animals and plants — ties in increasingly with the question of neophytes, i.e. which natural species are indigenous, which are alien? Cf. Annemarie Bucher, Botanische Migration. Eine Spurensuche in der globalen Landschaft, in: Pflanzen auf Reisen.

Topiaria Helvetica, 2012, Zurich, pp. 59–71; Bucher, Vom fruchtbaren Halbmond bis Spitzbergen.

Saatgutbibliotheken und Samenbank als Wissensgeneratoren für den Pflanzenbau, in: Was keimt denn da? Von Samen und Sorten. Topiaria Helvetica, 2019, Zurich, pp. 6 — 19; Bucher, Pflanzen und Migration, in: Silke Wagner. Migration und Pflanze, exhib. cat. Kunstverein Heilbronn, Snoeck: Cologne, 2019, pp. 183 — 228.

2 After the Ice Age various plants found their way to the European world that are now classified as indigenous flora. Non-native plant species introduced before 1492 (Columbus’s arrival in America) that were able to propagate both in farming and in the wild are called archaeophytes. Neophyte is the term for species introduced into Europe after 1492.

3 Cf. Going Bananas, Bulletin no. 90. Vögele Kultur Zentrum, Pfaffikon, 2011.

4 An international research group has found that human activity has had a greater influence on biological invasions than natural pressures. (Cf. Disentangling the role of environmental and human pressures on biological invasions, Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America, 2010.)

5 Cf. Tulip fever; Holger Schuckelt, Der Weg der Tulpe nach Europa, in: André van der Goes (ed.), Tulpomanie. Die Tulpe in der Kunst des 16. und 17.

Jahrhunderts, Uitgeverij Waanders: Zwolle, 2004.

6 The concept of nature as a “counterworld” was coined in philosophical debate: cf. G. Grossklaus and E. Oldemeyer (eds.), Natur als Gegenwelt.

Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Natur, Karlsruhe, 1983.

7 Peter Wohlleben, The Hidden Life of Trees. What they Feel, How they Communicate, (transl. Jane Billinghurst) Greystone Books: Vancouver, 2016.

8 Cf. Research programmes at the Max Planck Institute in Jena; at the Laboratorio Internazionale di Neurobiologia Vegetale of the University of Florence; at the Swiss Federal Institute for Forest, Snow and Landscape Research in Zurich.

9 Emanuele Coccia, The Life of Plants. A Metaphysics of Nature, Polity Press: Cambridge (UK), 2019.

10 Donna Haraway, Simians, Cyborgs and Women.

The Reinvention of Nature, Routledge: Abingdon (UK) / New York, 1991; Staying with the Trouble.

Making Kin in the Chtulucene, Duke University Press: Durham (NC) / London, 2016. Bruno Latour, The Politics of Nature. How to bring the Sciences into Democracy, (transl. Catherine Porter) Harvard University Press: Cambridge (MA) / London, 2004; Down to Earth. Politics in the new Climatic Regime, Polity Press: Cambridge (UK) / Medford (MA).

Further important authors include Anna Loewenhaupt Tsing and Andreas Weber.

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Susanne Götze

Attacke von rechts: Warum der Klimawandel nicht ins Weltbild von Populisten und Nationalisten passt

Verschwörungstheorien gab es in der Geschichte schon immer. Die meisten wurden bewusst verbreitet, um bestimmte Gruppen zu diskreditieren, die eigenen Interessen zu schützen oder Angst zu schüren. In der Corona-Krise erleben wir gerade ein Aufleben dieser Tradition mit einer Schwemme von Fake News und gleichzeitigen Diskreditierung von Wissenschaftler*innen.

Auch die Leugnung des Klimawandels und seiner Folgen ist eine hartnäckige Fake News, der trotz tausender Studien und Gutachten nicht beizukommen ist. Sie wird allgemein gern von Menschen bemüht, denen der ökologische Wandel der Gesellschaften nicht passt — weil für sie SUV- und Dieselfahren ein Freiheitsrecht ist, weil Öl, Gas und Kohle ihr Geschäftsmodell sind oder weil es gut in ihr politisches Programm passt.

Aus letzterem Grund haben Rechtspopulist*innen seit einiger Zeit das Thema Klimaschutz für sich entdeckt und zu ihren Gunsten ausgelegt. Erst im Oktober 2019 verkündete AfD-Parteichef Alexander Gauland das Klimathema zum „Topthema“ seiner Partei machen zu wollen. Damit schlägt die Partei den Weg von Jair Bolsonaro in Brasilien oder Donald Trump in den USA ein.

Dabei werden — ähnlich wie beim Coronavirus — auch beim Klimathema Fakten systematisch verfälscht, und der Klimaschutz wird als politisches Projekt einer (linken) Machtelite dargestellt. Wissenschaftlich nicht belegte Behauptungen werden von der AfD, Trump oder Bolsonaro einfach via Twitter oder in Reden verbreitet: Trump hält den Klimawandel für eine „chinesische Erfindung“, Bolsonaros Regierung erklärt, dass europäische Politiker*innen lögen, wenn sie die Brandrodung im Amazonas kriti-

sierten, weil es keine außergewöhnlichen Brände gebe und AfD-Politiker*innen bezeichnen die Fridays for FutureBewegung als „staatliche geförderte Instrumentalisierung“ von Kindern und Jugendlichen als Demonstrant*innen.

Besonders eindrücklich ist das in den USA zu beobachten. Die dortigen Klimaleugner*innen sind aufgrund ihrer guten Organisation und ihren millionenschweren Thinktanks der deutschen Szene weit voraus.

Darunter ist auch das Heartland-Institut, die wichtigste Organisation von Klimawandel-Leugner*innen in den USA. Das Institut bekommt Geld, um die Klimawissenschaft mit unhaltbaren Studien — die meist ohne unabhängige wissenschaftliche Gutachten veröffentlicht werden — Lobbyismus im US-Kongress oder Konferenzen zu konterkarieren. Schon die US-Bestseller-Autorin und Klimaaktivistin Naomi Klein beschrieb Heartland als eine der einflussreichsten Anti-Klimaschutz-Lobbys der Welt.

Auf ihren Konferenzen hetzen die Redner*innen gegen Klimaschutz und die menschengemachte Erderwärmung.

Für die fast ausschließlich männlichen Redner*innen ist es ein Versuch der weltweiten „Linken“, die politische Hegemonie zu erobern.

Heartland betreut außerdem die Publikationen des NIPCC — des Anti-Weltklimarates. Im Gegensatz zum Weltklimarat IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change), an dessen Berichten tausende Wissenschaftler*innen aus der ganzen Welt mitarbeiten, hat Heartland seiner Klimasektion noch ein ein N vorangestellt, NI für Non-governmental International. Das suggeriert Zivilgesellschaft, und Unabhängigkeit. Doch genau das Gegenteil ist der Fall.

Attack From the Right: Why Climate Change Jars With the Populists’ and Nationalists’ World View History has always had its conspiracy theories.

Most of them were deliberately propagated to discredit certain groups, to protect particular interests or to foment fear. In the corona crisis we are currently witness to a revival of this tradition with a flood of fake news and the simultaneous discrediting of scientists.

The denial of climate change and its conse-

quences is a persistent feature of fake news that, for all the thousands of studies and appraisals to the contrary, cannot be brushed off. In general, such views are voiced by people who are at odds with ecological change as now embraced by society — because for them SUVs and diesel motors are basic freedoms, because oil, gas and coal are their business models or just because it suits their political agenda.

For this last reason, rightwing populists for some time now have taken the issue of climate protection on board and interpreted it to their favour. It wasn’t until October 2019 that Alexander Gauland, leader of Germany’s rightwing party Alternative für Deutschland (AfD), announced his intention to make climate the “top issue” of his party. In doing so, his party has adopted the same course as Jair Bolsonaro in Brazil or Donald Trump in the US. In the process, similar to their approach towards coronavirus, facts concerning climate protection are systematically falsified and climate protection represented as a political project of a (leftwing) power elite. Scientifically

27 Leugner im Namen der Freiheit Für die erzkonservativen Heartland-Lobbyist*innen ist der Klimawandel nur ein Thema unter vielen. Sie haben in ihrer Geschichte nicht nur Desinformationskampagnen gegen die Schädlichkeit von Tabakkonsum und die Tatsache der Erderwärmung organisiert, sondern sie werben seit Jahrzehnten für marktradikale und nationalistische Positionen. Sie hetzen gegen den Sozialstaat, eine gesetzliche Krankenversicherung, gegen Entwicklungshilfen, Umweltauflagen oder Abgaben an internationale Organisationen wie die UNO oder die WHO, die als „globale Elite“ bezeichnet werden. Unschwer erkennbar ist, dass der Thinktank die Interessen von großen Unternehmen vertritt, die nach dieser Logik vom Staat in ihren Geschäften gestört werden. Statt in die Wirtschaft einzugreifen, ist es in der idealen Heartland-Welt die Aufgabe des Staates, für die Abschirmung des „braven amerikanischen Geschäftsmannes“ von Flüchtenden und für die Interessenvertretung amerikanischer Unternehmen in allen Weltregionen zu sorgen. Dafür flossen in der Vergangenheit auch Gelder von Industrieriesen wie dem Industriekomplex der KochBrothers oder auch Ölkonzernen.

Von Heartland zu AfD: Klimaleugner aller Länder vereinigen sich Für den deutschen Klimaleugner-Verein EIKE ist Heartland ein „leuchtendes Beispiel“. Es sei ihm immer eine „Ehre“ auf Heartland-Veranstaltungen zu sprechen, schmeichelte der EIKE-Generalsekretär Wolfgang Müller fast unterwürfig seinen US-Brüdern im Geiste auf einer Anti-Klimakonferenz im spanischen Madrid im Dezember 2019.

Auch die deutschen Klimaleugner*innen produzieren jede Menge verwirrter Grafiken und sogenannte „Studien“.

Doch der vor allem aus Rentner*innen bestehende EIKEVerein gibt sich damit nicht zufrieden. Längst kooperiert der Verein mit der AfD, die sich Klimaleugner-Thesen in ihr Programm geschrieben hat. Mitglieder von EIKE arbeiten in der Bundestagsfraktion, werden zu Anhörungen eingeladen und EIKE-Papiere tauchen in AfD-Anträgen auf. Die rechte Partei bedient sich aus der Argumente-Kiste der Klimaleugner*innen.

Dieser Pool aus rechten und marktradikalen Klimaleugner*innen hat eines gemeinsam: Sie teilen dieselbe „20.

Jahrhundert-Erzählung“, nach der die fossilen Industrien den Wohlstand der westlichen Welt erschaffen haben und deshalb verteidigt werden müssten. Sie kämpfen für Erhalt und gegen Veränderung. Die Motive für diese trotzige Beharrung auf dem Althergebrachten wurzeln in einem tief verankerten Glauben an Patriotismus und Nationalismus.

Gleichzeitig verschreiben sie sich der unternehmerischen Freiheit und der Idee eines unbegrenzten Wachstums und Wettbewerbs. Im Gegenzug werden internationale Kooperation, Ordnungspolitik sowie Umwelt- und Sozialpolitik verteufelt.

Klimaschutz: Angriff auf das Allerheiligste Diese ideologischen Muster von Rechten und Marktradikalen gab es schon lange, bevor es um den Klimawandel ging. Schon Anfang der 1970er Jahre nahm die Öffentlichkeit mit dem Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ des Club of Rome erstmals Notiz von Klimawandel und als vor 30 Jahren in Deutschland erstmals vom Bundestag eine Enquete-Kommission zur Erderwärmung einberufen wurde, gingen bei diesen Gruppen alle Alarmglocken an.

Die Folgen passten weder Rechtspopulist*innen noch Marktradikalen in ihr Programm: Der Klimawandel ist ein globales Problem, das nur global und nicht national gelöst werden kann. Hauptverantwortliche sind die Industrieländer, die seit mehr als 150 Jahren Kohle, Öl und Gas

unsubstantiated claims are simply propagated At their conferences delegates rail against cli- nationalistic positions. They agitate against the by the AfD, Trump or Bolsonaro via Twitter or mate protection and human–made global warm- welfare state, mandatory health insurance, overin speeches. Trump claims climate change is a ing. For the almost exclusively male speakers this seas aid, environmental regulations or payChinese invention; Bolsonaro’s government as- represents a plot by the world’s leftwing to seize ments to international organisations such as the UN or the WHO, which they consider a “global serts that European politicians are lying in their political hegemony.

Furthermore, Heartland issues the publica- elite”. It is not hard to see that this think tank criticism of deforestation in the Amazon because there are no more fires than usual; AfD tions of the NIPCC, a climate change denial advo- represents the interests of large corporations politicians call the Fridays for Future move- cacy group. Formed in opposition to the world which, following the same logic, feel the state is ment a “state–sponsored instrumentalisation” climate science council IPCC (Intergovernmental disrupting their business. In an ideal Heartland of children and adolescents as demonstrators. Panel on Climate Change), to whose reports thou- world, instead of intervening in the economy, it This can be most starkly observed in the sands of scientists from all over the world contrib- is the duty of the state to safeguard the “good US. There, climate deniers are far in advance of ute, Heartland added an N, NI for “non–govern- American businessman” against refugees and their German colleagues thanks to their excel- mental international” in front the panel’s acronym, to promote the interests of American compalent organisation and heavily funded think creating an aura of civil society, independence nies in all regions of the world. To this end, in the past money has also been donated by such tanks. Among these is the Heartland Institute, and honesty, none of which applies. business giants as the industrial complex of the the foremost organisation of climate deniers in Koch Brothers or oil corporations. the US. The institute receives funds to rebuff Deniers in the name of freedom climate science with untenable studies — pub- Climate change is just one of many issues purlished mostly without independent scientific sued by Heartland’s ultra–conservative lobbyists. From Heartland to the AfD: climate verification –, lobbying in Congress or confer- Since the Institute’s foundation not only have change deniers of the world, unite! ences. Bestselling US author and climate activ- they organised disinformation campaigns against For the German climate change–denying group ist Naomi Klein has already described Heart- the harmfulness of smoking tobacco and the fact EIKE, Heartland is a “shining example”. It has land as one of the most influential climate of global warming, but for decades they have also always been such an “honour” for him to speak been promoting radical market libertarian and at Heartland events, oozed the general–secrechange–denying lobbies in the world.

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Susanne Götze

verbrennen. Nun waren in der Diskussion darum, wie auf die Klimakrise reagiert werden muss, plötzlich Verordnungen und Gesetze im Gespräch, die mehr Umweltauflagen und neue Regeln für die Wirtschaft bedeuteten. Und die härteste Attacke: Nur mit einem geänderten Lebensstil, mit weniger Autofahren und weniger Fleisch, ist der Klimakrise beizukommen. Kurz: Eine echte Herausforderung für ein rechtes „Framing“ oder Deutungsmuster.

Das entstand dann aber relativ schnell, zuerst in den USA, dann auch in Europa: Jahrzehntelang leugnete man den Klimawandel einfach und produzierte unzählige Gegenstudien, baute von der fossilen Industrie bezahlte Expert*innen auf und schrieb die ganze Klimaerwärmung schließlich den Linken zu. Letzteres hatte bisher den größten Erfolg: Klimaschutz wird auch heute noch als linkes oder grünes Projekt wahrgenommen.

Das Leugnen des Klimawandels geht auch Hand in Hand mit dem rechten Versuch, internationale Kooperationen zu torpedieren. Klimawandel-Leugner*innen halten internationale Institutionen wie den Weltklimarat IPCC, die UN-Klimarahmenkonvention oder das UNKlimaabkommen schlicht für überflüssig — das passt ins rechte Repertoire, sich die „Macht“ wieder ins eigene Land zurückzuholen. Viele Klimawandel-Leugner*innen wollen selbst die besseren und „ehrlicheren“ Wissenschaftler*innen sein, wohingegen Rechtspopulist*innen hinter dem Weltklimarat ein links-grünes Projekt wittern, um Regulierungen und die erneuerbare Energielobby zu fördern. Deshalb „ergänzen“ sie sich perfekt.

Susanne Götze ist Journalistin und Autorin mit den Schwerpunktthemen Umwelt, Gesellschaft und Wissenschaft, u.a.

Die Klimaschmutzlobby (Piper-Verlag).

tary of EIKE, Wolfgang Müller, obsequiously fawning on his American brothers–in–spirit at the anti–climate change conference in Madrid in December 2019. The German climate change sceptics also produced a pile of confused graphics and so–called “studies”.

But EIKE, an association that counts mostly pensioners as its members, is not content with this alone. It has long since started cooperating with the AfD, which has incorporated climate change–denial principles into its programme. Members of EIKE work in the Bundestag parliamentary party, are invited to hearings, and documents compiled by EIKE appear in the AfD’s parliamentary questions.

The rightwing party gladly helps itself to the arsenal of arguments formulated by the climate deniers.

This pool of rightwing and radical neoliberal climate–change deniers has one thing in common: they share the same “twentieth–century” narrative that describes how prosperity in the western world was fostered by the fossil fuel industries, for which reason they need to be defended. They campaign for perpetuation and against change. Their motives for stubbornly clinging to ingrained tradition derive from a deeply anchored belief in patriotism and nationalism. At the same time, they are committed to entrepreneurial freedom and the idea of unlimited growth and competition. In return,

they demonise international cooperation, regu- But the response then came relatively quickly, latory policies and environmental and social first in the US, thereafter in Europe. For decades climate change was simply denied. Fiprogrammes. nanced by the fossil fuels industry, countless counter studies were launched and new “exClimate protection: perts” promoted, while the whole global warmattacking what is most sacrosanct Such rightwing and neoliberal ideological proto- ing “alarm” was ascribed to leftwing zealots. types were around long before the focus shifted But as yet, the left have been the winners: today onto climate change. In the early 1970s, the re- climate protection is still perceived as a leftwing port by the Club of Rome entitled “Limits to or green project.

Denying climate change also goes hand in Growth” first brought the issue of climate change to public attention, and when, thirty years ago in hand with the rightwing attempt to torpedo inGermany, a commission of enquiry about global ternational cooperation. Climate change dewarming was first launched by the Bundestag niers consider international organisations such as the world climate council IPCC, the UN alarm bells were set off in these groups.

The enquiry’s findings were incompatible Framework Convention on Climate Change or with the programmes of rightwing populists and the UN Climate Agreement simply redunradical neoliberals: climate change is a global dant — it is part of their reactionary repertoire problem that calls for a global response and can- to “take back power” into their own country. not be resolved on a national level. Chiefly re- Numerous climate change deniers claim themsponsible are the industrialised nations that have selves to be the better and “more honest” scienbeen burning coal, oil and gas for more than 150 tists, whereas rightwing populists scent a leftyears. In the debate about how to counter the cli- wing / g reen conspiracy behind the world mate crisis, there was suddenly talk of provisions climate council with the aim of promoting regand laws that meant greater environmental con- ulations and the interests of the renewable enertrols and new regulations being imposed on the gy lobby. Which is why they both perfectly economy. And the greatest sin of all: the climate “complement” each other. crisis could only be averted by a change in lifestyle, with less car use and less meat. In a nutshell: a Journalist and author Susanne Götze major challenge to the rightwing narrative or in- works primarily on environmental, social terpretative model. and science–related issues.

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Anja Breljak, Sophia Obermeyer, Jorinde Schulz, Shirin Weigelt

Erden. Über Gaia und andere Gottheiten der Klimakatastrophe

Finanzkrise, Eurokrise, Bankenkrise, Flüchtlingskrise, Rückkopplungsprozesse als Gaia-Hypothese.3 Diese beWohnungskrise, Corona-Krise. Kaum wird die Erholung sagt: Der Planet „lebt“. Die Erde mitsamt ihrer Atmosphäverkündet, so folgt schon der nächste Schock, der das Sys- re lässt sich als ein sich selbstorganisierendes Gefüge betem wackeln und zittern lässt. Jede Krise inszeniert sich trachten, als ein auf Symbiosen beruhender Organismus. aufs Neue als Moment der Entscheidung, bricht als infer- In dieser holistischen Perspektive überkreuzen sich Kybernales Entweder-oder in den Normalzustand herein. Dabei netik und hippieesker Zeitgeist. „Mutter Erde“ wird als rechtfertigt die Schlichtheit ihrer Bedrohung scheinbar große Gebärerin, als nach Harmonie strebende Lebensnicht nur jede Maßnahme, sogar die maßlos autoritäre, sie spenderin herbeigesehnt.4 verschiebt auch die Kritik auf später, wenn es nicht mehr In Anschluss wie Abgrenzung daran werden aktuell vereilt. Mit grausamem Optimismus, der zum Durchhalten mehrt düstere Töne über die Urgöttin laut. Sie passen zum zwingt, wird an das Danach geglaubt. „Danach wird alles Krachen zerberstenden Polareises, zum heißen Wind der wieder gut sein, dann kehren wir zur Normalität zurück.“ Waldbrände, zu den toxischen Ausdünstungen der PlastikDoch jede neue Normalität bringt immer auch eine Ge- teppiche in den Ozeanen und zur Stille ausgestorbener Tierwöhnung an den Ausnahmezustand mit sich. und Pflanzenarten. Gaia verkörpert für Denker*innen wie Längst schon verdunkelt eine weltweite Krise den Hori- Stengers oder Latour die Gewalt, aber auch die Aktivität zont, brodelt im Untergrund und entfesselt katastrophale und Sensibilität der gebündelten Kräfte zwischen Himmel Wirkungen im Hier und Jetzt. Was einst harmlos „globale und Erde. Gaia hört nicht, antwortet nicht. Sie bricht herErwärmung“ genannt wurde, beginnt sich als „Klimakrise“ ein und ist plötzlich nicht mehr zu ignorieren. Modernen zu etablieren. Dabei registrieren und modellieren For- Erzählungen von Menschheitsfortschritt als Naturunterscher*innen schon seit den 1950er-Jahren die anthropoge- werfung erteilt sie eine Absage. Und doch: Gaias Einbruch nen Veränderungen in der Bio-, Geo- und Atmosphäre. ist keine Krise. Er zeigt den Kraftüberschuss der miteinanNicht nur die Durchschnittstemperatur auf der Erde steigt der verwobenen Prozesse mannigfaltiger Lebewesen, Orgaunaufhaltsam, es werden auch Luft, Land und Wasser ver- nismen und Milieus an, die dem Gesamtorganismus „Erde“ schmutzt, Böden versiegelt, Wälder gerodet, nicht-erneuer- innewohnen. bare Rohstoffe extrahiert, Ökosysteme zerstört und Arten Mit Gaia wird es kein „Nach der Krise“ geben. Die Krimassenhaft ausgerottet. senbewältigung als Gegenangriff, in dem neuerliche BeDiese Veränderungen sind keine bloße „Laune der Na- herrschungsphantasien der Natur durch den (männlichen) tur“. Menschen, oder genauer: die „Modernen“, die Mo- Menschen mitschwingen, ist angesichts einer solchen Trandernisierungs- und Fortschrittsgläubigen, mit denen sich szendenz nicht mehr plausibel. Im Gegenteil: Neoliberales der Wissenschaftstheoretiker Bruno Latour auseinander- Management im Verband mit nationaler Souveränität und gesetzt hat, haben sie verursacht.1 Ihre Beschwörung eines technokratischem Expert*innentum gehören zu den „same möglichen Totalzusammenbruchs ruft auch „unsere bad ideas that got us into this mess“5. Gaia entlarvt so manWächter“ auf den Plan, wie die Philosophin Isabelle Sten- che systemerhaltende Maßnahme als toxischen Cocktail gers sie ironisch nennt: jene „Verantwortlichen“, die mit der Aufputschmittel und Schmerzhemmer. Sie schiebt die staatlicher Macht ausgestattet das systemische Weiter-so drei Wächterfiguren der Governance — Staat, Wissenschaft hüten.2 Je mehr das Weltende (d.h. das Ende des Systems) und Entrepreneur — beiseite und erinnert alle Erdbewohdrängt, desto berechtigter erscheinen die vorgeschlagenen ner*innen gewaltsam an ihre Bedingtheit. Gaia erdet.

Mittel, die den Aufschub als Rettung inszenieren. Doch Frömmeln und Beten helfen hier nicht weiter. Das hadiese Krise darf kein auf Dauer angelegter Ausnahmezu- ben diejenigen schon begriffen, die dem Anthropozän seistand werden. Noch weniger sollte sie als apokalyptische nen Zweitnamen als Kapitalozän einbrachten. Im Wahn Reinigung von den Sünden eines wachstumsorientierten, der Kampf- und Fluchtreflexe schotten sie sich und ihre ressourcenintensiven und letztendlich ausbeuterischen Le- profitablen Zonen ab, pressen letzte Ressourcen aus, lassen bensstils begriffen werden. Denn der Kollaps zahlreicher Klimamigrant*innen und alle anderen zurück, die sie für Ökosysteme durch menschlichen Einfluss bedingt schon unrettbar erklären. Zugleich träumen sie vom Leben im All längst artenübergreifendes Leiden, für das weder der Le- und tüfteln an space roads gen Himmel — für die, die es sich viathan der Governance noch der Christ*innen-Gott je leisten können. Aber obwohl die „Schuld” an den Klimakawirklich ein Ohr hatten. tastrophen einigen, nicht allen, Menschen und LebensweiMit der ökologischen Katastrophe tritt derweil eine an- sen zuzuschreiben ist, so wird die kollektive „Sühne” nicht dere Gottheit auf: Gaia. Die antikgriechische Urgöttin der zurück in eine stabile Normalität führen.

Erde gab nicht nur der Geologie ihren Namen, seit den Vor dem Hintergrund dieser Lagebeschreibung zeigen 1970erJahren wird sie wiederum aus den Naturwissen- Gaias Philosoph*innen zwei andere Vektoren auf: Latours schaften heraus angerufen. Lynn Margulis und James Lo- „Hin zum Terrestrischen” ist ein Ruf, die Erdgebundenheit velock benannten die mikro-bio-chemo-geologische An- allen Lebens anzuerkennen und ein alternatives globales nahme von der Erde als dynamischem System komplexer Wir zu bilden.6 Stengers „Ökologie der Praktiken” dage-

30 Breljak, Obermeyer, Schulz, Weigelt gen betont die Lokalität von Wissen und Handeln, die in artenübegreifenden Beziehungen gestiftet werden.7 Die eine Richtung verlangt ein Kartographieren der Abhängigkeiten sowie Bündnisbildungen entlang einer neu auszurichtenden Achse, die nicht Fortschritt und Tradition, links und rechts gegenüberstellt.8 Die andere versucht, Lebensformen situativ und milieubedingt miteinander ins Gespräch zu bringen und eine „langsame Politik“ des Experimentierens zu etablieren. Dieses geerdete Denken bejaht die Vielfalt politischer Allianzen. Die Betonung der Erdverbundenheit verwehrt sich im gleichen Zuge den systemerhaltenden Eliten wie der fadenscheinigen Gattungssolidarität des Menschen.

Die Indienstnahme Gaias als Schutzherrin terrestrischer Gebundenheit fordert Demut ein. Sie transportiert jedoch immer noch suspekte Untertöne antiker Mythologie, die mit den „Modernen“ resonieren. Gaia kann als die rachsüchtige Mutter erscheinen, um deren Gunst nun ein Kampf stattfinden soll. Latour ruft diesbezüglich zu einer neuen libido sciendi auf, die sich das „Graben in der tausendfach gefalteten Erde“ vornimmt.9 So wiederholt er das patriarchale Motiv der weiblichen, formbaren und passiven Materie, der zu entfaltenden Vulva, die dem männlichen Ideenhimmel zu Füßen liegt. Bereits in der antiken Mythologie ist es der Himmelsgott Uranos, der Gaia erst begattet, dann bedroht, und den sie schließlich mithilfe eines ihrer Söhne kastriert. Kehren wir mit Gaia also doch immer zurück zur gewaltsamen Bewirtschaftung des Mutterbodens sowie zur rachsüchtig-irrationalen Weiblichkeit, der ein bisschen männlicher Logozentrismus auch mal ganz guttun würde?

Ein irokesischer Mythos, der andere Resonanzen zulässt, ist der von Sky Woman.10 Die Göttin fällt — verstoßen oder ob eines Unfalls — durch ein Loch im Himmel auf die Erde.

Sanft landet sie auf dem Rücken einer riesigen, im Meer schwimmenden Schildkröte, dem heutigen Nordamerika, und stiftet dort menschliches Leben. Durch ihren Absturz, Einbruch — Sündenfall? — kommt die „Himmelsfrau“ als Migrantin zur Welt. Zu einer und nun ihrer Welt, wohlgemerkt, denn es könnte weitere Inseln mit anderen Menschheiten, Wesenheiten, lebendigen Milieus geben. Sky Womans Nachkommen leben „auf dem Rücken“ eines lebendigen Wesens, zu dem sie eine Beziehung des Gastseins unterhalten. Die Schildkröten-Erde ist zugleich hart, sodass sie anderes Leben (er)trägt, aber auch verletzlich. Wie Gaia wird auch diese Erde der irokesischen Kosmogonie als eine

Earthing.

On Gaia and Other Deities of the Climate Catastrophe

sensible, responsive Andere vorgestellt. In der Problematisierung der Zugehörigkeit zur Erde, die nicht schon ewig natürlich gegeben ist, sondern auf einen „Einbruch“ folgt, verschwestern sich die Göttinnenmythen.

Mit Sky Woman lässt sich die Geschichte einer Menschheitsfamilie als Migrationsgeschichte erzählen. In dieser Geo-Story wird der Lebensraum selbst als lebendiges Wesen stilisiert, das eigenen Bedingungen und Triebkräften unterliegt. Die epische Eroberung der ganzen Erde liegt dadurch ebenso fern wie selbstsüchtige Panikreaktionen, die sich heute gegen klimabedingte Verwerfungen verfestigen. Abschotten und Abheben sind hier keine Optionen.

Vom Erden, vom Zusammenleben mit einer mächtigen und prekären Vielfalt — davon erzählt sowohl Gaias Einbruch als auch die Landung von Sky Woman.

Die Autorinnen Anja Breljak, Sophia Obermeyer, Jorinde Schulz und Shirin Weigelt bilden ein feministisches Schreibkollektiv.

1 Siehe Latour, Bruno: Das terrestrische Manifest. Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2018, S. 22f., sowie ders.: Wir sind nie modern gewesen. Suhrkamp: Frankfurt a.M., 2008, S. 18ff.

2 Siehe Stengers, Isabelle: In Catastrophic Times. Resisting the Coming Barbarism. Open Humanities Press: Lüneburg, 2015, S. 28ff. Stengers nutzt den französischen Begriff „nos responsables“, der als „our guardians“ ins Englische übersetzt wurde.

3 Siehe die ersten Verwendungen in Lovelock, James: Gaia as seen through the atmosphere, in: Atmospheric Environment 6: 8, 1972, und in Lovelock, James und Margulis, Lynn: Atmospheric homeostasis by and for the biosphere: the gaia hypothesis, in: Tellus, 26: 1 — 2, 1973.

4 Vergleiche Friedrich, Alexander, Löffler, Petra, Scharpe, Niklas und Sprenger, Florian: Ökologien der Erde: Zur Wissensgeschichte und Aktualität der Gaia–Hypothese. meson press, Lüneburg, 2019.

5 So kritisierte die Klima–Aktivistin Greta Thunberg die staatlich anvisierten Maßnahmen bei der 24. Klimakonferenz der Vereinten Nationen in Katowice im Dezember 2018, siehe www.youtube.com / watch?v=Z1znxp8b65E. 6 Siehe Latour: Das Terrestrische Manifest, insbesondere S. 77ff. und S. 96 — 105.

7 Siehe vor allem Stengers, Isabelle: Introductory Notes on an Ecology of Practices, in: Cultural Studies Review. 11, 2005. Siehe zur Politik des Experimentierens: Stengers, Isabelle: Cosmopolitics I. University of Minnesota Press 2010.

8 Latour: Das terrestrische Manifest, S. 63.

9 Latour: Das terrestrische Manifest, S. 95f.

10 Vgl. Wall Kimmerer, Robin: Braiding Sweetgrass. Indigenous Wisdom, Scientific Knowledge, and the Teachings of Plants.

Milkweed Editions: 2013. Siehe mehr zum Mythos auch: www.native-languages.org/morelegends/sky-woman.html.

One global crisis has been darkening the horizon become a permanent state of exception. Still and simmering underground for a long time now, less should it be conceived as an apocalyptic and is already unleashing its catastrophic effects. purging of the sins of a growth-oriented, reWhat was once referred to using the innocuous source-intensive and ultimately exploitative lifeterm “global warming” is now establishing itself style. Because the collapse of numerous ecosysas a “climate crisis”, although research scientists tems as a result of human influence is already have been recording and modelling the anthro- causing multispecies suffering, to which neither pogenic changes in the biosphere, geosphere and the leviathan of governance nor the Christian atmosphere since the 1950s. Not only is the aver- God has ever paid much heed. age temperature on Earth rising continuously, Along with the ecological disaster, meanthe air, land and water are also being polluted, while, another deity appears: Gaia. The ancient ground surfaces are being sealed, forests cleared, Greek primordial goddess of the Earth not only Financial crisis, euro crisis, banking crisis, refu- non-renewable resources extracted, ecosystems gave geology its name; since the 1970s, she has gee crisis, housing crisis, coronavirus crisis: no destroyed, and species are being wiped out on a also been invoked from within the natural sciences. Lynn Margulis and James Lovelock sooner has one recovery been announced than massive scale.

These changes are not just the vagaries of na- called their micro-biochemical / geological theothe next shock comes along to rock and shake the system. Each crisis in turn presents itself as ture. They have been brought about by peo- ry of the Earth as a dynamic system of complex a decisive moment; it descends upon normal life ple — or, more precisely, by the “Moderns”, the feedback processes the “Gaia hypothesis”.3 as an infernal “either / or” situation. The simplic- modernisers and progressives described by sci- This theory states that the planet is alive. The ity of its threat not only seems to justify every ence studies theorist Bruno Latour.1 Their invo- Earth, together with its atmosphere, is accordcountermeasure — even the most authoritari- cation of the possibility of total collapse also ingly to be regarded as a self-regulating entity, an — it also postpones criticism until a later date, spurs “our guardians” (as the philosopher Isa- an organism based on symbiosis. In this holistic when the situation is no longer urgent. Faith in belle Stengers ironically describes them) into ac- view, cybernetics intersects with hippyish zeitthe existence of an “afterwards” is upheld with tion: those who are responsible for us, who hold geist. Mother Earth is called upon and longed a cruel optimism that creates an obligation to state power and preserve the systemic status quo.2 for as the great procreator, the harmony-seeking see things through. Afterwards, everything will The more imminent the end of the world (i.e. the giver of life.4 be fine again and we will return to normality. system) seems to be, the more justified the proIn relation to and in distinction from this, But every “new normality” involves habituation posed countermeasures — staging postponement increasingly dark views about the primordial to the state of exception. as a solution — appear. But this crisis must not deity are currently being expressed. They match

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the cracking sound of polar ice as it breaks phasises the local character of knowledge and something that has not always existed naturally, apart, the hot wind of forest fires, the toxic action that are produced in multispecies relation- but is in fact the result of an intrusion, the godfumes from carpets of plastic waste floating in ships.7 The former demands the mapping of de- dess myths form a sisterly alliance.

With Sky Woman, the story of the family of the oceans, and the deafening silence of extinct pendencies and the formation of alliances along animal and plant species. For thinkers like a newly defined axis, one that does not pit pro- mankind can be told as a narrative of migraStengers or Latour, Gaia embodies the violence, gress against tradition, left against right.8 The tion. In this geostory, the environment itself is but also the activity and sensitivity of the com- latter encourages situational and milieu-based stylised as a living being that is subject to its bined forces between heaven and earth. Gaia dialogue between living beings and seeks to es- own conditions and motivations. The epic condoes not listen; she does not respond. She sim- tablish a slow politics of experimentation. This quest of the entire earth is therefore just as farply intrudes on our reality and can suddenly no kind of grounded thinking supports the diversity fetched as the self-obsessed panic reactions that longer be ignored. She rejects modern narra- of political alliances. At the same time, the em- are becoming increasingly established in the tives of human progress as the subjugation of phasis on terrestrial connection takes exception struggle to counter climatic upheavals. Sealing nature. And yet: the intrusion of Gaia is not to the system-preserving elites and the spurious oneself off and flying elsewhere are not an option here. Both Gaia’s intrusion and Sky Woma crisis. It points to the power surplus in the in- genus solidarity of humankind. terlinked processes of the manifold living creaThe employment of Gaia as the patroness of an’s landing are accounts of being brought tures, organisms and environments that inhabit terrestrial dependence demands humility. How- down to earth, of coexisting with a powerful the superorganism of “Earth”. ever, she still conveys suspicious undertones of and precarious diversity.

With Gaia, there will be no “after” the crisis. ancient myths that resonate with the “Moderns”.

In the face of such transcendence, crisis man- Gaia can appear as the vengeful mother whose The authors Anja Breljak, Sophia Obermeyer, agement — as a counterattack resonant with favour must be won. In this context, Latour calls Jorinde Schulz and Shirin Weigelt work further fantasies of human / male domination for a new libido sciendi that will take on the task of together as a feminist writers collective. of nature — is no longer plausible. On the con- “digging deep down into the Earth with its thou- 1 See Bruno Latour, Down to Earth: Politics in the trary: neoliberal management in association sand folds”.9 He thus reiterates the patriarchal New Climatic Regime, trans. Catherine Porter.

Cambridge: Polity Press, 2018, pp. 13., and idem, with national sovereignty and technocratic ex- motif of female, malleable, passive matter — the We Have Never Been Modern, trans. Catherine pertise are among the “same bad ideas that got vulva waiting to be unfolded — which venerates Porter. Cambridge, Mass.: Harvard University us into this mess”.5 Gaia exposes a good many the male heaven of ideas. In ancient myth, too, it Press, 1993, pp. 3 / 10. system-preserving measures as toxic cocktails is the heavenly god Uranus who first of all mates 2 See Isabelle Stengers, In Catastrophic Times: Resisting the Coming Barbarism, trans. Andrew of stimulants and analgesics. She pushes the with Gaia, then threatens her, and is finally casGoffey. Lüneburg: Open Humanities Press, 2015, three custodians of governance — state, science trated by her with the aid of one of her sons. So, pp. 28. Stengers uses the French term “nos responsables”, which was translated into English and entrepreneurship — aside and gives all of with Gaia are we thus for ever returning to the as “our guardians”. earth’s inhabitants a forceful reminder of their violent cultivation of the mother soil, to the 3 See the first references to Gaia in: James Lovelock, conditionality. Gaia brings us down to earth. vengeful-irrational femininity that might, after Gaia as seen through the atmosphere, Atmospheric Environment 6, no. 8 (1972), pp. 579 — 80; Prayer and cant are of no use here. The peo- all, benefit from a bit of masculine logocentrism? and in: James Lovelock and Lynn Margulis, AtmoThe Iroquois creation myth of Sky Woman is ple who gave the Anthropocene its middle spheric homeostasis by and for the biosphere: the name — Capitalocene — already understand this. open to other resonances.10 In this story, the godGaia hypothesis, Tellus 26, nos. 1 — 2 (1974), pp. 2 — 10.

In the delusion of fight-or-flight responses, they dess falls to earth through a hole in the sky, either 4 Cf. Alexander Friedrich, Petra Löffler, Niklas Scharpe and Florian Sprenger, Ökologien der Erde: seal themselves and their profit zones off, by accident or because she was cast out. She Zur Wissensgeschichte und Aktualität der squeezing out the last remaining resources and lands softly on the back of a giant turtle that is Gaia-Hypothese. Lüneburg; meson press, 2019. leaving behind the climate migrants and anyone swimming in the sea — modern-day North Amer- 5 Climate activist Greta Thunberg, expressing her criticism of state-ordered measures at the United else they declare to be irredeemable. At the ica — and creates human life there. Through this Nations’ 24th Climate Change Conference in same time, they dream of a life in outer space intrusion, this plunge into the depths — her fall Katowice in December 2018. See shorturl.at / chuzI (accessed 10 June 2020). and tinker with space roads into the sky — for from grace? — Sky Woman comes into the world 6 See Latour, Down to Earth, above all pp. 64 and those who can afford them. But although blame as a migrant. Into one world that is now her pp. 82 — 90. for the climate disasters can be ascribed to some, world, we must remember, since there could also 7 See, above all, Isabelle Stengers, Introductory Notes on an Ecology of Practices, Cultural Studies but not all people and ways of life, the collective be other islands with other human beings, entiReview 11: 1 (2005): pp. 183–96. On the politics of punishment for this crime will not take us back ties and living environments. Sky Woman’s deexperimentation, see Isabelle Stengers, Cosmoto a stable normality. scendants live on the back of a living creature, to politics I, trans. Robert Bononno, Minneapolis / London: University of Minnesota Press, 2010.

Given this situation, Gaia’s philosophers whom they maintain a guest-host relationship.

8 Latour, Down to Earth, p. 51. highlight two other vectors: Latour’s “Toward The turtle earth is both hard — making it capable 9 Ibid., p. 81. the Terrestrial” is a call to acknowledge what he of “bearing” other life — and vulnerable. Like 10 Compare Wall Kimmerer, Robin: Braiding Sweetgrass. Indigenous Wisdom, Scientific Knowledge, calls the “earthboundedness” of all life, and to Gaia, this earth in Iroquois cosmogony is preand the Teachings of Plants. Milkweed Editions, form an alternative, global “we”.6 Stenger’s sented as a sensitive, responsive other. By ad2013. More about the myth: www.native“ecology of practices”, on the other hand, em- dressing the condition of “belonging to earth” as languages.org/morelegends/sky-woman.html.

Bei Christoph Sch채fers Zeichnung Post von gestern muss man 체ber das Entstehungsjahr eigentlich nicht lange nachdenken.

Bilder wie das Wiedererwachen der Autokinos sind unwiderruflich

mit der Pandemie in 2020 verkn체pft. Wir freuen uns auf ein gemeinsames Projekt mit dem Hamburger K체nstler im August dieses Jahres.

With Christoph Schäfer's drawing Post from the Past, one doesn't really have to think long about the year of its creation. Images like the reawakening of drive-in cinemas are irrevocably linked

to the pandemic in 2020. We are looking forward to a joint project with the Hamburg artist in August of this year.

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Till Briegleb

Exponentielles Wachstum in einer endlichen Welt

Bietet das Unbehagen in der Kultur angesichts der Pandemie eine Chance für grundsätzliche Veränderungen?

Vom Standpunkt biologischer Gesetzmäßigkeit aus betrachtet ist die COVID-19-Pandemie eine ganz simple Problemstellung. Viren, die Seuchen auslösen, gab es schon immer. Man muss sie halt bekämpfen, so gut man kann.

Das ist gewöhnlicher Überlebenskampf, diesmal im technologischen Zeitalter. Eine Aufgabe für Pragmatiker*innen, die heute Expert*innen heißen. Mit anderen Problemen der Zivilisation hat das medizinische Thema eigentlich nichts zu tun. Schon gar nicht mit der Kultur.

Doch irgendetwas an dieser wissenschaftlichen Logik ist nicht folgerichtig. Warum erklären anlässlich der dritten SARS-Epidemie innerhalb von 17 Jahren plötzlich lauter Großköpfe der Kunstwelt, viel weniger fliegen zu wollen, vom Super-Kurator Hans Ulrich Obrist, der außerdem nie wieder Fleisch essen will, bis zu Museumschefs wie Sam Keller, Hermann Parzinger oder Yilmaz Dziewior?

Warum schreiben andere prägende Männer des internationalen Kunstmarktes wie Jerry Saltz und Lorenzo Rudolf plötzlich Manifeste, in denen sie ein Ende der Gier und der kapitalistischen Mentalität fordern? Und was bringt irrlichternde Prominente dazu, in der Corona-Krise als Aluhüte krude Verschwörungstheorien über flüssige Chips zu verbreiten, die Bill Gates mit seinen Impfmitteln in die Menschen bringen möchte, damit eine Geheimloge uns zu Zombies machen kann?

Sind all diese gegensätzlichen Akteur*innen von apokalyptischen Visionen befallen und erkennen in der VirusKrankheit eine Heimsuchung Gottes für unsere Sünden, ein Zeichen satanischer Machenschaften? Interpretieren sie wie unser Bundestrainer Jogi Löw die Seuche als Rache einer „personifizierten Erde“, die sich endlich energisch

gegen die Zumutungen der Menschheit wehrt? Oder was haben Klimaziele, Wirtschaftsdenken und Verschwörungstheorien über Eliten, die Kinderblut trinken, mit infektiösen Viren zu tun, die es bereits in der chemischen Ursuppe gab, aus der sich alles Leben entwickelt hat?

Es könnte sein, dass all dieses wabernde Unbehagen, das anlässlich der COVID-Bedrohung sichtbar wird, seinen Ursprung in der wichtigsten Debatte unserer Zeit hat, die leider niemand so richtig führen mag: der Debatte um die Wachstumswirtschaft. Denn das mittlerweile allgemein verfügbare Wissen, dass ständige ökonomische Expansion die globale Lebensgrundlage von Flora und Fauna vernichtet, änderte bisher sehr wenig daran, dass die meisten Menschen einfach weiter machen, wie bisher. Der Grund, warum schlechtes Gewissen und Ängste plötzlich so vehement an die Oberfläche der internationalen Kulturgemeinde drängen, mag im Bild einer steilen Kurve begründet sein.

Die grafische Darstellung ansteigender Infektionen, die sich exponentiell erhöhen, wenn keine Gegenmaßnahmen ergriffen werden, hat vielen Menschen plastisch vor Augen geführt, was „exponentielles Wachstum“ tatsächlich bedeutet. Jeder ungebremste Anstieg, der sich periodisch um einen Faktor x vergrößert, führt unweigerlich in die Katastrophe. Und vielleicht hat es beim Anblick exponentiell steigender Infektions- und Todesraten nun manchem gedämmert, wie ähnlich diese Kurve der Darstellung von exponentiellen Wachstumsraten der Wirtschaft ist, und was das für die Patientin Erde bedeutet.

Denn was wir wie gläubig als Erfolgslinie unseres Wirtschaftsmodells anstarren, und was nach dem Einbruch durch die Lockdown-Maßnahmen wieder unwiderspro-

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chen in jeder Talkshow und jedem Leitartikel als Allheilmittel der ökonomischen Genesung gepriesen wird — nämlich neue steile Wachstumsraten — das zeigt tatsächlich die progressive Abwrackprämie für das Ökosystem, die globale Gerechtigkeit und die Zukunft unserer Kinder und Enkel an. Oder wie es der alternative Wirtschaftswissenschaftler Kenneth Boulding einmal so pointiert ausgedrückt hat: „Jeder, der glaubt, exponentielles Wachstum kann andauernd weitergehen in einer endlichen Welt, ist entweder ein Verrückter oder ein Ökonom.“ Auf jeden Fall bemerken plötzlich viele Menschen im Kulturbereich mit echter Vehemenz, dass die Krisen, die unsere Gesellschaft in immer kürzeren Abständen befallen — heißen sie Finanz-, Klima-, Corona- oder Sinnkrise — , doch irgendeinen Zusammenhang besitzen, der mehr als symbolischer Natur ist. Deswegen haben in der medizinischökonomischen Krise plötzlich Ansagen Hochkonjunktur, die grundsätzlich neue Prioritäten in allen Bereichen des menschlichen Zusammenlebens fordern. Künstler*innen, Architekt*innen, Kurator*innen und Kritiker*innen schrei-

Exponential Growth in a Finite World

ben und sprechen plötzlich von „Bescheidenheit“, von „Solidarität“ und „Konsumvernunft“. Verbal darf gerade alles in Frage gestellt werden.

Jedenfalls dort, wo die ökonomischen Rücklagen es erlaubten, in den Corona-Ferien mal in sich zu gehen. Bei den meisten Kulturschaffenden in der Welt hat das massive Versagen der Regierungen, selbständigen Kreativen genauso zu helfen wie großen Konzernen, allerdings das Thema der nackten Existenz ziemlich solo in den Vordergrund geschoben. Aber auch dort hat die Einsicht über die Scheinheiligkeit des Wachstumsstaats bei den versprochenen „schnellen und unbürokratischen Soforthilfen“ — wie in Deutschland — die Einsicht reifen lassen, dass rücksichtslose Gewinnwirtschaft und Wohlfahrtsstaat wohl unvereinbar sind. Die immer mehr Unterstützung findende Forderung nach dem „Bedingungslosen Grundeinkommen“ und der Abschaffung der schikanösen Hartz-IV-Büro­kratie ist einer der konkretesten Schritte zur Infragestellung von aktuellem Systemdenken.

Noch sucht das Unbehagen in der Kultur zu der Ahnung, dass die Welt auf der Kippe steht (und zwar eher auf der Müllkippe), nach plausiblen Erklärungsansätzen, was nicht zu stimmen scheint und was es zu ändern gilt. Architekt*innen diskutieren, wie beim Bauen und Stadtplanen in Zukunft damit umgegangen werden soll, dass zu den ökologischen Zwängen auch noch epidemiologische kommen.

Yet there is something illogical about this scientif- id threat has its source in the most important ic logic. Why, as a consequence of the third debate of our time, which unfortunately no one SARS epidemic within the last seventeen years, really wants to hold: the debate about the do all the bigwigs of the art world suddenly de- growth economy. Because the now widely availclare their desire to fly less, from the über-curator able knowledge telling us that uninterrupted Hans Ulrich Olbrist — who, in addition, never economic expansion will destroy the global bawants to eat meat again — to museum directors sis of existence of flora and fauna has, as yet, such as Sam Keller, Hermann Parzinger or Yil- altered very little about the fact that most peomaz Dziewior? Why, out of the blue, are other ple are simply going about business as usual. key movers in the international art market like The reason why bad conscience and fears have Jerry Saltz or Lorenzo Rudolf writing manifestos so forcefully and suddenly erupted in the intercalling for an end to greed and the capitalist national cultural community might lie in the mindset? And what is it about the corona crisis image of a steep curve.

For many people, the graphic depiction of that drives flighty celebrities like members of the tinfoil hat brigade to spread crude conspiracy an accelerating rate of infections that increase theories about how Bill Gates wants to use vac- exponentially if no countermeasures are taken cines to inject people with fluid chips so a secret vividly brought home what “exponential growth” actually means. Each unchecked increase that cabal can turn us all into zombies?

Have all these quite contrary protagonists periodically grows by a factor x inevitably ends been inflicted with apocalyptic visions and now in catastrophe. So on seeing graphs with these recognise the virus as divine punishment for our exponentially increasing rates of infection and sins, a sign of satanic machinations? Like our death, maybe it dawned on some people how national trainer Jogi Löw, do they interpret the closely this curve resembles the depiction of explague as revenge exacted by the “earth” incar- ponential rates of economic growth, and what Viewed in terms of biological laws the COVID– nate, now finally and furiously bridling against that means for patient Earth.

For what we credulously marvel at as the suc19 pandemic is an open and shut case. Viruses the impositions of humanity? Or what do clithat cause plagues have always existed. You just mate targets, economic logic and conspiracy the- cessful course of our economic model and what, have to combat them, as best you can. It’s the ories about elites drinking children’s blood have following the slump brought on by the lockdown usual fight for survival, this time in the age of to do with infectious viruses, which were already measures, is once again being celebrated unretechnology. A task for pragmatists, nowadays present in the original primeval chemical soup servedly in every talk show and newspaper op-ed as the panacea of economic recovery — well, the called experts. As a medical issue it really has from which all life has developed?

It may be that all the hazy unease that has new, sharply rising rates of growth — in fact betonothing to do with other problems of civilisabubbled up to the surface in response to the Cov- kens the progressive scrapping premium for the tion. And certainly not with culture.

Is Culture’s Disquiet Vis-à-Vis the Pandemic an Opportunity for Fundamental Change?

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Till Briegleb

Kurator*innen und Intendant*innen machen sich Gedanken, wie der peinlich große ökologische Fußabdruck ihrer Events minimiert werden kann, ohne die reiseaufwendigen Formate wie Biennalen und internationale Festivals ganz in Frage zu stellen.

Und in manchen kulturellen Nischen wird anlässlich des wiederholten SARS-Ausbruchs auf Tiermärkten tatsächlich darüber gesprochen, dass COVID-19 nur eine von unzähligen Episoden ist, wo die destruktive Konsequenz des Fleischverzehrs sichtbar wird. Dass ein Nahrungsmittel, dass nur sieben Prozent des menschlichen Energiebedarfs deckt, dafür aber 75 Prozent des weltweiten Agrarflächen für Futtermittel verbraucht, bei vernünftigen Menschen die absurden Konsumgewohnheiten der Gesellschaft in Frage stellen müsste, will allerdings noch kaum jemand so richtig an sich ran lassen. Denn mit persönlichem Verzicht und praktischer Konsequenz tut man sich auch in klugen Kreisen ordentlich schwer.

Deswegen geben die vielen nachdenklichen Kommentare im Verlauf der Krise, was nun alles grundsätzlich zu ändern sei in der Kultur, der Politik und der Welt, nur beschränkten Anlass zur Euphorie. Auf jeden nachdenklichen Galeristen wie Marc Glimcher, den Chef der New Yorker Pace-Galerie, der nach einer Infektion mit SARS das ganze kulturlose Bereicherungssystem des kommerziellen Kunstmarkts in Zweifel zog, kommen hundert Galerist*innen, die in der Corona-Auszeit lieber daran gearbeitet haben,

ihre digitalen Verkaufsformate gewinnträchtig auszubauen.

Und wenn man Kulturorganisator*innen direkt anspricht, wie sie nach dem klimafreundlichen Shutdown ihren Beitrag dazu leisten wollen, mit weniger Weltverbrauch kulturellen Austausch zu ermöglichen, steht auch dort der eigene Statusegoismus wieder vor dem Gewissen. Tatsächlich erhält man meist die — wenn auch schamvoll verklausulierte — Antwort: Gar nicht! Die Begründung? Fliegen und mit Großevents massiv Flüge von Kulturtouristen zu provozieren sei so wichtig für den geistigen Austausch in der Welt, dass hier Klimaziele einfach wegfallen müssen. Sollen doch die anderen die Welt retten, wir reden ja schon drüber.

Mit dieser treuen Fortführung kapitalistischer Eigenutz-Philosophie, die den Planeten gerade in einen Abfallball verwandelt, verspielt die Kulturbranche die Chance, die ihr COVID-19 bietet, nämlich grundsätzlich zu werden.

Aber vielleicht führt der tiefe Schock längerfristig doch zu einem Unbehagen in der Kultur, das zu systemrelevanten Fragen weiterleitet, wie wir leben und wirtschaften wollen, um dies mit persönlicher Konsequenz auch glaubwürdig zu machen. Es wäre so schön, wenn es nicht erst eine nächste Pandemie von der Tödlichkeit des Ebolavirus’ braucht, bis das exponentielle Wachstum als Ursache aller fundamentalen Krisen unserer Zeit erkannt wird. Nicht nur bei der Virenvermehrung.

Till Briegleb ist Journalist und Schriftsteller aus Hamburg.

ecological system, global justice and the future of our children and grandchildren. Or to cite the dissenting economic philosopher Kenneth E. Boulding, who once remarked so pointedly: “Everyone who believes in indefinite growth […] on a physically finite planet is either mad or an economist.”

In any case, a lot of people in the cultural sphere have with true fervour suddenly noticed that the crises that have befallen our society at ever-shorter intervals — whether “financial”, “climate”, “corona” or “intellectual” crisis — all have a common denominator which is more than symbolic in character. This is why in the midst of the medical and economic crisis such pronouncements fundamentally calling for new priorities to be set in all realms of human co-existence are suddenly enjoying a boom. Out of the blue, artists, architects, curators and critics are all writing and talking about “modesty”, “solidarity” and “rational consumption”. In verbal terms, just now everything is under review.

At least, wherever sufficient financial reserves were available, the corona holiday has given some an opportunity to take stock of themselves. However, in the case of the majority of creative artists around the world, the spectacular failure of governments to help self-employed creative people in the same way as they did major companies has, more or less of its own accord,

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brought the subject of naked existence to the fore. deed amplified talk of COVID-19 being just one al status egoism overrides conscience. Indeed, But there too, to behold the hypocrisy of growth of countless episodes demonstrating the destruc- the answer one usually gets — even if squirmingeconomies pledging “quick and unbureaucratic tive impact of meat consumption. That a food- ly convoluted — is: not at all! The reason? Beinstant support” — as in Germany — has led to stuff which covers only seven per cent of human cause flying and mounting big events to encourthe realisation that a ruthless, profit-driven econ- energy needs requires 75% of the world’s agricul- age massive numbers of cultural tourists to fly omy and the welfare state are surely incompati- tural land for animal feed should make all rea- are so crucial for intellectual exchange in the ble. One of the most concrete shifts towards a sonable people question the absurdity of our so- world that this simply outweighs climate targets. fundamental challenge to current system think- ciety’s consumption habits — yet almost everyone Let the others save the world, for goodness’ ing is evidenced in the growing clamour for un- prefers to avert their eyes to it. Indeed, even in sake. We’ve already done the talking.

With its loyal resumption of the capitalist conditional basic income and the abolition of educated circles self-denial and practical consephilosophy of self-interest, which is busy turnthe intimidating bureaucracy of Germany’s quences seem too much of a struggle.

“Hartz IV” unemployment benefits.

This is why in the course of the crisis the ing the planet into a ball of waste, the cultural In the intimation that the world is teetering many thoughtful commentaries about all the world is currently squandering the opportunity on the brink (to wit, on that of a giant waste things that need to fundamentally change, be it in placed in its path by COVID–19 to finally talk heap) the malaise within culture is grasping for culture, politics or the world at large, give only fundamentals. But maybe in the longer term plausible explanations for what appears to be out muted cause for euphoria. For every contempla- the deep shock will foment discontent within of order and what ought to be changed. Archi- tive gallerist, such as Marc Glimcher, head of culture that spills over into system-relevant tects are debating how in future they should go New York’s Pace Gallery, who following his in- questions about how we wish to live and keep about planning and building urban environ- fection with SARS cast doubt on the commercial ourselves in such a way that we can do it crediments now that ecological considerations have art market’s entire uncultured system of self-en- bly and with personal consistency. It would be been compounded by epidemiological con- richment, there are hundreds of others who dur- so good if didn’t first take yet another pandemstraints. Curators, theatre and festival directors ing the corona furlough preferred to keep work- ic with the deadliness of the Ebola virus in orare ruminating on how the embarrassingly large ing at profitably expanding their digital sales der to finally recognise that exponential growth is at the root of all fundamental crises in our era. ecological footprints of their events could be formats. minimised without wholly calling into question And if you directly ask cultural organisers And not just of viral reproduction. such travel intensive formats as biennials and in- how once the climate-friendly shutdown has ternational festivals. passed they’d like to contribute to facilitating And in some cultural niches, the recurring cultural exchange with less consumption of the Till Briegleb works as a journalist and outbreaks of SARS on animal markets have in- world’s resources, here too one finds that person- author in Hamburg.

38 Etienne Dietzel Cumulus Homogenitus1 Plagewolke KlackKlackKlackKlackKlack... Im Halbdunkel des gelben Lichts steht eine große, gusseiserne Maschine. Durch das Gewirr der Fäden, die in kaum nachvollziehbarem Verlauf über das Gerät führen, sind drei Webstühle zu sehen.

Sie stehen in ordentlicher Reihe nebeneinander und verursachen mit sauber getakteten, synchronen Bewegungen das laute Klappern, das schon am Eingang des weitläufigen Gebäudes zu hören ist. Immer wieder fliegen die Schützen von einer Seite zur anderen und verbinden dabei die verschiedenfarbigen Fäden, sodass schon nach kurzer Zeit Muster in den Stoffflächen erkennbar werden. Am oberen Teil der Webstühle schwingen dicht gefaltete Pakete aus festem Karton träge im Takt. Auf diesen Relikten der ITAntike ist die gesamte Information für das jeweilige Webmuster über eine Folge von Ausstanzungen abgespeichert.

Die Webstühle decodieren die Lochfolge und übersetzen sie in entsprechende Mechanismen. Nach einigen Minuten wird der Antriebsriemen langsamer, der Lärm lässt nach und die Bewegungen erstarren.

Im Nebenraum stehen die großen, schwarzen Kessel der kohlebetriebenen Maschinen, mit denen die Webstühle ursprünglich am Laufen gehalten wurden. Ein Fenster gibt den Blick auf eine weite Brachfläche frei. Am Horizont stehen einige Kühltürme, die hellen Dampf ausstoßen.

Schon nach kurzem Aufstieg verbindet er sich mit dem dichten Wolkenteppich des Himmels und weckt in mir die kindliche Vorstellung einer Wolkenfabrik. Ich belege ein paar Megabyte auf der Speicherkarte meiner Kamera mit Aufnahmen der Wolkenformationen und gehe.

Bose-Einstein-Kondensat Einige Wochen später sitze ich in meinem Arbeitszimmer.

Im Hintergrund läuft Musik, die dank YouTube gerade einen drastischen Stilwechsel vollzogen hat. Seit einiger Zeit sind große Teile des öffentlichen Lebens entschleunigt und in Innenräume verlagert. Also cleane ich meine Festplatte.

Auf meinem digitalen Schreibtisch liegt ein Icon mit dem Namen ketterle_BEK.png. Es ist ein Screenshot, den ich von einem Videovortrag des Physikers Wolfgang Ketterle gemacht habe.2 Ich klicke es an und der Bildschirm zeigt eine langgezogene, graue Fläche auf hellem Grund, die in regelmäßigen Abständen horizontal unterbrochen ist.

Das Bild ist ein Artefakt aus Experimenten, die Ketterle und andere Physiker*innen zu den Grundeigenschaften von Materie gemacht haben. Mit großem technischen Aufwand kühlten sie eine dünne Wolke aus Atomen fast bis zum absoluten Nullpunkt herunter. Dazu wurden die Teilchen von der Geschwindigkeit eines Jets auf 1mm / s abgebremst. Aus der Wolke wurde ein kleines, dunkles Oval. Beim Übergang in diesen Aggregatzustand verlieren Atome ihren Teilchencharakter, beginnen synchron zu schwingen und bilden eine einheitliche quantenmechanische Welle. Die einzelnen Atome haben (und das ist das Obskure, das sich hinter dem Bild auf meinem Rechner verbirgt) keinen festen Ort mehr im Raum, sondern sind entsprechend ihrer Wahrscheinlichkeitsverteilung gewissermaßen überall und nirgends. Im Grunde sind sie dasselbe Atom.

Ich schließe die Datei. Wieder entscheidet der Algorithmus sich für einen Stilbruch: Eine ganze Weile ist der an- und abschwellende Klang von Instrumenten zu hören, die sich auf den Kammerton einstimmen. Als sich das Orchester zusammengefunden hat, verstummt der Lautsprecher.

Cloud Es ist Anfang April und ich sitze in den frühen Morgenstunden auf dem Flachdach über meinem Atelier. Es ist nicht das erste Mal in dieser Woche, dennoch bin ich optimistisch: Der Himmel ist klar und die Blickrichtung sollte auch einigermaßen stimmen. Ich warte darauf, dass eine regelmäßige Lichterkette am Horizont aufsteigt und binnen weniger Minuten über das Firmament zieht, um wieder zu verschwinden.

Im Februar 2018 startete die Firma SpaceX ihr Projekt Starlink. Von geplanten 60.000 Satelliten umkreisen mittlerweile ca. 420 die Erde und bilden den Anfang eines weltumspannenden Systems für die webbezogene Datenübermittlung. Damit wäre die angestrebte Omnipräsenz der turbulenten Datenwolke bereitgestellt.3 Diese neuen Himmelskörper sind eine deutlich sichtbare Akkumulation von Material, die der fortschreitende Ausbau der Infrastruktur des Internets mit sich bringt, um den Informationsfluss ortsunabhängig zu ermöglichen.

Mir fällt wieder der Screenshot ein: Die Ambivalenz des Zustands ohne festen Ort, den die Materie im BoseEinstein-Kondensat einnimmt, ist in gewisser Weise ein treffendes Bild für jene Architektur der Cloud, die einen immer bedeutsamer werdenden, aber schwer greifbaren menschlichen Handlungsraum bildet.

Ich rutsche etwas tiefer in den knarzenden Campingstuhl und warte.

Etienne Dietzel war von Januar bis März 2020 Residenzkünstler bei Zu Gast bei Urbane Künste Ruhr.

Zu Gast bei Urbane Künste Ruhr ist ein Residenzprogramm für das Ruhrgebiet, das Urbane Künste Ruhr in Kooperation mit der Silent University Ruhr und den KunstVereinenRuhr realisiert. Im Jahrgang 2019 / 2020 werden zehn Künstler*innen gefördert, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit der Thematik Klima beschäftigen. In seinem dreimonatigen Aufenthalt in Essen hat sich Etienne Dietzel mit der wechselwirkenden Be­ziehung von Meteorologie und techno­logischem Fortschritt auseinandergesetzt.

1 Wolkenform, die durch vom Menschen verursachte Emissionen entsteht vgl. https://cloudatlas.wmo.int/en/homogenitus.html (zuletzt aufgerufen 19.05.2020) 2 „2001 Nobel Laureate Lecture in Physics — Wolfgang Ketterle, The Story of Bose-Einstein Condensates“

vgl. https://www.youtube.com / watch?v=NoO7XKVmZC8 (zuletzt aufgerufen 18.05.2020) 3 vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Starlink (zuletzt aufgerufen 12.05.2020) Bildinformationen l. Albedo, Laser zum Vermessen von Wolken im Leibnitz Institut für Atmosphärenforschung r. Cyanometer, Aufzeichnung der Himmelsfarbe, Essen 21.03.2020

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Etienne Dietzel

Cumulus Homogenitus1

of public life have decelerated and shifted into indoor spaces. So I clean my hard drive. Lying on my digital desktop is an icon called ketterle_BEK. png. It is a screenshot I made of a video lecture by the physicist Wolfgang Ketterle.2 I click on it and the screen shows an elongated grey surface on a Plague cloud Clackclackclackclackclack… Standing in the light ground that is horizontally interrupted at dimness of the yellow light is a large cast-iron regular intervals. The image is an artefact from machine. Visible through the tangle of the experiments that Ketterle and other physicists threads strung in barely decipherable lines performed to explore the basic characteristics of across the device are three looms. Placed side by matter. With great technical effort they cooled a side in a neat row, their clearly metric, synchro- thin cloud of atoms to almost absolute zero. To nous movements make a loud clatter that is au- do this, particles moving at the speed of a jet were dible as far away as even the entrance to the ex- decelerated to 1 mm / sec. The cloud was transtensive building. Over and over, the shuttles fly formed into a small, dark oval. In the transition from one side to the other, joining up the vari- to this aggregate state the atoms lose their partiously coloured threads. After only a short while, cle character, begin to oscillate in synchrony and patterns in the fabric begin to emerge. At the top create a uniform, quantum mechanical wave. The end of the looms tightly folded packets of stiff individual atoms no longer have (and that is the cardboard sway slowly to the rhythm. Stored in obscure phenomenon concealed behind the ima series of holes punched into these relics of IT age on my computer) a fixed place in space, but in antiquity is all the information required or each correspondence with their probability distribuof the weaving patterns. The looms decode the tion are, so to speak, both everywhere and nosequence of perforations and translate them where. Essentially, they are the same atom.

I close the document. Once again, the algointo the corresponding mechanisms. After a few minutes the driving belt slows down, the noise rithm decides to make an abrupt change in style: for quite a while all I hear is the surging and refalls away and all movement comes to a halt.

In an adjacent room are the large, black ceding sound of instruments as they tune to boilers of the coal-fired machines that original- concert pitch. Once the whole orchestra has ly kept the looms moving. A window offers a come together my loudspeaker falls silent. view across a broad stretch of fallow land. Visible on the horizon are several cooling towers Cloud spewing white steam. After just a brief ascent It is the beginning of April and I’m sitting in the the vapour merges into the thick carpet of cloud early hours of the morning on the flat roof over in the sky, giving me the childish idea of a cloud my studio. It’s not the first time this week, but I factory. I fill a couple of megabytes on the mem- am optimistic. The sky is clear and the line of viory card of my camera taking shots of the cloud sion is probably more or less right. I am waiting for a regular chain of lights to rise on the horizon formations, then leave. and within just a few minutes to draw across the heavens before disappearing again.

Bose-Einstein Condensate In February 2018 the company SpaceX startSeveral weeks later I am sitting in my study. Music is playing in the background, which thanks ed its project Starlink. Of the 60,000 planned satto YouTube has just switched to a drastically ellites some 420 are now orbiting the earth and different style. For some time now large sections mark the beginning of a world-spanning system

Zu Gast bei Urbane Künste Ruhr (A visitor to Urbane Künste Ruhr) is a residency programme focused on the Ruhr region and run by Urbane Künste Ruhr in cooperation with the Silent University Ruhr and the KunstVereineRuhr. The 2019 / 2020 programme is sponsoring ten artists who are engaging with the subject of climate from a variety of perspectives. During his three-month residency in Essen Etienne Dietzel has explored the reciprocal relations between meteorology and technological progress.

for transmitting web-based data. Once completed, the envisaged omnipresence of the turbulent data cloud will have been made available.3 These celestial bodies are a clearly visible accumulation of material brought on by the progressing infrastructural expansion of the internet, whose purpose is to facilitate a location-independent flow of information.

This reminds me of the screenshot again: the ambivalence of the condition without a fixed location assumed by the material of the Bose-Einstein Condensate is to a certain degree an apposite image for the architecture of that cloud which is becoming increasingly important, but offers such elusive space for human action.

I slide a little deeper into my creaking camping chair and wait.

Etienne Dietzel was a residency artist at the programme Zu Gast bei Urbane Künste Ruhr from January till March 2020.

1

A cloud formation created by human-made emissions. Cf. https: / / cloudatlas.wmo. int / en / homogenitus.html (last accessed 03.06.2020).

2 2001 Nobel Laureate Lecture on Physics — Wolfgang Ketterle: “The Story of Bose-Einstein Condensates”. Cf. www.youtube.com / watch?v= NoO7XKVmZC8 (last accessed 03.06.2020).

3 Cf. www.en.wikipedia.org/wiki / Starlink (last accessed 03.06.2020).

Captions l Albedo, Laser for measuring clouds at the Leibniz Institute of Atmospheric Physics r Cyanometer, Recording of the sky colour, Essen, 21.03.2020

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Janne Tüffers

Mut zur Lücke Gähnende Leere auf Spielplätzen, Bahnhofsvorplätzen und Caféterrassen, unbeschriebene Seiten im Terminkalender und geplatzte Urlaubspläne. Das Leben in Zeiten der Corona-Pandemie ist von Lücken, Leere und Freiräumen geprägt. Die Lücke von mindestens 1,50 Meter zu den Mitmenschen ist schon fast zur Normalität geworden. An das klaffende Loch dort, wo Arbeit und finanzielle Sicherheit geglaubt waren, wird man sich hingegen nicht so schnell gewöhnen. Aber ganz besonders zu schaffen machen uns der Mangel von Wissen und Gewissheiten, das Fehlen von Routinen und Selbstverständlichkeiten, sowie die Abwesenheit von konkreten Zukunftsszenarien. Wir hatten geglaubt, wir könnten den Verlauf der Dinge vorhersehen und waren hauptsächlich damit beschäftigt, uns mit ihm zu arrangieren. Und jetzt sind wir mit der Tatsache konfrontiert, dass wir die Zukunft nicht kennen — dass wir vielleicht nicht einmal besonders viel über die Gegenwart wissen.

Neben all den Videochats, den Fitnesskursen via YouTube, der Suche nach neuen und fast vergessenen Hobbies mögen auch die Kulturinstitutionen mit digitalen Ausstellungsansichten und Streamings der Leere entgegenwirken.

Aber die Kunst kann noch mehr: Sie kann dazu beitragen, den Freiraum akzeptieren zu lernen; den Mut zur Lücke in unserem Wissen und Verstehen zu stärken.

Unvollständigkeit scheint einer der wenigen beständigen Begleiter durch diese Zeit zu sein. Wie schwer es uns fällt, diese Unvollständigkeit und die damit verbundene Unsicherheit anzunehmen, wird durch den aktuellen Nachrichtenkonsum deutlich. Live-Ticker und PushNachrichten verleiten dazu, immer und überall Nachrichten zu konsumieren, um Wissenslücken zu schließen. Eine allumfassende Erklärung der Situation und eine eindeutige Strategie durch die Krise sind dadurch trotzdem nicht in Sicht. Die Frustration darüber zeigt sich, wenn Informationen zum Coronavirus und allem, was im Entferntesten damit in Verbindung gebracht werden kann, ungefiltert

aufgesogen werden; wenn verinnerlicht geglaubte Medienkompetenzen und Quellenprüfungen aussetzen, entgegen jeder Vernunft Aussagen mit besonders vielen Ausrufezeichen als besonders sichere Information verstanden werden und soziale und mediale Bubbles umso stärker wirken. Gerade dann erhalten selbsternannte Expert*­innen die Chance, die Lücken schnell und einfach mit Unwahrheiten und Schuldzuschreibungen zu füllen.

Gleichzeitig gibt es schier eine Flut an qualifizierten Beiträgen. Selten ist wissenschaftliche Expertise so geschätzt gewesen. Die eine Antwort, die unsere Fragen ein für alle Mal klärt, dürfen wir nur einfach nicht erwarten.

Nicht nur, weil diese Krise wahnsinnig komplex und undurchsichtig ist, sondern weil der Anspruch nach der einen Wahrheit, nach der einen Erkenntnis, nach dem einen richtigen Weg, niemals gerechtfertigt ist. Natürlich ist es das Ziel der Wissenschaften Wissen zu schaffen, doch in erster Linie ist Forschung ein Prozess, eine Suche, ein Annähern.

Wissenschaften leben vom Scheitern und Korrigieren, sind in ihrem Selbstverständnis reflektiert, kritisch, widersprüchlich und sich ihrer Grenzen bewusst. Neuigkeiten aus der Wissenschaft sind selten die Breaking News, mit denen Politik und Medien gerne arbeiten würden: Wissenschaftliche Untersuchungen beleuchten einzelne Aspekte aus bestimmten Perspektiven — und füllen selten auf einen Schlag die Lücken in unserem Verständnis von der Welt, die uns so zu schaffen machen. So etwas wie die „Wirklichkeit“ kann erst durch die Gesamtheit all dieser Aspekte und Perspektiven, den Vergleich widersprüchlicher Studienergebnisse und den Einbezug verschiedener Disziplinen beschrieben werden. Und auch dann sollten wir „Wirklichkeit“ weiterhin in Anführungszeichen denken, uns von dem Verständnis nach dem Absoluten verabschieden und stattdessen Wissen, Wahrnehmung und Erkenntnis als situativ und veränderlich betrachten und Restunsicherheiten annehmen.

41 Doch die Krise fordert nicht nur Kenntnis um der Kenntnis willen, sondern als Grundlage, um Entscheidungen zu treffen und Handlungen einzuleiten — und zwar schnell. Die Zeit für den notwendigen Austausch, das Einordnen, Scheitern und Korrigieren fehlt. Dieser Druck stellt die Qualität und die Glaubwürdigkeit der Forschung auf eine harte Probe. Auch Kommunikator*innen, Journalist*innen und Politiker*innen wird damit eine besondere Verantwortung zuteil: zu sagen „Wir wissen es nicht“. Die unvollständige Datenlage muss deutlich werden, Inhalte müssen in ihrer Sprache vereinfacht und trotzdem in ihrer Komplexität deutlich werden. Ergebnisse und Meinungen müssen eingeordnet und Widersprüche erklärt, statt für polarisierte Debatten genutzt werden. Zahlen müssen nicht nur präsentiert, sondern auch erläutert, und Einzelfälle als solche kenntlich gemacht werden. Der Balanceakt zwischen komplexer Argumentation und hitziger Debatte in den Medien ist nicht neu, aber in Krisenzeiten zusätzlich erschwert. Von Politiker*innen zu hören, dass sie nicht sicher wissen können, wovon sie sprechen, dass sich ihre Meinung mit der Datenlage ändern kann und muss, dass sich die gewählte Strategie möglicherweise als falsche Entscheidung herausstellen wird, ist ungewöhnlich aber unbedingt notwendig. Am nächsten kommen wir der „Wahrheit“ nur mit diesen Lücken.

Diese Forderung bringt aber auch mit sich, dass wir diese Lücken akzeptieren müssen. Dass wir von Wissen-

Mind the Gaps

schaftler*innen keine unumstößlichen Fakten und klaren Handlungsanweisungen erwarten. Dass wir Aufmerksamkeit und Zeit in differenzierten, komplexen und vermeintlich langweiligen Journalismus investieren, der die Sachlage bestmöglich beschreibt, aber eben auch auf ihre Unvollständigkeit hinweist. Dass wir die Unsicherheit, die die „Zwei-Wochen-Politik“ mit sich bringt, aushalten können und Vertrauen haben.

Aber wie schaffen wir diese Akzeptanz? Können wir sie mit Hilfe der Kunst stärken? Vertrautheit mit künstlerischer Praxis bedeutet ein Loslösen vom Vollständigkeitsanspruch, das entscheidenden Einfluss darauf nehmen kann, wie wir die Krise wahrnehmen, sie beschreiben und auf sie reagieren. Den Denkprozess und eine differenzierte Auseinandersetzung gegenüber einem objektiv festzustellenden Ergebnis zu priorisieren, ermöglicht, die Komplexität und vielleicht sogar die Unlösbarkeit einer Thematik anzunehmen. Sie birgt das Potenzial, uns zu zeigen, wie wir Unsicherheiten anerkennen und nicht daran verzweifeln. Als Betrachter*in von Kunst erhoffen wir uns einen Erkenntnisgewinn, ohne absolute Antworten zu erwarten.

Können wir unsere Ansprüche dahingehend auch in anderen Bereichen anpassen? Können wir, indem wir uns diese Haltung ins Bewusstsein rufen, eine Kultur des Zweifelns und Zögerns, Annäherns, Abwägens und neu Ausrichtens etablieren? Wir müssten dafür verinnerlichen, einen Schritt zurück zu machen, zu betrachten, uns zu distanzieren, einen Überblick zu verschaffen und eine veränderte Perspektive einzunehmen, wie wir es bei einem Kunstwerk tun würden. Erst wenn wir bewusst eine Lücke

Aside from all the video chats, YouTube workout without filter, or when once broadly assimilated channels and the quest for new and almost for- media competence and source verification are gotten hobbies, cultural institutions are also abandoned. In their stead, counter to all reason, Yawning emptiness in playgrounds, railway sta- showing ingenuity by seeking to fill this void with statements flanked by abnormal cohorts of extion forecourts and on café terraces, blank pag- digital displays of exhibitions and gallery stream- clamation marks are treated as reliable informaes in appointment books and scrapped holiday ing. But art can do much more than that. It can tion and social and media bubbles have ever plans. Life in the time of the corona pandemic help us learn to accept this free space, to strength- greater impact. Such conditions in particular is marked by gaps, void and free spaces. Main- en our courage to leave gaps in what we know give self-appointed experts an opportunity to fill the gaps quickly and easily with untruths taining a gap of at least 1.5 metres to those and understand.

It seems incompleteness is one of the few and accusatory finger-pointing. around us has become almost normality. By At the same time, we are witness to a sheer contrast, getting accustomed to the gaping hole consistent factors accompanying us through this where work and financial security were once time. Just how hard it us for us to accept this in- flood of qualified contributions. Scientific exsafely assumed to be will take some time. But completeness and the attendant insecurity is pertise seldom enjoys such high esteem. Yet let what most particularly unsettles us is the lack of highlighted by our consumption of the latest us not expect to hear a single answer to resolve knowledge and certainty, the dearth of routines news. News tickers and push notifications entice our questions once and for all. Not simply beand stuff we take for granted, and the absence us to consume news at all times and everywhere cause this crisis is exceedingly complex and obof concrete future scenarios. We had believed in the hope of closing the gaps in our knowledge. scure but also because the craving for the one we could predict the course of things and were Yet for all this, a comprehensive explanation of and only truth, the one and only insight, the one preoccupied predominantly with coming to the situation and a clear-cut strategy to take us and only course of action can never be justified. terms with this. And now we find ourselves fac- through the crisis are nowhere in sight. Frustra- While the purpose of science is naturally to ing the fact that we don’t know the future — and tion with this circumstance is shown when infor- build knowledge, research is first and foremost a maybe even not very much about the present as mation about the coronavirus and anything process, search and gradual approximation. Scideemed remotely connected with it are ingested ence feeds on failure and correction; by its own well.

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Janne Tüffers

bewirken — räumlich, gedanklich, zeitlich — und sie uns zunutze machen, können wir verstehen und beurteilen und uns darüber austauschen, wie sich jede*r Betrachtende das Werk auf eine andere Weise erschließt.

Können wir so, wie wir andere Interpretationen eines Kunstwerks akzeptieren und diskutieren, auch andere politische Meinungen und Standpunkte akzeptieren und diskutieren — ohne dass es darum geht, eine Debatte zu gewinnen? Die Stärken der Kunst, Vielstimmigkeit nicht nur zuzulassen, sondern zu fördern, und Subjektivität nicht nur anzuerkennen, sondern zu betonen, fördert die Ambiguitätstoleranz, die wir insbesondere in Krisenzei-

ten als Gesellschaft so dringend benötigen: Differenziert und reflektiert mit widersprüchlichen Informationen, neuen Eindrücken, Menschen anderer Meinung und unberechenbaren Situationen umzugehen, statt an Strukturen festzuhalten, die auf einem Schwarz-Weiß-Denken basieren.

Alternative Perspektiven zuzulassen, um diese Kategorisierung zu überwinden, bedeutet allerdings nicht nur die Herangehensweisen anderer zu akzeptieren. Es meint genauso auch selbst mit Hilfe von Vorstellungskraft, Fantasie und Unvoreingenommenheit outside the box zu denken. Können wir also mit künstlerischen Perspektiven, fiktiven Geschichten und Kreativität Wege aus der Krise formulieren, die

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Janne Tüffers

nicht die Rückkehr zu alten Strukturen bedeuten? Optimismus lernen? Zukunftsvisionen und Fantasieszenarien ermöglichen es uns, eine Sprache für alternative Realitäten zu finden und neue Räume zu schaffen, vielleicht sogar eine neue Normalität. Wir sollten uns das zunutze machen.

Kunst könnte sozusagen als Training verstanden werden. Als Übung dafür, Unsicherheiten auszuhalten, statt in einem seelischen Zustand gefangen zu sein, der uns handlungsunfähig macht; mit Widersprüchen, Ungewissheiten und Unvollständigkeit umzugehen, Freiräume anzunehmen und für uns zu nutzen. Sie kann uns helfen, Offenheit und Dialog, Vielfalt und Verständnis zu kulti-

vieren und somit eine Wertschätzung für Lücken und vorläufiges, Widersprüche und Unsicherheiten zu schaffen.

Das wirkt gerade jetzt aber keinesfalls ausschließlich in Zeiten der Corona-Krise wichtig. Diese Krise ist nicht der Auslöser von, sondern die plötzliche Konfrontation mit einer Realität, die lautet: Wir wissen es nicht. Unsere Erklärungen dieser Welt sind lückenhaft, unser Verstehen hat Grenzen. Kunst kann uns dazu ermutigen, alternative Szenarien zu denken, wenn wir merken: Wir können die Zukunft nicht mit Sicherheit planen. Sie war immer ungewiss, bislang war sie das nur weniger offensichtlich.

Janne Tüffers arbeitet als Pressereferentin bei Urbane Künste Ruhr.

definition it is reflective, critical, inconsistent closest we get to the “truth” is one that includes a plurality of voices, not only acknowledges but and aware of its limits. New developments in these gaps. also emphasises subjectivity — fosters a tolerBut this requirement also perforce entails us ance of ambiguity that in times of crisis we as a science rarely offer the “breaking news” scoops that politics and media would relish. Scientific accepting these gaps: We cannot expect scientists society so urgently need. We must deal with research tends to illuminate individual aspects to provide irrevocable facts and prescribe a defi- conflicting information, new impressions, peofrom certain perspectives; seldom do they in nite course of action; we need to invest attention ple of different opinion and unpredictable situone fell swoop close the gaps in our understand- and time to study differentiated, complex and ations in a differentiated and reflected manner ing of the world that we find so hard to cope purportedly boring journalism that offers the rather than clinging to structures built on a with. What we call “reality” only begins to be best possible description of the situation, while black and white way of thinking. described when one combines the totality of all at the same time pointing out its incompleteness.

However, showing tolerance for alternative these aspects and perspectives, compares con- We must be able to endure the uncertainty that perspectives to overcome such rigid categories flicting study results and involves different disci- such political short-termism involves and main- does not simply mean accepting other people’s plines. And even then, we should continue to tain trust. approaches. Equally, it also requires us to use Yet how are we to foster this acceptance? Can imagination, fantasy and detachment to think think of “reality” within inverted commas and discard any notion of absoluteness; in lieu of it be reinforced with the help of art? Familiarity outside the box. So are we able to come up with this we should consider knowledge and percep- with artistic practice suggests letting go of our artistic perspectives, fictional narratives and tion as situational and mutable, and learn to live expectations of completeness. This might have creativity to formulate ways out of the crisis crucial influence on how we perceive and describe that will not entail a return to old structures? with residual uncertainty.

However, the current crisis calls for knowl- the crisis, as well as how we respond to it. Giving Can optimism be learned? Visions of the future edge, not just for the sake of acquiring knowl- priority to reflection and differentiated analysis and fantasy scenarios allow us to find a lanedge but also as the basis on which to reach vis-à-vis an objectively to be determined outcome guage for alternative realities and to create new decisions and take action — and without delay. makes it possible to embrace the complexity and spaces, maybe even a new reality. We should There is no longer time for the necessary ex- maybe also the irresolvable nature of a problem. grasp this opportunity.

Art can, if you like, be seen as training. As change, categorising, failing and correcting. It harbours the potential to show how we can acThis pressure represents a stiff test for the qual- knowledge uncertainties rather than despairing an exercise in prevailing against insecurity rathity and credibility of research. And a high de- of them. As viewers of art we seek greater knowl- er being captive to a spiritual or mental condition that incapacitates us. A practice that trains gree of responsibility now falls on the shoul- edge without demanding absolute answers.

Can we adjust our demands to this effect in us to handle contradictions, uncertainty and ders of communicators, journalists and politicians — to admit, “We don’t know”. The other spheres as well? By calling this attitude to incompleteness, to embrace free spaces and use inchoate data situation needs to be articulated, mind can we initiate a culture of misgiving and them to our own benefit. Art can help us to culsubjects must be simplified in their expression hesitation, of approximation, weighing up and tivate openness and dialogue, diversity and unyet openly disclosed in their complexity. Re- realignment? To do so, we would need to interio- derstanding, and thereby find ways to apprecisults and opinions have to be put into context rise the gestures of stepping back, observing and ate gaps and provisional situations, incongruity and contradictions explained, rather than in- distancing ourselves, of seeing things in the big- and ambivalence. This appears to be important strumentalised for polarised debate. It is not ger picture and adopting a modified perspec- right now, but certainly not solely in this period enough just to present figures, they also need tive — as we would when viewing a work of art. of the corona crisis. This crisis is not the trigger to be elucidated, with divergent cases identi- Only once we have consciously created a of, but the sudden confrontation with, a reality fied as such. The delicate balancing act be- gap — spatially, mentally, temporally — and made that could be headlined “We don’t know”. Our tween complex argumentation and heated de- deliberate use of it can we understand and judge explanations of this world are strewn with gaps, bate in the media is nothing new but in times and exchange views as to how each of us in differ- our understanding has limits. Art can inspire us to envisage alternative scenarios if we remind of crisis becomes further precarious. To hear ent ways finds access to a particular work. politicians admit that they cannot be sure of So, just as we are able to accept and discuss ourselves that we cannot reliably plan the fuwhat they are talking about, that their opin- differing interpretations of a work of art, can we ture. The future has always been uncertain. Up ions might and should modify if the known also accept and discuss differing political opin- till now this was simply much less evident. facts change, that the adopted strategy will ions and standpoints without this ever being perhaps turn out to have been the wrong deci- about who can win the debate? The forte of Janne Tüffers is Urbane Künste Ruhr’s sion, may be unusual yet is imperative. The art — that it not only permits but also encourages press officer.

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Emscherkunstweg

Von Alle bis Zeit

Kunst in Zeiten der Corona-Pandemie — Rückzug ins Private oder Offensive ins Digitale? Der Emscherkunstweg bietet eine dritte Möglichkeit: Kunst draußen im öffentlichen Raum! An der frischen Luft erlaubt der Skulpturenweg entlang der Emscher eine Auseinandersetzung mit Kunst mit genügend Abstand. Gemeinsam mit der Emschergenossenschaft und dem Regionalverband Ruhr teilen wir im dritten Teil des Emscherkunstweg-ABC unter verschiedenen Schlagworten unsere Überlegungen, Fakten, News rund um den Kunstweg.

A — Alle Kunst im öffentlichen Raum ist für alle Menschen da, rund um die Uhr. Es gibt keine Schwelle, die übertreten werden muss, kein Eintrittsgeld, keine Öffnungszeiten, keine weißen Wände. Dafür ist man draußen an der frischen Luft, gleichzeitig aber in einem ungeschützten Raum. Die Werke sind den Widrigkeiten von Mensch und Natur ausgesetzt. Wenn wir sie gut behandeln, schenken sie uns etwas — eine neue Perspektive, einen Ausblick, eine Wegmarke, eine Begegnung, Freude, Identifikation.

Gerade in unsicheren Zeiten wie diesen ist der Emscherkunstweg ein Angebot, sich im Freien aufzuhalten und gleichzeitig Kunst — mit Abstand — gemeinsam zu erleben.

Eingebunden in die wechselnden urbanen Räume des Ruhrgebiets verspricht der Emscherkunstweg Kunst für alle jederzeit. JF E — Emscher-Höfe Die Emscher-Höfe — das sind drei Hof-Anlagen und ein Park — zwischen Quelle und Mündung entlang der Emscher. In Holzwickede liegt ganz idyllisch der Emscherquellhof. In Dortmund-Mengede ist der Hof Emschertal in unmittelbarer Nähe zum größten Hochwasser-Rückhaltebecken. In Dinslaken in der Nähe zum Rhein befindet sich der Hof Emschermündung. Vierter im Bunde ist der BernePark in Bottrop — eine ehemalige Kläranlage, die den Strukturwandel im Ruhrgebiet symbolisiert. Die Höfe dienen als Plattform für viele verschiedene Akteur*innen und eröffnen neue Handlungsräume — für Bildungsveranstaltungen, Kunst und Kultur, für Freizeit und Naherholung. Sie sind Begegnungsorte und Treffpunkte, die über den Emscher-Weg per Rad gut zu erreichen sind. KK

A Lexicon from All to T ime

Art in times of the corona pandemic – withdrawal into one’s private cocoon or digital offensive? The EmscherF — Fische Das Leben kehrt in die Emscher zurück: kunstweg offers a third option: art outdoors in public Nachdem der zentrale Fluss des Ruhrgebiets über ein Jahr- space! Following the sculpture trail along the Emscher hundert lang als offener Schmutzwasserlauf gebraucht river in fresh air allows one to engage with art while keepwurde, zeigen sich nun nach und nach in den renaturierten ing sufficient distance. Together with the EmschergenosAbschnitten des Gewässersystems beeindruckende Erfolge senschaft and the Regionalverband Ruhr, we have comdes Generationenprojekts Emscher-Umbau. In der Em- piled our thoughts, facts and news about the art trail with scher selbst, aber auch in Nebenläufen wie dem Deining- new keywords in the third part of our Emscherkunstweg hauser Bach in Castrop-Rauxel, dem Borbecker Mühlenbach ABC. in Essen und dem Läppkes Mühlenbach in Oberhausen, konnte nach 150 Jahren der Abstinenz die Emscher-Grop- A — Alle (Everyone) Art in public space is there for everype erfolgreich wieder angesiedelt werden. Sie ist jedoch one, 24 / 7. There is no threshold to cross, no admission fee, nicht der einzige Fisch in den Emscher-Flüssen: In Dort- no opening times, no white walls. Instead you are outside in mund wurden schon Forellen gesichtet, in anderen Berei- the fresh air but also in an unprotected space. The works chen konnte die Emschergenossenschaft unter anderem are exposed to any adversities inflicted by people and naden Neunstachligen und den Dreistachligen Stichling ture. If we treat them well they have something to give nachweisen. IA us – new perspectives, an outlook, a way-marker, an en-

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H — Herner Meer Merkwürdig und fragil wirkt die Gemeinschaftsarbeit von Bildhauer Bogomir Ecker und Komponist Bülent Kullucu, die zwischen Schleuse und Yachthafen aus dem Wasser ragt. Wie von Kinderhand scheinen gelbe und silberne Bauklötze zu zwei Türmen aufeinandergestapelt worden zu sein, die nachts von einer 16 Meter hohen Straßenlaterne beleuchtet werden. Wenn sich in den Löchern der einzelnen Elemente der Wind verfängt, entwickeln sich Töne und die Skulptur beginnt zu klingen. Kunst und Natur werden in reemrenreh — rückwärts gelesen ergibt dies den Standort „Herner Meer“ — in Einklang gebracht und betonen durch die vermeintliche Instabilität und den „unsicheren“ Aufstellungsort im Wasser die Flüchtigkeit des Moments. TH N — Neustadt Julius von Bismarcks auf einer Freifläche im Landschaftspark Duisburg-Nord geplante Miniaturlandschaft besteht aus modellhaften Skulpturen, die gut zwanzig Gebäuden nachempfunden sind, die seit der Jahrtausendwende im Ruhrgebiet abgerissenen wurden. Die großflächige Installation besteht aus unterschiedlichen Architekturtypen, vom Einfamilienhaus über Siedlungsbau, Schwimmbäder und Schulen bis hin zu ehemaligen Fabrikanlagen, und orientiert sich hinsichtlich Blickachsen und fiktiver Straßenführung an einer städtebaulichen Struktur. Quasi ex negativo, als Spiegelbild von dem, was nicht mehr ist, vereint die Anlage Bauten aus verschiedenen Regionen und Jahrzehnten zu einem Stadtkörper in überschaubarem Format. Durch die Maßstabsverschiebung erhält auch das Verhältnis zwischen Natur und Architektur eine neue Gewichtung: Markante Gebäude wecken Erinnerungen und werden gleichzeitig von Sträuchern und Gebüsch überwuchert. Das gesamte Ensemble lädt zum Flanieren und Verweilen ein. Es befragt die vollzogenen städtebaulichen Entscheidungen als Zeugnisse einer andauernden gesellschaftlichen Veränderung — inklusive der künftigen Möglichkeit, analog zu realen städtischen Umbaumaßnahmen, weitere abgerissene Bauten hinzuzufügen. BP

counter, pleasure, identification. Especially in uncertain times such as these, the Emscherkunstweg is an opportunity to spend time outdoors while jointly – at a distance – experiencing art. Incorporated in the changing urban spaces of the Ruhr region, Emscherkunstweg promises art for everyone at all times. JF E — Emscher-Höfe The “Emscher-Höfe” is a series of three farmsteads and a park situated along the Emscher river between its source and its mouth. In an idyllic setting in Holzwickende is the historic timber-frame farmstead “Emscherquellhof ”. Located in Dortmund-Mengede, the “Hof Emschertal” lies very close to the area’s largest flood retention basin. “Hof Emschermündung” is in Dinslaken near the Rhine. The fourth of these attractions is Berne­ Park in Bottrop, a former sewage treatment facility that symbolises the structural change that has taken place in the Ruhr region. The “Emscher-Höfe” serve as a platform for a wide variety of participants and projects, opening up new spaces for action, such as educational events, the arts, leisure and local recreation activities. As places of encounter and rendezvous they are easy to reach by bike along the “Emscher-Weg”, a cycle path. KK F — Fish Life is returning to the Emscher river. After the central river of the Ruhr region was used for over a century as an open wastewater course, the renaturated sections of the waterway system now offer increasing evidence of the impressive success of the transgenerational Emscher Conversion project. In the Emscher river itself, but also in its

R — Route Wie eine Perlenkette reihen sich die Kunstwerke am Emscherkunstweg aneinander — könnte man meinen. In Wirklichkeit liegen sie ziemlich weit auseinander und sind nicht so leicht abzuschreiten wie ein Skulpturenpark. Klar ist: Am besten erkundet ihr den Emscherkunstweg mit dem Fahrrad! Die ideale Route aber ist gar nicht so leicht zu finden auf nahezu 100 Kilometern. Von Holzwickede bis Oberhausen verläuft der Emscherkunstweg nicht genau entlang des bereits vorhandenen RadwegeNetzes. Etwas abseits liegen u.a. reemrenreh am Herner Meer oder das Monument for a Forgotten Future auf der Wilden Insel in Gelsenkirchen. Auf unserer Website — coming soon! — stellen wir verschiedene Routen zum Download für euch bereit. Und natürlich könnt ihr die Wege auf einer Karte — eine gedruckte Version ist ebenfalls in Arbeit — nachvollziehen und einfach losfahren. Optional nutzt ihr euer Smartphone als Navigationsgerät und eure Schnappschüsse vom Ausflug könnt ihr anschließend auf unserer Website posten — als Emschergram! JF V — Vor Ort Dem Errichten neuer Kunstwerke im öffentlichen Raum gehen zahlreiche sogenannte „Vor-Ort-Termine“ mit den Künstler*innen und Bauingenieur*innen voraus. Zuerst um geeignete Aufstellungsorte zu finden und dann die Gegebenheiten der Orte in die Planung und Realisierung der Kunstwerke miteinzubeziehen. In der Veranstaltungsreihe Vor Ort greifen wir dieses Prinzip auf: In Form von Künstler*innen-Gesprächen, Performances oder musikalischen Kommentaren können Besucher*innen die Kunstwerke des Emscherkunstwegs neu erfahren und in eine Interaktion treten. Den Auftakt machte ein Gespräch mit der Künstlerin Silke Wagner und dem Historiker Holger Heith vom Archiv für Soziale Bewegungen

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Emscherkunstweg

der Uni Bochum. Anfang August aktivierten Nicola Gördes und Stella Rossié die Arbeit Kunstpause von atelier le balto mit einer Live-Performance. Mehr Informationen zu den kommenden Terminen unter: www.emscherkunstweg.de. ML W — Walkway Um die Veränderungen der Landschaft durch den Emscher-Umbau kontinuierlich beobachten zu können, errichtete der japanische Künstler Tadashi Kawamata 2010 die Arbeit Walkway and Tower ganz in der Nähe des Wasserkreuzes von Emscher und Rhein-HerneKanal (Düker) in Castrop-Rauxel. Über einen Steg, der im Zickzack auf eine Anhöhe führt, erreicht man einen hölzernen Aussichtsturm, der einen Rundumblick bietet.

Beim Flanieren über den Walkway, der im Zuge der künstlerischen Revision im Frühjahr 2020 einer technischen und gestalterischen Überarbeitung unterzogen wurde, eröffnen sich immer wieder neue Perspektiven auf die Umgebung. Das kontemplative Erfahren der Landschaft ist oftmals integraler Bestandteil von Kawamatas Werken im öffentlichen Raum. Indem er die Besucher*innen mit einer gesetzten Wegeführung über scheinbare Umwege lenkt, fordert er zur bewussten Wahrnehmung der Umgebung auf. ML Z — Zeit Permanente Projekte im Außenraum haben ein generöses Verhältnis zur Zeit. Geduldig lassen sie es zu, dass ihr künstlerisches Selbstverständnis mit jeder Begegnung erneut in Frage gestellt wird. Aus Unverständnis wächst Liebe, spontane Zuneigung gerät zur Gewohnheit, Ablehnung weckt Interesse, Vertrautheit mündet in Begeisterung — oder andersherum und immer wieder aufs Neue.

Weder durch kurzfristige Öffnungszeiten, noch durch eine festgesetzte Ausstellungslaufzeit ist ein zeitlicher Rahmen für die Beziehung vorgegeben. Rund um die Uhr, in individuell und gesellschaftlich wechselnden Stimmungslagen, behauptet eine langfristig angelegte Kunst im öffentlichen Raum ihre Existenz. Sie bündelt die Energie, die für ihre Umsetzung von Nöten war. Und auch wenn diese Kraft nicht bis in alle Ewigkeit gespeichert werden kann, so überdauert sie doch das Tagesgeschehen. BP Ilias Abawi (IA), Leiter Kommunikation, Head of Communication, Emschergenossenschaft Judith Frey (JF), Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, PR Emscherkunstweg, Urbane Künste Ruhr Thomas Hensolt (TH), Team Regionale Kultur, Referat Kultur und Sport, Department for culture and sport, Regionalverband Ruhr Kai Kolodziej (KK), Geschäftsbereich Personal und Services Leiter Operative Facility- Services, Director of operative facility services, Emschergenossenschaft Marijke Lukowicz (ML), Kurator, Curator Emscherkunstweg, Urbane Künste Ruhr Britta Peters (BP), Künstlerische Leiterin, Artistic Director, Urbane Künste Ruhr www.emscherkunstweg.de

tributaries such as the Deininghauser Stream in CastropRauxel, the Borbecker Mühlenbach stream in Essen and the Läppkes Mühlenbach stream in Oberhausen, the Emscher bullhead has been successfully reintroduced after 150 years of absence. But this is not the only type of fish to return to the Emscher waterways: in Dortmund trout have already been sighted, while in other areas the Emschergenossenschaft has confirmed the presence, among others, of the ninespine and threespine stickleback. IA H — Herner Meer (Herne Sea) The collaborative work by sculptor Bogomir Ecker and composer Bülent Kullucu that juts out of the water between the lock and the yacht harbour makes a strange and fragile appearance. As if assembled by a child, yellow and silver building blocks are stacked to create two towers that are lit up at night by a sixteen-metre high street lamp. The wind catching in the apertures of the individual blocks produces tones and the sculpture begins to resonate. In reemrenreh — read backwards, the title states the work’s location at the “Herner Meer” — art and nature are brought into harmony; the object’s seeming instability and its “uncertain” presence in the water heighten the ephemeral quality of the moment. TH N — Neustadt Julius von Bismarck’s miniature landscape is planned on open land close to the Landschaftspark Duisburg-Nord. The installation will consist of toysized sculptures modelled on some twenty buildings that have been demolished in the Ruhr region since the turn of the 21st century. The extensive installation consists of various architectural topoi, from detached family homes to housing estate buildings, from swimming pools and schools to abandoned factories, and in terms of visual axes and fictitious street layouts has the look of an urban planning structure. Almost as an ex negativo mirror image of that which no longer exists, the installation brings together buildings from different regions and periods to form an urban entity of manageable proportions. The shift in scale lends new emphasis to the relationship between nature and architecture: prominent edifices awaken memories yet at the same time are overrun by shrubs and thickets. The overall ensemble is an invitation to stroll and dwell. It calls into question already executed urban planning decisions as evidence of ongoing social change — including the future possibility of adding further demolished buildings, analogous to real measures of urban transformation. BP R — Route The works of art along the Emscherkunstweg are strung together like a thread of pearls — one might say.

In reality, they stand quite far apart and are not as easy to visit in sequence as, say, in a sculpture park. Clearly, the Emscherkunstweg is best explored by bike! But finding the ideal route is not that simple over a distance of almost 100 kilometres. From Holzwickede to Oberhausen the Emscherkunstweg does not tally exactly with the already existing network of cycle paths. Located somewhat off the track are, for example, reemrenreh by the Herne Sea or the Monument for a Forgotten Future on Wild Island in Gelsenkirchen. On our website — soon online! — we propose various possible

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Emscherkunstweg

routes, available as downloads. And of course, you can trace these routes on a map — a printed version is also in the pipeline – and simply set off. Alternatively, you can use your smartphones for navigation, and later on post your snapshots from the trip on our website — as Emschergram! JF V — Vor Ort (On site) Setting up new works of art in public space is preceded by numerous on-site meetings with the artists and construction engineers: first of all, to a find suitable place for a work’s installation, then to take account of all the local conditions affecting planning and carrying out the work. The series of events Vor Ort reflects on this process. Through a combination of artists’ talks, performances or musical commentaries visitors have the chance to find new approaches to and engage with the artworks along the Emscherkunstweg. The series kicked off in 2020 with a conversation between the artist Silke Wagner and the historian Holger Heith from the Archiv für Soziale Bewegungen (Archive of Social Movements) at the Ruhr University Bochum. In early August 2020, Nicola Gördes and Stella Rossié activated the work Kunstpause by atelier le balto with a live performance. For more information on forthcoming events, see: www.emscherkunstweg.de. ML W — Walkway As a means of observing the progressive changes in the landscape caused by the Emscher Conversion project the Japanese artist Tadashi Kawamata created his work Walkway and Tower in 2010, situated in close proximity to the waterway junction of the Emscher river and the Rhine-Herne Canal (Düker) near Castrop-Rauxel. Via a walkway that zigzags up to higher ground the visitor reaches a wooden observation platform that offers an all-round panoramic view. Strolling along the walkway — which in the course of the project’s

overall artistic restoration in spring 2020 underwent a technical and aesthetic overhaul — the visitor can enjoy a variety of different perspectives of the work’s setting. This contemplative immersion in the landscape is often an integral element in Kawamata’s works in public space. By guiding visitors along a fixed route that entails ostensible detours he encourages them to consciously perceive their surroundings. ML Z — Zeit (Time) Permanent outdoor projects have a generous relationship with time. They patiently allow their artistic concept to be reassessed with every new encounter.

Incomprehension gives way to love, spontaneous inclination morphs into routine, dismissal prompts interest, familiarity shifts to enthusiasm — or the other way round, and in ever-changing variations. Neither short-term opening hours nor a fixed exhibition duration prescribes the time frame of the relationship. A long-term work in public space asserts its existence around the clock and in varying individual or social moods. It bundles the energy that was required for its making — but even if this power cannot be stored for all eternity it nonetheless outlives any day-today events. BP

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Manischa Eichwalder, Emilia Sliwinski

Einmal stehenbleiben, bitte! Leitgedanken der Irrlichter-Touren Wie überall im Kulturbereich lässt Corona auch das daily business von Kunstvermittlung einfrieren und reißt eine Lücke in eingespielte Abläufe. Rausgekickt aus der sich selbst nachjagenden Produktionslogik lassen sich jetzt neue Räume einrichten, um den Strudel der eigenen Praxis zu verlassen und nach dem Wesentlichen zu fragen: Was will Kunstvermittlung und was bedeutet das gemeinsame Erlebnis für die ästhetische Erfahrung künstlerischer Arbeiten?

Hinein Kunstvermittlung im öffentlichen Raum ist erst einmal nichts anderes als eine lose Verabredung über die gemeinsame Rezeption von Kunst. Treffpunkt, Zeit, die Art der Fortbewegung und im weitesten Sinne das Thema sind fix — alles Weitere entsteht durch die Beteiligten und ihre Vorstellungen, die durch unterschiedliche Erwartungen, Wünsche und Begehren geformt sind: Eine Studentin möchte sich auf ihre mündliche Prüfung zu einer Künstlerin in der Ausstellung vorbereiten und hofft auf hilfreiches Insiderwissen. Ein Vater plant mit seiner Tochter den nächsten Sonntagsausflug und freut sich auf eine entspannte, geführte Fahrradtour. Zwei Freundinnen haben letzte Woche im Radio einen Beitrag über die Ausstellung in ihrer Nachbarschaft gehört und wollen mal sehen, was sich in ihrer bekannten Umgebung so verändert hat. Eine Journalistin schreibt einen Artikel über die Ausstellung und möchte an der Tour teilnehmen, um sich die Zusammenhänge zu erschließen. Und die Kunstvermittlerin freut sich auf ihr Lieblingskunstwerk, ist allerdings auch ein bisschen nervös, wie sich wohl die Gruppe zusammenstellen und die Dynamik entwickeln

Stop There, Please!

The Basic Ideas of the Irrlichter-Tours As everywhere in the realm of art, corona has also brought the daily business of art mediation to a standstill and blown a hole through well-practised routines. Having been kicked out of the ever faster accelerating logic of production new contexts can now be explored in an endeavour to escape the vortex of one’s own practice and face up to the core issue: what is the aim of art mediation and what does this collective experience mean for the aesthetic perception of artistic works?

Entering Communicating art in public space is first of all nothing other than a loose agreement about the shared reception of art: meeting-point, appointed time, way of moving around and, in the broadest sense, theme are fixed. Everything else

wird. Außerdem fragt sie sich, ob sie gut genug darauf vorbereitet ist, als Botschafterin der Institution die Ausstellung auch diesmal den Erwartungen entsprechend erlebbar zu machen.

Da sich also all diese und wahrscheinlich noch viele weitere Perspektiven in einer Vermittlungssituation versammeln, braucht es eine Rahmung. Es braucht eine unabhängige Idee von Kunstvermittlung, die wie ein roter Faden die verschiedenen Interessen mit den Motiven der Ausstellung verwebt und eine gemeinsame Ausgangsbasis schafft.

Immer wieder Kunstvermittlung stellt kollektive Situationen her, temporäre Versammlungen um eine künstlerische Arbeit, schaltet also etwas zwischen Kunstwerk und Rezipient*in. Sie erweitert die situative Anordnung durch eine soziale und fügt damit der Rezeption die Ebene der Kommunikation hinzu.

Im öffentlichen Raum bedeutet Kunst eine Irritation, eine Unterbrechung von alltäglichen und zumeist funktionalen Zusammenhängen: Die künstlerische Arbeit ist ins Leben eingebettet, in eine ihr unbekannte Umgebung. Sie knüpft außerästhetische Beziehungen und schließt gesellschaftliche Realitäten miteinander kurz. Ein wesentlicher Teil dieser hybriden Realität des Kunstwerks im öffentlichen Raum sind die Rezipient*innen, die die Verbindungen vervielfältigen und durch neue Denkbewegungen und Assoziationen erweitern. Kunstvermittlung als Kommunikation über die gemeinsame Rezeption muss also eine Sensibilität für diese Multiperspektivität von künstlerischen Arbeiten entwickeln und kann genau daran ihre eigene Idee herausarbeiten.

depends on the participants and their ideas as Over and again shaped by their various expectations, wishes and Art mediation fosters collective situations and temporary gatherings around an artistic work, desires.

A student is preparing for an oral exam on thus inserting something between the work of the subject of an artist in the exhibition and art and the receiver. It supplements the situative hopes to acquire useful inside knowledge. A fa- set-up with a social component, thereby adding ther and daughter are planning their next Sunday a level of communication to the primary recepexcursion and looking forward to a relaxed, guid- tion. In public space art and art mediation serve ed bike tour. Two good friends heard a report on as an irritation, an interruption of everyday the radio last week about the exhibition in their and mostly functional relations. They embed neighbourhood and want to check out what has artistic practice into life, into an unfamiliar changed in their neck of the woods. A journalist context, foster non-aesthetic correspondences writing an article about the exhibition wants to and build bridges between separate social realitake part in the guided tour to learn more about ties. A significant element of the hybrid reality the background. And the art mediator is looking of a work of art in public space is constituted by forward to seeing her favourite work, but is also a the receivers who multiply the connections, exbit nervous about the group’s possible composi- tending them by means of new mental activities tion and how its dynamics will develop. In addi- and associations. Hence mediating art as comtion, she also wonders whether, once again, she is munication about the shared reception has to adequately prepared to ensure that as an ambas- develop a sensibility for this multiperspectivity sador of the institution she can fulfil people’s ex- towards artistic works and be able to generate its own idea precisely in relation to this. pectations of bringing the exhibition alive.

So since all these and probably many other perspectives are converged in a single mediating To and from constellation there needs to be a framework. Furthermore, sharing the same movements What is required is an independent notion of art within public space — especially on bikes — ushmediation which is capable, like a common ers completely new variables into the reception thread, of tying together the various interests context and activates a series of additional perwith the themes of the exhibition and thereby ceptions. The student is fascinated by the aescreating a common point of departure. thetic qualities of a gigantic waste disposal site

49 Hin und her Dazu fügt die gemeinsame Bewegung durch den öffentlichen Raum — insbesondere mit dem Fahrrad — ganz neue Variablen in den Rezeptionskontext ein und aktiviert eine Reihe an zusätzlichen Wahrnehmungen: Die Studentin ist fasziniert von der ästhetischen Qualität einer gigantischen Mülldeponie, die auf dem Weg zum nächsten Kunstwerk liegt. Eine der beiden Nachbarinnen bekommt an dieser Stelle Kopfschmerzen und biegt frühzeitig nach Hause ab.

Ihre Freundin hat einen Platten und ärgert sich kurz — freut sich dann aber, dass die Vermittlerin ihren Reifen flickt und nicht der einzige Mann in der Gruppe. Die Journalistin ist ganz begeistert vom Fahrradfahren, weil sie bei ihrer Arbeit schon lange nicht mehr so gut durchblutet gewesen ist.

Der Vater muss seine Tochter unterwegs mit Sonnencreme eincremen und ein zufälliger Ort entlang der Wegstrecke wird dadurch zum Pausenplatz. Kunstvermittlung schafft den Raum für kollektiven Austausch und stiftet temporäre Allianzen zwischen den Beteiligten. Und diese Eindrücke, Geschehnisse und Stimmungen haben auch Einfluss auf die Wahrnehmung der kommenden und vergangenen künstlerischen Arbeiten.

Dabei soll nicht die Erfahrungsebene gegen die künstlerische Arbeit ausgespielt werden. Es geht vielmehr darum, die Kontextsensibilität von Kunst selbst anzuerkennen und daran die eigenen Beobachtungen immer wieder rückzukoppeln. Kunstvermittlung liefert keine Erklärung über die (Kunst-)Welt, Rechtfertigungen oder Diskurse über Wertigkeit. Sie schafft einen Ort des Wissensaustauschs, einen Ort zur Konfrontation mit anderen Meinungen und zur Reflexion des eigenen Kunstverständnisses.

Hier funktioniert die eingeübte und bequeme Haltung des*der Konsument*in nicht, denn das Lernen und Entdecken der eigenen und der anderen Perspektive bedarf immer wieder der Positionierung im aktuellen Geflecht.

Das bedeutet nicht nur eine Abwendung vom blinden Vertrauen in die autorisierte und monopolisierte Sprecher*innenposition des*der Vermittler*in, sondern erfordert auch einiges an persönlicher Hingabe, nämlich die Bereitschaft sich auf ungewohnte Situationen einzulassen und den Mut zur Verletzlichkeit.

Herum Wenn also die eigene Idee von Kunstvermittlung maximale Offenheit für die Kontextsensibilität von Kunst bedeutet, dann fungiert die Vermittlung als eine Art Moderation, die genau diese Haltung als Rahmung für den gemeinsamen Austausch setzt. Sie aktiviert unterschiedliche Perspektiven auf die künstlerische Arbeit und navigiert zwischen verschiedenen Denkbewegungen, um die Situation immer wieder und anders für alle zu öffnen. Dabei bringt sie selbst an den entsprechenden Stellen ihr Wissen und ihre Überlegungen zu den künstlerischen Arbeiten und Orten ein.

Allerdings ist es am Ende vielleicht die Nachbarin, die mit der Studentin ihr ganzes Insiderwissen über den Aufbau der künstlerischen Arbeit teilt. Oder die Journalistin erzählt dem Mädchen, warum sie ihren Job so spannend findet. Das Mädchen wiederum versteht, was Kunst eigentlich soll und wünscht sich von ihrem Papa eine Kamera, während der der Vermittlerin einen Crashkurs zum Thema Verkehr und Umweltschutz gibt.

Kunstvermittlung bedeutet das Sammeln von Geschichten und den Austausch von Erzählungen. Sie bedeutet den Wechsel zwischen Blickwinkeln und Perspektiven.

Sie ist eine demokratische Übung im Umgang mit Lebensentwürfen. Und sie muss als soziales Experiment immer wieder neu ausprobiert werden.

Das Vermittlungsprogramm zum Ruhr Ding bietet Irrlichter-Touren an. Dies sind geführte Besuche der Ausstellung, bei denen zu Fuß oder mit dem Fahrrad verschiedene Kunststandorte und ihre Umgebung miteinander verbunden werden.

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Manischa Eichwalder, Emilia Sliwinski

we pass on the way to the next artwork. At this point one of the two neighbours gets a headache and prematurely departs to go home. Her friend finds she has a puncture and is briefly annoyed, but is soon cheered up by the fact the art mediator — and not the sole man in the group — repairs her tyre. The journalist is delighted to be riding a bike since her work is normally desk-bound and she has not felt so pumped up in a long time. At some point on the way the father has to put sunscreen on his daughter, so some random spot on their route becomes the place to take a break. Art communication creates space for collective dialogue and fosters temporary alliances among the participants. And all these impressions, incidents and moods influence how the next and the previous works of art are perceived.

But this is not somehow to play the level of experience off against the artistic work. Rather, it is about each person recognising the contextual sensitivity of art and constantly reassessing their own observations against this background.

Art mediation does not provide an explanation of the (art) world, justifications or discursive

positions about relative values. It generates a space for the exchange of knowledge, a space for confrontation with other opinions and for reflection upon one’s own conception of art. The well-rehearsed and comfortable approach of the art consumer will not function here since learning and discovering one’s own and other perspectives always requires continuous re-positioning within the current setting. This not only means departing from the accustomed blind trust in the authorised and monopolised spokesperson status of the mediator but also requires considerable personal commitment, specifically a willingness to embrace unfamiliar situations and the courage to accept one’s vulnerability.

time and again and in ever-varying ways, for everyone. In this, the mediator also contributes in the appropriate places her*his own knowledge and her*his own reflections on the artistic works and their locations. Nonetheless, in the end it is perhaps the one neighbour who shares all her inside knowledge concerning the work’s construction with the student. Or the journalist who tells the girl why she finds her job so interesting. In turn, the girl grasps what art is actually about and tells her dad she hopes he will give her a camera, while he is giving the art mediator a crash course on the topic of traffic and protecting the environment.

Art mediation is about collecting stories and exchanging experiences. It means switching beRoundabout tween different vantage points and perspectives.

So if the core idea of art mediation means maxi- It is a democratic exercise in how to deal with varmum openness to the contextual sensitivity of ious life plans. And it needs constantly to be reart, then mediation functions as a form of mod- hearsed as a social experiment. eration that establishes precisely this approach as the framework for collective exchange. It acti- The Ruhr Ding’s art mediation programme offers vates different perspectives regarding the artistic Irrlichter Tours. These are guided visits to the exwork and navigates between various movements hibition that link up various art sites and their of thought in order to open up the situation, surroundings either on foot or by bike.

Wandersalon.

Die Veranstaltungsreihe zum Ruhr Ding Posen, Gesten, Höchstleistungen. Die Ästhetik des Körpers im Sport Ob als Sinnbild für körperliche Leistung oder Träger politischer Botschaften, der Körper von Sportler*innen bietet eine Projektionsfläche für alle möglichen Bedeutungen. Gemeinsam mit dem Kunstwissenschaftler und BodybuildingExperten Dr. Jörg Scheller, dem Sportfotografen Sebastian Wells, der Künstlerin Toni Schmale sowie der Sport- und Kulturwissenschaftlerin Prof. Dr. Sandra Günter diskutieren wir bei diesem Wandersalon über das Verhältnis von Sport, Körper und Ästhetik.

Der Wandersalon ist eine Kooperation mit dem Skulpturenmuseum Glaskasten Marl und findet im Rahmen der Ausstellung Spielstraße München 1972 statt.

23. September 2020, 18:30 Scharounschule, Westfalenstr. 68a, 45770 Marl

Weitere Termine folgen bald auf www.urbanekuensteruhr.de.

Bitte besuchen Sie unsere Website vor Besuch der Veranstaltungen, um sich über die aktuellen Regelungen bezüglich der COVID-19-Schutzmaßnahmen zu informieren.

Postures, gestures, achieving records. The aesthetics of the body in sport Be it as a symbol of physical achievement or a vehicle for political ideas, athletes’ bodies are a projection surface for all kinds of meanings. Together with the art historian and bodybuilding expert Dr Jörg Scheller, the sports photographer Sebastian Wells, artist Toni Schmale as well as sports and cultural scientist Prof.

Dr. Sandra Günter we will be discussing the relationship between sport, body and aesthetics.

This Wandersalon is a collaboration with the Skulpturen­museum Glaskasten Marl and staged in conjunction with the exhibition Spielstrasse München 1972.

23 September 2020, 6.30pm Scharounschule, Westfalenstr. 68a, 45770 Marl

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Wandersalon

Baden gehen Anfang September lädt Urbane Künste Ruhr zu einem Open-Air-Wandersalon in das Schwimmbad des SV Blau-Weiß Bochum im Bochumer Wiesental ein. In den verschiedenen Lecture Performances der drei Berliner Künstlerinnen Kasia Fudakowski (*1985) und Jeewi Lee (*1987) geht es unter dem Titel Baden gehen ums Schwimmen und ums Scheitern — und um alle weiteren Assoziationen, welche die Redewendung hergibt. Alle drei Künstlerinnen sind beim Ruhr Ding: Klima mit künstlerischen Arbeiten am Silbersee II in Haltern vertreten — Projekte, die in diesem Jahr ebenfalls „baden gehen“ mussten und nun im Mai / Juni 2021 beim Ruhr Ding: Klima zu sehen sein werden.

9. September 2020, 19:00 Schwimmbad Wiesental des SV Blau-Weiß Bochum 1896 e.V. Am Wiesengrund 18, 44795 Bochum

Going under For early September, Urbane Künste Ruhr have invited visitors to attend an open-air Wandersalon event in the swimming pool of the sports club SV Blau-Weiss Bochum in Bochum’s Wiesental park.

Created by three Berlin artists, Kasia Fudakowski (*1985), Jeewi Lee (*1987) and Deborah Ligorio (*1972), the series of lecture performances entitled Baden gehen — Going under are about swimming and foundering — and all other associations related to the title’s figure of speech. All three artists are represented in Ruhr Ding: Climate with artistic works at Silbersee II lake in Haltern — projects which this year will likewise “go under” but are scheduled to be shown again at Ruhr Ding: Climate in May / June 2021.

9 September 2020, 7pm Schwimmbad Wiesental des SV Blau-Weiss Bochum 1896 e.V. Am Wiesengrund 18, 44795 Bochum

Further events will soon be listed on our website: www.urbanekuensteruhr.de.

Ana Alenso & Gäste Unsere Welt ist nach wie vor abhängig von natürlichen Ressourcen und wir nehmen in Kauf, dass ihr Abbau in vielen Ländern mit sozialer und wirtschaftlicher Ausbeutung einhergeht. Oft führt er sogar zu einem regelrechten „Ressourcenfluch“, welcher den Menschen an Orten mit einem hohen Rohstoffvorkommen eher Elend als Wohlstand bringt.

Die in Venezuela aufgewachsene Künstlerin Ana Alenso (*1982) nähert sich dem Thema über eine ästhetische Auseinandersetzung ebenso an, wie durch wissenschaftliche Studien oder den Austausch mit Umweltaktivist*innen. All dies verarbeitet sie in raumgreifenden Installationen, die überwiegend aus gefundenen Materialien entstehen. Teil ihrer aktuellen Arbeit zum Goldabbau im Amazonas-Gebiet, die im Rahmen des Ausstellungsprojekts Ruhr Ding: Klima im Mai / Juni 2021 im Ruhrgebiet zu sehen sein wird, ist außerdem die Veröffentlichung einer Publikation, die Ana Alenso gemeinsam mit ausgewählten Gästen bei der Dezember-Ausgabe des Wandersalons vorstellt.

3. Dezember 2020, 19:00 Neuland, Rottstr. 15, 44793 Bochum

Please check our website prior to visiting any events for information on the current regulations concerning COVID-19 safety measures.

Ana Alenso & guests Now as before, our world is dependent on natural resources, yet we are still willing to accept that in many countries their extraction entails social and economic exploitation. This often even leads to a downright “resource curse” that is more likely to afflict misery on people living in resource-rich places than to bring them affluence.

The artist Ana Alenso (*1982), who grew up in Venezuela, approaches this subject as much via aesthetic experiment as she does through scientific studies or exchange with other environmental activists. The results of all this are transformed into extensive installations that are assembled predominantly from found materials. In addition, one element of her most recent work concerned with gold mining in the Amazon region, which will be shown in the Ruhr region as part of the exhibition project Ruhr Ding: Climate in May / June 2021, consists in a publication due to be presented by Ana Alenso together with selected guests in the December edition of Wandersalon.

3 December 2020, 7pm Neuland, Rottstr. 15, 44793 Bochum

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Die Spielstraße München 1972.

Kunst als Kommentar zu den Olympischen Spielen

Vom 23. August bis 1. November 2020 zeigen wir gemeinsam mit dem Skulpturenmuseum Glaskasten Marl die Ausstellung Die Spielstraße München 1972. Kunst als Kommentar zu den Olympischen Spielen. Das Kooperationsprojekt zeigt bisher unveröffentlichtes Archivmaterial zu einem Projekt innerhalb des künstlerischen Programms zu den Olympischen Spielen 1972 in München und setzt dessen Konzept in Bezug zu aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen. Mit diversen Originalobjekten, Dokumenten und einer Filminstallation aus dem Essener Archiv von Anita und Werner Ruhnau gibt die Ausstellung im Skulpturenmuseum Glaskasten Marl einen Einblick in die Entwicklung und Umsetzung des partizipativ und performativ ausgerichteten Projekts im Kontext des sportlichen Großereignisses.

Im Einklang mit der olympischen Idee Coubertins verfolgte die Spielstraße als kulturelles und künstlerisches Angebot neben dem sportlichen Wettbewerb das Ziel, zur internationalen Verständigung beizutragen. Der Architekt Werner Ruhnau, bekannt geworden durch innovative Theaterbauten wie das 1959 in Gelsenkirchen eröffnete Musiktheater im Revier, konzipierte dazu als General­ intendant ein Programm, welches mithilfe einer variablen Bühnenarchitektur partizipativ und für ein internationales Publikum zugänglich gestaltet wurde. Anita Ruhnau

lud außerdem bildende Künstler*innen ein, vor Ort täglich Kunstwerke zu produzieren. Inhaltlich an den Olympischen Spielen und dem tagesaktuellen Geschehen orientiert und gleichzeitig von einem spielerischen Festcharakter geprägt, zeichnete sich die Spielstraße durch ein zukunftsweisendes und vielschichtiges Konzept aus. Aufgrund des Anschlags auf die israelische Mannschaft am 5. September 1972 wurde die Spielstraße jedoch abgebrochen und im Nachgang kaum rezipiert.

Die gemeinsam von Georg Elben (Direktor Skulpturenmuseum Glaskasten Marl), Britta Peters (Künstlerische Leitung Urbane Künste Ruhr) und Jana Kerima Stolzer (Künstlerin) kuratierte Ausstellung reflektiert die konzeptionellen sowie inhaltlichen Charakteristika der Spielstraße im Kontext aktueller Entwicklungen. Dabei spielen sowohl das ökologische als auch das gesellschaftliche Klima eine besondere Rolle. Während Konsumkritik, Partizipation und die Bedeutung von Versammlungen im öffentlichen Raum bereits 1972 zentrale Themen waren, lassen sie sich als Teil des Ausstellungsprojekts Ruhr Ding: Klima heute neu verorten. Die Spielstraße München 1972 wird als erstes Projekt zeitlich losgelöst vom Ruhr Ding: Klima eröffnet.

Ein Veranstaltungsprogramm sowie ein Ausstellungskatalog werden die vielseitigen Beziehungen von Sport, Kunst und Gesellschaft begleitend thematisieren.

The Spielstraße Munich 1972.

Art as commentary on the Olympic Games From 23 August until 1 November 2020, togeth- ta Peters (artistic director of Urbane Künste er with the Skulpturenmuseum Glaskasten Ruhr) and Jana Kerima Stolzer (artist), the exhiMarl we will be showing the exhibition Die bition reflects on the conceptual and thematic Spielstraße München 1972. Kunst als Kommen- dimensions of the Spielstraße in the context of tar zu den Olympischen Spielen. This collabora- current developments. Here a prominent role is tive exhibition will present previously unpub- played by both the ecological and the social clilished archive material related to a project mate. While the critique of consumerist culture, featured as part of the artistic programme that participation and the importance of human accompanied the 1972 Olympic Games in Mu- gatherings in public space were already key issues nich and examines its concept in the context of back in 1972, these themes can now be redefined current social developments. Drawing on di- and resituated within the exhibition project Ruhr verse original objects, documents and a film in- Ding: Climate. The Spielstraße München 1972 stallation from Anita and Werner Ruhnau’s has been detached from the Ruhr Ding: Climate’s Essen archive, the exhibition in the Skulpturen- time schedule and will be the project’s first exhimuseum Glaskasten Marl offers insight into the bition to open. An accompanying programme of development and realisation of the project’s events and an exhibition catalogue will explore participatory and performative format in the further thematic dimensions of the multi-faceted relations between sport, art and society. context of that year’s major sports event.

In tune with Coubertin’s original Olympic idea, the Spielstraße’s cultural and artistic programme staged parallel to the sports competition was shaped by the idea of enhancing international understanding. The architect Werner Ruhnau, known for his innovative theatre buildings such as the Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen that opened in 1959, was director of the Spielstraße. Using adaptable stage architecture he conceived a participatory programme designed to be accessible to an international audience. In addition, Anita Ruhnau was responsible for inviting artists to produce in situ artworks on a daily basis. Thematically inspired by the Olympic Games and day-to-day events, while also infused with the ludic spirit of a celebration, the Spielstraße was defined by its future-oriented and multi-layered concept. However, following the massacre of the Israeli Olympic team on 5 September 1972, the Spielstraße was abandoned; thereafter it virtually vanished from view.

Jointly curated by Georg Elben (director of the Skulpturenmuseum Glaskasten Marl), Brit-

Ausstellungslaufzeit: 23. August bis 1. November 2020 (Di — Fr 11 — 17 Uhr, Sa und So 11 — 18 Uhr) Veranstaltungen im Rahmen der Ausstellung

Posen, Gesten Höchstleistungen. Die Ästhetik des Körpers im Sport. [siehe Seite 50]

Sport als Kunst im Olympiastadion Vortrag und Diskussionsrunde mit der Kuratorin Joanna Warsza (Public Art Munich) Datum 18. Oktober 2020, 15:00 Uhr Ort Sitzungssaal des Rathaus Marl Creiler Platz 1 45768 Marl

Olympia und das Ruhrgebiet Vortrag zur Finissage von Dr. habil. Hans Christoph Seidel, Geschäftsführer des Instituts für soziale Bewegungen an der Ruhr Universität Bochum und der Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets Datum Ort

1. November 2020, 15:00 Uhr Sitzungssaal des Rathaus Marl Creiler Platz 1 45768 Marl

Sowohl für den Ausstellungsbetrieb als auch für die Veranstaltungen gelten die Abstands- und Hygienevorschriften des Landes NRW. Bitte informieren Sie sich auf der Webseite des Skulpturenmuseums Glaskasten Marl vorab über die aktuellen Regelungen: www.skulpturenmuseum-glaskasten-marl.de Exhibition duration: 23 August until 1 November 2020 Tues—Fr, 11am—5pm Sat / Sun, 11am—6pm Collateral Events

Postures, Gestures, Achieving Records.

The Aesthetics of the Body in Sport [see page 50]

Sports as Art at Munich’s Olympiastadium Lecture and discussion with curator Joanna Warsza (Public Art Munich) Date Location

18. Oktober 2020, 15:00 Uhr Meeting room at the town hall Marl, Creiler Platz 1 45768 Marl

Olympia and the Ruhr Area Lecture and finissage of the exhibition with Dr. habil. Hans Christoph Seidel, Managing Director of the Institut für soziale Bewegungen at the Ruhr Univercity Bochum and at Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets Date Location

1. November 2020, 15:00 Uhr Meeting room at the town hall Marl, Creiler Platz 1 45768 Marl

For both the exhibition and all events the COVID-19 safety measures of the Land of North Rhine-Westphalia (NRW) apply.

Please check the website www.skulpturenmuseum-glaskasten-marl.de for information prior to visiting.

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Barbara Köhler

Auf triftenden Gründen

Schollen Geschiebe zerrissenen Kontinenten auf gut Glück bestehen auf dem Spielbein auf dem Sprunggelenk auf den Fersen bleiben aufs Ganze gehen auf verlorenem Boden gewinnen aufgegebene Standpunkte teilen: die Brüche eröffnen Unendlichkeit zwischen Eins und Null beginnt der andere Zustand auf dem Wasser kannst du wandeln dem gefrorenen Meer bis zum unerreichbaren Horizont von Scholle zu Scholle ein springender Punkt.

Barbara Köhler, Niemands Frau. Gesänge. © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2007.

Alle Rechte bei und vorbehalten durch Suhrkamp Verlag Berlin.

Impressum

Gesellschafter und öffentliche Förderer

Urbane Künste Ruhr ist eine Programm­säule der Kultur Ruhr GmbH Künstlerische Leitung Britta Peters Kuratorische Assistenz Christina Danick Projektleitung Carola Kemme Projektmanagement Anna Dobrucki, Santiago Gomez, Daniel Klemm

Die Projekte am Silbersee II werden gefördert von

Produktionsassistenz Lex Rütten Kunstvermittlung Manischa Eichwalder, Emilia Sliwinski, Tatjana von der Beek Marketing Leonie Böhmer

Das Vermittlungsprogramm der Irrlichter-Touren wird unterstützt durch

Presse Janne Tüffers Emscherkunstweg Judith Frey, Marijke Lukowicz, Elgin Wolf Kultur Ruhr GmbH Gerard-Mortier Platz 1 44793 Bochum info@urbanekuensteruhr.de www.urbanekuensteruhr.de Geschäftsführung Dr. Stefanie Carp, Dr. Vera Battis-Reese Mitarbeiterinnen Stefanie Kusenberg, Margo Zālīte Justitiariat Vanessa San Román Domínguez, Annika Trockel Presse Verena Bierl Marketing Franca Lohmann, Janna Dittmeyer, Lisa Ernst, Fabio Gorchs, Kai Wycisk Grafik Moritz Kappen, Sophie Schäfer Ticketing Ulrike Graf, Anja Nole, Denise Oppenberg Technik Benjamin zur Heide, Mirko Bartoš, Marie Gäthke, Georg Kolacki, Martin Mainka, Anne Prietzsch, Julia Reimann, Hannes Siaminos, Saskia Tappe, Erik Trupin, Holger Vollmert, Anke Wolter Verwaltung Uwe Peters, Tanja Alstede, Heidi Böhmer, Henryk Jan Ciuraj, Fatima Derhai-Unger, Dominika Hourtz, Renate Ingenwerth, Alexandra Kühntoph, FranzJosef Lortz, Felicia Moldenhauer, Natalja Riffel, Annika Rötzel, Julia Schmidt, Michael Turrek Auszubildende Elisabeth Hölscheidt, Karina Kopocz, Lina Nole, Jakob Spitzlay, Annika Stolz

Redaktion Leonie Böhmer, Christina Danick, Britta Peters, Janne Tüffers, Tatjana von der Beek Autor*innen Anja Breljak, Till Briegleb, Annemarie Bucher, Christina Danick, Etienne Dietzel, Manischa Eichwalder, Judith Frey, Monika Gintersdorfer, Susanne Götze, Thomas Hensolt, Barbara Köhler, Kai Kolodziej, Jeewi Lee, Marijke Lukowicz, Sophia Obermeyer, Britta Peters, Sibylle Peters, Nora Sdun, Boris Sieverts, Emilia Sliwinski, Eske Schlüters, Jorinde Schulz, Janne Tüffers, Ellen Wagner, Raul Walch, Shirin Weigelt Übersetzung Matthew Partridge Bildnachweise Alle Bilder © Julian Röder, außer: S. 44 – 47 Henning Rogge S. 50 / 51 Daniel Sadrowski S. 52 / 52 Archiv Ruhnau Art Direktion und Gestaltung Lamm & Kirch Schrift Lamm & Kirch mit Dinamo Typefoundry und Elias Hanzer Druck und Verarbeitung D+L Printpartner GmbH Auflage 8.000 Erste Auflage 2020 © die Autor­*innen und Urbane Künste Ruhr ISSN 2627– 4949 Gedruckt auf Papier aus nachhaltiger Forstwirtschaft.

2020

www.urbanekuensteruhr.de