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Mit 60 war Charlotte Wessels noch gertenschlank und beweglich wie zu jungen Zeiten. Ihre beste Freundin, eine Varieté-Organisatorin in Paris überredete sie vor nunmehr 30 Jahren zu einem Comeback als Tänzerin. In perfektem französisch beschreibt sie, wie sie bei diesen Ü-50-Veranstaltungen sich bei einem Schleiertanz als Mannequin-de-Paris in eine Stoffbahn hüllte, wodurch bis zum Ende des Tanzes ein Kleid entstand. Damals hatte „Charlotte Opal“, wie sie sich als Künstlerin nannte auch noch ihr kleines Studio auf dem Montmartre, dem höchsten Hügel von Paris. Alle sechs Monate genoss sie dort längere Aufenthalte, um mit ihren Freunden aus der Vergangenheit Zeit verbringen zu können. Charlotte Wessels kann auf ein sehr abwechslungsreiches Leben zurückblicken. Als Charlotte Oppel geboren besuchte sie in München die Pestalozzi-Schule und anschließend die Handelsschule. Gegen Ende des 2. Weltkrieges musste sie Gasmasken zusammenbauen. Sie hatte Glück und konnte nach Kriegsende die Mittlere Reife absolvieren und dann neben ihrer Tätigkeit im Büro Tanzunterricht nehmen. Der Tanz war ihre große Leidenschaft und sollte auch weitgehend ihr Leben bestimmen. Charlotte Wessels erinnerte sich daran, dass die Bevölkerung nach dem Krieg hungrig nach Unterhaltung war, das Theater gewann wieder an Bedeutung und nach der Währungsreform 1948 merkten die Menschen, dass das Geld wieder etwas wert war und sie wollten sich etwas leisten. Im Staatstheater „Am Brunnenhof“ in der Münchner Residenz konnte sie als „Elevin“ einsteigen und im Zirkus Krone erhielt sie ihren ersten richtigen Arbeitsplatz im Ballett. Zwischendurch war sie auch als Voltige bei einer Pferdenummer tätig. Eine weitere Stufe in der Künstlerkarriere ergab sich mit einen Engagement bei „Holiday on Ice“. Von der Schwester hatte sich Charlotte Wessels Schlittschuhe geliehen und dann ging es ab auf´s Eis, wo sie leider nach kurzer Zeit einen Beinbruch erlitt, der sie für einen

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Charlotte Wessels

Monat außer Gefecht setzte. Glücklicherweise war sie zu diesem Zeitpunkt im Ballett schon so beliebt, dass man sie trotz des gebrochenen Beines mit auf Tour nahm. Es ging kreuz und quer durch Deutschland. Die Eisrevue tourte mit rund 100 Personen schließlich auch nach Brasilien. Der Schreck war bei der Künstlerin groß, als sie erfuhr, dass die Firma Pleite ging und sie praktisch in São Paulo festsaß. Ideenreich und mutig, wie die Künstlerin war, nutzte sie diesen Schicksalsschlag und baute sich in Brasilien eine neue Karriere auf, indem sie damit begann, einen Schlangentanz mit einer Python aufzuführen. Nebenbei arbeitete sie noch bei ei-

nem aus Wien stammenden Inhaber eines Reisebüros, um sich die Schifffahrt zurück nach Europa zu verdienen. Es dauerte Monate, bis wieder ein Schiff ging, erinnert sich Charlotte Wessels. 1956 war sie mit ihrer Schlange „Cherie“ zurück in München und tourte durch Varietés und Nachtclubs, bis sie den Manager Marco Baben, mit Sitz in Paris beauftragte. Die Auftritte gingen von da ab kreuz und quer durch Europa und Charlotte Opal konnte für damalige Verhältnisse äußerst gut verdienen. Die Tagesgage betrug oftmals 180,00 DM, in guten Monaten brachte sie es auf 5.000,00 DM. In Obersendling erwarb sie Ende der 50er für sich und ihre Mutter ein Reihenhaus, ihre „Residenz“, welche für sie zum Stützpunkt wurde. In insgesamt vier Spielfilmen, davon zwei in Istanbul spielte sie u.a. in einer Nebenrolle eine Spionin.

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