DAS TANGIBILITÄTSTHEOREM DER ÖFFENTLICHKEIT PROTEST UND MASSENMEDIEN ALS WÄCHTER DER DEMOKRATIE Dr. Christoph J. Virgl Alles, was uns an gesellschaftlichen Konfliktlagen entgegentritt, wird im Wesentlichen durch eine massenmedial gestützte Öffentlichkeit vermittelt. Konflikte tangieren in einer besonderen Weise, da ihr jeweiliger Ausgang meist ungewiss ist. So werden beispielsweise Themen von Protestierenden zu Themen der Massenmedien und über diesen Weg in die Arenen der öffentlichen Diskurse eingeschleust und bestenfalls dort verhandelt. Diese wichtigen Ad-hoc-Koalitionen sind nicht nur zu zentralen Überlebensbedingungen von Protestbewegungen in der modernen Gesellschaft geworden, sondern lassen das lebendig werden, was wir meinen, wenn wir von Demokratie sprechen. Denken wir über die Wirkmächtigkeit von Massenmedien nach, dann scheint der von Elisabeth Noelle-Neumann geprägte Begriff der „sozialen Haut“ eine sehr treffende Metapher anzubieten (vgl. Noelle-Neumann 1980). Diese „Hautschicht“ war aber nicht immer da. Vielmehr ist sie als eine koevolutionäre Errungenschaft von Demokratiewerdungsprozessen zu interpretieren. In dieser Lesart können Massenmedien als ein zentraler Bestandteil von demokratischen Entwicklungen verstanden werden (vgl. Habermas 1983). Obwohl diese Erkenntnis weitreichende Plausibilität besitzt, bleiben am Beginn des 21. Jahrhunderts wichtige Fragen offen. Eine dieser Fragen führt uns in das weite Gelände der Konflikte und wie sie in der Gesellschaft sichtbar gemacht und verhandelt werden. Hier – und das ist hier die These – kommt den Massenmedien und den „Konfliktlieferanten“ in der Form des kollektiven Protests eine wichtige Rolle zu. Diese unterschiedlichen Öffentlichkeiten gemeinsam zu denken, ist eine besondere Herausforderung für das Verständnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die großen Zäsuren und ihre Medien Demokratisierungsprozesse sind ohne vorgelagerte Konflikte kaum denkbar. Die Geschichtsbücher sind voll damit. Manchmal waren die Initialzünder nur kleine Protestgruppen, die bis zu großen sozialen Bewegungen angeschwollen sind und öffentliche Räume durch ihre massenhafte Erscheinung in Zeiten des Umbruches verwandelten. Der Bewegungsforscher Joachim Raschke hielt in seiner Beschreibung sozialer Bewegungen daher treffend fest, dass es sich dabei um „Produkte und Produzenten der Moderne“ handelte (Raschke 1985, S. 11). Denken wir an die Französische Revolution, die Umwälzungen des Jahres 1848, die Arbeiterbewegung, die internationalen Studentenproteste rund um das turbulente Jahr 1968, Frauen- und Umweltbewegungen, die Kundgebungen und Demonstrationen vor dem Fall des Eisernen Vorhangs – bis hinauf zu dem, was wir seit Beginn 2011 als „arabischer Frühling“ in Ägypten, Syrien, Jemen, Libyen etc. erleben. Diese Zäsuren waren zeitgleich durch eine sukzessive Etablierung von Öffentlichkeitsstrukturen geprägt, die letztlich in das mündeten, was wir heute eher unklar mit „Informationsgesellschaft“, „Mediokratie bzw. Telekratie“ oder „Cyberculture“ begrifflich zu fixieren zu versuchen. Aus demokratietheoretischer Sicht lässt sich daher festhalten, dass die Transformation von einer hierarchischen zu einer heterarchischen Ordnung eine politische Öffentlichkeit expandierte, die – mit Hans-Ulrich Wehler gesprochen – eine „epochaltypische Kategorie“ einleitete (Wehler 1987, S. 540). Lange Strecken der Geschichte dominierten ausschließlich Printmedien (Zeitungen, Zeitschriften, Bücher, Flugschriften etc.) die Informationswelten eines aufstrebenden Massenpublikums. Mit den Radioempfangsgeräten eroberte nicht nur der Hörfunk die Wohnzimmer breiter Gesellschaftsschichten, sondern wurde im Nationalsozialismus als das zentrale Propagandamedium eingesetzt. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts gesellte sich dann das Fernsehen als das Leitmedium der Öffentlichkeit hinzu.
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