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«Die innere Balance ist das Wichtigste»

Mathias Flückiger dominiert den Mountainbike-Gesamtweltcup, ist Vize-Weltmeister, Olympia-Silbermedaillengewinner und Schweizermeister. Und dies alles in einem einzigen Jahr.

Elisha Nicolas Schuetz

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Mathias Flückiger, Sie haben an der WM haarscharf Gold verpasst und wurden in der letzten Abfahrt von Nino Schurters Überholmanöver düpiert. Sie waren ziemlich sauer auf Ihren Teamkollegen, oder? Ja, ich war «hässig»; und auch enttäuscht. Schliesslich sind wir – in Anführungs- und Schlusszeichen – Teamkollegen und fahren im selben Trikot an den Meisterschaften. Im Fussball spielt man ja auch für sein Land, und ich trug während des Rennens den Löwenanteil dazu bei, dass die Schweiz einen Doppelsieg feiern konnte. Beim Sprint vor der letzten Abfahrt hatte ich eigentlich bereits Gold gewonnen. Ich war der Ansicht, dass wir einen physischen Kampf austragen – nicht einen unfairen mit solchen Überholmanövern. Hätte es sich um einen anderen Fahrer aus einem anderen Land gehandelt, hätte mich ein solches Manöver auch nicht überrascht – und ich wäre darauf vorbereitet gewesen. Aber dies hatte ich von Nino nicht erwartet, und deshalb war ich auch enttäuscht.

Können Sie sich dennoch über die hervorragende Leistung freuen, oder überwiegt der Frust, wie auch in Tokyo knapp Gold verpasst zu haben? Nun, in Tokyo war es nicht dasselbe, schliesslich ist mir ein Fahrfehler unterlaufen und ich bin gestürzt. So musste ich Tom Pidcock ziehen lassen und konnte ihn nicht mehr einholen. Dennoch war ich zufrieden mit meiner Leistung. Auch anschliessend an der WM – wenngleich Silber durch das Vorgefallene etwas bitterer ist. Aber ich werde daraus lernen und künftig eine andere Denkweise im Rennen haben.

Sie haben mit beiden Medaillen den Schritt in die absolute Weltspitze endgültig bestätigt. Wie gross ist die Genugtuung? Es war ja eigentlich ein ständiger Aufwärtstrend, insbesondere die letzten beiden Jahre verliefen sehr erfolgreich. Dort anzukommen, wo du weisst, dass du eigentlich hingehörst, ist schon eine persönliche Bestätigung.

Auch weil es Zweifler gab? Als Junior hörte ich stets, was für ein Talent ich sei und dass ich einmal Weltcuprennen gewinnen würde. Je älter ich wurde, desto mehr flachten diese Zusprüche ab – ich war zwar immer gut, habe einige Male auf dem Podest gestanden, aber nie Rennen gewonnen. Da fragte man sich vielleicht schon, ob ich tatsächlich der Siegertyp bin, den man in mir sah. Und nun konnte ich dies endlich bestätigen und diese Frage beantworten.

Wie haben Sie sich während der Pandemie auf Olympia vorbereitet? Wettkämpfe fielen eigentlich nur 2020 weg. Die Schweiz war eines der ersten Länder, die wieder Rennen durchführen konnte, und im Herbst gab es zwei Weltcuprennen. Es war zwar eher

Flückiger gehört zur absoluten Weltspitze im MountainbikeSport.

© MARTIN STEFFEN

schwierig, aber dennoch war diese Corona-Zeit für mich persönlich sehr wertvoll. Ich hatte die Gelegenheit mich selber zu entwickeln, habe sehr viel trainiert, aber auch die Zeit genutzt, um zu reflektieren und über mein Leben und meinen Weg nachzudenken. Mir tat diese Zeit gut und ich hatte dadurch viel Energie, was sich 2021 auch auf die Vorbereitungsphase auswirkte.

Und wie bereiten Sie sich vor einem grossen Rennen mental vor? Die mentale Vorbereitung geschieht fast automatisch. Der wichtigste Aspekt für mentale Stärke ist die innere Balance – ein Chaos im Privatleben zu haben und sich perfekt auf einen Event vorzubereiten geht schlicht nicht. Schlussendlich entscheidet das Mentale über Sieg oder Niederlage.

«Dort anzukommen, wo du weisst, dass du hingehörst, ist eine persönliche Bestätigung»

Auch die Ernährung ist essentiell für einen Spitzensportler. Welche Tipps würden Sie einem HobbySportler geben? Das Wichtigste ist sicherlich eine ausgewogene und gesunde Ernährung – aber ohne Zwang. Ich halte nicht viel von Diäten. Worauf ich hingegen achte, ist der Fleischkonsum - ich bin zwar kein Vegetarier, achte aber darauf, meinen Fleischkonsum gering zu halten – und wenn, dann nur mal zum Genuss. Auf das eigene Körpergefühl zu hören, ist etwas vom Wichtigsten.

Sie waren bereits 2006 Nachwuchstalent des Jahres – wie begann die Liebe zum Biken? Mein erstes Rennen fuhr ich 1997. Allerdings begeisterte mich das wettkampfmässige Velofahren als Kind nicht – ich hatte einen relativ langen Schulweg, daher war es mehr Mittel zum Zweck. Mein Bruder hingegen war ein fanatischer Biker, und meine gesamte Familie sehr sportlich – vor allem Outdoor. Und dies war wohl der Auslöser; nebst dem, dass ich ein Wettkampftyp bin.

PERSÖNLICH

Mathias Flückiger wurde am 27. September 1988 in Leimiswil (BE) geboren. Im Radsport ist er seit 2007 aktiv, seit 2010 ist er professioneller Mountainbiker. Sein älterer Bruder Lukas ist ebenfalls professioneller Mountainbiker – und zusammen bilden sie die «Flückinger Brothers». In der U23 schaffte Mathias im Jahr 2010 das Triple aus Welt-, Europa- und Landesmeisterschaften im Cross Country. 2018 gewann er sein erstes Weltcup-Rennen im XCO, 2019 folgten ein weiterer Sieg und je zwei zweite und dritte Plätze. In den Jahren 2018 und 2019 wurde er jeweils Vizeweltmeister im XCO. 2021 ist sein Jahr: Im Juni wurde er Schweizermeister, bei dem Olympischen Sommerspielen in Tokyo gewann Flückiger die Silbermedaille, ebenso an der WM im August 2021. Seit 2018 startet er für das Thömus RN Racing Team.

MATHIASFLUECKIGER.CH

Aber weshalb sagte Ihnen das Velofahren als Kind nichts? Ich war lange kleiner und schmächtiger als andere Kinder. Wenn du mit 13 Jahren aussiehst wie 10, dann ergeben sich hier halt grosse Differenzen. Dies war vermutlich der Grund, weshalb ich zwar am Wettkampf an sich meine Freude hatte, nicht aber beim Biken – die Chancengleichheit war nicht da. Je älter ich wurde, desto mehr glich sich das aus. Und als Wettkampftyp willst du ja nicht permanent aufs Dach kriegen und verlieren (lacht). Dank der körperlichen Entwicklung hatte ich dann mehr Erfolg, also machte das wettkampfmässige Velofahren auch immer mehr Spass.

Wie ist eigentlich das Verhältnis zu Ihrem Bruder Lukas? Er fuhr ja bereits vor Ihnen Wettkämpfe, ist ProfiSportler – und seit einigen Jahren nun in Ihrem Schatten. Eine berechtigte Frage – das war sicher nicht ganz einfach für ihn. Er ist beinahe fünf Jahre älter als ich, zog mich quasi immer mit und war auch wettkampfmässig stärker. Mit 22, 23 Jahren egalisierten wir uns dann im Wettkampf. Doch die Wahrnehmung des «kleineren Bruders» blieb noch lange, auch acht, neun Jahre später.

Auch nicht eine ganz einfache Situation für ihn. Allenfalls ist bei allem Stolz auch eine Spur Wehmut mit dabei, im Sinne von «Hmm, weshalb habe ich dies nicht erreicht?». Schliesslich war und ist er ein Riesentalent und hatte die Begeisterung für diesen Sport in die Familie getragen. Er lebte dies als Kind schon voll – ganz im Gegensatz zu mir. Unterschwellig hat dies unsere Beziehung vermutlich schon etwas beeinflusst.

Die Schweiz hat ja reichlich Möglichkeiten zum Biken. Welche Region ist Ihr Favorit? Tatsächlich gibt es zahlreiche Variationen. Teilweise sind die Gebiete leider noch nicht wirklich ausgebaut – im Sinne von legal befahrbar. Im Mittelland, wo ich wohne, gibt es diesbezüglich noch immer Konflikte…

Konflikte in Bezug auf Wanderer? Nicht unbedingt. Eher, dass es gesetzlich schlicht nicht möglich ist, einen Trail oder Bikepark zu bauen, obwohl eine immense Nachfrage hierzu besteht. Das ist ein Problem. Aber im Engadin, in Disentis, sowie im Wallis oder Jura wird enorm viel gemacht – diverse natürliche Trails, was ja einen Grossteil der Bike-Faszination ausmacht: Enorme Distanzen und Höhenmeter, die mit einem Fahrzeug gar nicht erreichbar wäre, können an einem einzigen Tag bewältigt werden. Die Schweiz ist definitiv prädestiniert fürs Biken. Jede Region hat ihren eigenen Charakter.

Manchmal wird’s dreckig: Flückiger in Siegerpose.

© ARMIN KÜSTENBRÜCK

Sie sind Berner – das Berner Oberland haben Sie nicht erwähnt. Absichtlich nicht. Das Berner Oberland ist im Bezug aufs Biken zurückgeblieben.

…zurückgeblieben? Ja. Erstens stösst man aufgrund von Verboten überall auf Widerstand. Zweitens ist das Angebot nicht auf Biker ausgerichtet. Ein Beispiel: Auf einem Wanderweg zu biken ist ja grundsätzlich erlaubt. Doch im Berner Oberland sind auf solchen Wegen stets Treppen eingebaut, sobald es ein wenig steiler wird – das ist extrem mühsam. Interessanterweise ist gleich nebenan, auf der Walliser Seite, der Wanderweg so konzipiert, dass ihn auch Biker problemlos nutzen können. Das Berner Oberland hingegen ist nicht ideal zum Biken und hat enorm Aufholbedarf. Ich habe dies auch schon mehrfach erwähnt, aber leider wurde es bis heute als nicht nötig erachtet, hier etwas zu ändern.

Weshalb? Biker werden teilweise noch als «störend» wahrgenommen und werden nicht unbedingt willkommen geheissen.

Eigentlich sollte eine KoExistenz herrschen – der eine schliesst den anderen ja nicht aus. Genau! Schaut man nach Disentis oder auf die Lenzerheide, so ist offensichtlich, dass die Bündner dieses Potenzial erkannt und viel in die Biker investiert haben. Sie haben realisiert, dass der Winter zwar interessant ist, aber je länger je mehr an Bedeutung verliert – nur schon aufgrund der klimabedingten Verhältnisse. Gerade jetzt, während der Pandemie, wurden so viele Bikes verkauft wie noch nie. Da steckt ein enormes touristisches Potenzial dahinter.

…sofern eine Infrastruktur für die Biker besteht. Allerdings. Vor 20, 30 Jahren war das Biken noch ein Nischenphänomen und die Biker selber wurden oft als «Wilde, die alles kaputtmachen», wahrgenommen. Wäre dies der Fall, sind wir nun alles Wilde – denn in jedem Keller steht mittlerweile ein Bike, über alle Generationen hinweg. Es gibt leider Regionen wie das Berner Oberland die sich gegen diese Entwicklung streuben; auch von politischer Seite des Kantons her. Wie kann es sein, dass man sich, notabene in einer touristischen Krise, gegen eine solche Nachfrage der Gesellschaft wehrt?

Gute Frage. Zudem ist das touristische Potenzial riesig. Ja, und der CO2-Fussabdruck eines Bikers erst noch klein, denn die Berge liegen quasi vor der Haustüre. Man muss nicht in ein Flugzeug steigen. Und man muss auch nichts zubetonieren, um diesen Tourismus anzukurbeln, denn die Bergbahnen sind bereits vorhanden. Dies haben gewisse Regionen noch nicht realisiert

«Das Berner Oberland ist im Bezug aufs Biken zurückgeblieben.»

– aber bei manchen ist der Zug wohl schon abgefahren. So steigt halt das gesamte Mittelland in den Zug und fährt Bike im Wallis…

Die Schweiz hatte derweil im Mountainbiken stets Athleten an der Weltspitze. Wieso schafft dies ein so kleines Land? Die Topographie erlaubt das Biken natürlich fast überall in der Schweiz. Ein weiterer Grund ist die Nachwuchsförderung. Drittens die sportlichen Vorbilder – Ralf Näf, Thomas Frischknecht, Christoph Salzer, Nino Schurter, und nun auch ich.

Darf man sich darauf freuen, dass Sie auch an den Olympischen Spielen 2024 in Paris an den Start gehen werden? Dann sind Sie 36. Zuerst muss ich mich qualifizieren. Aber ja – seit Tokyo habe ich noch eine Rechnung offen (schmunzelt).

Könnten Sie sich vom Radsportweltverband UCI etwas wünschen, was würde das sein? Dass Meinungen von Athleten mehr respektiert werden und weniger die Bedürfnisse der Verbände zählen. Dass man zudem nicht nur zuhört, sondern auch handelt. Aber dieses Thema ist ja bei allen Sportverbänden dasselbe – es geht um Macht.

2021 trat Flückiger aus dem Schatten von Nino Schurter – wurde aber von ihm an der WM in letzter Sekunde überholt.

© ARMIN KÜSTENBRÜCK