Theater der Zeit 05/2020 – Theater in Zeiten von Corona

Page 57

magazin

/ TdZ  Mai 2020  /

Dietze aus Koblenz und den Trierer Theaterchef Manfred Langner nun dazu bewogen, eigene Theatertage zu veranstalten? „Der

GESCHICHTEN VOM HERRN H. Let’s talk about Klasse, baby!

­Anstoß kam aus der Politik“, sagt Häberli mit Blick auf den Else-Lasker-Schüler-Preis, der am ersten Festivaltag an die Autorin Felicia

Alle reden übers Wetter. Wir nicht. So hieß

nismus nennt man neuerdings Klassismus

Zeller verliehen wurde. „Für diesen wichtigen

es früher einmal. Reden wir also nicht übers

und dafür sensibel, ohne zugleich paterna-

Autor*innen-Förderpreis haben wir einen

Wetter und auch nicht über Viren, sondern

listisch zu sein, ist das Mindeste. Aber Sie

­passenden Rahmen gesucht“, sagte Minister-

über Klasse. Es ist der simple und beschä-

kennen mich. Ich setze mich sehr für die

präsidentin Malu Dreyer, die den Preis an

mende Fakt, dass wenige Menschen welt-

Vielfalt ein, insbesondere die der Meinun-

­Zeller sowie die Stückpreise an Caren Jeß,

weit über so viel Kapital verfügen, dass sie

gen, weswegen ich mich stets bemühe, eine

Leon Ospald und Magdalena Schrefel selbst

nicht nur erheblichen Einfluss auf politi-

abweichende zu vertreten. So auch hier.

übergab. Das traf sich mit lang gehegten

sche Geschicke haben, sondern zugleich

Denn der wünschenswerte Kampf gegen

­Plänen der Intendanten.

Millionen

mittels

Klassismus geht zugleich an der

Nach dem Erfolg der Theatertage freut

Lohnarbeit zur Vermehrung ihres

Sache vorbei. Wie Mark Fisher

sich der Koblenzer Intendant Markus Dietze

Kapitals zwingen. Als ich die

schrieb: An der Klasse zeigt sich

auf die zweite Auflage im März 2021, die am

Schule verließ, kam die Finanz-

die Unmöglichkeit einer libera-

dortigen Stadttheater über die Bühne gehen

krise. Dann die Immobilien­

len Lösung. Weder der Markt

soll. Wichtig ist dem Schauspiel- und Opern-

krise. Dann die Staatsschulden-

noch die Sprache regeln das

regisseur, „dass das Musiktheater noch mehr

krise. Dann die geopolitische

Problem. Oder sollten wir die

als bei der Erstauflage zum Tragen kommt“.

Krise. Dann die Niederlage der

Armen besser „künftig prospe­

Als Vierspartenhaus hat seine Bühne da beste

neuen Linken. Dann die neuen

rierend“ nennen? Das käme der

Voraussetzungen.

Faschisten. Und nun die Ge-

neoliberalen Ideologie entgegen,

sundheitskrise. Und in dieser

änderte aber rein gar nichts.

Bei der Festivalpremiere war starkes

Menschen

Schauspiel zu erleben. Mit dem Brecht-Klas-

Zeit sind die Reichen immer reicher und die

Wenn wir über Klasse sprechen, sto-

siker „Der kaukasische Kreidekreis“ in der

Armen immer ärmer geworden. Aber uns

ßen wir auf eine reale Negativität, die diese

Inszenierung von Esther Hattenbach zeigt die

hierzulande, heißt es dann, uns geht es

Gesellschaft hervorbringt. Ein Ausschluss

Koblenzer Bühne eine aktuelle Lesart des

doch gut. Das stimmt nicht. Der Theater­

durch die Art und Weise, wie wir alle tagtäg-

Dramas. Krieg und Flucht sind die zentralen

kritiker Christian Baron hat mit „Ein Mann

lich produzieren und konsumieren. Es geht

Themen. Den Kampf der Magd Grusche mit

seiner Klasse“ ein Buch über die verdrängte

um gemeinsame Auswege aus der Klassen-

der Gouverneursfrau, die ihr Kind in der Not

Armut geschrieben. Es ist die Geschichte

gesellschaft, wie Fisher meint. Dafür müsse

zurückgelassen hat und es nach Jahren wie-

seines Lebens, seiner Eltern und Groß­

man die Identitätspolitik entschieden zu-

der zurückfordert, setzt die Regisseurin als

eltern, der Tanten, Onkel und Geschwister.

rückweisen. Fishers Essay „Raus aus dem

kühles Denkspiel in Szene. Die musika­lischen

Denn Ungleichheit wird vererbt (ökono-

Vampirschloss“, enthalten in dem neu er-

Experimente des Komponisten Paul Dessau,

misch, nicht biologisch). Dieses Buch sollten

schienenen Band „k-punk. Ausgewählte

der neue Elemente wie Zwölfton­ musik mit

Sie lesen. Es zeichnet weder das Bild des

Schriften“, ist einer der wichtigsten Texte

­politischer Agitation zu verschmelzen suchte,

„Unterschichtfernsehens“ noch der „edlen

über Klassen- und Identitätspolitik der ver-

entwickelt der Komponist Johannes Bartmes

Armen“. Es zeigt ein realistisches Bild zwi-

gangenen Jahre. Die Zerstörung des Be-

weiter zu mitreißenden Melodien, mit denen

schen Ausgrenzung, Gewalt, Alkoholismus,

wusstseins dieser Klassenstruktur und der

der Sänger Thomas Schweiberer die Hand-

Neid, Güte, Aufopferung, Depression und

eigenen Position darin war für Fisher eine

lung mitbestimmt.

Solidarität.

der verheerendsten Wirkungen des „kapita-

Schwache Männer und den Zerfall ihrer

Die unteren Klassen unten zu halten,

listischen Realismus“. Das Ergebnis? „Über-

politischen Systeme zeigte Regisseur Tim Tonn-

ist eines der wichtigsten Anliegen der Mit-

all proletarisierte Individuen, nirgends das

dorf mit Arthur Millers „Tod eines Handlungs-

telklassen. Das immer brutaler verfolgt

Proletariat“, wie die Freundinnen und Freun-

reisenden“ am Pfalztheater Kaiserslautern.

wird. Zudem gibt es die feinen Unterschie-

de der klassenlosen Gesellschaft in ihrem

Der innovative Stückentwickler, der mit dem

de, wie sie Pierre Bourdieu in seinem be-

vergangenen Herbst erschienenen Buch

Kollektiv Prinzip Gonzo neue Formate erprobt,

rühmten Werk nannte. Ein Habitus, der es

„Klasse, Krise, Weltcommune“ schreiben.

erzählt das Stück vom Scheitern des amerika-

jenen ungemütlich macht, die nicht damit

Je mehr es diese Gesellschaft zwischen Arm

nischen Traums aus dem Jahr 1949 sensibel

aufgewachsen sind. Wie Annie Ernaux und

und Reich zerreißt, desto mehr werden wir

und dennoch unerbittlich. Klug zertrümmert

Didier Eribon schreibt Baron über die soziale

über Klasse sprechen müssen. Mit dem

das Ensemble das Trugbild vom erfolgreichen

Scham, mit der sich die Ausgegrenzten ge-

Wetter hat das nebenher auch etwas zu tun.

weißen Mann. Formal huldigt Tonndorf dem

wissermaßen in der Öffentlichkeit selbst

Wie beim Campingurlaub kommt es näm-

angestaubten Realismus Millers gar zu sehr.

aus dem Verkehr ziehen, die einen immer

lich darauf an, ob man ein Zelt hat, wenn es

Inhaltlich jedoch gewinnt er dem Drama durch

begleitende Angst, unerlaubt am falschen

zu regnen und stürmen beginnt. //

die Demontage gängiger Rollenbilder a­ ktuelle

Ort zu sein und aufzufliegen. Diesen Mecha-

Bezüge ab. //

Elisabeth Maier

Jakob Hayner

/ 55 /


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.