Birgit Wiens: Bühne. Perspektiven der Szenografie und Performance Design Studies

Birgit Wiens

Perspektiven der Szenografie und Performance Design Studies

Birgit Wiens Bühne: Perspektiven der Szenografie und Performance Design Studies

Birgit Wiens Bühne: Perspektiven der Szenografie und Performance Design Studies Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft

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Verlag Theater der Zeit Winsstraße 72 | 10405 Berlin | Germany www.tdz.de | info@tdz.de Korrektur: Sophie-Margarete Schuster Gestaltung: Tabea Feuerstein Umschlagfoto © Birgit Wiens, Berlin 2020 Printed in Germany ISBN: 978-3-95749-503-7 (Paperback) EPDF: 978-3-95749-504-4 EPUB: 978-3-95749-505-1

Birgit Wiens

Perspektiven der Szenografie und Performance Design Studies

Inhalt Keine Bühne ohne Szenografie. Einleitung

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I. Szenografie, Performance Design und Theaterforschung 1. Die Kunst der Szenografie 2. Szenografie als Gegenstand der (deutschsprachigen) ­Theater­wissenschaft

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Szenaografie transhistorisch / historisch

Vom Guckkasten zur Theatersituation? Szenografie postdramatisch und ‚­expanded‘, Environmental Scenography, Szenografie als ­forschende Praxis

Doing Scenography und Scenography in Performance: einige Beo­b­­achtungen Theater als Dispositiv: Ansätze der Dispositivforschung (Exkurs)

Szenografie im/als Dispositiv

Reflexion von Bühne/Bühnenformen als Arbeit am ästhetischen Dis­­­­­positiv des Theaters

Szenografie im sozio-ökonomischen Kontext

28 30 34 43 54 64 68 74

I I. Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater 77 1. Vorüberlegungen: Künstlerische Positionen und Sichtbar­­­keits­bedingungen 77 2. Exemplarische Positionen und Perspektiven – ein Rundgang 84

Bühnengestaltung und Kostüm als ‚eigenständiger, eingreifender Faktor‘ (Bert Neumann) 84

„Einen Vorschlag für einen Ort machen, der etwas bewegen möchte“ – Raumkonzeptionelle und vestimentäre Strategien (Nina von Mechow) 95

„… diese Materialien haben alle etwas ganz Leichtes“. Bühne und ­Atmosphären (Katrin Brack) 107

Variationen über „Spannungsverhältnisse im Raum“ – Energetisierte und elektrifizierte Bühnen (Ulrich Rasche) 118

„Der Raum beginnt im Kopf “: Phänomenotechniken in der Szeno­­­­­grafie (Barbara Ehnes) 130

Temporäre Architektur, intermediale Bühnen: Szenografie als Inter­­­vention und forschende künstlerische Praxis (Sebastian Hannak) 143

Expanding Scenography: Digitalszenografisches Entwerfen im ­Span­nungsfeld zwischen Bühne und anderen Räumen (Philip Bußmann) 156 5

Flexible Formate, plurale Verortung: Szenografie und Multilokalität (­Rimini Protokoll) 164 III. Episteme, Ästhetiken und das Gedächtnis der Szenografie 1. Szenografisches Wissen / Wissen über Szenografie

174 175

Literaturverzeichnis

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Was bleibt? Szenografie im Archiv: Perspektiven der Theaterwissen­­schaft auf einen aus dem Blick geratenen Gegenstand 178

Ästhetiken des Entbergens. Szenografische Artefakte in Ausstellungen, ­Museen und anderen Räumen 192 2. Ü ber Entwerfen. Kulturtechniken und epistemische Dinge 207

Das Bühnenbildmodell als Medium und Artefakt 208

Notation, Skizzen und Raumpartituren 222 3. Zwischen Bühne, Atelier, Theaterfundus und Archiv: Kostüm als ­integrales Gestaltungselement der Szenografie 237 Bühnenkostüm und Kostümwesen 238 Im Dispositiv. Bedingungen, Positionen und Strategien szeno­­­­grafischer ­Praxis: Ein Gespräch mit dem Kostümbildner Andy Besuch 244

Perspektiven der Theaterszenografie: Résumé und Ausblick 256

Shared Spaces: Anmerkungen zur Sozialität szenografierter Räume 263

Szenografie und Digitalität 274 Theater, Szenografie und Ökologie 286

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Keine Bühne ohne Szenografie – Einleitung Dieses Buch beginnt mit der Erinnerung an eine eindrückliche, heute bereits merkwürdig fern erscheinende Situation im Frühjahr 2020, von der auch das Foto auf dem Einband erzählt: Als die Theater, Museen und überhaupt alle Veranstaltungsorte damals pandemiebedingt plötzlich schließen mussten, war eines morgens auf dem Asphalt einer Straße in Berlin-Mitte das Wort „Bühne“ zu lesen. Wer immer es in großen weißen Lettern auf den Boden gesprüht hatte: Es mutete unter den Umständen an wie eine Behauptung und ein trotziges Insistieren auf etwas, das auf unabsehbare Zeit verloren schien, und – wenn man es so lesen wollte – wie eine Frage nach der gegenwärtigen und zukünftigen Gestaltung von Bühnen, nach ihrer Verortung, Funktion sowie nach ihrer kulturellen und sozialen Relevanz. Im Vorübergehen trat einem die Schrift gleichsam entgegen und machte aus dem Straßenabschnitt ein szenografiertes Setting, eine Bühne (jedenfalls als Behauptung) und das ‚Hier und Jetzt‘ einer Situation, die – sofern man sich als Zufallspublikum darauf einließ – ein Nachdenken über die Frage provozierte: Was eigentlich ist eine Bühne? „Umgangssprachlich ist ‚Bühne‘ eine der wohl am häufigsten verwendeten Theatermetaphern“, heißt es in einer Publikation aus dem Jahr 2014, die sich theater-, kunst- und medienwissenschaftlich der Frage nach Bühnen, Raumpraktiken und -wahrnehmungen widmet (Eke/Haß/Kaldrack 2014, 9); gleichwohl bleibt der Begriff, der „sich in seiner metaphorischen Qualität ebenso auflöst wie zeigt“ (Schellmann 2018, 51), erst einmal unscharf. Wir kennen und erleben Bühnen als Auftrittsorte aller aufführenden Künste und als Orte sozialer Begegnung – und auch jenseits von Theatern, Konzertsälen und ausgewiesenen Veranstaltungsräumen kommt heute ein breiter Kultur- und Kreativsektor ohne Bühnen nicht aus. Gemäß ihrer Funktion sind Bühnen, allgemein gesprochen, temporär oder dauerhaft etablierte Spielorte aller aufführenden Künste sowie unter­ schiedlichster Veranstaltungsformate. Gebaute Bühnen bilden, gemeinsam mit dem Zuschauerraum, das ‚Kernstück‘ von Theaterarchitektur (europäischer Prägung) – sei es in Form eines Guckkastens oder etwa als offenvariable Raumbühne. Der Blick in die Gegenwartskünste, in die Historie und in unterschiedliche Theaterkulturen zeigt zudem, dass es nicht notwendig gebaute Bühnen braucht, damit Aufführungsereignisse stattfinden. Um einen Ort in eine Bühne zu verwandeln, bedarf es – wie der 7

1 Red Crossing, partizipative Performance, Beitrag der Künstlergruppe Assocreation / Everyday Places zur Sektion Formations (Kurator:innen: D. Chase Angier, Serge von Arx), Quadrennial of Performance Design and Space, Prag 2019. Foto: Assocreation (Wien, A/Ann Arbor, USA)

Performance design/scenography today is often presented through live and immersive experiences, where all senses can be involved and the audience members take on an active role. Thus, it can be seen as an art form that goes beyond the visual, into an experiential and sensorial realm with a focus on interdisciplinary collaboration, giving creative expression to new ideas and experiments. (…) As such, it can occur in an unbounded range of environments: from the traditional theatre stages, through experimental performance venues, to any type of found sites and spaces – from urban to rural, industrial to landscape, interior or exterior, physical, virtual, or mixed.

A growing amount of creative work comprises a variety of new media and involves various other professions and disciplines – in applied settings, as well as in innovative experimental formats. (…) The present-day practice of scenography is one of the most exciting art forms and creative domains – in the innovative and holistic ways of engaging their audiences, participants, and the public.

Markéta Fantová/Barbora Příhodová/Pavel Drábek: „How do we see performance design/scenography?“ (2023)1

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Einleitung

amerikanische Regisseur und Performancetheoretiker Richard Schechner postuliert hat – jedoch mindestens einer Markierung: „(…) this transformation is accomplished by ‚writing on the space’, as the cave art of the Palaeolithic period demonstrates so well. This writing need not be visual, it can be oral as with the Aborigines“ (ders. 1988, 148f.). Bemerkenswert ist, wie Schechner die Bühne bereits in ihren frühesten Formen mit dem Schreiben (oder jedenfalls einem sehr weit gefassten Verständnis dieser Kulturtechnik) verbindet, mit anderen Worten: mit der Szenografie.

Begriffsgeschichtlich hat ‚Szenografie‘ (σκηνογραφια, Kompositum aus skene, Bühnenhintergrund, und graphein, schreiben) ihre Anfänge nachweislich im Theater der griechischen Antike und bezeichnete dort in erster, ursprünglicher Bedeutung eine Praxis des Bemalens, Gestaltens der Bühnenhausfront im Gesamtensemble des antiken theatron.2 Im aktuellen Sprachgebrauch wird der Begriff verwendet als Name einer „Disziplin, die sich explizit dem Raum und seiner Inszenierung widmet“ (Barthelmes 2011, 18). Obschon sie eng mit der europäischen Theatergeschichte liiert ist und etymologisch aus dieser hervorging, bestimmen heute kulturhistoriografisch, transkulturell und performancetheoretisch deutlich weiter gefasste Perspektiven die Diskussion über Szenografie. Das Spektrum der Inszenierung und kulturellen Produktion von Raum, die der Begriff demnach beschreibt, ist groß und gegenwärtig fast unüberschaubar geworden.

Besonders eindrucksvoll zeigt sich dies regelmäßig auf der Prager Quadrien­ nale (PQ), dem weltweit bedeutendsten Präsentations- und Diskussionsforum für Szenografie und Performance Design. Initiiert wurde die Quadriennale in den 1960er Jahren von dem UNESCO-geförderten Theaternetzwerk ITI (International Theatre Institute / Institut ­international du théâtre / Internationales Theaterinstitut). Für den Standort Prag hatte man sich entschieden, nachdem auf der Kunstbiennale São Paulo (Bienal de São Paulo), einer Ausstellung für Malerei, Skulptur, Grafik und auch Bühnenbild, in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren Beiträge tschechischer Künstler (František Tröster, Josef Svoboda, Jiří Trnka und Ladislav Vychodil) besonders auffielen und wiederholt erste Preise gewonnen hatten.3 Die erste PQ fand 1967 unter Beteiligung von insgesamt 20 Ländern aller Kontinente statt, darunter beide Teile des damals geteilten Deutschlands. Auch bis Ende des Kalten Kriegs wurde sie regelmäßig alle vier Jahre durchgeführt und gewann seit den 1990er Jahren – mit zuletzt pro Edition etwa 60–70 beitragenden Ländern – noch an Umfang und Sichtbarkeit. Anfänglich als Länderwettbewerb angelegt (mit dem Keine Bühne ohne Szenografie

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Hauptpreis „Goldene Triga“), versteht sie sich heute als Festival. Ihr Hauptprogramm, die „Exhibition of Countries and Regions“, wird nunmehr begleitet von Performances, Hochschulforen, Workshops, Lectures sowie Symposien und Buchpräsentationen, mit denen man sich zudem auch die theoretische Reflexion und wissenschaftliche Beforschung der Szenografie zur Aufgabe macht. Doch nicht nur das Programm, sondern auch ihr Name hat sich seither verändert: Nachdem sie zunächst als „International Exhibition for Stage Design and Theatre Architecture“ firmierte, präsentierte man sich ab 2003 als „International Exhibition for Scenography and Theatre Architecture“, und seit 2011 heißt sie offiziell: Prague Quadrennial of Performance Design and Space. Diese Namensänderungen – mit dem Verzicht auf die Termini ‚Bühnenbild‘ und ‚Theaterarchitektur‘ – signalisieren mehrmalige Perspektivwechsel, begriffliche Neujustierungen und ein offenbar ständig in Bewegung befindliches Denken über die Bühne und ihre Gestaltungen (vgl. Lotker/Gough 2013, Lotker 2015, Fantová/Príhodová/Drábek 2023). Besonders signifikant sind dabei zweierlei Aspekte: zum einen, dass Szenografie, nach heutigem Verständnis, eine holistische und ‚kompositorische‘ Praxis ist, die sowohl Bühnenraum-, Objektgestaltung, Kostüm- und Maskenbild wie auch Licht-, Video- und Sounddesign einschließt (dafür steht, synonym, auch der Begriff ‚Performance Design‘). Die zweite Annahme ist, dass sie eine Kunst bzw. Gestaltungsdisziplin ist, die Konstellationen des Zusammenkommens, des Zeigens und Wahrnehmens sowie der Interaktion und teilnehmenden Reflexion entwirft und als solche in verschiedenen Kunst- oder auch Alltagskontexten (Theater, Ausstellung/Museen, Eventkultur, öffentliche urbane Räume, Onlinewelten) in geradezu kulturstiftender Funktion auftritt. Wie Jon McKenzie und andere bemerkt haben, ist ein solch breit gefasster, globaler Begriff von Szenografie freilich summarisch, abstrakt und kann bis auf Weiteres nur provisorisch sein (vgl. ders. 2008).

Um die Erscheinungsformen des Szenografischen in Geschichte, Gegenwart sowie in den vielfältigen Begegnungen und Verflechtungen ihrer europäischen und außereuropäischen Traditionen erfassen zu können, entwickelten die (überwiegend anglophonen) Scenography & Performance Design Studies den Begriff seit den 2000er Jahren gleichsam zu einem Suchbegriff; seither wurde er immer wieder befragt oder auch redefiniert.

Auch die Einleitung des US-amerikanischen Theaterwissenschaftlers Arnold Aronson zu dem von ihm edierten, historiografisch und kulturvergleichend angelegten 600-Seiten-Kompendium The Routledge Companion to Scenography (2018) verzichtet nicht auf eine abermalige Auseinander10

Einleitung

setzung mit dieser Begriffsdebatte. Seine eigenen Beobachtungen zum Wandel von Ästhetiken und künstlerischen Praktiken, die er als langjähriger Begleiter der Prager Quadriennale zum damaligen Zeitpunkt machte, fasste er wie folgt zusammen: „If the PQ is seen as a barometer of world scenography, then the purely visible, concrete, and semiotic aspects of ­scenography are being replaced by the spatial, the temporal, and the intangible“ (ebd., 12).

Dieser Eindruck mag auch heute noch weitgehend zutreffen, doch das Forschen mit und Denken über Szenografie geht weiter. Die Krisenerfahrung der weltweiten Coronapandemie 2020–2022, die unter den Künsten besonders die aufführenden Künste existenziell betraf, bedeutete gerade auch für diese Kunst und Gestaltungspraxis (und die gesamte dazugehörige Berufsgruppe) eine Zäsur. Viele Fragen stellen sich seither neu bzw. anders: Fragen nach Ästhetiken und, verstärkt, auch nach der Sozialität des Szenografischen (Stichwort: Shared spaces-Konstellationen der Teilnahme und Teilhabe, Diversität, Co-Kreation und inklusives Gestalten) sowie nach Digitalität, Technizität und ökologischer Nachhaltigkeit in der Szenografie. Künstlerische Auseinandersetzungen mit diesen Fragen zeichnen sich aktuell vielfältig ab, und in der Theorie beschäftigt die basale Frage nach dem Ort, Stellenwert und der gesellschaftlichen Relevanz, die Theater und Bühnen heute und zukünftig haben, die Szenografie- und Performance-Design-Forschung.

Perspektiven der Scenography & Performance Design Studies

Die Reflexion der eigenen Begriffe steht, wie erwähnt, immer wieder am Anfang. Anlässlich seines Vortrags auf der internationalen Konferenz The Art of Scenography (München, 2016) stellte der Theaterwissenschaftler Christopher Balme die Frage, inwieweit der Terminus im heutigen Sprachgebrauch überhaupt verbreitet ist und nutzte dazu den „Google Books Ngram Viewer“, ein Programm, das erlaubt, sämtliche auf Google-Servern gespeicherte, online verfügbare Bücher und Texte per Data Mining nach einem Begriff oder Ausdruck zu durchsuchen.4 Rein quantitativ kann so die Häufigkeit der Verwendung eines Begriffs im Zeitraum von 1950 bis heute ermittelt werden. Die Suche nach dem Terminus „Szenografie“ in deutscher, englischer und französischer Sprache ergab, dass das schon sehr alte, auf Aristoteles zurückgehende Wort hier erst etwa ab den 1960er Jahren in nennenswertem Umfang gebräuchlich wurde. Eine weitere Analyse zeigte, dass der Begriff überwiegend im akademischen Kontext verwendet Keine Bühne ohne Szenografie

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wird (das heißt, weniger häufig in der Praxis und seitens der Künstler:innen und Gestalter:innen selbst).5 Zu ähnlichen Ergebnissen kam, auch hinsichtlich weiterer Sprachen (Spanisch, Italienisch, Dänisch u. a.), die britische Kunst- und Designtheoretikerin Rachel Hann in ihrer Studie Beyond Scenography (2019). Anhand einschlägiger Lexika (u. a. Webster’s und Oxford English Dictionary) wies sie zudem nach, wie Begriffsverständnis und -gebrauch sich in den letzten Jahrzehnten verändert haben: Besonders auffällig zeige sich demnach eine Koinzidenz zwischen Einträgen seit den 1960er Jahren und der Gründung der Prager Quadriennale, die sich, wie erwähnt, seither zur Aufgabe macht, innovativer Bühnengestaltung zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen und den kulturellen Austausch zu befördern. Als Schlüsselfigur in der Formierungsphase der PQ gilt der tschechische Bühnenbildner Josef Svoboda: Seine Theaterarbeiten mit der Kompagnie Laterna Magika und sein an das Erbe der europäischen Theater-Avantgarde anschließender, aufsehenerregender Einsatz von Bühnentechnik, Licht, Bildprojektion und multimedialer Bühneninstallation (Diapolyekran) gelten vielen als wegweisend (vgl. Schechner 1968/1994, Aronson 2018). International bekannt wurde er in einem großen Radius durch Engagements und Gastspiele an namhaften Theater- und Opernhäusern in und außerhalb Europas und, vor allem in den USA, durch mehrere ihm gewidmete, monografische Bücher des New Yorker Theaterprofessors Jarka M. Burian. Diesen Bänden ist zu entnehmen, dass Svoboda Bezeichnungen wie Dekoration oder Kulisse für seine Kunst ablehnte – zugunsten von „Szenografie“, die er explizit als künstlerischen Vorgang, als Prozess verstanden wissen wollte: „True scenography is what happens when the curtain opens“ (zit. nach Burian 1971, 15). Entsprechende Verschiebungen weist Hann in den Einträgen des Oxford English Dictionary nach: Anstatt als „Scene painting“ im tradierten Sinne (Bemalen der ‚skene‘) oder als „Scenic design“ bzw. „Stage design“ (Bühnenbild) wird Szenografie, im Sinne eines ‚tschechischen Verständnisses‘, in neueren Ausgaben holistisch definiert („design and use of scenery, costume, lighting, etc. to create an effective performance environment; theatrical design, stage craft“).6 Auszugehen sei daher, so Hann, von zweierlei Übertragungen des Begriffs in die gegenwärtige Diskussion („first and second adoption“, vgl. dies.

2019, 40–42), und das zweite, holistische Begriffsverständnis bildet einen wesentlichen Referenzpunkt aktueller Szenografie-Forschung.

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Einleitung

Besonders in der anglophonen Academia hat sich seit der Jahrtausendwende, oft in enger Verbindung von künstlerischer Praxis und Theorie, eine sehr lebendige Forschungsdiskussion zu Szenografie und Performance Design entwickelt. Eine wichtige Impulsgeberin war die britische Regisseurin, Szenografin und Hochschulprofessorin Pamela Howard, deren Buch What is Scenography? (2002) seither mehrfach aufgelegt und in sieben Sprachen übersetzt wurde. Bereits Mitte der 1990er Jahre war sie zudem Initiatorin eines (bis 2016 bestehenden) Szenografie-Netzwerks europäischer Kunsthochschulen (in Prag, Helsinki, Utrecht, Barcelona, Zürich und London). Grundsätzlich ging es Howard – im kritischen Blick auf gewachsene Hierarchien (Regie/Dramaturgie/Szenografie/­Ensemble) – zunächst um eine vermehrte Würdigung des co-kreativen Beitrags von Szenograf:innen zur Inszenierungsarbeit und um die entsprechende (Neu-)Bestimmung ihrer Rolle und Position im künstlerischen Produktionsprozess: „It is very important to use scenography as a more accurate way of describing the role of the visual artist in the theatre, no longer being a servant but rather a leader, a creator or an initiator and a collaborator“ (dies. 2002, 73).

Seitdem nahmen die Scenography & Performance Design Studies 7 als eine interdisziplinäre, zunächst vor allem theater-, kunst- und medienwissenschaftliche Ansätze verbindende Szenografie-Forschung deutlich an Fahrt auf. Zunächst mit dem Ziel, notwendige Grundlagen zu schaffen, entstand eine ganze Reihe einschlägiger Publikationen, darunter Dorita Hannah/Olaf Harsløf: Performance Design (2008), Joslin McKinney/Philip Butterworth (Hg.): The Cambridge Companion to Scenography (2009), Jane Collins/Andrew Nisbet (Hg.): Theatre and Performance Design: A Reader in Scenography (2010) und die bereits erwähnten Bände von Rachel Hann (Beyond Scenography, 2019) und Arnold Aronson (The Routledge Companion to Scenography, 2018). Des Weiteren finden sich Studien mit besonderen Schwerpunkten, z. B. Aronsons The History and Theory of Environmental Scenography (1981/2018), Neill O’Dwyers Digital Scenography.

30 Years of Experimentation and Innovation in Performance and Interactive Media (2021), oder der Band von Tanja Beer: Ecoscenography. An Introduction to Ecological Design for Performance (2022). Neu etablierte Reihen mit Szenografie-Focus bei renommierten Verlagen (z. B. Performance+Design bei Bloomsbury Publishers, London/New York) und Fachzeitschriften (International Journal for Theatre & Performance Design, London) wurden zu wichtigen Plattformen. Forschungsarbeiten und -austausch werden zudem befördert durch die Working Group „Scenography“ der InternaKeine Bühne ohne Szenografie

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tional Federation for Theatre Research (IFTR/FIRT) sowie weitere anglophone (und frankophone bzw. multilinguale) Initiativen, wie prominent das an der Pariser Sorbonne Nouvelle bestehende Laboratoire International de Recherche sur l’Image et la Scénographie / International Image and Scenography Research Laboratory (LIRIS).8 Während sich die Forschungsansätze ausdifferenzieren, teilen alle diese Arbeiten Pamela Howards Grundannahme – nämlich die, dass szenografische Gestaltung allen Formen des Theatermachens und Aufführens inhärent ist, oder anders gesagt: Alle Ereignisse, die inszeniert sind und eine Dramaturgie und Choreografie haben, sind auch szenografiert. Zugleich, wie Aronson, Hann und andere betont haben, gilt für die Szenografie (mit ihren Teilbereichen Bühnenraum-, Objektgestaltung, Kostüm- und Maskenbild, Video-, Licht- und auch Sounddesign), dass sie ihrerseits stets aus der Autorschaft mehrerer Beteiligter hervorgeht: Scenography is operationally a collaboration between the designed elements within theatre, as well as a collaboration between the individuals who formulate these elements. While an individual may choose to adopt the term ‚scenographer‘, the technical and artistic realization of scenography will always exceed the remit of one individual outside of a one-person production. (Hann 2019, 57)

Ähnlich betont der deutsche Regisseur und Autor Christian Barthelmes – im Blick auch auf Ausstellungsszenografie –, dass eine ihrer Besonderheiten darin liegt, dass sie, als holistische Disziplin, zum einen multidisziplinäres Entwurfswissen und unterschiedlichste Kompetenzen verlangt und zum anderen ihrerseits auf verschiedensten Bühnen, Kunst- und Gestaltungsfeldern (Theater, Ausstellung/Museen, Eventkultur, öffentliche urbane Räume, Onlinewelten) operiert: „Gegenüber den Künsten, namentlich der Architektur, der bildenden und der darstellenden Kunst, der Musik und der Literatur, ist die Szenografie sowohl Teil- als auch Integrativdisziplin“ (ders., zit. nach Brückner 2011, 18). Auffassungen von Szenografie und Performance Design als Hyper-Disziplin und „global art form“ wurden einige Zeit lang allerdings kontrovers diskutiert – zugunsten der Einsicht, dass szenografische Praxis sowie auch die ästhetische Wahrnehmung und Sozialität szenografierter Räume stets situiert sind (vgl. McKenzie 2008, von Arx/Wiens 2019/2021). Denn auch wenn unterschiedliche Theaterkulturen über Grenzen hinweg durch künstlerischen Austausch, Koproduktionen und Gastspiele heute längst miteinander verwoben sind, oder wenn Museen weltweit bei der Planung, Gestaltung und Durchfüh14

Einleitung

rung von Ausstellungen kooperieren, sind die institutionellen Rahmenbedingungen, Fördersysteme und habitualisierten Praktiken der Szenografie und auch die kulturellen Traditionen und Publikumserwartungen durchaus unterschiedlich. Nicht nur wegen der erwähnten Differenzen in Sprache, Semantik und Verwendung des Begriffs, sondern eben wegen dieser Situiertheit zeigt sich, wie PQ-Kurator Serge von Arx konstatiert, je nach Kontext und Kulturkreis ein etwas anderes Verständnis von Szenografie: „This relates to the fact that scenography as an art practice and discourse is always part of a larger disposition, that is, of the theatre, the museum, the respective audience and the social circumstances“ (ders., zit. nach Wiens 2019/ 2021, 219).

Szenografie- und Performance-Design-Forschung steht damit vor mehreren Herausforderungen. Angesichts der Vielgestaltigkeit des szenografischen Spektrums und dessen transdisziplinärer und transkultureller Breite bedarf es einer wissenschaftlichen Systematisierung und auch Einhegung des Gegenstands, um theoretische und analytische Zugänge schaffen zu können. Bisher führten Wege über die Beschäftigung mit Teilgebieten wie der Theaterarchitektur (Dorita Hannah: Event Space, 2018), Technikgeschichte (Christopher Baugh: Theatre, Performance and Technology. The Development and Transformation of Scenography, 2013), dem Kostüm (Donatella Barbieri: Costume in Performance, 2017) oder Licht (Scott Palmer: Light, 2013, ders./Katherine Graham/Kelli Zezulka (Hg.), ­Contemporary Performance Lighting, 2023). Einen anderen Weg wählte Arnold Aronson als Herausgeber des schon erwähnten Routledge Companion (2018), indem er mögliche Perspektiven auf diesen kaum überschaubaren Gegenstand in vielstimmigen Beiträgen (von über 40 internationalen Autor:innen) abzubilden suchte – mit dem Anspruch, synchrone und diachrone Untersuchungen zu Szenografie in verschiedenen Genres, Künsten und Kulturen vorzulegen und zudem eine tragfähige Terminologie und Bausteine zu einer Theorie zu erarbeiten, die verschiedene Problemstellungen und Ansätze (hermeneutisch, phänomenologisch, historisch-kritisch, kulturvergleichend, medientheoretisch, u. a.) miteinander verbindet. Die Frage, wie weit der Szenografie-Begriff reicht und ob eigentlich alles, was szenografiert wurde, auch ‚Szenografie‘ ist (im künstlerischen Sinne oder als Gebrauchsdesign bzw. kommerzielle Szenografie), behandelt, ebenfalls vielstimmig, ein edierter Band von Scott Palmer und Joslin McKinney (Scenography Expanded. An Introduction to Contemporary Performance Design, 2017). Aufgaben der Szenografie-Forschung sind demnach die Keine Bühne ohne Szenografie

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Auseinandersetzung mit ästhetischen Praktiken und Gestaltungsprozessen der Szenografie im Spannungsfeld zwischen Entwurf, Produktion sowie Aufführungsereignis, Rezeption und Publikumserleben und, auf übergeordneter Ebene, die Frage nach szenografischem Wissen und der kulturstiftenden Dimension des Szenografischen.

Die Schrift auf dem Asphalt, oder: warum dieses Buch

Die vorliegende Studie basiert zu großen Teilen auf Ergebnissen meines DFG-geförderten Forschungsprojekts zu Szenografie, das 2015 bis 2020 an der LMU München durchgeführt wurde und sich – im Blick auf den deutschsprachigen Kontext (D/A/CH) – mit Ästhetiken und Epistemen dieser Kunst und Gestaltungspraxis befasste.9 Meine eigene Beschäftigung als Theaterwissenschaftlerin mit dem Gegenstand begann bereits in den Nullerjahren: Den Anlass gab damals ein Lehrauftrag im Studiengang Szenografie an der HfG Karlsruhe (geleitet von dem Bühnenbildner und Regisseur Michael Simon), gefolgt von einer langjährigen Beschäftigung mit diesem Gegenstand in Lehre und Forschung (und unzähligen Aufführungs- und Ausstellungsbesuchen im Theater und an ‚anderen Orten’, auch jenseits gebauter Bühnen). ‚Szenografie‘, ein Wort, das nach wie vor hierzulande eher wenig gebraucht wird, mag in der Wahrnehmung vieler etwas Akademisches, Prätentiöses haben. Als der Karlsruher Studiengang Anfang der 1990er Jahre eingerichtet wurde (bis 1998 hatte Johannes Schütz die Professur inne), war diese Denomination aber Programm und stand für ein künstlerisch forschendes Nachdenken über Räume und für experimentelles Entwerfen. In unmittelbarer Nachbarschaft des zeitgleich als ‚digitales Bauhaus‘ gegründeten Zentrums für Kunst und Medien (ZKM) sollten alle Künste und gestaltenden Disziplinen in einem offen gehaltenen Verständnis von Bühne, Ausstellung und Szenografie verbunden werden. Etwa zur gleichen Zeit arbeitete Martin Roth, Kulturwissenschaftler, Leiter des Kulturprogramms der EXPO Hannover und späterer Direktor der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und des Victoria and Albert Museums in London, an der Einführung eines erweiterten Szenografie-Begriffs in die Bereiche Veranstaltungsplanung und Ausstellung.

Zum Diskussionsstand im Jahr 2000 formulierte er folgendes Statement: Der Begriff Szenografie existiert in Deutschland nicht. Wenn er benutzt wird, dann nur in Bezug auf das Theater, begrifflich nahe am Bühnenbild (…). Als zu Beginn der 1990er Jahre Heinrich Klotz an der Staatlichen

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Einleitung

Hochschule für Gestaltung Karlsruhe einen Lehrstuhl für Szenografie etablierte, begann kurzfristig eine Diskussion, ob dies der Beginn einer Vermählung zwischen Theater und Museum/Ausstellung sein könnte. (Heute) (…) weiß man, (…) dass Theater und Ausstellung weiter getrennt betrachtet werden. Oberflächlich kann davon ausgegangen werden, dass Szenografie ein Abkömmling der Event-Kultur ist. Wo viel schnelllebig inszeniert wird, die Theater den Theaterraum verlassen, Unternehmen die klassischen Messen auf Showniveau trimmen und die Tourismusbranche den Urlaub zum Ereignis stilisiert, wird das Kreieren von künstlichen Welten notwendig, wird ein Regisseur benötigt, der vermeintliche Realität inszeniert, die SoapOpera zum wirklichen Leben macht. (Roth 2000, 84)

Roth beschrieb damit zweierlei: zum einen eine weitreichende Fremdheit gegenüber dem Begriff und ein Beharren auf Gattungsgrenzen, das bis in die künstlerisch-gestalterischen Praxisfelder und in die Profile von Studiengängen hinein prägend wirkte, sowie, zum anderen, die Verortung szenografischen Gestaltens zunächst vor allem in Eventkultur und Kommerz.

Wenngleich nicht in der Breite, zeichneten sich in der künstlerischen Praxis und auch institutionell damals durchaus schon disziplinübergreifende Öffnungen und Anschlüsse ab. Blickt man beispielsweise ins Museumswesen, so haben sich szenografierte, das heißt, mit Theatermitteln erarbeitete, dramaturgisch gedachte, komplex inszenierte und gleichermaßen auf Kommunikation, Vermittlung und sinnliche Erfahrung angelegte Ausstellungen, wie auch Roth sie vorschlug, seit Ende der 1990er Jahren mehr und mehr durchgesetzt (vgl. Kiedaisch/Marinescu/Poesch 2021). Ebenso kommen auch die Gestaltung medialer Räume und die sich quer durch verschiedene Disziplinen stellende Frage, wie Räume „durch Medien konstituiert“ und in diesen gestaltet werden (vgl. Günzel 2018), ohne den Szenografie-Begriff kaum aus. Auch Theater (wie die vorliegende Studie ausführlich zeigt) verlangt heute einen erweiterten Szenografie-Begriff. All dies hat bis dato allerdings nicht dazu geführt, dass sich der Begriff im deutschsprachigen Raum durchgehend (oder gar in einem übereinstimmenden Verständnis) etablieren konnte. Abermals zeigt sich dies in der Denomination von Studiengängen, die auch heute üblicherweise entlang disziplinärer Grenzen formuliert werden, Beispiele sind: ­Bühnen- und Kostümbild (Akademie der Bildenden Künste München, ABK Stuttgart, u. a.), Bühnenbild (UdK Berlin) oder Szenografie/Production Design (Filmhochschule Babelsberg) sowie Ausstellungsdesign und Szenografie (HfG Karlsruhe), Szenografie und Kommunikation (FH Dortmund), Innenarchitektur und Szenografie (FH Basel). Andere dagegen, wie z. B. der StudienKeine Bühne ohne Szenografie

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gang Bühnenbild/Szenischer Raum (HfG Offenbach), suchen über ihre Namensgebung ein disziplinär offenes Profil anzuzeigen, und am Mozarteum Salzburg firmiert ein neuer, transdisziplinärer Studiengang zur Bühnengestaltung in den Bereichen Bühnenbild, Kostümbild, Lichtdesign, Film- und Ausstellungsarchitektur unter dem Namen Szenografie.10 Die Erarbeitung theoretischer und analytisch-methodischer Zugänge zu Szenografie / szenografischer Gestaltung als Forschungsgegenstand ist – schon allein angesichts der divergierenden Verwendungen und Interpretationen des Begriffs auf den verschiedenen Feldern – herausfordernd. Am Beginn des DFG-Projekts Szenografie: Episteme und ästhetische Produktivität in den Künsten der Gegenwart, aus dem das vorliegende Buch hervorgeht, stand daher zunächst die Erkundung des Diskussions- und Forschungsstands in ‚meinem Fach‘, der Theaterwissenschaft. Geht man davon aus, dass szenografische Gestaltung inhärentes Element jeder Inszenierung und jedes Aufführungsereignisses ist, so ist sie zweifellos Gegenstand der Theaterwissenschaft und fällt zugleich noch in weitere Kompetenzbereiche (u. a. der Kunst- und Medienwissenschaft, Architekturtheorie, Designforschung) und damit in ein ‚Dazwischen‘, wo sie allerdings lange wenig beachtet wurde. Im Vergleich zu den aktuell, wie erwähnt, sehr lebendigen Scenography & Performance Studies zeichnet sich eine deutschsprachige Szenografie-Forschung bislang eher verstreut ab; dabei sind gattungsbezogene und auch transdisziplinäre Ansätze erkennbar. Eine Vielzahl der Beiträge widmet sich der Ausstellungs- und Eventszenografie, die – im Nachgang zur EXPO 2000 sowie mit Großprojekten wie z. B. der Millenniumsschau Sieben Hügel: Bilder und Zeichen des 21. Jahrhunderts (Martin Gropius-Bau Berlin, 2000) – in den Nullerjahren auch hierzulande geradezu einen Boom erlebte. Initiativen und Foren entstanden, z. B. das Szenografie Kolloquium der DASA Dortmund (seit 2000) oder die Konferenzreihe Raumwelten – Plattform für Szenografie, Architektur und Medien (Ludwigsburg/Stuttgart, 2013–2023), auf denen kuratorische und (raum-)dramaturgische Konzepte diskutiert und künstlerisches, gestalterisches und technisches Praxiswissen ausgetauscht wurden (vgl. Kiedaisch/ Marinescu/Poesch 2021). Als Beitrag zur Erarbeitung theoretischer Grundlagen versteht sich hingegen die von der FH Dortmund verantwortete, medien- und designwissenschaftliche Publikationsreihe Szenografie & Szenologie, die, gleichwohl bezogen auf das „Ausbildungs- und Berufsfeld Szenografie“ und damit ebenfalls stark praxisbezogen, seit 2009 von ­Lehrenden der Hochschule herausgegeben wird.11 Seitens der Kunstgeschichte gab der an der Kunsthochschule Kassel lehrende Kunstwissen18

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schaftler Kai-Uwe Hemken mit seinen Studien zur Ausstellungsszenografie und der von ihm entwickelten Perspektive einer „kritischen Szenografie“ wichtige Impulse (ders. 2015). Mit Blick auf die (deutschsprachige) Theaterwissenschaft, den fachlichen Kontext, aus dem heraus das vorliegende Buch argumentiert, bleibt dagegen festzustellen, dass Szenografie als Gegenstand bisher allenfalls marginale Berücksichtigung findet. Anliegen dieses Buchs ist es daher, Ansätze einer elaborierten Szenografie-Forschung vorzustellen, die an Fragestellungen und Methoden aktueller Theaterforschung anschließbar sind (vgl. Kap. I.).12 Mit den anglophonen Scenography & Performance Design Studies wird dabei die grundlegende Annahme geteilt, dass Szenografie (d. h. ästhetische, technische sowie operative Prozesse szenografischen Gestaltens) ebenso wie Dramaturgie und Choreografie jedem Inszenierungs- und Aufführungsvorgang inhärent ist. Zudem wird von einem erweiterten Szenografie-Begriff (expanded scenography) ausgegangen, jedoch nicht, um Unterscheidungen (z. B. zwischen Theater- und Ausstellungsszenografie) von vornherein preiszugeben. Die These lautet vielmehr, dass es vor allem die gattungsüberschreitenden Übertragungen, künstlerischen Reinterpretationen und Reflexionen szenografischer Praktiken sind, in denen ­ästhetische Produktivität und szenografisches Gestaltungswissen erkennbar werden.

Die bisherige Vernachlässigung des Gegenstands in der (deutschsprachigen) Theaterwissenschaft und auch das weitgehende Fehlen einer komparatistischen Auseinandersetzung mit anderen Feldern von Kunst und Design, wie sie der vorliegende Band vorschlägt, mögen fachgeschichtlich bedingt sein. Ein Grundproblem ist, dass das Material, das von der ereignisbezogenen Kunst des Szenografischen bleibt (Entwurfszeichnungen, Modelle, Probennotizen, Pläne, Notationen, Proben- und Aufführungsfotos sowie Beschreibungen in Kritiken oder Zuschauerberichten), fast ebenso so flüchtig-vergänglich ist, wie die Aufführungsereignisse selbst: Ist eine Ereignis vorbei, eine Inszenierung abgespielt, so ist keineswegs selbstverständlich, dass jenes Material (oder auch nur Teile davon) als Dokument und Quellenmaterial für die Nachwelt bewahrt oder sogar professionell archiviert werden. Ähnliches gilt für die gebauten Bestandteile und materiellen Artefakte, denen – sobald aus dem Ereigniskontext gerückt – üblicherweise kein eigener Wert oder gar Kunststatus zuerkannt wird.

Allerdings ist das Transitorische ihres Forschungsgegenstands in der Theaterwissenschaft ein generelles Problem und wohlbekannt aus der Auseinandersetzung mit allen anderen Elementen von Inszenierung/Aufführung.

Die marginale Behandlung des Szenografischen muss folglich noch andere Keine Bühne ohne Szenografie

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Gründe haben (vgl. Kap. II.1.). Eine der Ursachen mag in ihrer traditionellen (längst überholten) Geringschätzung als ‚angewandter‘ Kunst liegen, die sich in der Formation des Fachs – geradezu notorisch – bis heute verfestigt hat. Ein Desiderat ist daher, in der Analyse von Inszenierungen die Szenografie als mitkonstituierenden, integral mitgestaltenden Faktor zu berücksichtigen. Gleiches gilt für die Aufführungsanalyse: Seit den 1970er Jahren wurde – im Anschluss an Max Herrmann, einen der Gründerväter des Fachs, und dessen basaler Definition des Theaters als „Raumkunst“ („Das theatralische Raumerlebnis“, 1931) – die Aufführung zum „grundlegenden Definiens von Theater“ erklärt. Ihre Analyse gilt seither als ‚Herzstück‘ theaterwissenschaftlicher Theorie- und Methodenentwicklung (Fischer-Lichte/Kollesch/Warstat 2014, 375 und 15ff.). Weiter verständigte man sich im Fach darüber, vier Raumkategorien zu unterscheiden: Theaterarchitektur (theatraler Raum) und Bühne/Bühnenraum (szenischer Raum), Aufführungsort/Stadt/kulturelle Umgebung (ortsspezifischer Raum) sowie Drama/Theatertext (­dramatischer Raum), mit der darin niedergelegten Raumsemantik (Balme 1999/2021, 162). Auf Herrmanns Betonung ihres Erlebnisaspekts (Konventionen seiner Zeit geschuldet, finden sich Bühnenbild/-gestaltung in seiner Schrift nur am Rande erwähnt), gingen später an die Theatersemiotik anschließende, phänomenologische Perspektiven (Roselt 2008, u. a.) davon aus, dass die Aufführung weniger über die Beschreibung ihrer Visualität, sondern vor allem als erlebnisbezogener Vorgang zu analysieren sei. Dass man den Fokus auf die (als theaterkonstitutiv gesetzte) ‚leibliche Ko-Präsenz‘ von Darstellenden und Publikum legte, geschah um den Preis weitgehender Ausblendung szenografischer, sich in Theaterereignissen ebenso materialisierender Faktoren. Obwohl mitgestaltendes, ‚mitspielendes‘ Element, wird Szenografie allenfalls als etwas thematisiert, das nur durch die spielende bzw. wahrnehmende Tätigkeit von Darstellenden und Publikum aktiviert wird. Mit anderen Worten: Der Beitrag von Szenografie als kreativer, die Ästhetiken von Inszenierung/Aufführung mitprägender Faktor wird mit diesem Methodeninstrumentarium kaum erfasst. Folglich wird immer wieder vergessen oder übersehen, dass Szenografie längst anderes meint als ein den anderen Theatermitteln subordiniertes ‚Ausstatten‘, ‚Kostümieren‘, ‚Dekorieren‘ und ‚Beleuchten‘ von Bühne bzw. Bühnenraum. Denkt man hingegen an die Vielgestaltigkeit der Szenografien, Bühnenformen und Raumkonzepte (v. a. seit der Theatermoderne) oder an Environmental Scenography (seit den 1960er Jahren) und, aktuell, zudem an das breite Spektrum von Expanded Scenography und intermedialer Szenografie, so wird das ästheti20

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sche und epistemische Potenzial dieser Kunst erkennbar, die mit allen vier Raumkategorien des Theaters künstlerisch umgeht (vgl. Kap. I.2. und 3.).

Szenografien und ihre Elemente wären demzufolge eben nicht als ‚Ausstattung‘, sondern als inhärent mitkonstituierender künstlerischer Faktor und, in dem Sinne, als Mitspieler der Aufführung zu begreifen; gewohnheitsmäßig und mangels geeigneter theoretisch-methodischer Zugänge, fällt dies jedoch oft aus dem analytischen Blick. Hinzu kommt – und das, obwohl wir im deutschsprachigen Raum mit einer im Ausland viel bewunderten Theaterdichte von einer „Tradition der Vielfalt“ szenografischer Gestaltungen ausgehen können (wie ein Beitrag auf der Website des ­Goethe-Instituts unter dieser Überschrift annoncierte, vgl. Berghausen 2020) –, dass sich diese Problematik mithin bis in die Theaterkritik hinein fortschreibt, oder wie die Bühnenbildnerin Katrin Nottrodt im Gespräch mit der Verfasserin des erwähnten Beitrags reklamierte: Das Bühnenbild hat leider nicht immer einen hohen Stellenwert. (…) Etwas ketzerisch ausgedrückt: Wenn das Bühnenbild in den Kritiken nicht erwähnt wird, dann hat es nicht gestört. Schlimmer ist es noch im Kostümbild und für die Lichtdesigner, die häufig gar nicht erwähnt werden. (…) Eine größere Beachtung und Wertschätzung wäre zu wünschen (…) (zit. nach Berghausen 2020).

Wie um dem entgegenzusteuern, erschien – aus der künstlerischen Praxis heraus – in den letzten rund zwanzig Jahren eine auffallend große Anzahl monografischer Publikationen, die von Szenograf:innen oft mitherausgegeben oder von ihnen selbst in Auftrag gegeben wurden, um die eigene Arbeit zu dokumentieren. Einige dieser Bücher kamen in der Bühnenbildreihe von Theater der Zeit heraus, darunter Bände zu Bert Neumann, Jan Pappelbaum, Katrin Brack, Barbara Ehnes, Annette Kurz, Sebastian Hannak, Michael Simon und Martin Zehetgruber, weitere bei Suhrkamp (­Wilfried Minks) oder Hatje-Cantz (Johannes Schütz), und Janina Audick publizierte ihr Buch mit dem selbstbewussten Titel Talent 2018 bei der Züricher Edition Frey. Offenkundig artikuliert sich damit ein auf Künstler:innenseite verstärktes Interesse, ihre Ateliers und die Probebühnen zu öffnen, um szenografische Entwürfe und Signaturen als Teil von Theaterarbeit zu zeigen, zur Diskussion zu stellen und als ästhetische und epistemische Praxis und auch als Denkform kenntlich zu machen. „Ich baue im Grunde keine Räume, sondern denke räumlich“, schrieb etwa Wilfried Minks (zit. nach ders./Maack 2011, 247). Eine weitere Künstlerin, die in dem Sinne prominent hervortrat, ist Anna Viebrock: 2011 konzipierte sie Keine Bühne ohne Szenografie

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in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Architekturmuseum (SAM) eine Ausstellung mit einer Auswahl ihrer Entwurfszeichnungen und Bühnenbildmodelle; nach ihrer ersten Präsentation in Basel tourte die Ausstellung erfolgreich europaweit und wurde an zahlreichen Orten, namentlich Rotterdam, Prag, Madrid, Brüssel, Gent, Avignon, Helsinki, Frankfurt am Main und Gießen, dem interessierten Publikum gezeigt. In der theaterwissenschaftlichen Forschung oder auch rezenten, interdisziplinär angelegten Forschungen zum ‚Wissen der Künste‘ wurden solche Dialog- und Reflexionsangebote aus dem Feld von experimentellem Bühnenbild, Szenografie und Performance Design bisher jedoch kaum berücksichtigt. Die folgenden Untersuchungen zu Epistemen und Ästhetiken des Szenografischen mögen dazu beitragen, hier einige Lücken zu schließen.

Von diesen Überlegungen ausgehend, skizziert das vorliegende Buch aktuelle Tendenzen in der Szenografie und legt den Fokus vor allem auf die Produktionsseite, also auf Szenografieren und Theater-Machen. Gefragt wird nach ästhetischen Praktiken sowie nach Kulturtechniken, Phänomenotechniken, Werkzeugen, Medien und jeweils leitenden Überlegungen szenografischen Entwerfens (Kap. II.2.). Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Schnittstelle zwischen Atelier/(Probe)Bühne und der Frage nach Kommunikation, Transfer und Realisierung von Entwurfsideen unter den Bedingungen von Institution, Apparat, Gewerken, Probenprozess und schließlich der Aufführung. Da Szenografie (verstanden als künstlerische Gestaltung von Raum, Kostüm- und Maskenbild sowie Video-, Licht- und auch Sounddesign), wie dargelegt, nicht ‚Werk‘ eines/r Einzelnen ist, stellt sich – mit einem Begriff Dieter Merschs – zudem die Frage nach ihrer kom-positorischen Logik und danach, wie sie sich – in Relation zu Regie, Dramaturgie, Choreografie und szenischer Aktion – mit ihrer Materialität, Medialität sowie ihren Bedeutungs- und Wahrnehmungsdimensionen jeweils ins Spiel bringt.13 Ein weiterer Leitgedanke der Untersuchungen ist, dass szenografisches Gestalten, mit Serge von Arx gesprochen, nie ,bei Null‘ beginnt („Design never starts from point zero“, zit. nach ders./ Wiens 2021, 219). Gefragt wird daher nach Bezugnahmen (z. B. auf Alltagskontexte, Gebrauchsästhetiken, bildende Kunst oder auch auf historische Bühnenformen und ikonische Bühnenbilder bzw. Kostüme), nach Selbstthematisierung und Reflexion szenografischer Ästhetiken und Episteme (Metaszenografie), nach kritischer oder subversiver Praxis (Stichwort: Dehierarchisierung bzw. Dekomposition von Raumordnungen, Exposition und kritische Bearbeitung kultureller (Selbst-)Technologien, u. a.) sowie nach der Szenografie als einer Denkform. Zu beachten ist aber auch 22

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der Hinweis Dieter Merschs, wonach Szenografie in actu – und obwohl dabei auf Konzeption, Scripts, Proben und Theaterverabredungen basierend – ‚unregierbar‘ und letztendlich ‚unkontrollierbar‘ auftritt, was, nach Mersch, am wohl deutlichsten für ihre (Neu-)Betrachtung als Kunst spricht (vgl. ders. 2021). Über Analysen szenografischer Gestaltungen hinaus wird zudem im Anschluss an Foucault, Deleuze, Agamben und Andreas Reckwitz sowie in Auseinandersetzung mit rezenten Ansätzen theaterwissenschaftlicher Dispositivforschung nach Merkmalen, operativen Dynamiken und kreativen Wirkweisen der Szenografie als Dispositiv gefragt. Insgesamt sucht der vorliegende Band Theater- und Szenografie-Forschung systematisch zu verbinden, schafft dafür notwendige, bisher fehlende Grundlagen und versteht sich zugleich als Einführung in aktuelle Perspektiven der deutschsprachigen sowie der vergleichsweise deutlich lebendigeren, internationalen (bzw. anglophonen) Forschung zu Szenografie und Performance Design.

★★★ Dieses Buch und der Zeitpunkt seiner Fertigstellung waren eigentlich anders geplant – nämlich früher, zeitnah zum Laufzeitende des DFG-Projekts, aus dem es hervorgeht. Dann aber kam die Pandemie, die – wie wir alle erlebt haben – auch in der deutschen Theaterlandschaft tiefe Eingriffe in Apparat, Strukturen, Abläufe und institutionelle Bedingungen mit sich brachte und zudem bisherige Gewissheiten hinsichtlich des Stellenwerts, der gesellschaftlichen Funktion und ‚Systemrelevanz‘ der Künste erschütterte. Gerade auch für Szenograf:innen – von Haus aus Expert:innen für die Gestaltung von Bühnen, die stets zugleich ästhetische und auch soziale Räume sind – bedeutete diese Krisenerfahrung eine Zäsur, die jedes Denken über Szenografie notwendig an deren Kernfragen führte. Seither stellen sich viele Fragen neu (oder anders), die eine ästhetische und zudem auch ethische Dimension haben, namentlich Fragen zu Raum und Digitalität (digitale Bühne, intermediale Szenografie), zu ökologischer Nachhaltigkeit (Ecocriticsm und Szenografie) und zur sozialen Dimension szenografischen Gestaltens (,Shared Spaces‘, Szenografie als ‚Social Design‘). Und auch wenn viele dieser Fragen derzeit noch offen sind, sollen sie hier – erstmals in einer Zusammenschau – berücksichtigt werden. Insgesamt, soviel sei vorausgeschickt, lautet meine Hypothese, dass Szenografie im Dispositiv der darstellenden Künste unter den Bedingungen gegenwärtig anstehender Transformationen sogar eine Schlüsselrolle übernimmt, sofern sie – als Keine Bühne ohne Szenografie

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Kunst eigenen Rechts – ihren eigenen, reichen Wissensfundus nutzt, ihn gestaltend, künstlerisch forschend und diskursiv einbringt und entschieden in die Zukunft wendet. Die Theaterwissenschaft und die Szenografie & Performance Design Studies hätten hier – Hand in Hand – die wichtige Aufgabe, diesen Transformationsprozess zu begleiten.

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I. Szenografie, Performance Design und Theaterforschung 1. Die Kunst der Szenografie

Was wäre eine Aufführung ohne Bühnenbild oder gar ohne Szenografie?

Nicht in der Theorie, sondern szenisch umkreiste René Pollesch, gemeinsam mit seinem Ensemble und vor gleichermaßen irritiertem wie vergnügtem Publikum, diese Frage 2017 in einem seiner Diskurstheaterstücke im Akademietheater des Wiener Burgtheaters. Der Abend, benannt nach dem britischen Filmregisseur Carol Reed, versprach als Thema zunächst anderes, begann dann aber mit dem Erscheinen von vier aufwendig kostümierten Schauspielerinnen und Schauspielern, die auf nackter Bühne und in großer Aufregung den Umstand diskutierten, dass – kurz vor der Aufführung – das Bühnenbild abhandengekommen sei. Es fehle ihnen wie einer Fußballmannschaft der Ball, schimpfte das gemischte Doppel, „Madame Brack“ (Katrin Brack, die Bühnenbildnerin der Produktion) habe es aus unbekannten Gründen mitgenommen. Ungeachtet dessen traten jedoch – im vermeintlich ‚leeren‘ Raum – den gesamten Abend über Dinge auf: Beleuchtungsbrücken kamen aus dem Schnürboden gefahren, bewegten sich auf und ab, Scheinwerfer rotierten, Podien senkten sich unversehens, Nebel waberte und mithin schienen die Dinge geradezu ein Eigenleben zu entwickeln. Auf diese Weise hielten sie die Handlung in Gang – ähnlich jenen plötzlich auftauchenden Objekten, für die, bezogen auf den Film, Hitchcock einst den Namen „MacGuffin“ prägte (der Begriff wurde im Verlauf des Abends mehrmals zitiert). Im Publikum wurde allen schnell begreiflich, dass das Bühnenbild in diesem Metatheater, als das sich die Aufführung präsentierte, nicht etwa „weg“ war. Vielmehr war es – gerade im vorgeblichen Entzug – als Mitspieler vergegenwärtigt und zum Thema gemacht. Der Raum des Akademietheaters mit seiner architektonisch gegebenen Platzierung von Akteuren und Publikum, seiner Materialität, den schwarzen Wänden und den sich bewegenden Brücken, dem Licht und dem Kunstnebel, die, ephemer und semantisch vieldeutig, auf der Bühne gleichsam als Spielanlass und Spielbedingung1 des vierköpfigen Ensembles in Erscheinung traten: All dies gehörte hier erkennbar zum Bühnenbild, allerdings nicht im Sinne traditioneller ‚Ausstattung‘. Vielmehr wurde diese Konstellation im Laufe des Abends wahrnehmbar als Gefüge von Dingen, Apparaten, Materialien, die ein integrales Element (oder sogar wesentlichen Impulsgeber) des Aufführungsereignisses bilde25

2 „Mon Dieu, wo ist denn das Bühnenbild?“ – Irina Sulaver, Birgit Minichmayr, Martin Wuttke, Tino Hillebrand, Szene aus Carol Reed, Stück und Regie: René Pollesch, Bühne: Katrin Brack, Kostüme: Tabea Braun, Licht: Michael Hofer, Akademietheater Wien 2017. Foto: Wolfgang Woessner

ten. Das vermeintliche Fehlen des Bühnenbilds, Katrin Bracks künstlerisch gezielt gesetzte Geste der Reduktion und die dadurch entstandene Irritation, bestimmten die Ereignisästhetik. Szene für Szene und in wechselnden, ostentativ auffälligen Kostümen – zunächst in ausladenden Ballkleidern und Smokings und später in grellorangenen Astronauten-Anzügen – war das Ensemble auf höchst unterhaltsame Weise damit beschäftigt, Merkmale, Verhalten und Eigendynamik dieses ihnen allen offenbar rätselhaften Raumgefüges zu erkunden. Provoziert wurde so auch auf Publikumsseite eine erhöhte Aufmerksamkeit für den Raum, das Bühnenbild sowie auch für das Kostüm, Licht und überhaupt alle szenografischen Elemente.

Spielerisch machte diese Pollesch-Produktion deutlich, dass Szenografie als Doing Scenography (künstlerisches Entwerfen und Gestalten von Bühnenbild bzw. -raum, Kostüm, Maske, Objekten, Licht, Video, Sound) integrales Element jeder Inszenierung und Aufführung ist. Zudem wurde sie als Scenography in Performance, als mitkonstituierender Faktor oder, 26

Szenografie, Performance Design und Theaterforschung

mit Pamela Howard gesprochen, als ‚Mitspieler‘ (collaborator, co-player) oder gar ‚Treiber‘ (initiator) der Aufführung immer wieder explizit Thema (dies. 2002, 73). Ein solches Verständnis von Szenografie, das ihrer traditionellen Auffassung als ‚Dekoration‘ und ‚Ausstattung‘ widerspricht, diskutieren in ihrer theoretischen Auseinandersetzung mit Bühne, Inszenierung und Aufführung die anglophonen Scenography & Performance Design Studies. Gestellt werden dort, (1.) inszenierungsanalytisch, Fragen nach ästhetischen Praktiken, Verfahren und Entwurfsprozessen der Szenografie.

(2.) Im Hinblick auf die Aufführung wird untersucht, wie Szenografie ihre Materialität, Medialität und Semiotizität einbringt und Räumlichkeit, Visualität, Klanglichkeit sowie Bedeutungs- und Erfahrungsdimensionen mithervorbringt. Gefragt wird zudem nach ihrer Agentialität (agency) und – mit Blick vor allem auf die Gegenwartskünste – nach transversalen Ästhetiken und der Vielgestaltigkeit des Szenografischen auf und jenseits von Bühnen (expanded scenography). Wie schon in der Einleitung zum vorliegenden Buch knapp skizziert, stellen sich für die Theaterforschung mit Szenografie-Fokus somit vielerlei Aufgaben; eine der wohl wichtigsten ist (ausgehend von Howards basal gestellter Frage „What is scenography?“), den analytischen Blick (ad 1.) auf Produktionsästhetiken zu richten und auf die Frage nach dem kreativen Beitrag von Bühnen-, Kostümbildner:innen, Video- und Lichtgestalter:innen zur Arbeit des Inszenierens. Diese Arbeit erfolgt stets in co-kreativen, kollaborativen Prozessen (zwischen Regie/ Dramaturgie/Szenografie/Ensemble), wobei die Aufgabenverteilungen und Abläufe im Theaterbetrieb einerseits gewachsenen Konventionen folgen und sich zum anderen, teamabhängig und gemäß dem künstlerischen Selbstverständnis der Beteiligten, aber auch unterscheiden. In der Aufführungsanalyse (ad 2.) legt Szenografie-Forschung den Fokus auf Ereignisästhetik und ästhetische Wahrnehmung (scenography in performance); eine Krux bei der (Weiter-)Entwicklung geeigneter Methoden ist der zugrunde gelegte Aufführungsbegriff. Gemäß der in der (deutschsprachigen) Theaterwissenschaft v. a. von Erika Fischer-Lichte vertretenen Definition gilt das Zusammenkommen von Darstellenden und Zuschauenden im „geteilten Hier und Jetzt“ (leibliche Ko-Präsenz) als für Theaterkunst konstitutiv: Im Wechselverhältnis zwischen darstellender Handlung sowie Publikumsreaktion und rezipierender Teilnahme, beschrieben als „autopoietische feedback-Schleife“, entsteht demnach die Aufführung.2 Ihre so angesetzte Bestimmung, die wesentlich auf ein Merkmal (das ‚Zusammenkommen‘) abhebt und das komplexe Bedingungsgefüge von Aufführungen fast gänzlich außer Acht lässt, bedingte eine erstaunlich weitgehende Ausblendung Die Kunst der Szenografie

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des Szenografischen aus den Analysen. Eine Forschung, die den Fokus dagegen auf Szenografie richtet, verlangt, dass nicht nur Darstellende und Publikum, sondern auch szenografische Elemente als mitkonstituierende Faktoren beachtet werden müssen: Hiervon ausgehend, gilt es zu untersuchen, wie sie als ‚Mitspieler‘ oder gar ‚Treiber‘ (im Sinne Pamela Howards) an Aufführungsereignissen teilhaben und in sympoietischen Prozessen in diese hineinspielen.3 Darüber hinaus – wenn man so will: auf zweiter Ebene – stellt diese Forschung die Frage nach Anerkennung, Stellenwert und Reflexion von Szenografie als Kunst und Gestaltungsdisziplin eigenen Rechts und insofern auch als einer Denkform, die über einzelne Realisierungen hinausweist. Die Herausforderung, die sich daraus ergibt, wäre, Szenografie in ihrem gesamten Spektrum historiografisch und kulturvergleichend (synchron/diachron) zu erforschen.

2. Szenografie als Gegenstand der (deutschsprachigen) Theaterwissenschaft

Gemäß einer weit gefassten Definition sind Szenografien künstlerische Entwürfe und Realisierungen szenischer Gestaltungen (von Bühne, Kostüm, Maske, Objekten, Video, Sound, Licht), die sich von vergleichbaren, für den Alltag konzipierten Gestaltungen in der Art und Weise abheben, wie sie ästhetisch ‚auffällig‘ werden, Affordanzen zeigen und sich performativ und responsiv verhalten.4 In der Weise, wie Szenografie – als Element transitorischer Künste (in Theateraufführung/Performance) oder vergleichbarer Ereignisse (z. B. inszenierte Ausstellungen) – auftritt, ist sie Element und ‚Akteur‘ eines anderen Erscheinens (im Sinne Seels, vgl. ders.

2003/2023). Entworfen mithilfe geeigneter Medien, Materialien und technischer Apparate, ist Szenografie (und ihre Teilelemente) stets mitkonstituierender Faktor von Bühne bzw. Aufführungssituation. Obwohl anderen Kunstgattungen (etwa der Installation) verwandt, stehen Szenografien nicht für sich allein, sondern werden konzipiert, um Teil eines Aufführungsvorgangs zu werden. „Ich verstehe mich als bildender Künstler, der am Theater arbeitet“, betonte beispielsweise der Bühnen- und Kostümbildner Bert Neumann, mit Blick auf seine temporären Theaterarchitekturen und ‚Wohnbühnen‘,5 „allerdings sind die Räume, die ich baue, nicht zur reinen Betrachtung gedacht. Sie lösen sich erst durch Benutzung, durchs Bewohnen ein“ (ebd.) und, so wäre zu ergänzen, durch die Teilhabe eines Publikums an diesem Vorgang, welche eine Szenografie und ihre Elemente erst in einen ästhetischen Raum transformiert. Eine ähnliche Posi28

Szenografie, Performance Design und Theaterforschung

tion vertritt auch Katrin Brack, die gleichwohl selten ein Bühnenbild bauen lässt, sondern performative, atmosphärische Räume entwirft. Auf die Frage, inwiefern sie diese als „Mitspieler“ versteht oder aber als „autonome Räume, in denen das Spiel von anderen stattfindet“ (Brack/Irmer 2019, 123), lautet ihre Antwort: (…) Meine Räume stehen nicht allein, können auch nicht isoliert betrachtet werden (…), sondern brauchen die Schauspieler. Denn erst mit dem, was sie in und mit den Räumen tun, entsteht etwas, das darin gelesen werden kann, sich als Emotion vermittelt und für das Publikum zum Interpretationsangebot werden kann. Ich bin in den letzten Jahren oft gefragt worden, ob meine Räume Kunst sind, und die Antwort, die ich immer wieder gebe, ist: sie denken nicht darüber nach, ob sie Kunst sind oder nicht. (…) Mit meinen Räumen schaffe ich Voraussetzungen für einen Zusammenhang, der offen ist, nicht kalkuliert werden kann. Erst aber durch das Spiel (…), die Kostüme (…) und das Licht (…) beginnen meine Bühnen zu ‚spielen‘ (…) und es kann sein, dass dann etwas ganz Neues entsteht. (Brack, zit. nach ebd.)

Szenografien (hier: experimentelles Bühnenbild) sind demnach künstlerische Setzungen und dennoch keine Kunst ‚für sich‘, sondern realisieren sich erst im dynamischen Wechselspiel mit den anderen Theaterelementen, den Darstellenden und dem Publikum. Ähnliches gilt bereits für den Proben- und Produktionsprozess, wo Szenografie (indem sie verschiedene Teildisziplinen wie Kostüm, Maske, Licht etc. in sich verbindet) sämtliche Arbeitsfelder des Theaters berührt und unter den künstlerischen Disziplinen zudem diejenige ist, die am engsten mit allen Abteilungen (künstlerisches Team und Administration sowie auch Technikabteilungen und Werkstätten) kooperiert. Im Kontext des Theaters (verstanden als Kunst sowie auch als Kulturbetrieb und Produktionsapparat) bildet sie gleichwohl einen eigenen künstlerischen Diskurs, indem sie als die ‚bildende Kunst in der darstellenden Kunst‘ von der Frage handelt, wie wir Welt gestalten und wahrnehmen. In dem Sinne beschreibt Arnold Aronson die Szenografie als eine Kunst, die notwendig stets neu darauf reflektiert, wie sich unsere Lebensstile, kulturellen Codes sowie materiellen und medialen Kulturen verändern, oder mit seinen Worten: The stage can be understood only if it relates to the spatial and imagistic codes of its society (…), and ours is a multitasking society, a culture of the instantaneous, the temporary, the fragmented, the polyvalent, the intangible and ephemeral, the distant and the near. A stage that depicts solidity, linearSzenografie als Gegenstand der Theaterwissenschaft

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ity, and continuity – in other words, coherence – is not merely a false depiction of the current world, it may be unreadable to its contemporary audience. (zit. nach Hann 2019, 87)

Aufgabenstellung von Szenografie-Forschung in den darstellenden Künsten ist demzufolge, nach Ästhetiken und dem sich darüber vermittelnden Gestaltungsdenken zu fragen und zu untersuchen, wie Szenografie auf Gegenwart, Kultur, Lebenswelt reflektiert und zugleich auf das eigene Wissensrepertoire referiert (auf bisherige Entwürfe, Problemstellungen, ästhetische Praktiken, szenografische Phänomenotechniken),6 um dieses künstlerisch zu verhandeln, zu revidieren oder zu neuen Gestaltungslösungen zu finden. Mit Blick auf die Szenografie im Gefüge (Dispositiv) von Inszenierung/Aufführung und im Kontext des Theaters als sozialer Organisation und Institution7 stellt sich zudem die Frage, wie sie in diesen Zusammenhängen als Kunst und (selbst-)reflexive Praxis (Metaszenografie) auftritt (Scorzin 2011, Wiens 2020). Von diesen Überlegungen ausgehend soll im Folgenden genauer skizziert werden, welche Szenografie-bezogenen Perspektiven und Forschungsansätze in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft bisher vorliegen.

Szenografie transhistorisch/historisch

Konsultiert man das Metzler Lexikon Theatertheorie (2005/2014), so bezeichnet der Begriff gemäß der dort gegebenen, zunächst allgemeinen Definition „sämtliche bildlichen und plastischen Elemente, die im Theater den Schauplatz der Handlung in realistischer, symbolischer oder abstrakter Weise darstellen“;8 genannt werden „Bühnenbild, Licht- und Kostümgestaltung“ (ebd.). Dabei unterscheidet der Verfasser Christopher Balme einen transhistorischen Begriff, der „Raumgestaltung im Theater von der Antike bis zur Gegenwart“ umfasst, von einem auf das 20. und 21. Jahrhundert bezogenen, historischen Szenografie-Begriff: Dieser steht demnach, enger gefasst, für ein sich allmählich veränderndes Verständnis des ‚In-Szene-Setzens‘ (vom Arrangieren hin zur modernen Regie), zu dem innovative Bühnengestaltungen (man denke nur an das Theater Max Reinhardts) explizit beitrugen. Insbesondere verwendet wird der Begriff zur Beschreibung der Bühnenbild- und Bühnenraumexperimente, die den sogenannten historischen Avantgarden zugerechnet werden, wie Adolphe Appias abstrakte, ‚rhythmische Räume‘, die Formstudien der Bauhausbühne sowie Raumbühnen-Konzepte und bühnentechnische Innovatio30

Szenografie, Performance Design und Theaterforschung

nen im Zuge der Elektrifizierung der Bühnen, künstlerischen Verwendungen von elektrischem Licht oder Filmprojektion (z. B. Piscator/Gropius’ „Totaltheater“-Entwurf oder Friedrich Kieslers techno-futuristische Bühnen), die konstruktivistische Bühne (El Lissitzkys und anderer) oder auch das ‚Theater der Maler‘ (etwa mit Arbeiten Picassos, Légers oder Braques für die Ballet russes).9 Als eine Art Sammelbegriff wird er zudem gebraucht zur Beschreibung der Raum- und Bildfindungen von Neoavantgarde, Regietheater und experimenteller Performance seit den 1960/1970er Jahren (vor allem in Europa und den USA) bis hin zu den vielgestaltigen Szenografien im Theater und den performativen Künsten der Gegenwart.

Laut Balme befasst sich theaterwissenschaftliche Szenografie-Forschung vornehmlich mit „Wechselbeziehungen von bildender Kunst und Theater“ (ders. 2021, 187) und deren (Selbst-)Reflexion in theoretischen Schriften und Manifesten. Einen roten Faden bilde eine „lang andauernde (…) Auseinandersetzung mit der Guckkastenbühne“, die „aus ästhetischen oder gesellschaftlichen Gesichtspunkten“ kritisiert, künstlerisch bearbeitet oder auch überschritten wird mit Spielarten von Environmental Theater oder Mischformen aus Theater und Installation.10 „Als der Regisseur die Szene betrat, war eine seiner ersten Forderungen die nach einem neuen Bühnenbild“, schrieb Nora Eckert in ihrem Buch über Bühnenbild im deutschsprachigen Theater des 20. Jahrhunderts (1998/2006, 11). In Gang kam damit zugleich eine bis heute andauernde Diskussion um den eigenständig gestaltenden Beitrag von Szenografie zu Inszenierung bzw. Aufführung sowie über die Position, die man Szenograf:innen künstlerisch und strukturell in gewachsenen Ordnungsgefügen und Arbeitshierarchien des Theaters zuerkennt: Angefangen mit frühen Auftritten als enger (üblicherweise männlicher) Partner der Regie und nicht mehr nur als ‚Gehilfe‘ (besonders prominent und sogar modellbildend manifestiert in der Zusammenarbeit Bertolt Brechts und Caspar Nehers),11 über die jüngst diskutierte Frage nach der Heteronomie versus künstlerischen Autonomie der Szenografie (wie oben angesprochen mit Bert Neumann oder Katrin Brack), bis hin zur angestrebten nicht-hierarchischen, co-kreativen und produktions- bzw. projektbezogen variablen Arbeitsteiligkeit künstlerischer Teams im zeitgenössischen Performancetheater. Um den Wandel und sich verändernden Stellenwert dieser Kunst in Theatermoderne und Gegenwartstheater genauer zu fassen, lautete ein erster Vorschlag des französischen Theaterwissenschaftler Patrice Pavis (in dem von ihm verfassten „Szenografie“-Eintrag in Rowohlts Theaterlexikon, 1986/2007), zwischen Bühnenbild und Szenografie begrifflich zu trennen Szenografie als Gegenstand der Theaterwissenschaft

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(ebd., 969). Im Unterschied zu traditioneller Dekorationskunst sei letztere, besonders im modernen Regietheater, auch eng verbunden „mit der Entwicklung der Dramaturgie“;12 entsprechend fasste Pavis szenografisches Gestalten zunächst (von einem textbasierten Theaterverständnis ausgehend) als „Schreiben im Raum“ (écriture dans l’éspace) und Teil der „semiologischen Konzeption der Inszenierung“, die sich demnach in den Interdependenzen zwischen Text und Bild sowie verwendeten szenischen Materialien zeigt (ebd.). Auch der von ihm später eingeführte Begriff „­Dispositiv“ (dispositif scénique), als Bezeichnung der spatio-temporalen Funktion der Szenografie, wurde für die weitere Diskussion bedeutsam:13 Demzufolge ist Szenografieren eine ästhetische Praxis des Komponierens praktikabler Elemente aus einem (in Mitteln und Möglichkeiten schier unerschöpflichen) „Spiel-“ oder „Baukasten“, welche ausgewählt und gestaltet werden, um einer Spielhandlung eine (visuelle und raumzeitliche) Struktur zu geben und, mit gewählten Mitteln, künstlerisch ‚etwas auszusagen‘. In dem Sinne neu definiert, ist Szenografie eben nicht ‚Ausstattung‘, sondern vielmehr „dynamisches und polyfunktionales Element“ jeder Inszenierung/Aufführung und avanciert, im von Pavis noch weiter gedachten Sinne, zur „Wissenschaft und Kunst der Organisation der Bühne und des Bühnenraums“.14 Ein verwandtes Verständnis von Szenografie/Szenografieren, allerdings ‚postdramatisch‘ gewendet, findet sich bei Hans-Thies Lehmann (1999/2015). Mit Blick auf Arbeiten u. a. von Robert Wilson, Achim Freyer oder Romeo Castellucci definierte er Szenografie als visuelle ­Dramaturgie, die vom Drama / Theatertext unabhängig operiert, indem sie „optische Daten“ und deren „eigene Logik frei entfaltet“ (ebd., 158f.).

Eine der Grundannahmen postdramatischen Theaters, das Lehmann auch als Theater der Szenografie bezeichnete (ebd.), musste überdies sein, dass, wie Heiner Goebbels und andere betonten, alle Elemente der Bühne (Text und Bild ebenso wie szenografische Objekte, Licht, Musik, Klang) in ihrem Zusammenspiel mit den Darstellenden gleichwertig zur Inszenierung gehören und der Aufgabenbereich von Szenografie/Performance Design entsprechend weiter zu fassen wäre (vgl. ders. 2012, 12). Erweitert noch um andere Medien (analog/digital) erlebte das ‚Theater der Szenografie‘ um die Jahrtausendwende geradezu einen Boom.15 Lehmanns viel beachtetes Buch, das seinerzeit ein Vokabular zur Beschreibung neuer Ästhetiken und künstlerischer Arbeitsweisen bereitstellte und in mehr als 20 Sprachen übersetzt wurde (2006 ins Englische), wurde auch in den anglophonen Scenography Studies zu einem oft zitierten Referenzwerk: 32

Szenografie, Performance Design und Theaterforschung

„The capacity of scenography as an autonomous practice has been made (…) visible by what Lehmann identified as ‚postdramatic theatre‘“, konstatieren bereits in der Rückschau Joslin McKinney und Scott Palmer (dies. 2017, 5), „(his) survey of late twentieth century Western theatre points to the dehierarchisation of practice so that the scenography may be the prime focus of performance as much as the text or the performers“ (ebd.). Im Zuge der weiteren Diskussion wird Szenografie seither gleichermaßen als Praxis und diskursive Formation in den Blick genommen.

Angesichts der schier unüberschaubar gewordenen Vielgestaltigkeit des Szenografischen wurde ihr sogar eine Schlüsselrolle zugeschrieben und in ihr dasjenige künstlerischen Denken und Tun erkannt, das in Inszenierung/Aufführung alle Elemente, die ihrem gestalterischen Kompetenzbereich zugehören, gleichsam ‚orchestriert‘, oder wie der britische Theaterwissenschaftler Christopher Baugh formulierte: (…) One might argue that scenography has become the principal art of performance making (…) where all aspects of the scene (scenic space, embo­ died action, material, clothes, light and sound) may become the materials laid out on a performance-maker’s palette’ (…). (ders. 2013, 240)

Ähnlich lautete zuvor ihre in The Cambridge Introduction to Scenography (2009) von Joslin McKinney und Philip Butterworth einschlägig vertretene Definition als „manipulation and orchestration of the performance environment“ (ebd., 6f.), und auch in deutschsprachigen Publikationen wurde fast zeitgleich, allerdings abseits theaterwissenschaftlicher Fachdiskussion, von Thea Brejzek, Gesa Mueller von der Haegen und Lawrence Wallen eine dem verwandte, zudem entschieden genre- und disziplinüberschreitende Perspektive vorgestellt; demnach: … manifestiert sich (Szenografie) (…) weit über das Theater (Bühnenbild und Bühnenraum) hinaus in all jenen Bereichen räumlicher Gestaltung, denen inszenatorische, narrative und transformative Grundmuster bzw.

Aspekte eingeschrieben sind. (…) In der Betonung des Prozesshaften, Ereignishaften und Konstruierten verbinden sich ehemals getrennte gestalterische Genres von Design über Architektur, Theater, Ausstellung, Messe und Museum zu inszenatorischen Gesten von Räumlichkeit. (dies. 2009, 370)

Szenografie als Gegenstand der Theaterwissenschaft

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Vom Guckkasten zur Theatersituation? Szenografie postdramatisch und ‚expanded‘, Environmental Scenography‘, Szenografie als forschende Praxis

Der seither (vor allem in der anglophonen Szenografie- und PerformanceDesign-Forschung verwendete) Arbeitsbegriff der ‚erweiterten S­ zenografie‘ (scenography expanded, McKinney/Palmer 2017; Brejzek 2011) signalisiert zweierlei: (1.) die Beobachtung, dass sie als ästhetische Praxis auf verschiedenen Kunst- und Kulturfeldern (transdisziplinär) auftritt. Szenografische Logiken (in Setting, Beleuchtung, Bild- und Raumdramaturgie, Bewegungs- und Aufmerksamkeitslenkung) sind heute vielerlei Bühnen (des Theaters bzw. der darstellenden Künste) und darüber hinaus vielen Alltagssituationen eingeschrieben: Man denke an inszenierte Ausstellungen im Museums- oder Messebereich (Ausstellungsdesign) oder an die ubiquitären Erlebniswelten von Themenparks, Shoppingmalls sowie an Designstrategien von Kaufhäusern wie z. B. IKEA (consuming scenography)16 bis hin zu Gestaltungen von VR-Umgebungen, Online-Welten sowie hybriden Konstellationen (AR, XR) (digital scenography).17 Sogar vom neuen Paradigma des Scenographic Turn war die Rede, aber auch von der Gefahr, dass der Begriff überdehnt, unscharf und als Analysekategorie letztlich unbrauchbar wird.18 Abermals wurde daher eine Präzisierung der Definition und auch Eingrenzung ihres Gegenstandsbereichs gefordert (ebd.). Darüber, ob Szenografie als trans- bzw. interdisziplinäre Gestaltungspraxis gesehen werden muss, gehen die Meinungen auseinander. Einen wichtigen Beitrag leistete Rachel Hann (Beyond Scenography, 2019) mit ihrem so einfachen wie berechtigten Hinweis, dass nicht alles, was szenografische Merkmale, Theatralität und Performativität aufweist, im künstlerischen Sinne auch Szenografie ist. Ihr Vorschlag lautet daher, zwischen „scenography“ und „scenographics“ (das heißt, der Szenografie entlehnten, in Feldern jenseits des Theaters angewandten ästhetischen Praktiken) zu unterscheiden.19 Entsprechend erscheint sinnvoll, mit Blick auf verschiedene Felder von Kunst bzw. Design komparatistisch anzusetzen und Szenografie unter den Bedingungen verschiedener Dispositive (­Theater, Museum, Film, Werbung und Konsumkultur, u. a.) zu untersuchen (vgl. den Abschnitt Szenografie im/als Dispositiv). Von da aus wird es möglich, jeweils nach den ästhetischen Praktiken und den visuellen, räumlichen, technologischen, materiellen und medialen Aspekten des Szenografischen zu fragen, nach dem „Denken der Szenografie“ (thinking ­scenography, vgl. Groot Nibbelink 2019) und, damit verbunden, auch nach seiner sozialen, politischen, ethischen Dimension und möglicherweise sogar kulturstiftenden Funktion.

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Szenografie, Performance Design und Theaterforschung

Dies vorausgeschickt, lässt sich Szenografie (2.) theaterbezogen, mit Fokus auf das Feld der darstellenden Künste, in den Blick nehmen. Nach ­Aronson (2012) ist der Theaterszenografie eigen, dass sie künstlerisch stets darauf reflektiert, wie sich Räume, kulturelle Codes, materielle und mediale Kulturen sowie lebensweltliche Bedingungen einer Gesellschaft verändern (im ‚Hier und Jetzt‘ der Aufführung würde sie für ihr Publikum sonst kaum lesbar sein). Zugleich geht der Referenzrahmen, in dem sie arbeitet, weit über den Gegenwartsbezug hinaus. Dies zeigt sich eindrücklich etwa darin, dass Szenografie – im Zuge ihrer anhaltenden Kritik von Proszeniums- und Guckkastenbühne – heute mit vielerlei Bühnenformen umgeht, die sie künstlerisch exploriert und reinterpretiert (vgl. Weinstein 2018).

Beispielhaft genannt werden können etwa Sebastian Hannaks Raumbühnen am Staatstheater Kassel (vgl. Abb. 36–37) oder Bert Neumanns temporäre Architekturen an der Berliner Volksbühne („Agora“, 2009, „­Neustadt“, 2002/03, „New Globe“, 1999) sowie seine zuletzt auf der PQ 2019 präsentierten mobilen Bühnen (vgl. Abb. 9 und 10). Die erkennbare Bandbreite reicht hier von Auseinandersetzungen mit historischen Bühnenformen europäischer Prägung (Arenatheater, Shakespeares Globe, u. a.) und außereuropäischen Bühnen (z. B. des japanischen Kabuki- oder Nō-Theaters) bis hin zu Gestaltungen theaterarchitektonisch nichtfixierter Räume. In dem Sinne kann man auch sagen: Szenografie ist eine grundständige Arbeit am Theater, an seiner Materialität und medialen Parametern. Bekanntlich eignet dem Wort ‚Theater‘ eine mehrschichtige Bedeutung: so bezeichnet es zum einen Theater als Institution, (soziale) Organisation, Einrichtung und konkrete Stätte, als Ort der realen Zusammenkunft von Darstellenden und Publikum (der ein öffentlicher Platz oder ein Gebäude sein kann), und zum anderen den theatralen Vorgang des Spielens und Zuschauens, des Zeigens und Wahrnehmens, durch den ein Ort und seine Elemente in einen ästhetischen Raum transformiert werden. Dieser Doppelcharakter des Theaters tritt, Lehmann zufolge, in der „Überschneidung von ästhetisch organisiertem und alltäglich realem Leben“ hervor (ders. 1999/2015, 12). Szenografie operiert an eben diesen Schnittstellen.

Die Orte und Spielräume von Theater sind heute vielgestaltig, und Szenografie hat daran entscheidenden Anteil. Um die Bandbreite der Bühnen bzw. Spielorte und szenografierten Situationen zu beschreiben, brachte der amerikanische Theaterwissenschaftler Arnold Aronson den Begriff environmental scenography in die Diskussion. Mit diesem Leitbegriff seiner gleichnamigen Studie (1981/2018) bezieht er sich zunächst auf Richard Szenografie als Gegenstand der Theaterwissenschaft

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Schechners Begriff „environmental theatre“, den dieser ehedem einschlägig in seiner Schrift 6 Axioms for Environmental Theatre (1968) geprägt hatte.20 Schechner war es damals, mit Blick auf Arbeiten von Jerzy ­Grotowski, Allan Kaprow, John Cage u. a. und auch aus der eigenen Praxis heraus, darum gegangen, ein anderes Theater jenseits von Guckkasten und Literaturtheater zu entwerfen. Im ersten Abschnitt der manifestartigen Schrift findet sich eine ausführliche Besprechung einer seinerzeit Aufsehen erregenden Multi-Media-Installation des tschechischen Szenografie-Pioniers Josef Svoboda (Diapolyecran, Expo Montréal 1967), in der er Aspekte und Potenziale der Szenografie in ihrem Wechselspiel mit den Darstellenden und dem Publikum erläuterte (ebd., 45ff.). Von offenkundig größter Bedeutung war für Schechner die Raumfrage: Die Trennung zwischen Bühne und Publikum sollte aufgehoben werden; ein anderes seiner Prinzipien besagt, dass Raum sowohl als gestalteter Raum (totally transformed space) oder als gefundener Raum (found space) behandelt werden kann; wichtig sei aber, dass die Spieler:innen und das Publikum mit diesem in einen „szenischen Dialog“ treten (ebd. 50). Weitere Axiome verlangen „Multi-Fokalität“, flexible und variable Sichtachsen sowie die gleichwertige, auch kontrastierende Behandlung aller Theaterelemente, unter denen ein Drama oder zugrunde gelegter Text keine Dominante mehr ist („There may be no text at all“).21 Mit dem solchermaßen gefassten performanceBegriff suchte Schechner die ästhetische Ordnung des Theaters und auch seine soziale Verortung anders zu denken. Leitgedanke war aber nicht eine Aufhebung der Trennung von Kunst und Leben (anders als es etwa zeitgleich die Mitglieder der Situationistischen Internationale forderten, mit ihren Praktiken der Stadterkundung und des Umherschweifens22). Vielmehr betrachtete er das Spektrum, das sich ihm zufolge von Alltagssituationen/Public Events über Happening und environmental theater bis hin zum hochformalisierten Kunsttheater spannt, als fließendes Kontinuum (ebd., 41), entlang dessen sich Rollen und Funktionen der Beteiligten jeweils ausdifferenzieren.

In seiner Studie The History and Theorie of Environmental Scenography (1981/2018) übernahm Aronson vieles von Schechner, arbeitete seinen eigenen Leitbegriff aber grundlegend aus, um damit unterschiedliche Bühnen- und Spielformen in den Blick zu nehmen („medieval theatre, popular entertainment, numerous examples of non-Western Theatre, modernist and avantgarde praxis“).23 Die lotusblumenähnliche Bühne des indischen Raslila-Spiels interessiert ihn dabei ebenso wie Max Reinhardts Raumexperimente (vom Zirkus Schumann in Berlin bis hin zu den Salzburger 36

Szenografie, Performance Design und Theaterforschung

Bühnen) oder Performanceprojekte Robert Wilsons (KA MOUNTAIN AND GARDenia TERRACE, Festival of Shiraz, 1972) oder auch aktuelle Arbeiten z. B. von Rimini Protokoll oder der britischen Theatergruppe Punchdrunk. Indem er auf diese Weise den Fokus auf die Szenografie legt, laboriert Aronson an einer theaterästhetischen Grundfrage, die, ähnlich, Hans-Thies Lehmann mit dem Terminus ‚postdramatisch‘ umkreist hatte. Lehmann zufolge sollte dieser Begriff keine Zeit nach dem Drama bezeichnen, sondern eine „konkrete theaterästhetische Problemstellung“ (ders. 1999/2015, 19). Diese veranschaulichte er wie folgt: Von den Grundkomponenten theatraler Kommunikation (Spielende/Publikum/ Raum) ausgehend unterschied er zwei Kommunikationsachsen: 1. die „innerszenische“ Achse (die Kommunikation bzw. Interaktion zwischen (fiktionalen) Figuren innerhalb einer fiktiven, szenisch vergegenwärtigten Welt) und 2. eine „dazu querstehende Achse“, die als ‚reale oder strukturelle‘ Grenze die Begegnung und Kommunikation zwischen Spielenden und Publikum regelt. Das theaterspezifische Merkmal dieses Gefüges, dass Rede bzw. Handlung stets doppelt adressiert werden, d. h. innerszenisch (unter Spielenden) und außerszenisch (an ein Publikum), nannte er die „latente Spaltung des Theaters“ (ebd.). Environmental theatre und postdramatisches Theater haben demnach gemein, dass sie stets beide Kommunikationsachsen bearbeiten und zwar so, dass Drama/Text in beiden Fällen keine Dominante mehr bilden, sondern die innerszenische Kommunikation geöffnet oder gar ausgeblendet wird, sodass die künstlerische Arbeit an der Relation Darstellenden/Publikum/Raum (d. h. der ästhetischen Grenze des Spiels) zur Hauptsache wird, oder mit Lehmanns Worten: „Theater wird als Situation akzentuiert, nicht als Fiktion“ (ebd., 231).

Aronson postuliert (anders als Lehmann), dass auch das Theater der Situation nicht ohne Szenografie auskommt. Mit dem Leitbegriff „environmental scenography“ fragt er, wie entlang der Achse zwischen szenischem Raum (Bühne) und theatralem Raum (Theaterbau/Architektur) – die, historisch und kulturvergleichend betrachtet, unterschiedlich gezogen wird – zudem ortsspezifische Räume (Umgebung, sozialer Kontext) sowie Medienräume (Film, Video, digitale Räume) mit ins Spiel kommen, oder als found environments, site-specific bzw. transformed spaces ihrerseits Ort, Element bzw. Thema von Theaterereignissen werden. Arbeitsbegriffe seiner Analysen sind: der „geteilte Raum“ (shared space), Multiplikation von Räumen und Prozessualität (multi-space and processional staging) sowie die „frontale“/„nicht-frontale“ Situation, in welcher die Darstellenden oder das Publikum (oder beide) örtlich fixiert sind oder aber in Bewegung geraSzenografie als Gegenstand der Theaterwissenschaft

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ten (stationary vs. moving). Der entscheidende Beitrag seiner Studie liegt darin, in Case Studies erstmals ästhetische Praktiken zu differenzieren und aufzuzeigen, mit denen – auch jenseits ausgewiesener Bühnen/Bühnenräume – die offenen Situationen des Performancetheaters und sogenannten immersiven Theaters szenografisch gestaltet werden.

Ein erweitertes Verständnis von Theater bzw. Theatermachen – auch im Sinne einer anhaltenden Bearbeitung des Guckkastendispositivs – suchte der Gießener Theater- und Tanzwissenschaftler Gerald Siegmund unlängst in die Formeln „Von der Interpretation zur Produktion“ und „Vom Guckkasten zur Situation“ zu fassen (ders. 2020, 21 und 29): Ihm zufolge lassen sich entlang dieser Formeln Veränderungen aufzeigen, die in der deutschsprachigen Theaterlandschaft der vergangenen Jahrzehnte prägend wurden.24 Im Blick in die Nachkriegszeit erinnert er zunächst daran, dass sich die öffentlich geförderten Stadt- und Staatstheater (mit ihren Sparten Oper, Schauspiel und Tanz/Ballett), gemäß ihrem Selbstverständnis als Bildungsinstitutionen, lange vor allem der Pflege klassischen Repertoires widmeten. Signifikante Veränderungen brachte die Herausbildung des Regietheaters (im Sprechtheater, aber auch im Bereich Oper/ Musiktheater) sowie des Tanztheaters. Dass auch hierzulande seit den 1960/70er Jahren leerstehende Fabriken, ehemalige Kinos, Straßen, Parks oder öffentliche Plätze von meist freien Gruppen bespielt werden, wird entsprechend (und zuweilen etwas schlagwortartig) als „Auszug“ aus den Theaterhäusern, „Aneignung“ urbaner Räume und ‚Entgrenzung der Künste‘ beschrieben,25 als Verlassen des Guckkastens zugunsten offenerer Situationen.

Weitere Veränderungen brachte in den 1980/1990er Jahren eine Freie Theaterszene, die seither mit öffentlichen Geldern gefördert wird; zeitgleich wurden Produktionshäuser (wie Mousonturm in Frankfurt am Main, Kampnagel in Hamburg oder PACT Zollverein, Essen) eingerichtet, die mit ihren (inter-)nationalen Ko-Produktionen und Gastspielen eigene Produktions- und Präsentationsweisen etablierten. All dies beeinflusst wiederum auch die Arbeitsweisen und Ästhetiken an den festen Häusern. Darüber hinaus tragen internationale Festivals (Theater der Welt, Ruhrfestspiele Recklinghausen und andere) schon jahrzehntelang dazu bei, innovative Spielarten und szenografische Signaturen (z. B. Arbeiten der New Yorker Wooster Group, Robert Wilsons, der dänischen ­Compagnie Hotel Pro Forma und vieler anderer) auch einem Publikum im deutschsprachigen Kontext bekannt zu machen. Erkennbar werden im Theaterfeld demnach Transformationsprozesse, in denen künstlerische 38

Szenografie, Performance Design und Theaterforschung

Neuerungen und Entwicklungen (in den Bereichen Schauspiel, Performancetheater und Tanz sowie, anders, auch in Oper/ Musiktheater) und strukturelle Veränderungen Hand in Hand gehen. Siegmund diskutiert diese Veränderungen entlang seiner beiden Formeln; eine seiner Beobachtungen ist, dass nicht mehr notwendig kanonische Stücke und deren szenische Interpretation auf den Spielplänen stehen, sondern sich Künstler:innen in vielfältigen Stück- und Theaterformaten mit den „Mitteln und Möglichkeiten des Theaters selbst“ beschäftigten, um aktuelle Themen zu bearbeiten (ders. 2020, 25). Damit verbunden sei zudem eine veränderte Publikumsadressierung, die, wie er mit Fischer-Lichte ausführt, in der „Entdeckung des Zuschauers“ in der Moderne (dies. 1997) eine Vorgeschichte habe, als man das Publikum aus dem Guckkastendispositiv und dem (seit dem 19. Jahrhundert abgedunkelten) Zuschauerraum herausführte. Im weiteren Blick zurück auf die Konstellation des griechisch-antiken Theaters als Schauanlage (θέατρον, theatron) bemerkt er zutreffend, dass die Entdeckung des Publikums keine Neuerung ist, sondern so alt wie das Theater selbst; folglich unterliege die Bestimmung der Relation zwischen Darstellenden/Zuschauenden von ehedem bis in die Gegenwart hinein einem ständigen „Funktionswandel“ (ders. 2020, 31). Die Kontrastierung und Engführung der Begriffe Bühne (im Sinne von Guckkasten) und Situation (lat. situs, Lage, Stellung, Umstände), die er vornimmt, soll als Folie dienen, um Theater in der Bandbreite seiner aktuellen erweiterten, postdramatischen und experimentellen Formen und Formate zu beleuchten (ebd., 29f. und 78). Insgesamt geht es ihm um eine Neubestimmung der ‚Theatersituation‘, die er, in Verbindung theaterwissenschaftlicher, soziologischer, phänomenologischer Ansätze sowie bezugnehmend auf Schriften insbesondere Guy Debords, Jacques Rancières und auch Schechners entwickelt. Zudem werden verschiedene Konstellationen des Darstellens/Zuschauens und der Teilnahme bzw. Teilhabe anhand einer Fülle von Beispielen aus den Bereichen Theater- und Tanzperformance veranschaulicht, wobei auch bei ihm die Leitvokabel „Zusammenkommen“ (der Darstellenden und des Publikums im ‚Hier und Jetzt‘ der Performance) die begriffliche und gedankliche Klammer bildet.

Eine Theaterforschung, die den Fokus auf Szenografie in ihrer gesamten (und im Gegenwartstheater ausnehmend vielgestaltigen) Bandbreite legt, kann hier anschließen. Die Frage nach dem „Zusammenkommen“, als zentral gesetzter Grundbedingung von Theaterereignissen, stellt sich damit allerdings nochmals anders. Was kommt wo und wie zusammen? Und wie Szenografie als Gegenstand der Theaterwissenschaft

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hat Szenografie als künstlerischer Faktor Teil an diesen Transformationen?

Wenn Theater immer schon vielerlei Verortungen, Spielanordnungen und Bühnenformen in bzw. außerhalb gebauter Architektur kennt, so ist – mit Aronson – davon auszugehen, dass Szenografie im Gegenwartstheater mit all diesen Konstellationen umgeht – auch wenn (oder gerade weil) das Guckkastendispositiv, vor allem in der westlichen Kultur, bis heute dominant sein mag. Um solcher Variabilität in einer flexibleren Bestimmung der Kategorie ‚Theaterraum‘ Rechnung zu tragen, schlug bereits vor Längerem Marvin Carlson in seiner (theatersemiotisch angelegten) Studie Places of Performance (1989) den Begriff „ludic space“ (ludischer Raum) vor und formulierte dafür weit gefasste Parameter („A permanently or temporarily created ludic space, a ground for the encounter of spectator and performer“, ebd., 6): Weitmöglichst offengehalten, sollte der Begriff erlauben, unterschiedliche Architekturen, Bühnenformen und Spielkonstellationen zu beschreiben. ‚Ludische Räume‘ sind zuallererst Begegnungsorte (Architekturen, Orte realer Versammlung). Erst durch den Theatervorgang des Vorspielens und Zuschauens, des Zeigens und Wahrnehmens werden sie zu ästhetischen Räumen und an diesem Transformationsvorgang haben sie ihrerseits stets integral teil: Räumliche Ordnungen, Proportionen, Strukturen von Bühnenformen bzw. Theaterräumen und die kulturellen und sozialen Merkmale, die ihnen innewohnen, generieren Bedeutungen, die in die Aufführungen sinnstiftend mit eingehen. Indem diese stets formativ an der Bestimmung der Relation zwischen Darstellenden/Publikum beteiligt sind (vermittels ihrer Materialität und Medialität), wirken sie zudem erfahrungsstiftend und bedingen Interaktionsformen und ästhetische Erfahrungen entscheidend mit. All dies mag auch für das environmental theater gelten, das, Balme zufolge, „mit seinen unfixierten Räumen die jüngste und zugleich älteste Form“ ‚ludischer Räume‘ ist (ders.

2021, 163). Obwohl weitgehend unfixiert, sind aber auch diese Räume im szenografischen Sinne nicht nicht gestaltet, sondern integrales, ‚lebendiges‘ Element der Performance, oder wie Aronson mit Schechner betont hat: To stage a performance ‚environmentally‘ means more than simply to move it off of the proscenium or out of the arena. An environmental performance is one in which all the elements or parts making up the performance are recognized as alive. To ‚be alive‘ is to change, develop, transform; to have needs and desires; even, potentially, to acquire, express and use consciousness. (Schechner 1994, zit. nach Aronson 2018, 173f.)

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Szenografie, Performance Design und Theaterforschung

Aronson zufolge sind auch die Situationen des Environmental Theatre und Performancetheaters szenografisch gestaltet, wobei man – in den 1960/1970er Jahren von emanzipatorischem Impetus getragen – mit solchen ‚Aufbrüchen‘ ins Offene neue Situationen schaffen wollte. Genau besehen, zeigen sich aber auch dort Rückgriffe auf Raumkonzepte (des europäischen oder außereuropäischen Theaters, z. B. Simultanbühne, Prozessionstheater) oder auf vorhandene szenografische Verfahren (etwa der Theatermoderne), die aufgerufen und reinterpretiert werden. In ihrer tentativen Offenheit bzw. Nichtfixiertheit wird gleichwohl das ‚Orchestrieren‘ der Elemente einer Situation bzw. Spielumgebung zu einer neuen, veränderten Aufgabe der Szenografie (Aronson ebd., McKinney/Butterworth 2009). Dass sich die Funktion des Szenografischen in Räumen aus der Ebene des Sichtbaren, Greifbaren damit potenziell in eine operative Ebene verschiebt, betont auch die Kunstwissenschaftlerin Pamela Scorzin.

Eine solche Szenografie fungiert demnach als … … mehr oder weniger sichtbare Strukturierung, Programmierung, Organisation und Steuerung einer effektiven Interaktionssituation, d. h. in die adressatengerichtete Konfiguration etwa eines Dispositivs, eines Settings oder einer Plattform, die eine gemeinschaftliche (…) Wissensproduktion, experimentelle Spielräume und innovative Kreativitätsprozesse befördert. (dies. 2009, 313)

Das Spektrum wird damit sehr breit; nichtsdestoweniger postulieren die Szenografie- und Performance Design-Studies, wie eingangs ausgeführt, dass sie als Doing Scenography und Scenography in Performance integrales Element jeder Inszenierung/Aufführung ist und – mit ihren vielfältigen Gestaltungsmitteln und auch im Sinne forschender Praxis – mit Raum, Bühnenformen, Dingen, Materialien, Theatertechnik und Technologien künstlerisch umgeht. Keine Bühne bzw. Spielsituation ohne Szenografie, oder mit dem Bühnenbildner und Ausstellungsdesigner Uwe R. Brückner gesprochen: „One cannot not stage/Man kann nicht nicht szenografieren“ (zit. nach Wiens 2021, 119). Die Auseinandersetzung mit ihr sollte folglich stets Teil der Analysen sein: Wie also tritt sie auf, wie operiert sie und welchen Anteil hat sie an im Gegenwartstheater erkennbaren ästhetischen und strukturellen Transformationen?

Zu den rezenten Entwicklungen, die hier in den Blick kommen, zählen sicherlich jene Spielanordnungen, die, mit Siegmund, als Theater der ­Situation beschrieben werden – und deren Gestaltungen, aus Sicht der Szenografie als Gegenstand der Theaterwissenschaft

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3 Rimini Protokoll, Remote X, Houston Edition: Remote Houston (2016). Foto: dabfoto creative / The Cynthia Woods Mitchell Center for the Arts at the University of Houston, USA

Szenografie-Forschung, unter dem Terminus Expanded Scenography diskutiert werden (McKinney/Palmer 2017, u. a.). Zu den prominenten Vertreter:innen einer solchen Praxis zählt das in den Nullerjahren in Gießen gegründete Künstlerkollektiv Rimini Protokoll.26 Anlässlich einer Dokumentation zu der bundesweit und international gastierenden bzw. koproduzierenden freien Gruppe, die seit 2003 am Berliner Hebbel-Theater verankert ist, führte die Bühnenbildnerin Barbara Ehnes ein Gespräch mit den Mitgliedern (Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel) zur Frage nach szenografischen Strategien in ihren Projekten („Orte als Protagonisten“, in: Wahl 2021, 102–113). Differenzieren lassen sich Rimini Protokolls Arbeiten demnach in Theaterformate für Guckkasten bzw. Black Box, in begehbare Installationen, die im Theater- oder auch Museumskontext präsentiert werden, sowie, drittens, in die Kategorie Stadtraumprojekte, Audio-Walks und Hörspiele. Ihr explorativer Umgang mit Raum in allen drei Varianten (Guckkasten/Theaterinstallation/­Stadtraumprojekte) ist, wie das Gespräch mit Ehnes zeigt, ausgewiesen szenografisch:27 Auch wenn im konventionellen Sinne keine Bühnenbilder gebaut, Requisiten 42

Szenografie, Performance Design und Theaterforschung

gebraucht oder Kostüme gefertigt werden, wird, projektbezogen in erweiterten Teams (oft unter Mitwirkung des Bühnenbildners Dominic Huber), mit explizit szenografischen Verfahren gearbeitet, wobei Entwurfsmedien, wie z. B. Modelle, durchaus theaterunüblich eingesetzt werden und oft mit anderen, z. B. Raumskripts oder -­partituren, kombiniert oder auch durch diese ersetzt werden (vgl. Ehnes 2021). Doch selbst wenn Stadtraumprojekte und Audio-Walks (z. B. das reisende Projekt Remote X, Berlin 2013, zuletzt Tel Aviv 2022 und Sharjah 2023) explizit topografisch vorgehen und ihre Publika dazu einladen, gegebene (meist urbane) Kontexte ‚site-specific‘, also als durch soziale Handlung und kulturelle Erinnerung geprägte Örtlichkeiten zu erkunden und „Geschichte(n) im Raum“ aufzuspüren (Dünne 2009, 6), operieren sie immer auch mit szenografischen Mitteln und Verfahren: Dies zeigt sich in Auswahl und Behandlung des Kontexts (Raumdramaturgie, situierte Narration, Bewegungs- und Blicklenkung), im Umgang mit Entwurfsmedien (Modelle, Raumskripts, -partituren) sowie, in der Umsetzung, dem Gebrauch verschiedener, auch ‚theaterfremder‘ Medien (wie etwa, im Fall von Remote X, Smartphone, Audiodatei, GPS-Programm und Headsets) (Abb. 3). Erkennbar wird, wie ich an anderer Stelle argumentiert habe (vgl. meine Studie Intermediale Szenographie, 2014), eine Arbeit an Theater, Performance Design und unterschiedlichen „künstlerischen Logiken innerhalb eines sich insgesamt verbreiternden szenografischen ­Spektrums“ (ebd., 277).

Doing Scenography und Scenography in Performance: einige Beobachtungen

Bevor die folgenden Abschnitte der Frage nach aktuellen Tendenzen in der Szenografie und nach theaterwissenschaftlicher Forschung über Szenografie weiter nachgehen, seien an dieser Stelle vorab signifikante Merkmale szenografischen Gestaltens skizziert, die sich um die Jahrtausendwende ­abzeichnen; auffällige Merkmale und Entwicklungen sind demnach: • Anhaltende Diskussionen um künstlerische Autonomie/Heteronomie: ständiges Neujustieren ihrer Interdependenzen (mit Regie, Dramaturgie, dem Theaterbetrieb insgesamt). Bezugnehmend auf szenografische Experimente der historischen Avantgarden sowie Tendenzen in ­benachbarten Künsten (Performance Art, Aktionskunst, Environment, Installationskunst, Intermedia, u. a.) versteht sich Szenografie als ­eigenständig mitgestaltender Faktor in Inszenierung / Aufführung; Szenografie als Gegenstand der Theaterwissenschaft

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• Redefinition als Bild- bzw. Raumdramaturgie (im Zuge der Diskussion um das ‚postdramatische Theater‘), Szenografie löst sich vom Drama; das ‚Übersetzen‘ von Drama/Plot und narrativen Strukturen in B ­ ühnen-/ Kostümbilder ist nicht bzw. nicht notwendig bildnerische Aufgabe; • Pluralisierung szenografischer Verfahren: Szenografie versteht sich als ‚bildende Kunst in den darstellenden Künsten‘, künstlerische Gestaltung aller Teilelemente (Raum, Kostüm, Maske, Licht, u. a.) als Bedeutung generierende Elemente bzw. Assoziationsangebote (szenische Graphie); zudem exploriert Szenografie Topologien (Lagerelationen von Körpern, Dingen) und das Performative, Energetische des Raums (Licht, Materialität, Akustik, Atmosphären); • variable Rahmungen: die Grenze zwischen Bühne und Publikum wird immer wieder reflektiert und verhandelt; Re-Interpretation und Kritik der Guckkastenbühne, Spiel mit Rahmen, Übertreten des Rahmens, simultane vs. lineare Aktionen; • Hybridisierung der Szene: Mischung und Montage von Artefakten und Alltagsfragmenten, unterschiedlicher Materialien und Medien; • Szenografie auf/jenseits (gebauter) Bühnen, Environmental Scenography: Reinterpretationen von Bühnenformen europäischer Prägung und Bezugnahmen auf außereuropäische Traditionen; temporäre ‚Aneignungen‘ theaterfremder Spielorte; Theaterinstallation; Bespielung öffentlicher, meist urbaner Räume (Theater site-specific/on location, Stadtraumprojekte, u. a.); • Reflexion des Theaters als Ort, topografische Perspektiven: temporäre Eingriffe in gegebene Architektur/Umgebung (szenografische Intervention, scenographic hacking); Wahl und Bearbeitung von Ort, Spielstätte und Bühnenform (als Auswahl aus einem Spektrum mehrerer Möglichkeiten) werden signifikant; der Raum mit seiner Architektur sowie Lage und sozialen Bedeutung innerhalb des jeweils gewählten (urbanen oder ruralen bzw. geografischen) Kontexts ‚spielt mit‘; • Selbstthematisierung: Szenografie als Kunst und ästhetische Praxis wird ihrerseits Thema von Inszenierung /Aufführung; Markieren szenografischer Elemente als ‚Mitspieler‘, verstärkte bzw. veränderte Publikumsadressierung (Interaktion, Partizipation, Immersion), Irritation von Wahrnehmungsgewohnheiten, Metaszenografie (­Zitatpraxis, Reflexion auf szenografisches Wissen/Episteme des Szenografischen);

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Szenografie, Performance Design und Theaterforschung

• Pluri- und intermediale Szenografie, Medienreflexion (analog/digital): Reflexion der ‚medialen Spezifität‘ des Theaters; Pluri- bzw. Intermedialität, medienbasierte Erweiterung des ‚Hier und Jetzt‘ und der ‚­leiblichen Ko-Präsenz von Darstellenden und Zuschauenden‘ um die Kategorien Telepräsenz und Fernräumlichkeit, Gestaltung medial ‚erweiterter Ko-Präsenzräume‘ (Telekommunikation, Internet), spatiale Komplexität.

Diese Zusammenschau signifikanter Merkmale und Tendenzen der Szenografie28 mag ihr im Gegenwartstheater breit gewordenes, facettenreiches Spektrum andeuten; zugleich werden, wie rote Fäden, bestimmte künstlerische Problemstellungen, ästhetische Praktiken und, wie ich meine, grundständige Ansätze eines künstlerisch-szenografischen Forschens am Theater erkennbar. Mit anderen Worten: Das Verständnis der Aufgabenstellung und des gestaltenden, kreativen Potentials dieser Kunst, die auch ihr Berufsverband in Deutschland (szenografie-bund.de) daher selbstbewusst als die „bildende Kunst in den darstellenden Künsten“ beschreibt (und den gesamten Bereich von Bühnen-, Kostüm-, Maskenbild, Figuren- und Objektgestaltung sowie Licht- und Videodesign damit meint),29 ist auch in der Theaterlandschaft hierzulande im Wandel.

Dies drückt sich auch darin aus, dass Szenograf:innen seit einiger Zeit ihrerseits öffentliche Foren (Podiumsdiskussionen, Interviews, Dankesreden bei Preisverleihungen, Publikationsbeiträge oder eigene Werkmonografien) verstärkt nutzen, um sich – wenn man so will: metaszenografisch – über ihre Kunst zu äußern und ins Gespräch zu bringen. Dabei geht es um Explikation und Reflexion szenografischen Denkens und ästhetischer Praktiken und, damit verbunden, um die Frage nach Position, Bedingungen und Aufgaben ihrer Kunst im (theaterüblich kollektiven) Produktionsprozess sowie, drittens, um deren Wahrnehmung und Diskursivierung auf Seiten von Theateröffentlichkeit und -kritik. Einer der Künstler:innen, die sich zu jenen Fragen wiederholt nachdrücklich geäußert haben, ist Bert Neumann.30 Der 2015 überraschend verstorbene, langjährige Chefbühnenbildner der Berliner Volksbühne, der auch an Theatern und Opernhäusern europaweit tätig war und zudem mit seinen mobilen Bühnen („Rollende Roadschau“) international gastierte, gehörte in den vergangenen Jahrzehnten zu den sicherlich prägendsten Vertreter:innen dieser Kunst. Indem er seine Bühnen und Kostüme stets als „eigenständigen, eingreifenden Bestandteil des Gesamtkunstwerks Theateraufführung“ verstanden wissen wollte (ders. 2015), trug er dezidiert zu einem veränderten Szenografie als Gegenstand der Theaterwissenschaft

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Verständnis von Szenografie bei. Mit seinen Räumen, die er „Architekturen auf Zeit“ nannte, vertrat er einen entschieden erweiterten Begriff von Bühnengestaltung, oder wie er selbst sagte: „Bühnenbild endet für mich nicht am Portal, sondern umfasst den ganzen Saal. Ich finde es spannend, mit Formen zu experimentieren“, und: „Bühnenbilder sind Sozialbiotope, Filmstudios, Wohnlabors und notfalls ganze Städte“ (ders. 2013, o. S.).

Um der aktuellen Bandbreite des Szenografischen Sichtbarkeit zu verleihen, wurden neben seinen eigenen Entwürfen an der Volksbühne, auf Neumanns ausdrückliches Betreiben, stets szenografische Signaturen präsentiert: Anna Viebrock, Hartmut Meyer, Penelope Wehrli, Katrin Brack, Aleksandar Denić oder auch Janina Audick, Nina von Mechow, Tabea Braun und andere arbeiteten dort ebenso wie der Maler, Installations- und Aktionskünstler Jonathan Meese, das Künstlerduo Vegard Vinge & Ida Müller oder der ebenfalls früh verstorbene Filmemacher und Performancekünstler Christoph Schlingensief. Bei vielerlei Gelegenheit äußerte Neumann sich prägnant zum Zusammenhang zwischen Ästhetik, Institution und überkommenen Hierarchien in Theaterproduktion bzw. -rezeption.

Ihm zufolge verlangt eine Neubetrachtung der Szenografie als Kunst auch eine Neujustierung dieser Strukturen, oder wie er bei seiner Auszeichnung mit dem renommierten Hein-Heckroth-Preis für Bühnenbild im Frühjahr 2015 betonte: Theater ist eine kollektive Kunstform; im selbstbestimmten Zusammenwirken von Künstlern mit verschiedenen Talenten entsteht im besten Falle etwas, was keiner von ihnen allein oder in anderer Konstellation hätte machen können. Gerade in diesem Modell (…) liegt meiner Ansicht nach die große, zukunftsweisende Potenz von Theaterarbeit. Ich betone das so (…), weil das zwar vielen von uns in der Theaterpraxis klar ist, in der Betrachtung und Beschreibung (…) jedoch immer wieder eine hierarchische Struktur der Theaterarbeit als selbstverständlich angenommen wird. Nochmal: ohne die künstlerische Autonomie jedes Einzelnen auch und gerade im kollektiven Arbeiten wird man den beglückenden Moment der Entstehung von Kunst nicht erleben. (zit. nach: www.hein-heckroth-ges.de/2015)

Den Anspruch ‚wie ein bildender Künstler am Theater‘ zu arbeiten, den er für seine eigene Arbeit wiederholt geltend machte, verband Neumann demnach, allgemeiner, mit der Frage nach der Autonomie/Heteronomie des Szenografischen im kollektiven, co-kreativen Prozess des Theatermachens. Die Diskussion um die Beziehung zwischen bildender Kunst und Bühnengestaltung, die er damit ebenfalls berührte, ist freilich nicht neu, 46

Szenografie, Performance Design und Theaterforschung

sondern in der jüngeren Szenografie-Geschichte seit den 1910/1920er Jahren bis heute ein immer wiederkehrendes Thema. Auch in der öffentlichen Wahrnehmung virulent wird es dann, wenn international namhafte bildende Künstler und Künstlerinnen wie etwa Georg Baselitz, John Bock, Neo Rauch und Rosa Loy gastweise Bühnen und Kostüme für Theater und Oper entwerfen oder, wie z. B. die iranische Fotokünstlerin und Filmemacherin Shirin Neshat (2017 in Salzburg), selbst inszenieren. Demgegenüber signalisiert die Beschreibung der Szenografie als ‚bildender Kunst in den darstellenden Künsten‘ jedoch Anderes: nämlich den Ruf nach grundsätzlicher Anerkennung, Würdigung und auch theoretischer Reflexion dieser Kunst als integralem Gestaltungselement jeder Inszenierung und Aufführung.

In eben dem Sinne drehen sich die öffentlichen Diskussionsbeiträge, Interviews, Statements, Werkmonografien und eigenen Publikationen, mit denen Szenograf:innen in den letzten rund 20 Jahren verstärkt hervortreten,31 viel um das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und den Abhängigkeiten ihrer Kunst im Gesamtgefüge des Theaters. Kritik und Auseinandersetzung betreffen dabei etablierte Strukturen und Gepflogenheiten auf mehreren Ebenen: (a.) der künstlerischen, (b.) der organisationalen und institutionellen sowie (c.) der diskursiven Ebene (die Frage, wie im Theaterdispositiv über diese Kunst gedacht, gesprochen wird und auf welche Möglichkeiten, Bedingungen, Erwartungen und Grenzen sie trifft).

Dahinter steht ganz grundlegend auch die Frage nach der Autorfunktion und dem Autorstatus, den man ihnen einräumt, oder in Abwandlung einer einschlägigen Frage Foucaults (1969/70): Qu’est-ce qu’un scénographe, une scénographe? – „Das Bühnenbild dient zu nichts, weil es keine Dienerin ist.

Es ist eines der Elemente, die eine physische Realität erfahrbar machen“, postuliert etwa Annette Kurz (zit. nach Müller-Tischler 2017, 6). Die Künstlerin, bekannt für ihre raumgreifenden, skulpturalen Entwürfe (vor allem aus ihrer Zusammenarbeit mit dem belgischen Regisseur Luk Perceval), die sie selbst „szenische Objekte“ nennt (ebd.), gibt damit zu bedenken, wie hartnäckig überkommene, überholte hierarchische Strukturen in den Köpfen, Produktionsabläufen und auch in den Wahrnehmungsgewohnheiten von Theaterpublikum und -kritik bisweilen verfestigt sind.

Andere, wie die Bühnen- und Kostümbildnerin Janina Audick, versuchen, die Frage nach künstlerischer Autonomie/Heteronomie und Möglichkeiten eines Neujustierens geltender Parameter gestalterisch in ihren Arbeiten selbst aufzuzeigen. „Nicht nur theaterintern“, so Audick, stelle sich damit allerdings immer wieder die Frage, „wo die Grenzen z. B. von einem BühSzenografie als Gegenstand der Theaterwissenschaft

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Szenografie, Performance Design und Theaterforschung

nenbild anfangen, und ob wir nicht doch irgendwann (...) bei bildender Kunst oder Installation landen“ und schließlich auch die, „wie und ob man als autonome Künstlerin überhaupt am Theater arbeiten kann“ (dies.

2018, 158); ihre (überraschende) These dazu lautet, dass Szenograf:innen „am Theater aktuell mehr Autonomie und Freiheiten genießen als Künstler anderer Sparten – nur halt im Kollektiv, in der Gruppe“ (ebd.). Eine andere, weithin einflussreiche Position nimmt hingegen Johannes Schütz ein; als Vertreter der Theatergeneration davor setzt er auf den engen Dialog mit der Regie („Man macht das Bühnenbild im Diskurs mit einem Regisseur; ich bin als Bühnenbildner nicht allein, sondern arbeite mit jemandem zusammen. Der eine sagt Dinge, auf die der andere nicht unbedingt kommt…“, zit. nach ders./Gohr 2008, 15). Mit seinen Bühnenräumen und Kostümen, die er in den 1990er und Nuller Jahren vor allem für Inszenierungen von Jürgen Gosch und Dimiter Gotscheff entwarf, plädierte er – durchaus in Abgrenzung zu den Nachbarkünsten – für eine konsequente Reduktion, „Verknappung des Bildangebots“ und Fokussierung auf konzeptuelle Fragen, gemäß der Maxime „Gute Bühnen sind oft leer“ (ebd. 2008, 7 und 12). Szenografieren bedeutet für ihn, „Theatergrundlagen zu untersuchen“ und zu bearbeiten (z. B. mit dem doppelten Einrichten einer ‚Bühne in der Bühne‘, zwei- bzw. dreidimensionalen Rahmensetzungen, grafisch-geometrischer Organisation des Raums, Verzicht auf Bühnenobjekte, Einbruch und Verdichtung von Realität). Ziel sei nicht Darstellung von Welt, sondern vielmehr, die Bühne als „Kraftfeld“ des Spiels, „Denkraum“ und „Modell“ anderer Realitäten zu etablieren (ebd., 13 und 23). Die Frage nach den Merkmalen der Szenografie als bildender bzw. darstellender Kunst reflektierte Schütz nicht so sehr mit Blick auf Werke und Aufführungen, sondern im vergleichenden Blick auf künstlerische Produktion, Medien und kreative Prozesse: von der Idee über das Entwerfen in Zeichnungen, Modellen (und, theaterspezifisch, den Proben mit Regie und Ensemble) bis hin zur Realisierung. Dem Theater, so Schütz, sei eigen, dass es stets „eigene Wirklichkeiten (bildet), vergleichbar mit der autonomen Wirklichkeit einer Zeichnung, eines Modells oder Probebühne“ (ders. 2016). Ob ein Stück oder Entwurf realisiert wird oder nicht, sei weniger entscheidend als „das Befragen und das Ausprobie4 Jeder stirbt für sich allein nach Hans Fallada, szenisches Objekt von Annette Kurz: ‚Stadt-Model‘ Berlins, 1940er Jahre, rund 4000 Erinnerungsgegenstände aus der zerstörten Stadt (zusammengestellt aus Requisiten und Alltagsfundstücken, Höhe 14 m, Breite 10 m). Vorne im Bild: Daniel Lommatzsch und Gabriela Maria Schmeide, Regie: Luk Perceval, Thalia Theater Hamburg 2012. Foto: A. Kurz Szenografie als Gegenstand der Theaterwissenschaft

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ren“ (ebd.): Auch der szenografische Entwurf habe daher bereits eigene künstlerische Wertigkeit.

Wie sich schon mit diesen wenigen Zitaten zeigt, sind die Argumente, die von Szenografen und Szenografinnen für eine (Neu-)Betrachtung ihrer Kunst angeführt werden, vielstimmig und mögen sich teils sogar widersprechen. Dies korrespondiert mit der Vielgestaltigkeit des künstlerischen Spektrums: Wie ausgeführt, reichen die Ansätze von Reduktion und Konzentration auf wenige, basale Gestaltungsmittel über ein variationsreiches Hervortreten des Szenografischen im postdramatischen Theater und diverse Entgrenzungen der Bühne bis hin zu medial erweiterten bzw. intermedialen Spielarten. Was alle diese Ansätze aber verbindet, ist, dass sie – experimentell, mit Mitteln der bildenden Kunst oder, wie bei Rimini ­Protokoll, in Auseinandersetzung mit neuesten digitalen Medien – an den Grundparametern des Theaters arbeiten: an der Relation Bühne/­Publikum, an Architektur bzw. Raumstruktur, an Dingen, Dingkonstellationen, Materialien oder auch an in den Häusern vorhandener Bühnentechnik – und sei es (wie z. B. Katrin Brack, mit ihrer Bühne für Carol Reed), um Tragezüge, Hubpodien und Scheinwerfer einmal ganz anders und abweichend von ihrer üblichen Nutzung zu denken und einzusetzen. Szenografie, so verstanden, greift nicht nur mitgestaltend in Bühne bzw. Spielsituation ein, sondern auch in den Produktionsapparat des Theaters und mithin sogar in seine Ordnungen, Regularien und etablierten Abläufe als Institution und soziale Organisation.

Exemplarisch, aber wieder anders, sind dafür auch die Arbeiten des Bühnen- und Kostümbildners Sebastian Hannak: Für ein Raumkonzept, das er Raumbühne HETEROTOPIA nannte (Opernhaus Halle, 2016), verwandelte Hannak den Innenraum des Hauses, eines Traditionsbaus aus dem 19. Jahrhundert, fast eine ganze Spielzeit lang in eine Art Dauerbühnenbild, das als Theaterinstallation, ‚Totaltheater des 21. Jahrhunderts‘ oder, mit den Worten des Intendanten und Regisseurs Florian Lutz, als „weitläufige MusikTheaterStadt“ beschreibbar war (Lutz/Hannak 2018, 69): Guckkastendispositiv und die gegebene Trennung von Bühne und Publikumsraum wurden temporär suspendiert, das Parkett vollständig überbaut und – ebenso wie der gesamte Bühnenbereich – sowohl für Orchester und Ensemble als auch für das Publikum begehbar gemacht. Diese Eingriffe in Architektur und Bühnenform (szenografisches ‚Hacking‘), die so geschaffene offene Situation und der künstlerische Umgang mit mobilen Bühnensegmenten, flexibler Bestuhlung und einer justierbaren digitalen Licht-, 50

Szenografie, Performance Design und Theaterforschung

5 Mein Name sei Gantenbein nach dem Roman von Max Fritsch, Raumsituation. Regie: Oliver Reese, Bühne: Hansjörg Hartung, Kostüme: Elina Schnizler, mit Matthias Brandt, Berliner Ensemble 2022. Foto: Matthias Horn

Video- und Audiotechnik (composed scenography) erlaubten unterschiedliche Raum- bzw. Spielkonstellationen und variable Publikumsadressierung (Partizipationsangebote, Immersion). Mehrere Opernproduktionen (Der fliegende Holländer, 2016, und weitere) und auch Produktionen anderer Sparten (Ballett/Tanz und Sprechtheater) wurden unter den Bedingungen dieser Bühne realisiert; ihren Gestaltungsansatz hat Hannak später noch weiter ausgearbeitet mit seiner Raumbühne BABYLON (Halle 2018/19) sowie den Raumbühnen PANDAEMONIUM und ANTIPOLIS (am Staatstheater Kassel 2021/22 und 2023/24).

Die Raumbühnen Sebastian Hannaks beeindrucken in ihrer aufwendigen Realisierung und ihrem Spielpotenzial; in der Weise, wie er selbst seine Arbeiten in diskursgeschichtlichen Zusammenhängen einordnet und positioniert (Referenzen sind demnach die Piscatorbühne, Bert Neumanns ‚eingreifende‘ Szenografien und Rimini Protokolls intermediale Konstellationen, ders. 2022), sind sie – metaszenografisch – als Beitrag zur (Neu-)Betrachtung der Szenografie als Kunst und epistemische Praxis Szenografie als Gegenstand der Theaterwissenschaft

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sicherlich relevant. Dazu gehört auch, dass er in Fachzeitschriften (Die deutsche Bühne, u. a.) regelmäßig Textbeiträge publiziert, um konzeptionelle Überlegungen zu teilen. So reflektierte er in mehreren Texten zur Raumbühne darüber, wie diese – einerseits auf Publikumsseite – die Situation des Zuschauens verändert, polyperspektivische Wahrnehmung oder gar immersive Erfahrung ermöglicht und zum anderen – auf Theaterpro­ duktionsseite – die Herausforderung bringt, etablierte Arbeitsweisen, Abläufe, Techniken und Kollaborationsmodi aller Beteiligen zu befragen und neu zu justieren.32 Explizite Bezugnahmen auf Michel Foucaults ­Heterotopie-Begriff sollen helfen, diese künstlerische Arbeit zu diskursivieren (vgl. Hannak 2018, 76).

Der Terminus „Heterotopie“ (von altgr. ἕτερος, héteros, verschieden, anders, und τόπος, tópos, Ort) gehört zu den meistzitierten Begriffen des französischen Philosophen; in Zusammenhang mit der von ihm entwickelten Diskursanalyse zur Untersuchung kultureller Ordnungen von Sinnproduktion, Wissen, Macht und Subjektivität prägte Foucault den Betriff in seiner frühen Schrift Andere Räume (1967/1984). Heterotopien sind demzufolge Ausnahmeorte, „gleichsam (…) verwirklichte Utopien“ und „Gegenorte“, die in die Alltagsumgebungen einer Gesellschaft eingelassen sind und in denen andere, reale Orte „zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt“ werden können;33 (Beispiele sind Gefängnisse, Friedhöfe oder auch Gärten, Museen, Bibliotheken sowie Kino und das Theater). Ihr Merkmal sei, dass sie vermögen, mehrere Räume, die eigentlich nicht miteinander vereinbar sind, an einem Ort zueinander in Beziehung zu setzen; eine weitere Eigenschaft ist, dass sie unterschiedliche Zeitqualitäten und „zeitliche Brüche“ verbinden (­Heterochronie). Weiteres wichtiges Merkmal ist, dass sie sich durch Systeme „der Öffnung und Schließung“ von der Alltagswelt abgrenzen und dass ihre Funktionsweisen zwar jeweils definiert sind, „je nach Synchronie der Kultur“ aber auch variieren und verändert werden können (ebd., 937ff.). Sebastian Hannak rekurriert auf den Foucaultschen Begriff, um damit seine Überlegungen zu Theater, Theatermachen und eingreifender Szenografie zu plausibilisieren. Szenografische Setzungen, wie er sie mit der Raumbühne HETEROTOPIA erstmals vornahm, sind temporäre, gleichwohl markante Eingriffe in die Ordnungen von Institution, Inszenierungsarbeit und Ästhetiken. Über Bühnenbild bzw. Bühnengestaltung weist dieser Ansatz entschieden hinaus: Es geht vielmehr darum, mit dem transformatorischen Potenzial des Szenografischen in das gesamte Bedingungsgefüge darstellender Kunst (Theaterarchitektur und Bühnenform, 52

Szenografie, Performance Design und Theaterforschung

Bühnentechnik, organisationale Strukturen, Institution) zu intervenieren, um ihre Funktionsweisen und Parameter zu bearbeiten und künstlerisch umzudeuten. Demonstrativ gehört in dem Falle dazu auch, dass diese Bühnen sogar eigene Namentragen, die, als vielsagendes, zum Nachdenken anregendes Re-Branding, intern an alle Beteiligten und publikumswirksam auch nach außen kommuniziert werden: „(D)ie Gestaltung der Eigennamen für die Raumbühnen (ist) Teil unserer Methodik“, so Hannak; „indem wir den Raumbühnen Namen geben, evozieren wir mit diesen ein Assoziationsfeld“ (ders. 2024, 26).

Szenografische Ansätze wie dieser lassen an Patrice Pavis’ Definition der Szenografie als ‚Wissenschaft und Kunst der Organisation der Bühne und des Bühnenraums‘ denken (Anm. 14). Über den Dispositiv-Begriff, den Pavis einführte (dispositif scénique), weist eine eingreifende Praxis, für die Hannak, Bert Neumann und andere in jüngerer Zeit plädiert haben, jedoch auch hinaus, da sie – indem sie Architektur, Bühne und alle Aspekte des Theatermachens bearbeitet – radikale Umbrüche in der Ausformung der Mise en Scène anzeigt. Yannick Butel beschreibt eine solche Arbeit am Theater, die über Bühnenformen reflektiert, Mimesis und Darstellung problematisiert, Genregrenzen überschreitet, Mischformen mit anderen Künsten eingeht und vielfältige, ästhetische Praktiken, zudem auch theaterfremde Medien und Techniken bzw. Technologien erprobt, mit den Begriffen ­Nouvelle Scène oder „Theater als Dispositiv“: Ihr Merkmal ist, dass sie „Lebendigkeit und Freiheit“ erlaubt und Öffnungen hin zu veränderten sinnlichen Erfahrungen ermöglicht, selbst wenn sie „Unordnung im Ästhetischen“ (désordre esthétique) bedingt, Publikumserwartungen irritiert und alle Beteiligten mit unkonventionellen Verfahren in gewisse Unsicherheit versetzt.34 Mit den so gewendeten Ansätzen ergeben sich Anschlüsse an den Dispositiv-Begriff, den Foucault, beeinflusst durch Gaston Bachelard und Georges Canguilhem, in der mittleren Phase seiner epistemologischen Studien entwickelte.35 Der Begriff (frz. für Einrichtung, Vorrichtung, Instrument, Mittel oder Modell; und im Französischen gemeinhin gebräuchlich) bezeichnet nach Foucault das Konzept einer (An-)Ordnung, oder in seinen Worten: ein „heterogenes Ensemble“, das, seinerseits flexibel und wandelbar, verschiedenste Elemente verbindet (Diskurse, Institutionen, Architekturformen, Regularien, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische oder moralische Lehrsätze, und weiteres) (ders. 1978, 119f.). Ihm zufolge ist ein „Dispositiv“ kein Mechanismus oder Apparat, sondern Name eines ­theoretischen und epistemologischen Szenografie als Gegenstand der Theaterwissenschaft

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Modells, das abstrahierte Ordnungen beschreibt, die nach bestimmten, nicht immer durchschaubaren, jedoch veränderbaren Regeln funktionieren. Mit Blick auf Theater, Bühne und Szenografie – sofern Foucaults Modell für ihre Analyse anwendbar zu machen wäre – ergibt sich damit eine doppelte Frage, nämlich die, (1. inwiefern Theater als Dispositiv aufgefasst werden kann (vgl. S­ iegmund 2014, ders./ Aggermann 2020, dies./ Döcker 2017) und (2.) wie Szenografie – ihrerseits verstanden als ästhetisches Dispositiv (Szenografie als Dispositiv) – im Dispositiv des Theaters oder auch verwandter Dispositive (Ausstellung, Museum, öffentlicher Raum, mediale Räume) operiert und in Erscheinung tritt (Wiens 2014, 2017b und 2019/2021). Entsprechend gilt es, nach Ästhetiken und Epistemen der Szenografie zu fragen und zu untersuchen, wie sie in Gefügen von Institution, Architektur, Administration, Produktionsbedingungen, Diskursen, virulenten Ästhetiken, impliziertem Wissen und etablierter Praxis ihrerseits als künstlerischer Faktor auftritt. Szenografie als Dispositiv zu analysieren, bedeutet demnach auch, sie als Teil einer ‚Geschichte der Denksysteme‘ zu diskutieren.

Theater als Dispositiv: Ansätze der Dispositivforschung (Exkurs)

In der (deutschsprachigen) Theaterwissenschaft ist Dispositivforschung ein methodischer Ansatz, der seit rund zehn Jahren entwickelt wird und damit vergleichsweise neu ist.36 Seine Begründung hat er in der berechtigten Kritik an einer fachgeschichtlich37 gewachsenen Fixierung auf die Aufführung als Hauptgegenstand der Analysen und dem bis heute hartnäckigen Perpetuieren eines Aufführungsbegriffs, der primär auf das ‚Zusammenkommen‘, die ‚leibliche Ko-Präsenz‘ von Darstellenden und Publikum abhebt – als vermeintliche Grundbedingung dafür, dass sich Aufführungen im ‚Hier und Jetzt‘ präsentisch ereignen und für die Beteiligten in ‚gemeinsam durchlebter Situation‘ als Kunstvorgang erfahrbar würden (Fischer-Lichte 2004, (2005) 2014 und dies. in Gronau 2023, 15 f.). Die komplexen Bedingungsgefüge, die Aufführungen jeweils erst ermöglichen, bleiben, so die Kritik, damit außen vor,38 oder mit Ulrike Haß gesprochen: Anders als dieser Ansatz suggeriert, beginnen Theaterereignisse eben nicht erst mit dem Kauf einer Eintrittskarte, dem Platznehmen und dem Vorstellungsbeginn und enden auch nicht mit dem Schlussapplaus; so gezogen, seien dies „harte Ränder“, an denen sich jenes Modell „wie ein Selbstläufer unzugänglich verschließt“ (dies. 2017, 91). Der DispositivBegriff, als analytisches Werkzeug, verspricht demgegenüber eine notwen54

Szenografie, Performance Design und Theaterforschung

dige Öffnung, Erweiterung und methodische Neuausrichtung, mit dessen Hilfe das gesamte Gefüge von Theaterproduktion und -rezeption in den Blick genommen werden kann. Dieses umfasst: die Produktionsbedingungen (Organisationsformen, habitualisierte Praktiken und Abläufe in Konzeptions-, Inszenierungs- und Probenarbeit, Bühnentechnik, Gewerke, Fundus, Administration, Reglements (juristisch, sicherheitstechnisch, u. a.), finanzielle Bedingungen, institutionelle und sozio-politische Verankerungen) und das Aufführungsereignis (als Wechselwirkung vielfältiger historischer, epistemischer und ästhetischer Faktoren im Innern der Aufführung und in deren Wahrnehmung durch ein Publikum) sowie, als diskursive Faktoren, die Theaterkritik, Dokumentation und Archivierung als Arbeit am ‚Gedächtnis‘ des Theaters (die gegenüber dem emphatisch hochgehaltenen ‚Hier und Jetzt‘ der Aufführung nicht mehr so separat zu behandeln wäre wie bislang üblich). Was der Dispositiv-Begriff somit anzeigt, ist, Haß zufolge, dass er, „indem er eine Aufführung auf etwaiges bezieht, das ihr vorausgeht oder entschieden über sie hinausgeht“, die Frage nach Ästhetiken ebenso nahelegt wie die nach „epistemologischen Momenten“: Erfragbar werden die Bedingungen, unter denen etwas in Erscheinung zu treten vermag. Die Sprachen und Formen verschiedener beteiligter Dispositive (ästhetischer, politischer, sozialer, ethischer Art) stehen ebenso zur Disposition wie die Bedingungen der Möglichkeiten überhaupt aufzutreten und im weitesten Sinne zur Sprache zu kommen. (dies. 2017, 92)

Was also lässt sich mit dem Dispositivbegriff kenntlich machen? Was eigentlich meint der Begriff und was wäre zu gewinnen, wenn wir historisch und auch kulturvergleichend theatrale Konstellationen, Aufführungen oder Szenografien als Dispositive beschreiben? Als operativer Begriff und Denkwerkzeug hat der Begriff ‚Dispositiv‘ (von frz. dispositif oder auch lat. disponere, stellen, aufstellen, anordnen, konfigurieren) seine maßgebliche Grundlage in der Epistemologie Foucaults.39 Nachdem dieser sich in frühen Jahren zunächst den Ordnungen von Sprache und Diskurs, der Wissensarchäologie und Diskursanalyse gewidmet hatte, führten Auseinandersetzungen mit der Geschichte und Wahrheit von Denksystemen in seinen Studien seit den 1970ern zu einer verstärkten Aufmerksamkeit für die Inkommensurabilität, Heterogenität und das „multiple Gewimmel“ von Wissensdingen (ders. 1966/1974, 367). Die Problematik, dass solches „Gewimmel“ so Vielfältiges wie Objekte, Körper, oder auch Diskurse, Bewegungen, Affekte und somit Materielles und Immaterielles umfasst, Szenografie als Gegenstand der Theaterwissenschaft

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bedingte eine Verschiebung seines Fokus’ auf deren Anordnung und strategische Ausrichtung. Was der Begriff „Dispositiv“, nach Foucault, zu umreißen sucht, ist demnach: ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, mora­lische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfasst. (ders. 1978, 119 f.)

„Das Dispositiv selbst ist das Netz, das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann“, heißt es dort weiter (ebd., 120). Demnach gilt, dass Dispositive sich nicht empirisch identifizieren und ebenso wenig mithilfe bestimmter Methoden oder Methodensets untersuchen lassen. Vielmehr lenkt der Dispositivbegriff die Aufmerksamkeit auf die heterogenen Elemente, auf ‚Gesagtes und Ungesagtes‘, und insbesondere auf die Relationen zwischen den Elementen, auf ihre Konstellation, Anordnung und Ausrichtung, die als dynamisch, als „Spiel von Positionswechseln und Funktionsveränderungen“ (ebd.) und als Möglichkeitsbedingung zu denken seien. Foucault zufolge beschreibt der Begriff eine „Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand oder Erfordernis (urgence) zu antworten“. Ein D ­ ispositiv habe insofern „eine vorwiegend strategische Funktion“ (z. B. der Unterwerfung/ Kontrolle und gesellschaftlichen Regulierung von ­Sexualität) (ebd.); in ihm verbinden sich verschiedene Wissenstypen und Machtstrategien. Seine Anwendung als Begriffs- und Denkwerkzeug gehört insofern zum Repertoire Foucaultscher Genealogie: Anders ausgerichtet als seine Archäologie, die nach immanenten Regeln der Diskurse in Sprache und Zeichen fragte, sucht Genealogie (die wie der archäologische Ansatz von der Ursprungslosigkeit der untersuchten Gegenstände ausgeht) im Blick auf bzw. ‚hinter‘ die Institutionen nach Bedingungen, sozialen Praktiken, Machttechnologien ebenso wie auch nach Unregelmäßigkeiten, Störungen, Irrtümern oder Wendungen, die sich in Dispositiven ­materialisieren (Ruoff 2018, 118 und 134 f.). Demzufolge ist die Funktion eines Dispositivs nicht ‚gegeben‘, sondern stets „Ort eines doppelten Prozesses“ zwischen „funktioneller Überdeterminierung“, Dysfunktion und „­strategischer Wiederauffüllung“, welcher die „Readjustierung der heterogenen Elemente, die hier und da auftauchen“, verlangt und in der Gesamtheit des Dispositivs auch Veränderungen erlaubt (ders. 1978, 121). Wie aber wird der Begriff als Analysewerkzeug operabel?

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Szenografie, Performance Design und Theaterforschung

Die Frage Was ist ein Dispositiv? bleibt, wie soeben ausgeführt, angesichts des nicht näher bestimmten Gegenstandsbereichs weitgehend offen; Ähnliches gilt auch für Ansatz, Methode oder Systematik der Dispositivforschung. Andrea D. Bührmann und Werner Schneider haben, hier ansetzend, in den Nullerjahren einen (vorwiegend kultur- und wissenssoziologisch ausgerichteten) Entwurf zu einer dispositiv-analytischen Forschungspraxis vorgelegt und, in konziser Bündelung, einen Vorschlag möglicher Leitfragen erarbeitet (dies. 2008, 151–155). Dispositive wären demzufolge zu untersuchen im Hinblick auf: (1.) das darin jeweils erkennbare Verhältnis zwischen diskursiven Praktiken unterschiedlicher Art (­Spezial-, Inter-, Elementar- und Alltagsdiskursen) und nichtdiskursiven Praktiken, (2.) das Verhältnis von diskursiven bzw. nichtdiskursiven Praktiken zu symbolischen und materiellen Objektivierungen sowie Subjektivierungsprozessen; des Weiteren (3.) hinsichtlich ihres Verhältnisses zu vorherrschenden Wissensordnungen und (4.) zu gesellschaftlichem Wandel (Umbruchssituationen) (ebd., 152). Im Anschluss an Foucault wurde indes auch von anderer Seite die basale Frage gestellt, wie der Dispositiv-Begriff zu verstehen sei, sodass er in Definition und Gebrauch weitere Differenzierungen und auch Verschiebungen erfuhr – prägnant durch Denker wie Gilles Deleuze (1988/1989) und Giorgio Agamben (2006) oder, nochmals mit anderem Akzent, durch den Soziologen Andreas Reckwitz (2012). Bevor der Frage nach dispositivanalytischen Ansätzen zur Untersuchung von Theater, Bühne oder Szenografie weiter nachgegangen wird, seien vorab einige wesentliche Positionen dieser Diskussion in Erinnerung gerufen.40 In seiner Auseinandersetzung mit dem Foucaultschen Konzept, überschrieben mit der Grundfrage „Was ist ein Dispositiv?“, akzentuiert Deleuze, dass dieses keine geschlossenen oder fixen Systeme meint und weist jede Annahme, wonach von konkreten Dispositiven zu sprechen sei, nochmals explizit zurück (vgl. ders., in Ewald/Waldenfels 1991, 153–162).

Gemäß seiner Lesart des Dispositivs, das er Diagramm nennt, sei dieses vielmehr zu denken als ein „Durcheinander, ein multilineares Ensemble (…) zusammengesetzt aus Linien verschiedener Natur“, „Vektoren“ oder „Tensoren“, in deren Gefüge sich „Sedimentierungslinien, (…) aber auch ‚Spaltungs‘- und ‚Bruch‘-Linien“ zeigen (ebd., 153). Deleuze erweitert das Konzept, indem er vier Aspekte benennt, entlang derer ein ­Dispositiv operiert, nämlich (a.) Ordnungen und Kurven der Sichtbarkeit (er spricht auch von „Lichtordnungen“, ebd., 154) und (b.) des Aussagens, darin (c.) Kräftelinien, „die unablässig die Worte und Dinge durchkreuSzenografie als Gegenstand der Theaterwissenschaft

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zen“ und mit denen Machteffekte einher gehen (ebd.) sowie (d.) Subjektivierungslinien, verstanden als „Produktion von Subjektivität“, „Fluchtlinie(n)“ und „Individuierungsprozesse“, die sich „auf Gruppen oder Personen“ beziehen und sich mitunter – soweit ein Dispositiv dies zulässt – „den etablierten Kräfteverhältnissen und konstituierten Wissensarten entziehen“ (ebd., 155 f.). Was er daraus folgert, ist zum einen eine „Zurückweisung der Universalien“ und, damit verbunden, eine „Änderung der Orientierung“, die sich von Universalien abwendet, „um das Neue aufzunehmen“: Jedes Dispositiv wird demnach „durch seinen Gehalt an ­Neuartigkeit und Kreativität definiert, womit gleichzeitig seine Fähigkeit bezeichnet ist, sich selbst zu transformieren (…) (ebd., 157 f., Hervorh.

BW). Die diversen Versuche seit den Nullerjahren, das Konzept des ­Dispositivs in ästhetische Diskurse zu übertragen und daran anzuschließen,41 finden besonders in Deleuzes Deutung des Dispositivs, in der bei ihm postulierten Offenheit, Wandel- und Aktualisierbarkeit, mögliche Anknüpfungspunkte.

Rund zwei Jahrzehnte später schreibt Agamben seinen kurzen Text mit gleichlautender Überschrift und akzentuiert den Dispositiv-Begriff nochmals anders. Zuvörderst interessiert er sich für die juristischen, technischen und militärischen Bedeutungen, die „irgendwie in Foucaults Verwendung präsent“ seien (ders. 2006/2008, 16) und bezieht das Konzept, in seiner Lesart, auf die theologische Oikonomia und vor allem auf das Heideggersche ‚Gestell‘: Die „Gemeinsamkeit all dieser Termini“ bestünde darin, dass sie „auf eine Gesamtheit von Praxen, Kenntnissen, Maßnahmen und Institutionen“ verweisen, deren Ziel sei, „das Verhalten, die Gesten und die Gedanken der Menschen zu verwalten, zu regieren, zu kon­ trollieren und in eine vorgeblich nützliche Richtung zu lenken“ (ebd., 19).

Zudem entwirft Agamben einen sehr breiten Gegenstandsbereich, indem er den Begriff auf Institutionen (wie Gefängnis, Panoptikum oder die Schule, die Beichte, die Fabriken etc.) anwendet, darüber hinaus auch auf Medien, Dinge und Kulturtechniken wie „Federhalter, die Schrift, die Literatur, die Philosophie, die Landwirtschaft, die Zigarette, die SchiffFahrt, die Computer, die Mobiltelefone und – warum nicht – die Sprache selbst, die vielleicht das älteste Dispositiv ist“ (ebd., 26). All dies gilt ihm als Mittel und Movens im „Prozess der ‚Hominisierung‘“, die den Menschen unter den Lebewesen (oder Substanzen) – gleichsam im „Nahkampf mit den Dispositiven“ – grundständig abspalte und ihm erlaubt, „das von sich abgesonderte tierische Verhalten leerlaufen zu lassen (…)“ (ebd., 30 f.). Agambens Betrachtungen traditioneller, moderner und kapitalisti58

Szenografie, Performance Design und Theaterforschung

scher Dispositive, die demnach, in „maßloser Vermehrung“, heute bis zu Videoüberwachung sowie biometrischen Verfahren reichen, kulminieren in pessimistischer Diagnostik und dem (vage formulierten, insofern missverständlichen) Appell, in die Dispositive und ihr Regelwerk einzugreifen, um „Unregierbares“ zum Vorschein zu bringen.42 Ein wichtiger Beitrag zur Diskussion – auch im Sinne von Dispositivkritik – mag vor allem in seiner Frage liegen, was es eigentlich ist, das ein Dispositiv hervorbringt oder aber seine Veränderung, Ablösung oder Auflösung erzwingt (ebd.).

Die Akzentuierung der Offenheit, Kreativität und Dynamik von Dispositiven und ihres produktiven Potenzials, wie Deleuze sie vornahm, muss mit dispositiv-kritischen Perspektiven aber nicht aufgegeben werden.

Zur Geschichte der Deutung, Ausdifferenzierung und (trotz seiner Komplexität bemerkenswerten) Karriere auf unterschiedlichen wissenschaftlichen Feldern gehören einschlägig seine Anwendungen auch in Feldern der Medienkulturforschung, zunächst in Auseinandersetzungen mit dem Kino (Baudry 1994) sowie mit Fernsehen, Video, DVD u. a. Dort nimmt ‚Dispositiv‘ die Bedeutung eines „Apparatus“ (nicht nur im Sinne technischer Vorrichtungen) und Mediendispositivs an, mit denen jeweils „ganze Settings“ aus Wahrnehmungsformen, Beobachterpositionen sowie technischen und sozialen Strukturen etabliert werden.43 Die Bedeutung eines diagnostischen Werkzeugs zur Analyse von Prozessen gesellschaftlicher ­Ästhetisierung gewinnt es prominent bei Andreas Reckwitz: Ihm zufolge entfaltet sich in westlichen Gesellschaften seit den 1980/1990er Jahren ein „Kreativitätsdispositiv“ machtvollen Einfluss, das Elemente aus den ästhetischen Subkulturen, dem Kunstfeld, den postindustriellen Arbeitsformen, dem stil- und erlebnisorientierten Konsum, der Erziehung und den psychologischen Diskursen bezüglich menschlicher Kreativität ebenso verbindet wie Philosophien des Vitalismus, Entwicklungen der Medientechnologien, digitale Datenströme, Urbanisierung, Creative Industries und politische Maßnahmen zur Förderung kreativer Potenziale.44 Wichtig zum Verständnis des Kreativitätsdispositivs nach Reckwitz ist ein ihm eingeschriebenes „Konzept der Freiheit“, als „unverzichtbare Bedingung“ für dessen immanente Dynamik (Raffnsøe 2018, 84). ­Reckwitz’ Analyse von Gegenwartskultur und neoliberalen Mechanismen zufolge ist diese Bedingung aber paradoxal zu denken, nämlich als unauflösbare Verkopplung von „Kreativitätswunsch und Kreativitätsimperativ“, mit der der Anspruch, stets neu, einfallsreich, gestalterisch originell und inspirierend zu sein, für alle in sämtlichen Lebenslagen und Bereichen der Alltagswelt zur permaSzenografie als Gegenstand der Theaterwissenschaft

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nenten Herausforderung wird (ders. 2012, 15). Eines seiner Symptome sei eine augenfällige „Formatdiffusion“ (ebd., 50), d. h., ein Mäandern von Begriffen, Konzepten und Techniken wie S­ torytelling, Dramaturgie, Inszenierung oder auch Bühne und Szenografie zwischen künstlerischen und nichtkünstlerischen Feldern entlang ihrer offen gewordenen, heute oft kaum mehr erkennbaren Grenzen.

Damit zurück zum Theater und zur Frage: Was heißt es, Theater als Dispositiv zu betrachten, und was gewinnt man mit einer solchen Perspektive? Was gewinnt man damit für die Szenografie-Forschung? Inwiefern wäre Szenografie – verstanden als Doing Scenography (Entwerfen und Gestalten von Bühne bzw. Konstellationen des Zeigens und Wahrnehmens) und als Scenography in Performance – ihrerseits als Dispositiv aufzufassen? Und geht man davon aus, dass Szenografie/Performance Design heute auf verschiedenen Kunst- und nichtkünstlerischen Feldern (von Theaterszenografie und Environmental Scenography über inszenierte Räume in Ausstellungen/Museen bis hin zu urbaner Intervention und Szenografien medialer Räume) transversal und vielgestaltig auftritt, wie würden sich Dispositivforschungen im Feld der darstellenden Künste und in der Szenografie zueinander verhalten? Worin liegt ihr – gegebenenfalls gemeinsames – Erkenntnisinteresse?

Theaterwissenschaftliche Dispositivforschung befragt und erweitert bisher vorherrschende Definitionen der Aufführung und schlägt vor, Theater als ästhetisches Dispositiv bzw. als Ort zu beschreiben, „an dem Hören und Sehen aufeinander bezogen, Stimme und Blick inszeniert werden sowie Körper und Sprache miteinander in Berührung kommen, um etwas zu produzieren: Gefühle und Affekte, Erkenntnisse und Erfahrungen“ (­Siegmund 20141, o. S.): Demnach wäre Theater eine Art Sichtbarkeits-, Sagbarkeits- und Hörbarkeitsmaschine, ein „aisthetisches und ästhetisches Dispositiv“, und die Theaterwissenschaft habe das Ästhetische am Dispositiv folglich „ernst (zu) nehmen und zu ihrem Gegenstand (zu) machen; dazu tritt sie, grenzüberschreitend, häufig in Auseinandersetzung mit anderen Disziplinen wie der Soziologie (…)“ (ebd.). Im Anschluss vor allem an Foucaults Bestimmung von Konzept und Denkfigur der Dispositive als „Strategien von Kräfteverhältnissen, die Arten von Wissen unterstützen und von diesen unterstützt werden“ und auf ein ‚Erfordernis‘ antworten (1977/ 2003, 393 f.), sollen mit dem Ansatz auch das Epistemische und zudem die steuernden, strategischen Anteile seiner Bedingungsgefüge 60

Szenografie, Performance Design und Theaterforschung

in den Blick kommen. Damit, so Lorenz Aggermann von der Gießener Forschungsgruppe „Theater als Dispositiv“, ergeben sich noch andere Fragen, „(…) nicht jene nach dem ontologischen Status der Aufführung oder der Kunst, sondern jene nach ihrer epistemischen und dispositivischen Verfasstheit: Was weiß die darstellende Kunst und ihre spezifische Ordnung, und mehr noch, was lässt uns ihre Rezeption wissen?“ (ders. 2017, 10). Ziel sei, Theater „in seiner Gesamtheit“ zu untersuchen, um jene fiktive und ideelle, utopische Dimension (Gesagtes/Ungesagtes, Realisiertes/ Nichtrealisiertes, usw.) zu umreißen, die den Rahmen einer Aufführung bzw. ihrer Beschreibungen sonst sprengt. Ebenso gefragt wird auch nach der institutionellen Verankerung und Genealogie jedweder realisierten Aufführung, die als Materialisierung eines ästhetischen D ­ ispositivs verstanden wird (ebd.). Auf diese Weise soll Theater „stärker auf seine Entkopplung und Wiedereinbettung in die Gesellschaft (untersucht werden), als dies unter dem Vorzeichen einer autonomen Kunst lange üblich war“,45 oder mit Siegmund/Aggermann: Theater als Dispositiv zu betrachten, bedeutet, es in allen seinen Dimensionen der institutionellen Verankerung und Arbeitsweisen, der Produktionswie der Rezeptionsverhältnisse, der gesellschaftlichen Diskurse und ihrer materiell-technischen Praktiken zu beschreiben, und (…) Momente der Dysfunktion oder Fiktion, die im Rahmen der Materialisation evident werden, als jene raren Momente zu verstehen, an welchen ein Dispositiv sinnlich erfahrbar wird; (dies. 2020, 135)

Was die Besonderheit der Dispositive der darstellenden Künste gegenüber anderen Dispositiven demnach ausmacht, ist das ihnen eigene Potenzial, ihre ästhetische und epistemische Ordnung und auch Funktionsweise als Dispositiv erlebbar zu machen: Vielleicht (das mag für Spielarten des Gegenwartstheaters zutreffen) liege darin „sogar ihr zentrales Kalkül“ (ebd., 136).

Begriff und Ausarbeitung einer dispositivanalytischen Methodik verlangen allerdings weitere Schritte und Binnendifferenzierungen. Beachtung verdient zunächst der Einwand von Ulrike Haß, wonach Theater nicht allgemein als Dispositiv gefasst werden kann: zu vielfältig sind die Theaterdefinitionen und, historisch und kulturvergleichend betrachtet, die unterschiedlichen Theaterformen; „Theater ist per se ein summarischer, abstrakter Begriff oder, anders gesagt, ein Suchbegriff“ (dies. 2017, 93).

Zudem ist fraglich, inwieweit sich in den darstellenden Künsten (bzw. in den Künsten überhaupt) ‚strategische‘ Funktionen ausmachen lasSzenografie als Gegenstand der Theaterwissenschaft

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sen, zumal Theater als „konfigurierendes, ungleichzeitiges, zwingend in sich selbst auseinandertretendes Phänomen“ (ebd.) vielgestaltig auftritt.

Sinnvoll ist dieser Ansatz aber durchaus mit Blick auf die (im erweiterten Sinne gedachte) Aufführung, um jeweils auch Rahmenbedingungen zu untersuchen oder, diachronisch, das Auftreten einzelner Theaterelemente zu verfolgen (z. B. Auftritt, stimmliche Äußerung, Ansprache, Konzepte von Person, Figur oder auch Maske/ Maskengebrauch, Bühnenformen, Bühnentechnik und Weiteres) und Dispositive somit als „je spezifische, historisch bedingte Ordnungen von Ästhetik, Praxis und Episteme des Theaters“ kenntlich zu machen (Siegmund 20142). Mit dem weiter elaborierten Ansatz (vgl. ders./Aggermann 2020) wurde vorgeschlagen, Formierungen wie das (westdeutsche) Regietheater seit den 1960er Jahren oder das (auf Internationalisierung ausgelegte) Koproduktionstheater seit den 1980/90ern oder auch rezente Modelle szenischer Reflexion von Identität und Differenz seit den Nullerjahren (Xavier Le Roy, u. a.) als Dispositive aufzufassen (ebd., 135). Zielsetzung ist, zu einer bestimmten Zeit Veränderungen und „interessante Verschiebungen“ gegenüber den jeweils dominanten Gattungen szenischer Kunst aufzuzeigen; demnach wäre z. B. das Regietheater „eine institutionelle Anordnung, also primär ein bestimmtes ästhetisches und sozio-ökonomisches Dispositiv, in welchem sich die Ordnung der darstellenden Kunst auf eine bestimmte Art und Weise materialisieren kann“ (ebd.). Das Erkenntnisinteresse liegt somit darin, zeigen zu können, wie die Potenziale eines gegebenen Dispositivs im jeweiligen Kontext genutzt werden, um kreativ, mithin auch widerständig „eigene Regeln und Verfahren ins Spiel zu bringen“ und als Arbeit am Sinnlichen vorzuführen – sei es als „singuläre ‚Einstellung und Loslösung‘ vom Dispositiv (…), als Produktion von Rissen (…), als Repräsentation des Versagens des Dispositivs selbst, das beispielsweise Lachen auslöst, oder durch das Verwischen seiner Markierungen, um die Linien des Diagramms neu ziehen zu können“ (dies. 2020, 138). Da Theater „nur als Dispositiv, als Konstellation von mannigfaltigen und heterogenen Elementen zu fassen“ wäre, sei es nachgerade ‚paradigmatischer Verhandlungsort‘ ästhetischer und auch gesellschaftlicher Dispositive (ebd., 136 und 141).

Will man Theater als Dispositiv unter Berücksichtigung eines solch breiten Problemhorizonts untersuchen, ergeben sich grundsätzlich weiterhin methodische Fragen: zum einen die, welche Elemente dispositivanalytisch zu berücksichtigen sind, ohne dass der Gegenstand ausfranst, die Analyse unscharf wird oder unvollständig bleibt. Gesetzt, Theater ist ein ‚paradigmatischer Verhandlungsort‘ von Dispositiven: Welche Elemente 62

Szenografie, Performance Design und Theaterforschung

sollen dann ihrerseits als (ästhetische, technische, mediale, soziale) Dispositive gelten? Sind z. B. Bühne und Bühnenform (Haß 2005, MüllerSchöll 2014), Video (Duguet 1988) oder Konstellation und Arbeitsmodell der Probe (Buchmann/Lafer/Ruhm 2016) als Dispositive zu fassen, oder – so man den Begriff, mit Agamben, noch weiterdenkt – auch die Sprache?

Und welche Analysemethoden sind geeignet? Siegmund und Aggermann schlagen eine Methodenkombination vor, die sich an das erwähnte VierPunkte-Modell von Bührmann/Schneider (2008) anlehnt und erlauben soll, die Dynamik, Verbindungen und Wechselwirkungen der Elemente von Dispositiven darstellender Künste zu beschreiben (Between-MethodApproach). Entlang dieses Modells formulieren sie vier Leitfragen (dies.

2020, 146–148): (1.) Welche Praktiken herrschen vor (beispielsweise im Dispositiv des Regietheaters)? Welche Diskurse werden erkennbar, die das Dispositiv formen? (z. B. die damalige Diskussion um Mitbestimmungsmodelle).

(2.) Welche Subjektivierungen kommen ins Spiel? Wie verändern sich (etwa am Fallbeispiel des Regietheaters) Hierarchien, Positionen und Kräfteverhältnisse in künstlerischen Teams (Regie/Ensemble) und in deren Verhältnis zur Intendanz und, damit verbunden: Welcher technologische und/oder arbeitsorganisatorische, organisationale und institutionelle Wandel ist gegebenenfalls zu erkennen?

(3.) Welche Objektivationen ereignen sich? An welchen Vergegenständlichungen lässt sich ein möglicher Wandel festmachen? Als Objektivationen seien vor allem die Inszenierungen zu betrachten, die „selbstredend die je unterschiedlichen Handschriften der individuellen Regisseure tragen“ (dies. 2020, 147). Spätestens hier muss aus Sicht der Szenografie- und Performance-Design-Forschung angemerkt werden, dass die veränderte, enge Zusammenarbeit zwischen Regisseur:innen und Bühnen-/Kostümbildner:innen, Licht-, Video- und Sounddesigner:innen, die ein wichtiges Merkmal gerade des Regietheaters wurde, notwendig ebenso berücksichtigt werden muss und der Ansatz daher durch Perspektiven auf die Szenografie zu ergänzen wäre.

(4.) Welchen Entwicklungen arbeiten diese Elemente zu? Welcher sozio-­ politische Wandel zeichnet sich in ihnen ab? Bleibt man beim Beispiel des Regietheaters, wäre nach Siegmund/Aggermann zu untersuchen, Szenografie als Gegenstand der Theaterwissenschaft

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wie sich Transformationen im deutschsprachigen Theater zu den Studentenprotesten um 1968 und den diversen Aufbruchs- und Emanzipationsbewegungen jener Zeit verhielten: „Die Methode, Theater als Dispositiv zu verstehen, wirft somit eine generelle, über das Ästhetische und seine Autonomie hinausreichende Frage auf: Inwiefern lässt sich eine Gesellschaft und ihr Wandel auf Basis ihrer Kunst analysieren?“ (ebd., 142 f.).

Szenografie im/als Dispositiv

Im Folgenden soll es nun darum gehen, die in den vorigen Abschnitten skizzierten Ansätze (deutschsprachiger) Theaterwissenschaft und Dispositivforschung sowie die im Einleitungskapitel dieses Buchs umrissenen Problemstellungen der Scenography & Performance Design Studies zusammenzuführen. Wie eingangs gezeigt wurde, formiert sich mit der anglophonen Szenografie- und Performance-Design-Forschung seit rund zwanzig Jahren eine Forschungsdiskussion, mit der eine Suche nach geeigneten Theorie- und Methodenansätzen verbunden ist, die bis heute anhält. Und obwohl sich diese Debatte bemerkenswert lebendig zeigt, erweist sich auch dort als gewisses Manko, dass ihre Ansätze – auch wenn man den Akzent im Blick auf Raum, Kostüm, Maske, szenografische Objekte, Licht-, Video-, Sounddesign etc. dezidiert anders setzt – sich bisher kaum von den semiotischen, (post)strukturalistischen oder phänomenologischen Analysen abheben, die in der Theaterforschung (mit ihrer üblichen Fixiertheit auf die Aufführung) weithin etabliert und verbreitet sind. Demgegenüber verspricht der Ansatz der Dispositivanalyse sinnvolle methodische Erweiterungen; was also gewinnt man, wenn man Szenografie-Forschung mit diesem Ansatz verbindet? ­­

Wie bereits dargelegt, gehört es zu den Aufgaben der Scenography & Performance Design Studies, Szenografie theaterbezogen (als Gestaltung von Bühnen- bzw. Spielräumen, szenografischen Objekten, Kostüm- und Maskenbild sowie Licht-, Video-, Sounddesign) zu untersuchen. Zudem wird gefragt, wie sie als ästhetische Praxis auch in angrenzenden Kunstund Gestaltungsfeldern auftritt – so im öffentlichen Raum (expanded ­scenography), im Ausstellungs-, Museums- und Messebereich (Ausstellungsdesign), als inszenierte Erlebniswelten in Themenparks, Shoppingmalls oder Kaufhäusern (consuming scenography) oder in Gestaltungen von VR- und Online-Welten sowie AR/XR-Konstellationen (intermediale 64

Szenografie, Performance Design und Theaterforschung

Szenografie analysieren / Analyzing Scenography & Performance Design

List of Key Words46 * space * time * stage, stage form * situation * set design, stage design, scenic space * scenography / performance design * mise en scène / mise en performance * nouvelle scène * visual dramaturgy * narrative space / dramaturgies of space * architecture / performing architecture * scenographic intervention, scenographic hacking * environmental scenography * expanded scenography * scenographics * open vs. closed systems * shared spaces / social dimension of scenography * eco-scenography * theatre and digitality/ digital scenography * intermediality in theatre and performance * virtual and hybrid spaces, VR / AR / XR * event and experience * semiotics * performativity * materiality of performance * atmospheres * thing power * interaction * participation * immersion * production and reception * scenographic phenomeno-techniques * co-creating scenography * artistic research / research in the arts * heterotopias * scenographic knowledge * scenography as a dispositif * scenography and power / political dimension of scenography and performance design * Arbeitsbegriffe * Raum * Zeit * Bühne, Bühnenform * Situation * Bühnenbild/-gestaltung, szenischer Raum * Szenografie / Performance Design * Mise en Scène / Mise en Performance * Nouvelle Scène * visuelle Dramaturgie * Raumdramaturgie, narrative spaces * Architektur / performing architecture * szenografische Intervention, scenographic hacking * environmental scenography * expanded scenography, scenographics * offene vs. geschlossene Systeme * shared spaces / soziale Dimension * Ecoscenography * Theater und Digitalität, digitale Szenografie * Intermedialität * virtuelle und hybride Räume, VR / AR / XR * Ereignis und ästhetische Erfahrung * Semiotik * Performativität * Materialität der Performance * Atmosphären * thing power * Interaktion * Partizipation * Immersion * Produktion und Rezeption * szenografische Phänomenotechniken * co-creating scenography * künstlerische Forschung / Forschen in den Künsten * Heterotopien * Wissen der Szenografie * Szenografie als Dispositiv * politische Dimension von Szenografie und Performance Design *

Szenografie als Gegenstand der Theaterwissenschaft

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­Szenografie, digital scenography): Szenografie ist demnach gegenwärtig geradezu ubiquitär. Als Kunst und Gestaltungspraxis tritt sie (anders als etwa Werke der bildenden Kunst) ereignisbezogen auf und hat ihr Merkmal darin, dass sie stets zweierlei konfiguriert: Zum einen operiert sie mit kreativen Praktiken des Gestaltens und Zur-Erscheinung-Bringens von etwas, das an einem Ort, z. B. auf einer Bühne oder in einem Ausstellungsraum, vergegenwärtigt werden soll (acts of worlding). Zum anderen geht es ihr um Verfahren der Platzierung (placemaking, place-orientation) von Spieler:innen bzw. Dingen und einem Publikum, dem mit szenografischen Mitteln kalkulierte, gesteuerte oder auch offene Optionen des ästhetischen Wahrnehmens, Involviert-Werdens, der Teilnahme oder auch Teilhabe (Partizipation, Immersion) nahegelegt werden (vgl. McKinney/Palmer 2017, Hann 2019). Szenografie ist demnach als grundständige Arbeit an den ästhetischen und epistemischen Praktiken, Gestaltungsparametern und Kulturtechniken des Zeigens und Zum-Erscheinen-Bringens sowie als Auseinandersetzung mit den kulturell geprägten Wahrnehmungsweisen des Publikums zu verstehen und in dem Sinne, wie ich an anderer Stelle vorgeschlagen habe, als Dispositiv (Wiens 2014, 2017b, 2020).

Vorab wird eine Differenzierung notwendig: Grundsätzlich gilt es zu unterscheiden zwischen der Analyse der Szenografie als Dispositiv und der Analyse ihres Auftretens in verschiedenen Dispositiven (z. B. Theater, Film, Ausstellung/Museum, Computerspiel, usw.). Das Desiderat, Szenografie als Dispositiv zu analysieren, ergibt sich aus einem seit einigen Jahrzehnten verstärkten Virulent-Werden des Szenografischen sowohl in den Künsten wie auch in vielerlei Alltagskontexten und Lebenswelten der Gegenwart.

Zusammenhänge mögen bestehen zwischen dieser Ausweitung des Szenografischen und der von Reckwitz beobachteten, machtvollen Entfaltung des Kreativitätsdispositivs, das eine weitreichende, in fast alle gesellschaftlichen Bereiche eingreifende Etablierung entsprechender Strukturen von Ästhetisierung, Innovation und Sichtbarkeit forciert (ders. 2012, 2016): Zu analysieren wäre demnach ein sich abzeichnendes Mäandern von ästhetischen und epistemischen Praktiken, Formen, Formaten und Gestaltungslogiken der Szenografie. Fasst man das Untersuchungsfeld derart weit, sind es besonders die grenzüberschreitenden Übertragungen, Bezugnahmen und Adaptionen zwischen den Künsten und Gestaltungsfeldern, an denen ihre ästhetische Produktivität sowie ihre epistemischen und diskursiven Dimensionen erkennbar werden (vgl. Wiens 2017). Um jedoch die Kategorien nicht zu weit zu fassen (oder gar zu verlieren), ist eine wich66

Szenografie, Performance Design und Theaterforschung

tige Prämisse meines Ansatzes, Szenografie als holistische ­Disziplin zu verstehen, die multidisziplinäre Kompetenzen verlangt und ihrerseits in bzw. zwischen verschiedenen Kontexten und Gefügen (Dispositiven) auftritt.

Als solche fungiert sie zum einen als Sub- oder Teildisziplin (z. B. des Theaters, Films, Game-Designs) und zum anderen auch als Integrativdisziplin, die vermag, ästhetische Praktiken, Gestaltungskompetenzen, Entwurfswissen (Theorien, Regeln, Kulturtechniken, technisches Wissen, u. v. m.) und Diskurse unterschiedlicher Disziplinen (Architektur, bildende und darstellende Kunst, Musik, Literatur und weitere) in sich zu verbinden, zu bearbeiten und immer wieder auch zu aktualisieren. So betrachtet, verlangt die Analyse der Szenografie als Dispositiv eine komparatistische Perspektive. Das Erkenntnispotenzial dieser Perspektive, die den Blick auf die Gattungsgrenzen überschreitende ästhetische Produktivität der Szenografie, das inter-/transdisziplinäre Zirkulieren ihrer Episteme und auf ihre kulturstiftende Funktion lenkt, konnte mit den Beiträgen und Case ­Studies in dem von mir herausgegebenen Band Contemporary Scenography.

Practices and Aesthetics in German Theater, Arts and Design (2019/2021) erstmals aufgezeigt werden.

In der vorliegenden Studie setzen die Untersuchungen noch etwas anders an: Mit der Formel Szenografie im / als Dispositiv rückt die Analyse des Szenografie-Dispositivs im Zusammenspiel mit einem anderen, spezifischen Dispositiv (dem des Theaters) ins Zentrum. Dabei verlangt die Perspektive auf Theater als Dispositiv, ausgehend vom bisherigen ‚Kerngeschäft‘ der Theaterwissenschaft, (a.) eine entschiedene Ergänzung inszenierungs- und aufführungsanalytischer Begrifflichkeiten und Methoden durch Perspektiven auf die Szenografie. Fragt man weiter nach Diskursen, Institutionen, Architekturen, Regeln, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, Lehrsätzen, Gesagtem und Ungesagtem (Foucault) als Faktoren, die sich auf das Zusammenspiel beider Dispositive auswirken, erlaubt (b.) der Blick auf Theaterinstitution/Organisation und Theaterapparat, die Strukturen, Bedingungen und den Stellenwert szenografischer Arbeit in der sozialen Ordnung von Theatergefügen zu analysieren. (c.) In Auseinandersetzung mit ästhetischen Praktiken und der Frage nach dem Wissen der Szenografie (mit Mersch, nach Epistemologien des Ästhetischen, ders.

2015), wird zudem diskursanalytisch vorgegangen (anhand von Probenberichten, Gesprächen mit Künstler:innen, Theaterkritiken u. a. m.). Relevant ist auch, inwiefern szenografische Entwürfe und Artefakte dokumentiert, archiviert und beforscht werden und wie Szenografie/Performance Szenografie als Gegenstand der Theaterwissenschaft

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Design an Hochschulen und Kunstakademien gelehrt wird. (d.) Zudem ist nach dem ‚Gehalt an Neuartigkeit und Kreativität‘ zu fragen (Deleuze), der die Lebendigkeit von Dispositiven ausmacht und deren Fähigkeit anzeigt, sich selbst zu transformieren (Transformationsdynamik). Schließlich stellt sich noch die Frage nach ‚strategischen Funktionen‘ (Foucault), mit denen Szenografie kreativ-künstlerisch, mithin widerständig (Agamben) auf ein gesellschaftliches, über Theater hinausweisendes Problem antwortet (Transformationsstrategien). Aktuelle Problemlagen (auch im Foucaultschen Sinne von ‚Notstand‘) mögen z. B. die Veränderung von Kommunikation und kulturellen Praktiken durch digitale Technologien sein, der ökologische Wandel oder – wie verstärkt unter den Krisenbedingungen der Coronapandemie – das Erproben neuartiger Bühnen/Bühnenformen, Spielkonstellationen und neuer Formen der Sozialität (s. a. das Kapitel „Ausblick“): In solchen Problemlagen treten die Merkmale der Szenografie als Dispositiv und auch ihr kreativ-eingreifendes Potenzial als Element im Theaterdispositiv besonders hervor (Wiens 2021a).

Reflexion von Bühne/Bühnenformen als Arbeit am ästhetischen Dispositiv des Theaters

Beachtung verdient hier grundsätzlich der Begriff ‚Bühne‘, der in der Einleitung zu diesem Buch bereits diskutiert wurde, und die Begrifflichkeit der ‚Bühnenform‘, die Konstellationen des Zeigens und Sehens beschreibt und ihrerseits daher als Dispositiv verstanden wird (vgl. Müller-Schöll 2014, 2017). Grundlegend dafür wurde eine Studie von Ulrike Haß (Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, 2005), die – mit dem Terminus der ‚Schauanlage‘ und mit Hinweis auf das Leipziger Theatralitätsmodell Rudolf Münz’ (1998) – zunächst von einem weit gefassten Theaterverständnis ausgeht. Der Begriff ‚Bühnenform‘, den sie hieraus zu einem Suchbegriff für Ordnungen des Sehens/Zeigens entwickelt, meint bei ihr nicht konkrete, gebaute Architektur- und Bühnenformen, sondern dient als Bezeichnung für eine „intelligible Form, in der sich ein spezifisches Wissen über den Zusammenhang von Wahrnehmen und Darstellen herstellt und ausdrückt“ (Haß 2005, 17). Schwerpunktmäßig widmet sich Haß in ihrer Studie dem Guckkastendispositiv, jener Bühnenform, die sich seit der europäischen Renaissance herausbildete, als die ersten geschlossenen Theatergebäude errichtet, die Bühnen nach innen verlegt, nach der Logik perspektivischer Bildkonstruktion organisiert und vor diesen ein auf bestimmte Modi des Zuschauens hin fixiertes Publikum plat68

Szenografie, Performance Design und Theaterforschung

ziert wurden. Das Dominantwerden dieser Bühnenform, als „Leitmodell einer langen Epoche, die vom fünfzehnten Jahrhundert bis in unsere Gegenwart hinein dauerte“ (ebd., 19), ist in der theaterwissenschaftlichen Diskussion schon oft besprochen worden. Gemeinhin wird dabei ihre künstlerische Reinterpretation oder Ablehnung und die „andauernde theoretische Auseinandersetzung mit (ihr) (…) unter ästhetischen oder gesellschaftlichen Gesichtspunkten“ zu einem Hauptanliegen moderner Szenografie erklärt (Balme 2005/2014, 349); aufgrund ihrer anhaltend kritisierten Illusionswirkung deutet Haß diese Bühnenform auc­ h als ­Figuration einer ‚Epoche des optischen Betrugs‘, die erst heute „von einem Modell der Intermedialität und Interaktivität zwischen Benutzern und Programmen überholt“ und abgelöst werde (ebd.).

Die zugespitzte These von der Ablösung, Verwerfung einer Bühnenform mag einerseits zutreffen und ist andererseits aber auch diskutabel, da zu den Signifikanten aktueller Strategien szenografischer Praxis ausdrücklich gehört, mit unterschiedlichen Bühnenformen umzugehen. Wie in den vorigen Abschnitten bereits erwähnt (vgl. Vom Guckkasten zur Theatersituation? Szenografie als forschende Praxis), reicht heute das Spektrum von künstlerischen Explorationen historischer Bühnenformen europäischer bzw. auch außereuropäischer Prägung bis hin zu Gestaltungen theaterarchitektonisch nichtfixierter Räume sowie immer wieder auch erneuten Auseinandersetzungen mit dem Guckkastendispositiv, perspektivischer Bild / Raum-Organisation und Illusionswirkung, das (zumal es längst in andere Medien wie Film, Computer Gaming u. a. migrierte) kulturell zu weitreichend implementiert ist, um ganz außer Kraft gesetzt zu werden.

Daher leistet Szenografie insofern eine Arbeit am Dispositiv (des Theaters, seiner Bühnenformen), als dass sie gestalterisch darüber nachdenkt, welche Ordnungen des Zeigens/ Sehens und welche Logiken von Visualität und Räumlichkeit in unterschiedlichen Theaterkulturen wirksam waren (oder noch sind) und sich diese, im künstlerischen Zugriff von heute aus, zunutze macht. Als prominente Impulsgeber, noch bis in den aktuellen Szenografie-Diskurs hinein, sind beispielsweise Walter Gropius, Erwin Piscator und ihr (nicht realisierter) „Totaltheater“-Entwurf (1926/27) zu nennen. Der nur über Zeichnungen, Grundriss und Modellfotos (­Bauhaus Museum Dessau, Busch-Reisinger Museum/Harvard Art Museums, Boston) erhaltene, dennoch berühmte Entwurf war konzipiert als ­ ‚­ Raummaschine‘ und „hochentwickeltes, variables Theaterinstrument“ (Gropius, zit. nach Boeser/Vatkova 1986, 148), das mithilfe einer drehSzenografie als Gegenstand der Theaterwissenschaft

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und versenkbaren Parkettscheibe, mobiler Publikumsbereiche und komplexer bühnentechnischer Elemente (einschließlich Licht, Bild- und Filmprojektion) ermöglichen sollte, im Gebäudeinneren unterschiedliche Bühnenformen zu realisieren: eine Rundbühne im Zentrum des Raums (Arenabühne), die sich durch Drehen der Scheibe in eine Proszeniumsbühne (Guckkasten) verwandeln lässt, oder aber in eine Bühne mit Vorbühne, die, ähnlich wie jene in Shakespeares Globe, ins Auditorium ragt und von drei Seiten einsehbar wird. Ebenso war das simultane Bespielen mehrerer Bühnen vorgesehen: all dies, um das Publikum auf verschiedenste Weisen in das Aufführungsgeschehen zu involvieren, oder mit ­Gropius’ Worten: „hineinzureißen“ (ebd.). Als Ideenmodell war das „Totaltheater“ (seinerzeit geplant für die Berliner Arbeiterschaft, mit rund 2000 Plätzen) nicht nur ein architektonisches, sondern auch politisches und sozialutopisches Projekt. Heute gibt es beispielhaft Anlass, über die materiellen (räumlichen, technischen, sozialen) und konzeptionellen sowie politischen und mithin ideologischen Bedingungsgefüge nachzudenken, unter denen Theater sich ereignet. Für viele Szenograf:innen, wie z. B. Sebastian Hannak (vgl. Kap. II.2.), liegt die von diesem Modell noch immer ausgehende Inspiration darin, dass es auf die Möglichkeit kreativer Freiheit im Umgang mit Bühnenformen und das eingreifend-transformatorische Potenzial verweist, das Szenografie im Theaterdispositiv zu entfalten vermag.

Die Reflexion unterschiedlicher Bühnenformen ist sicherlich eine zentrale Frage der Szenografie; fasst man darunter aber konkrete Bauformen, Anordnungen und denkt ‚Bühnenform‘ nicht als Struktur, mediale Konstellation und Ideenmodell, ergibt sich allerdings eine Schwierigkeit, auf die Nikolaus Müller-Schöll hinweist, anhand eines bekannten, in der theaterwissenschaftlichen Lehre gebräuchlichen Schemas nach Marvin Carlson (vgl. Abb. 6): Verloren ginge in solchen Schemata alles, was mit dem Dispositivbegriff doch eigentlich in den Blick kommen sollte (das historisch bzw. kulturell zugehörige Raumdenken, die virulenten Diskurse über Schauspielkunst, institutionelle Entwicklungen, Theatergesetze, Reglements, philosophische, moralische, philanthropische Lehrsätze etc.). Im Schema dagegen würden Bühnen- und Bauformen zu Typen gebündelt, die zwar „ein historisches Verständnis suggerieren, tatsächlich aber nichts anderes sind als eine als solche unerkannte Projektion einer gegenwärtigen Theatervorstellung auf die Vergangenheit (…); (d)amit wird verhindert, dass in den Dispositiven der Vergangenheit deren je spezifische Geschichtlichkeit erkannt werden kann“ (ders. 2014, 234).

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6 Bühnenformen nach Marvin Carlson, ergänzt um ein Schema digitaler Bühnen und intermedialer Konstellationen (Abb. nach Balme 2021: 163, basierend auf Carlson 1987: 67, für das vorliegende Buch mit eigener Erweiterung)

Der Einwand mag einerseits berechtigt sein; andererseits erinnern diese Schemata an die Pluralität von Bühnenformen jenseits des Guckkastendispositivs, die man aus der europäischen und außereuropäischen Theatergeschichte kennt – und mit all diesen Bühnenformen gehen Szenograf:innen heute gestalterisch um. Wenn etwa der Bühnenbildner und Regisseur Ulrich Rasche für seine Version von Agamemnon (2022), dem ersten Teil von Aischylos’ Orestie, als Spielort Epidauros wählt, eine der ersten erhaltenen Theateranlagen der griechischen Antike, um an historischer Stätte eine hochmoderne Drehscheibe zu installieren, auf der Chor und Protagonisten vor angereistem Festivalpublikum, umgeben von peloponnesischer Landschaft einem uralten Tragödienschicksal entgegengehen (Stammen 2024), und wenn er, ein Jahr später, dieselbe Produktion in den Guckkasten des Münchner Residenztheaters übersetzt, so ist dies nicht lediglich dem heutigen Koproduktionsbetrieb geschuldet oder trivial, sondern Reflexion über den (zuweilen ausgeblendeten) Umstand, dass Stücke wie die Orestie, die heute in Guckkastenkonstellationen oder Black Boxes gespielt werden, ehedem für andere Bühnenformen verfasst wurden. Dem gedanklich verwandt, doch wiederum anders, konfrontierte Jan Pappelbaum (mit seiner Raumkonzeption für Thomas Ostermeiers Richard III., Berliner Schaubühne, 2015) den Mendelsohn-Bau (um 1928 ehedem errichtet als Kino) spannungsreich mit den Raumparametern der elisabethanischen Bühne, mit der für ihn konzeptionell leitenden Frage: „Wo gibt es solche Formen von Theater oder von Räumen noch, die diese Unmittelbarkeit haben?“ (ders., „Der Griff in die Zeitlosigkeit“, in: Döring/Müller-Tischler 2015, 160 f.). Weiteres Beispiel: Als sich im Corona-Sommer 2021 Benjamin Foerster-Baldenius und das Team von raumlaborberlin ebenfalls von der Raumstruktur des Globe Theatre inspirieren ließen, um ein provisorisches Szenografie als Gegenstand der Theaterwissenschaft

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Freilufttheater zu errichten, das – auch unter Pandemiebedingungen – gemeinschaftliches Theatererleben erlaubte, konnte es nicht um schematische Aneignung gehen, auch nicht um Rekonstruktion, sondern um explorierende Annäherung und Reinterpretation einer historischen Bühnenform (vgl. Abb. 80). Unbestreitbar ist, dass jeweils uneinholbar fern bleibt, wie ein Publikum einst im antiken Theatron, oder in Shakespeares Globe, Aufführungen erlebte, da unsere Subjektivität und Wahrnehmung heute – unter den Bedingungen veränderter bzw. anderer Dispositive – ganz anders geprägt sind. Fragt man indes nach einem ‚Außen‘ oder, mit Haß, nach Kritik und Ablösung von diesen Prägeformen (vor allem des Guckkastens), zeigt sich, wie nachhaltig diese kulturell wirksam sind und dass mithin sogar Spielarten von Environmental theatre/scenography, die diese doch eigentlich überschreiten, die Guckkastenstruktur, als inneres ‚Gestell‘, weiter mit sich tragen. Die These lautet daher: Szenografie, indem sie im Theaterdispositiv und an seinen Bühnen/Bühnenformen arbeitet, vermag es, deren ästhetische Logiken, Historizität und Differenz erkennund erfahrbar zu machen und diese, im Zuge solcher Auseinandersetzung, für Revision, Neuinterpretationen und Erweiterungen zu öffnen.

Mit der Frage nach der Arbeit an Bühne/Bühnenformen und an Ästhe­ tiken und Epistemen szenografischer Gestaltung verbindet sich somit auch die Frage nach dem Wissen und nach dem Gedächtnis der Szenografie. Über die einzelne Inszenierung hinaus, kommt damit der gesamte theaterspezifische Produktionskomplex in den Blick: von der Konzeption (Vorgespräche, Recherchen, Entwurfsphasen), den Probenphasen (einschließlich Bau-, Kostüm-, Beleuchtungsproben) über Realisierung (mit Gewerken, Fundus, Technikabteilungen, auch: Arbeitsabläufe und -bedingungen, Budgets) bis hin zu Premiere, Aufführungen sowie schließlich zu Dokumentation und Archivierung. Für die Dispositivanalyse ergibt sich als quellenkritisches Problem, dass das Material äußerst heterogen ist; unterteilen lässt es sich in zwei Hauptkategorien: 1. Elemente und Artefakte (wie Zeichnungen, Collagen, Moodboards, ge­ malte Entwürfe, Modelle, szenografische Partituren) oder auch schriftliche Notizen, die über Entwurfs- und Probenprozesse Auskunft geben, 2. dokumentierendes Material (Fotografien von Proben und Aufführungen, interne Aufzeichnungen Video, Ton), Künstler:innengespräche sowie mediale Berichterstattung und Theaterkritiken.

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Szenografie, Performance Design und Theaterforschung

Hinsichtlich der Archivierung, Aufbewahrung und Zugänglichkeit szenografischer Artefakte wirkt sich aus, dass ihr Status als Kunst/Kunstobjekte oder auch als epistemische Dinge jenseits von Inszenierung/Aufführung prekär, bestreitbar ist und keinen fixen Regeln, aber doch (jedenfalls an den öffentlich getragenen Häusern) einigen spezifischen Regularien unterliegt.

Dazu gehört, dass – sobald ein Stück abgespielt ist, ein Abspielbescheid vorliegt – zumeist schon am Tag nach der letzten Vorstellung mit dem Demontieren und Entsorgen des Bühnenbilds begonnen wird. Szenografische Objekte, Requisiten und Kostüme gibt man in den Fundus. Die Lagerung von Bühnenbildteilen ist kostspielig; recyclebares Material oder Materialien, die wenig Lagerplatz benötigen, werden üblicherweise aufbewahrt, das Übrige aber geht in den Müll. Ähnliches gilt für die Entwurfsmaterialien (Grafisches, Modelle), die gemäß einer (erst vor Kurzem außer Kraft gesetzten) Klausel im Standardvertrag dem Theater gehören,47 in der Regel aber nicht archiviert werden. Anders verhält es sich, wenn Szenograf:innen auf den Kunststatus einzelner Artefakte bestehen, diese selbst sammeln oder, wie Robert Wilson, anderswo präsentieren (z. B. als Ausstellungsexponat) und über Galerien vermarkten wollen. Eine weitere Möglichkeit ist, dass sich Theatersammlungen und -museen dafür interessieren und Artefakte, als Wissensdinge und Forschungsobjekte, in ihr Archiv integrieren. Mit seinen Merkmalen als Institution und Organisation (vgl. Hoesch 2020, Gukenbiehl 2016) fungiert Theater somit als ermöglichender, aber auch be-/eingrenzender Apparat, und die Szenografie als Dispositiv ist, im größeren Radius, notwendigerweise noch mit weiteren Einrichtungen verbunden. Dazu zählen Theatersammlungen und -museen (Deutsches Theatermuseum München, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln, Akademie der Künste Berlin, u. a.), Berufs- und Interessenverbände (­Deutscher Bühnenverein, DTHG/Theatertechnische Gesellschaft, Szeno­grafie-Bund, u. a.) und Institutionen wie die Hein-Heckroth-Gesellschaft, die mit Preisvergaben explizit Bühnenbildner:innen fördert, sowie weitere in entsprechenden Kategorien (Bühne/ Raum, Kostüm, Video, multimediale Kreationen) auch an Szenograf:innen vergebene Theaterpreise (z. B. DER FAUST, der Wiener Nestroy-Preis, die Schweizer Preise Darstellende Künste), die zur Würdigung und zum öffentlichen Diskurs über diese Kunst beitragen.

Szenografie als Gegenstand der Theaterwissenschaft

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Szenografie im sozio-ökonomischen Kontext

Ob Szenografie im Theaterdispositiv als ‚bildende Kunst in der darstellenden Kunst‘, ‚angewandte Kunst‘ oder lediglich als subordinierte, an Weisungen der Regie gebundene Praxis gesehen wird – mit anderen Worten: inwiefern ihr ein eigener Autor-Status zuerkannt wird – zeitigt für Bühnenund Kostümbildner:innen (besonders die freiberuflich tätigen) freilich durchaus handfeste Folgen. Die Höhe der Gagen, die mit den (hierzulande bekanntlich fast durchweg subventionierten) Häusern gemäß ihrer Gagenregelung auszuhandeln ist, variiert. Laut Mitgliederbefragungen des Szenografie-Bunds spiegelt eine Bühnen- und Kostümbildgage erfahrungsgemäß „selten den tatsächlichen Aufwand wieder, und Kostümbildner:innen werden oft geringer bezahlt als Bühnenbildner:innen. Zudem berücksichtigt die Gage keine Begleitumstände wie tatsächlichen Aufwand, Alter, Erfahrung, Kinder, Reisen, Art der Versicherung etc.“48 Hinzu kommen geschlechtsspezifische Konnotationen des Berufs, die sich auswirken (in Arbeitshierarchien, Machtgefällen, Gender Pay Gap).49 Ein weiterer Aspekt ist, dass, gemäß deutschem Steuerrecht, ein erhöhter Steuersatz zur Anwendung kommt, sofern szenografische Arbeit nicht als Kunst gesehen wird und „(…) (sich) in der handwerklichen Umsetzung vorgegebener Gestaltungsformen (erschöpft)“ und die „Herstellung und Lieferung des Bühnenbildes oder der Kostüme“ gegenüber dem kreativen Gestaltungsanteil überwiegt (BMF 2014). Behördliche Neuregelungen und Neubewertungen an dieser Stelle bescherten dem Szenografie-Bund als Berufsverband, in Auseinandersetzung mit dem Bundesministerium für Finanzen (BMF), im Jahr 2013 einen sprunghaften Anstieg seiner Mitgliederzahlen (vgl. www.szenografen-bund.de/ueberuns). Der vom Verband geltend gemachte Hinweis auf den gestalterischen Eigenbeitrag szenografischer Praxis und das Argument, dass ihr üblicherweise ein Studium an einer Kunsthochschule oder Entsprechendes vorausgeht, führte de jure zur Präzisierung von Kriterien, die, mit jedem Engagement bei Vertragsabschluss (im Rahmen eines Werkvertrags) auszuhandeln sind – unter der Maßgabe, dass sich selbstständig tätige Bühnen- und Kostümbilder:innen „im Regelfall“ gegenüber der Bühne bzw. dem Theater verpflichten, eine Konzeption für das Bühnenbild bzw. die Kostüme zu erstellen und aufführungsreife Entwürfe mit den für die Realisierung notwendigen Details abzuliefern. (Diese) werden in der Regel von den eigenen Werkstätten der Bühnen angefertigt. Darüber hinaus ist der Auftragnehmer verpflichtet, die Herstellung des Bühnenbildes bzw. der Kostüme zu überwachen und bei Proben anwesend zu sein. Für die umsatzsteuerrechtliche Beurteilung (…)

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Szenografie, Performance Design und Theaterforschung

kommt es entscheidend auf die vertragliche Vereinbarung und deren ­tatsächliche Durchführung an. Die Einräumung, Übertragung und Wahrnehmung von Rechten, die sich aus dem Urheberrechtsgesetz ergeben, müssen den wesentlichen Inhalt der Vertragsbeziehung ausmachen. (…) In diesen Fällen wird es der Auftrag gebenden Bühne regelmäßig gerade auf die schöpferische Leistung des beauftragten Bühnen- oder Kostümbildners ankommen (…) (BMF 07.02.2014, IV D 2 – S 7240/11/10002 (DOK 2014/0114745), Bundessteuerblatt Teil I, Hervorh. BW).

Damit ist quasi amtlich, dass „schöpferische“ Eigenleistung – oder vielmehr: deren Anerkennung als solche – entscheidend für Position, Sichtbarkeit und die (künstlerischen, sozialen und ökonomischen) Bedingungen der Szenografie im Dispositiv des Theaters sind; gleichwohl ist sie – als Kunst – in dieses ihrerseits stets eingebunden, wobei die Grenzen ‚schöpferischer Eigenleistungen‘ zwischen den Beteiligten in der Realisierung und die daran angelegten Kriterien zuweilen unscharf, fließend oder auch umkämpft sind. Worin also bestehen ‚schöpferische‘ Leistung und künstlerischer Beitrag dieser (noch heute oftmals missverständlich, pejorativ und veraltet als ‚Ausstattung‘ bezeichneten) Kunst sowie ihre Relevanz?

Zu den ersten Adressen für diese Fragen gehören sicherlich die Hochschulen, die für den Beruf ausbilden und im Feld von Szenografie & Performance Design künstlerisch oder wissenschaftlich forschen. In der deutschen Hochschullandschaft zeigt sich allerdings eine strukturelle Besonderheit, nämlich die, dass (1.) theaterwissenschaftliche Lehre und Forschung, (2.) die Studiengänge Dramaturgie, Regie, Schauspiel sowie (3.) die künstlerischen Studiengänge Bühnen/Kostümbild bzw. Szenogra­ phie üblicherweise in unterschiedlichen Hochschuleinrichtungen verankert sind (Universität/Theaterakademie/Akademien für Bildende Künste) und – institutionell, fachlich und räumlich getrennt – auch diskursiv nur wenig bzw. gar nicht verbunden sind. Die Scenography & Performance Design Studies fallen hier insofern in eine Lücke: „In contrast to other fields of theatrical and art education (drama, dance, media art, etc.), stage design respectively scenography seems to be less connected to theoretical discourse and academic research“, resümieren die Autor:innen einer (2019 durchgeführten) Studie ihre Beobachtungen zur Situation im deutschsprachigen Raum (D/A/CH).50 Wenn der Gegenstand im Studium zukünftiger Damaturg:innen, Kurator:innen, Kulturmanager:innen, Theaterkritiker:innen und Akteur:innen in Kulturpolitik, -behörden, Stiftungen kaum Szenografie als Gegenstand der Theaterwissenschaft

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vorkommt, mag dies diskursiv und auch strukturell nicht ohne Folgen bleiben. Dem sucht der Szenografie-Bund als Berufsverband wiederum entgegenzusteuern, um vermittels bundesweiter Initiativen (#OhneUnsGibtEsNichtsZuSehen, 2023), Veranstaltungen, Arbeitsgruppen (Digitale Bühne, Ökologische Nachhaltigkeit, Kostüm) sowie Publikationen, darunter ein in der Pandemiezeit entstandenes Manifest,51 eine größere, theaterinteressierte Öffentlichkeit zu adressieren und sich mit Fragen nach der Wahrnehmung, Zukunft, dem kulturellem Stellenwert und auch der – in der Breite gesehen heute zuweilen prekären – Berufsrealität ihrer Kunst ins Gespräch zu bringen.

In gewissem Kontrast dazu steht eine hierzulande erkennbare, im internationalen Vergleich zuweilen bewunderte „Tradition der Vielfalt“ der Szenografie in der künstlerischen Praxis (Berghausen 2020), die sich den Bedingungen einer nach wie vor dichten Landschaft aus öffentlich geförderten Theatern, Produktionshäusern und freier Szene verdankt. In den anglophonen Scenography Studies, quasi von außen, wird dies intensiv wahrgenommen und unter verschiedenen Aspekten transversal und kulturvergleichend beforscht;52 hier wäre anzuschließen: Was also leistet Szenografie-Forschung, welche Perspektiven werden damit eröffnet? Im Folgenden wird diesen Fragen – mit den bisher diskutierten Überlegungen zur Verbindung von Szenografie-Forschung mit dem Mixed- bzw. ­Between-Methods-Approach der Dispositivanalyse – in einem Streifzug durch die deutschsprachige Theaterlandschaft weiter nachgegangen.

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Szenografie, Performance Design und Theaterforschung

II. Tendenzen der Szenografie im ­Gegenwartstheater In den folgenden Abschnitten werden einige signifikante Tendenzen des Szenografischen im Gegenwartstheater des deutschsprachigen Raums aufgezeigt. Dabei geht es, wie in der gesamten Studie, nicht darum, dieses breite, äußerst facettenreiche und dynamische Feld umfassend zu kartieren oder gar ein Who is Who der ‚bildenden Kunst in der darstellenden Kunst‘ aufzubieten. Mit dem Ansatz der Dispositivanalyse lässt sich vielmehr fragen, welche Ästhetiken, szenografischen Praktiken und künstlerischen Positionen auffällig werden und diskursiv, indem sie etwa in Theaterkritiken oder anderweitig (z. B. durch Preise und Auszeichnungen) besondere Aufmerksamkeit erfahren, auch potenziell langfristig im Gedächtnis bleiben.

Im Zentrum steht dabei die Frage nach der Szenografie als Kunst – im Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Abhängigkeiten (von der Regie, den Bedingungen des Theaterbetriebs, von Theaterkritik, Publikumsgunst, Auslastungszahlen usw.). Zugleich sei ein Statement Bert Neumanns in Erinnerung gerufen, der eindringlich betonte: „Als Künstler ist man letztendlich seinen eigenen Kriterien verpflichtet, die darf man nicht vergessen“ (ders. 2015, 28). Welche Tendenzen szenografischer Gestaltung zeichnen sich also ab, und welche Kriterien werden von verschiedener Seite geltend gemacht?

1. Vorüberlegungen: Künstlerische Positionen und Sichtbarkeitsbedingungen Die hier vorgestellten Untersuchungen setzen um die Jahrtausendwende an – und damit in einer Zeit, in der sich im Theater im deutschsprachigen Raum (Deutschland, Österreich, Schweiz) verschiedene Produktionsmodelle nebeneinander und teils auch in Konkurrenz zueinander formierten (zum Regietheater an den Staats- und Stadttheatern trat ein auf Internationalität angelegtes Koproduktions- und Netzwerktheater sowie eine verstärkt sichtbare Freie Szene) und sich die Theaterlandschaft insbesondere hierzulande nach dem Ende der deutsch-deutschen Teilung stark veränderte. Die Arbeitshypothese lautet, dass mit diesen Umbrüchen und Ausweitungen der dispositiven Bedingungen auch eine verstärkte Ausdifferenzierung des Szenografischen einherging. Dass gleichwohl alles, was zur Szenografie gehört (sei es Bühnen-, Kostümgestaltung oder Video- und 77

Lichtdesign), vergleichsweise wenig beforscht, reflektiert und generell in der öffentlichen Debatte über Theater oft nur am Rande erwähnt und ihr künstlerischer Beitrag gewissermaßen ‚nicht gesehen‘ wird, gilt aufseiten dieser Berufsgruppe als Problem (vgl. Berghausen 2020) – nicht zuletzt, weil die Bedingungen und diskursiven Strukturen im Dispositiv, in deren Spannungsfeld Szenograf:innen ihren künstlerischen Beitrag zur Theaterarbeit leisten, wiederum Einfluss haben auf Gestaltungsfreiheit und ­ästhetische Praxis. Ob und warum eine Szenografie aufseiten des Publikums und der Theaterkritik Aufmerksamkeit erhält und als ‚besonders bemerkenswert‘ gilt, mag von mehreren, nicht immer greifbaren Faktoren abhängen.

Formuliert, und somit ein Stück weit evident, werden angelegte Kriterien etwa im Rahmen jährlicher Preisvergaben (so bei Prämierungen wie dem Berliner Theaterpreis, 3sat-Preis und Alfred-Kerr-Preis, ausgereicht beim Theatertreffen, oder dem vom Deutschen Bühnenverein und der Akademie der Darstellenden Künste gestifteten Auszeichnung DER FAUST, dem österreichischen Nestroy-Preis und den Schweizer Preisen Darstellende Künste): Diese Einrichtungen geben den jeweiligen – meist aus Kritiker:innen bestehenden – Jurys explizit Anlass, darüber nachzudenken, was ein bemerkenswertes Raum- oder Kostümkonzept ausmacht und welche Parameter bei deren Auswahl, Beschreibung und Bewertung aus ihrer Sicht aktuell angesetzt werden. Darin mag einerseits ein positiver Effekt liegen. Andererseits spielen gerade im Hinblick auf die Theaterszenografie immer vielerlei Faktoren eine Rolle (namentlich die unterschiedlichen, hierarchischen oder symmetrischen Relationen zwischen Regie und Szenografie, die Gesamtleistung des Ensembles oder die jeweiligen institutionellen Bedingungen).

Zudem zeitigen Kunsturteile – ihrerseits im Dispositiv verwoben und daher bedingt ‚objektiv‘ – potenziell folgenreiche Auswirkungen auf Engagements und weitere Karrierewege der Benannten (oder Nichtbenannten).

Gleiches gilt auch für die jährlichen Umfragen unter Kritikern und Kritikerinnen der Fachzeitschriften Opernwelt und Theater heute; so ­ ­besehen sind jene Auszeichnungen durchaus auch machtvolle, steuernde Instrumente.

Eine Besonderheit ist hier der Hein-Heckroth-Preis, der seit 2003 als bundesweit einziger Spezial-Bühnenbildpreis alle zwei Jahre in Gießen verliehen wird. Sein besonderes Merkmal liegt darin, dass nicht Kritiker oder Kritikerinnen, sondern der bzw. die aktuell Prämierte jeweils über die nächste 78

Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

7 Hein Heckroth (1901-1970), Porträtfoto, vermutlich Frühjahr 1961. Fotograf unbekannt. Archiv der Hein-Heckroth-Gesellschaft Gießen

Vergabe entscheidet – den Anfang machte Erich Wonder. Hinzu kommt jedes Mal ein Nachwuchspreis. Namensgeber des Preises ist der Maler, Bühnenbildner und gebürtige Gießener Hein Heckroth. Heute kaum mehr bekannt, war Heckroth seinerzeit am Theater der Weimarer Republik ähnlich bedeutend wie Caspar Neher oder Teo Otto und mit Stationen in Münster, Essen und als Ausstatter u. a. von Kurt Joos‘ Ballett Der grüne Tisch (Paris 1932) ausnehmend erfolgreich. Nach 1933 und dem gegen ihn verhängten Mal- und Lehrverbot durchlebte er eine wechselvolle Exilzeit in Frankreich und England, fand sich, deportiert als „Enemy Alien“, 1940/41 in Australien wieder und konnte aber, dank des Einsatzes namhafter Personen des britischen Kulturlebens, alsbald nach England zurückkehren. Im Deutschland der Nachkriegszeit übernahm er 1956 an den Städtischen Bühnen Frankfurt am Main die Position des Ausstattungsleiters.

Zudem trat Heckroth, der in den 1940er Jahren mit ausdrucksstarken, oft Künstlerische Positionen und Sichtbarkeitsbedingungen

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surreal anmutenden Gestaltungen auch in der britischen Filmindustrie reüssierte und 1949 in den USA einen Oscar gewann (in der Kategorie „Best Art Direction (Color)“ für sein Szenenbild des Ballettfilms The Red Shoes, Regie M. L. Powell, 1948), als Szenograf für den Film und das bundesdeutsche Fernsehen in Erscheinung. Schon zu Lebzeiten überließ er den ­Großteil seiner Entwürfe, Skizzen, Storyboards und Gemälde der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln. Posthum wurde er mit mehreren Ausstellungen geehrt, so vom Frankfurter Kunstverein kurz nach seinem Tod 1970 oder auch, einige Jahre später, mit der Kölner Ausstellung Magier der Szene. Hein Heckroth zum 100. Geburtstag (vgl. Buck 2001). Die Vergabe des nach ihm benannten Preises – zu seinem Andenken und mit der Absicht, „einem breiteren Publikum die Entwicklung des Bühnenbilds im Spannungsfeld von bildender und darstellender Kunst näherzubringen“ – organisiert die 2001 gegründete Hein-Heckroth-Gesellschaft; Preisträger:innen, nach Erich Wonder, wurden seither Karl-Ernst ­Herrmann, Achim Freyer, Robert Wilson, Christoph Schlingensief, Anna Viebrock, Bert Neumann, Gero Troike, Katrin Brack, Olaf Altmann, Ulrich Rasche sowie Vegard Vinge und Ida Müller. Eine weitere Besonderheit des Hein-Heckroth-Preises ist, dass er mehr als andere Auszeichnungen die ästhetische und auch gesellschaftliche und politische Dimension dieser Kunst in den Fokus rückt. Der mit jeder Preisverleihung verbundene Blick auf exemplarische Arbeiten Hein Heckroths und die Eröffnung eines Erinnerungsraumes, der von der Weimarer Republik über die NS-Zeit und Exil bis in die Zeit des geteilten Deutschlands reicht, wirft immer wieder die Frage auf, inwiefern sich in Szenografien nicht nur Einflüsse aktueller Kunst- und Literaturströmungen oder technischer Entwicklungen zeigen, sondern sich darin auch Veränderungen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und politischer Systeme niederschlagen – bis hin zu den Umbrüchen im Zuge der deutschen Wiedervereinigung und zu aktuellen Problemstellungen der Gegenwart. Nicht zuletzt verbindet sich damit auch die Frage nach dem Gedächtnis der Szenografie. Wenn die mit dem Preis Bedachten, wie Anna Viebrock, sich noch an frühe Begegnungen mit Arbeiten und Person Heckroths erinnerten und andere, wie Katrin Brack, in der Dankesrede bekannten, dass sie wenig über ihn wussten, „nur dies: dass er Bühnenbildner war und für die Ausstattung des Films ‚The Red Shoes‘ einen Oscar in Hollywood bekommen hat“ (dies. 2019), oder wenn Bert Neumann anmerkte, dass Heckroth in der DDR außerhalb des Blickfelds blieb und Vorbilder während seines Studiums „eher Karl von Appen oder Heinrich Kilger hießen, also Bühnenbildner aus dem Umfeld Brechts und 80

Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

des Berliner Ensembles“ (ders. 20152), werden unterschiedliche Perspektiven und Dynamiken des Erinnerns (oder auch Vergessens) erkennbar.

Vielleicht – so eine These des amerikanischen Theaterforschers Matt ­Cornish, gleichsam aus einer Außenperspektive – ist das Bearbeiten des virulenten Erbes aus dem vorigen Jahrhundert, mit seinen Brüchen, Verwerfungen und auch Lücken, in der Szenografie hierzulande aber sogar einer der Hauptaspekte. In seinem Beitrag „Worlds of German design in the twenty-first century“ (in: The Routledge Companion to Scenography, 2018) kommt Cornish anhand einer Reihe von Case Studies (Räume von Bert Neumann, Aleksandar Denić, Katrin Brack, Jan Pappelbaum, Dominic Huber/Blendwerk, und anderer) zu dem Befund, dass aktuell keine bestimmte szenografische Tendenz, Schule oder Stil die Bühnen dominiert („It is clear that no one scenographic movement dominates the stages of Germany today“, Cornish ebd., 476). Trotz ihrer Vielgestaltigkeit sei aber auffällig, wie viele Theaterarbeiten und Szenografien – „sui generis or even ex nihilo“ – immer wieder neue, andere Auseinandersetzungen mit dem historischen Erbe, vor allem der Brechtbühne, führten (ebd., 465). In gewissem Gegensatz dazu steht die hierzulande verbreitete Annahme, dass die künstlerischen Setzungen der 1960/1970er-Generation im (west-)deutschen Theater (Wilfried Minks, Erich Wonder, Achim Freyer, u. a.) gegenüber den Bühnengestaltungen der vorigen Jahrzehnte den ‚freien, befreiten Raum‘ und radikalen Bruch brachten (vgl. von Becker 2018), obwohl auch sie in ihrem Formvokabular nicht ohne Bezugnahmen auskamen (besonders oft und explizit auf Brechts epische Bühne, auf Räume Piscators oder das Bauhaus). In einem programmatischen Vortrag („Gedanken zu Bühne und bildender Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg“, documenta VIII, ­Kassel 1987) plädierte Henning Rischbieter daher für eine allseits differenziertere, eingehendere Beschäftigung mit dem szenografischen Erbe jener Zeit, um – auch jenseits von Innovationsgesten und selektivem Rückblick – die „komplexe Geschichte der Wechselbeziehungen zwischen bildender Kunst und Theater in den vierziger, fünfziger, sechziger Jahren“ und deren „Fortsetzung … heute und morgen“ besser zu verstehen (ders.

1987/1993, 9).

Szenografisches Gestalten beginnt, so besehen, nie ‚bei Null‘. Erhebungen im Theaterfeld, z. B. mit Ateliergesprächen und Probenbesuchen (vgl.

Döring/Müller-Tischler 2015) und – sofern zutrifft, dass sie seismografische Funktion haben – auch die Preisvergaben und Rituale ihrer öffentlichen Künstlerische Positionen und Sichtbarkeitsbedingungen

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Ausreichung können Anlass sein, in dem Sinne immer wieder auch nach Bedingungen, Bezugnahmen und Wechselbeziehungen zu fragen. In welchen Referenzrahmen künstlerischer Ansätze, Formensprachen und ­Techniken und welchen epistemisch-diskursiven Zusammenhängen operiert Bühnengestaltung/Szenografie, und welches Gestaltungsdenken drückt sich darin aus? Wovon hebt sie sich ab? Was sind die jeweiligen Bedingungen und Vorzeichen? Und abermals: Mit welchem Vokabular wird Szenografie wiederum beschrieben, und welche Kriterien werden auf verschiedener Seite angelegt? – Wenn der Name Heckroths für eine künstlerische Haltung steht, die die Entwicklung des Bühnenbilds weg vom rein dekorativen hin zum integral mitgestaltenden Faktor in der Theaterkunst (und darüber hinaus in Film und Fernsehen) beförderte, so ist eine verwandte Haltung wohl ein Hauptkriterium bei der Auswahl der Szenograf:innen, die mit dem nach ihm benannten Preis geehrt werden sollen. Der Deutsche Bühnenverein verleiht seinen FAUST dagegen spielzeitbezogen in zwölf Kategorien mit Blick auf einzelne Produktionen (mit Ausnahme der Kategorie Lebenswerk) und setzt weitgehend offen gehaltene Kriterien an: Gewürdigt werden sollen in der Kategorie Raum der „Umgang mit dem (Bühnen-)Raum und seiner Wirkung“, im Kostüm die „Innovation in der visuellen Gestaltung“ und „handwerkliche Qualität“ und in jeder dieser Kategorien das „künstlerisch-ästhetische Zusammenspiel mit der Inszenierung“ (https://derfaust-theaterpreis.de), wobei man – auch mit der 2022 noch hinzugekommenen Kategorie Genrespringer – die Absicht, die „­Vielfalt der Theaterlandschaft in Deutschland“ widerzuspiegeln, explizit betont (ebd.).

Diese Vielfalt und die – theaterhistoriografisch besehen, bisher so nicht gekannte – aktuelle Vielgestaltigkeit der Szenografie im Dispositiv des Theaters ist in der Gesamtheit kaum abbildbar oder kartierbar. Im Folgenden soll es somit darum gehen, einigen wichtigen Tendenzen (im Fokus auf die deutsche Theaterlandschaft, mit Ausblicken nach Österreich und in die Schweiz) anhand exemplarischer Arbeiten nachzugehen. Auch hier war gleichwohl eine Auswahl zu treffen, die zwangsläufig dazu führt, dass andere, ebenso beachtenswerte Beiträge nicht berücksichtigt werden. Um über bereits erwähnte Szenografen und Szenografinnen wie Bert ­Neumann, Katrin Brack, Anna Viebrock, Olaf Altmann, Ulrich Rasche oder Sebastian Hannak hinaus, doch noch einige weitere Namen anzuführen, seien (ohne jeden Anspruch auf wie immer gedachte Vollständigkeit) genannt: Henrik Ahr, Stefan Hageneier, Harald B. Thor, Martin ­Zehetgruber, Jan 82

Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

Pappelbaum, Michael Simon, Barbara Ehnes, Nina von Mechow, Bettina Meyer, Katja Hass, Heike Schuppelius, Katrin Lea Tag, Lena Newton, Michael Sieberock-Serafimowitsch, Martina Segna, Mirjam Stängl, Wolfgang Menardi, Nikola Knezević sowie Dominic Huber/Blendwerk, Nadia Fistarol oder Étienne Pluss. Im Kostümbereich begegnet man etwa ­Victoria Behr, Esther Bialas, Tabea Braun, Adriana Braga Peretzki sowie Andi Besuch, Josa Marx, Teresa Vergho, Jana Findeklee & Joki Tewes oder Johanna Trudzinski, Sibylle Wallum und vielen weiteren (etablierten oder jungen, noch zum Nachwuchs zählenden) Künstler:innen und Gestalter:innen, die schon allein aus Platzgründen nicht alle genannt werden können. Die folgenden Betrachtungen szenografischer Arbeiten und Positionen mögen insofern exemplarisch sein, wobei der Ansatz der Dispositivanalyse helfen soll, auch strukturelle Aspekte und Bedingungen von Produktionskontexten und Aufführungen aufzuzeigen. Dazu gehört, dass Szenograf:innen gemeinhin in oft wechselnden künstlerischen Teams, verschiedenen Sparten und Genres und in unterschiedlichen institutionellen Zusammenhängen arbeiten. Manche sind auf festen Positionen an Theatern (z. B. Ausstattungsleitungen) oder Hochschulen (Professuren, Dozenturen) verankert. Einer Erhebung des Szenografie-Bunds zufolge, ist jedoch die große Mehrzahl – rund 89 Prozent – der (deutschlandweit von ihm vertretenen) Szenograf:innen soloselbstständig tätig,1 mit entsprechenden Freiheiten, aber auch Risiken.

Mit dem mehrteiligen Methodenansatz der Dispositivanalyse soll folgenden Leitfragen nachgegangen werden: (1.) Welche ästhetischen Praktiken und Strategien lassen sich ausmachen, und damit verbunden: welche Bedingungen und welche Diskurse werden erkennbar, die Szenografie als Kunst im Theaterdispositiv und seine gegenwärtigen Ausprägungen (Stadt- und Staatstheater, Regietheater / internationales Koproduktionstheater / Freies Theater, Netzwerk und flexible Kollaboration) ermöglichen, oder auch beeinflussen bzw. begrenzen?

(2.) Welche Subjektivierungen kommen ins Spiel? Wie positionieren sich Szenograf:innen mit ihrem Gestaltungsdenken und ihren Entwürfen innerhalb von Arbeitshierarchien, Gefügen und Dynamiken künstlerischer Teams (Regie/Dramaturgie/Ensemble) und zu Gewerken, Technikabteilungen, Administrationen? Wie wird gestalterisch kooperiert Künstlerische Positionen und Sichtbarkeitsbedingungen

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und wie wird künstlerisch umgegangen mit organisationalen, arbeitstechnischen und institutionellen Veränderungen (z. B. Folgen der Coronakrise)?

(3.) Welche Objektivationen (Vergegenständlichungen) zeigen sich? Als Ob­­ jek­­­­­ti­vationen sind vor allem Inszenierungsarbeit und Aufführungen zu betrachten, und darin die realisierten Entwürfe und spezifischen Signaturen der Szenografen und Szenografinnen als den ‚bildenden Künstler:innen in der darstellenden Kunst‘ (doing scenography / scenography as performance), (4.) Welchen Entwicklungen arbeiten diese Elemente zu? Welche Transformationsthemen und Problemstellungen im Theaterbetrieb werden in ihnen gegebenenfalls reflektiert und adressiert? Diese Fragen zielen auf die ‚metaszenografische‘ Ebene und die künstlerischen Reflexionen über Raum, Identität, Kulturtechniken, Materialität und Medialität (und ggf. über neue Formen von Sozialität und Co-Kreativität, Digitalisierung, ökologische Nachhaltigkeit), die Szenografie (als Gestaltung von Bühne, Kostüm, Maske, Video, Sound) in Entwurfs-/Probenprozessen leistet und in der Aufführung mit dem Publikum teilt.

2. Exemplarische Positionen und Perspektiven – ein Rundgang

Bühnengestaltung und Kostüm als „eigenständiger, eingreifender Faktor“: Überlegungen zur Autorfunktion in der Szenografie (Bert Neumann) Zu den Bühnen- und Kostümbildner:innen im deutschsprachigen Theater, die in den vergangenen Jahrzehnten, auch mit internationaler Ausstrahlung, besonders prägend waren, zählt sicherlich Bert Neumann. 1960 in Magdeburg geboren und in Ost-Berlin aufgewachsen, war Neumann, der im Sommer 2015 unerwartet verstarb, seit Anfang der Neunziger Jahre und fast bis zum Ende der langen Intendanz Frank Castorfs an der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz der Leiter der Bühnenabteilung dieses Theaters. In der Nachwendezeit, als die DDR fast über Nacht plötzlich Geschichte war, kollidierten dort in der Theaterarbeit, wie unter einem Brennglas, symbolische, strukturelle und zeitgeschichtliche Paradigmen (Aurin/ Hegemann/ Witt 2018). Der innere Motor von Neumanns künstlerischer Arbeit schien zu sein, diese politischen und gesellschaftli84

Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

8 Service/No Service – Arbeiten von Bert Neumann. Deutscher Länderbeitrag, Quadrennial of Performance Design and Space (PQ), Prag 2019. Foto: Sonja Kloevekorn / Szenografie-Bund Der Beitrag war zweiteilig angelegt mit dem rot-weißen Zylinder (Bühnenbildelement aus Der Kaufmann von Berlin, Volksbühne Berlin, 2010) und den umgebauten Zirkuswagen als Beispiel für Neumanns mobile Bühnen und temporäre Theaterarchitekturen im urbanen Raum (vgl. Abb. 9 und 10).

Realisierung: Bert Neumann Association, Berlin, im Auftrag von ITI Germany Auszeichnung (posthum) mit der „Goldenen Triga“ für das künstlerische ­Lebenswerk

Exemplarische Positionen und Perspektiven

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9–10 Service/No Service – Arbeiten von Bert Neumann. Deutscher Länderbeitrag zur Prager Quadriennale (PQ), Prag 2019. Fotos: Sonja Kloevekorn / Szenografie-Bund Die Rollende Road Schau und ihre Wagen tourten, beginnend in Hannover (Expo 2000), mehrere Jahre durch den Stadtraum Berlins; nach weiteren Stationen (zuletzt São Paulo) wurde das RRS-Projekt 2007 beendet. Später wurden die Wagen, erweitert um eine Zeltkonstruktion und zwei umgebaute Zirkuswagen, für Stücke René Polleschs weiter-verwendet (Ruhrtrilogie, Berlin/Mülheim an der Ruhr, 2008–2010, und Cinecittà Aperta, Gastspiel beim Tokyo Festival, 2011). Für die Prager Quadriennale 2019 wurden die eingelagerten Wagen wieder instandgesetzt.

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Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

chen Umbrüche szenografisch zu reflektieren – in einer Ästhetik vibrierender Reibungen, Brüche, Irritationen und Widersprüche, mit großer Bereitschaft zu Risiko und geradezu existenzieller Selbstverausgabung, die das Künstlerpaar Vegard Vinge und Ida Müller, mit ihm professionell lange verbunden, in einem Nachruf zutreffend als „post-reunification a­ esthetics of contradiction“ beschrieben (dies./Friedman 2016, 5). Für Neumann, der an Theaterhäusern in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich und den Niederlanden (mit Regisseuren und Choreograf:innen wie Leander Haußmann, Alain Platel, Luc Bondy, Peter Konwitschny, Jossi Wieler, Johan Simons, René Pollesch oder Constanza Macras) zahlreiche Schauspiel-, Opern- und auch Tanzproduktionen realisierte, blieb das „Projekt Volksbühne“ über die Jahre stets Zentrum seiner Arbeit (ders., in Raddatz 2015, 19f.). Zu seinen Leitgedanken, die er bei diversen Gelegenheiten prägnant formulierte, gehört, Szenografie als „eigenständigen, eingreifenden Faktor des Gesamtkunstwerks Theater“ zu verstehen (Neumann 2013). Eine weitere Prämisse war, dass es auf seinen Bühnen keine Kulissen oder Ding-Attrappen geben sollte (oder falls doch, wurde mit postbrechtscher Geste immer auch deren Rückseite gezeigt). Dass er die gewählten Gestaltungsmittel und operative Funktion des Szenografischen konsequent auslotete, transparent machte und oft bis an die Grenzen trieb, bedingte auch beim Publikum eine verstärkte und veränderte Aufmerksamkeit für Szenografie als einer Kunst: „Es war immer sensationell und ein Ereignis, eine neue Bühne von Bert (Neumann) zu erleben, unabhängig vom Stück, der Interpretation oder den Schauspieler:innen (obwohl sie natürlich die ratatatata-High-Energy-Heroes des Bühnenbilds und unsere Superstars waren)“.2 Die gesellschaftliche und politische Dimension des Theatermachens, die Institution und vorgefundenen Bedingungen, die Konstellation Bühne/Publikum und die eigenen künstlerischen Mittel: Alles sollte mit dieser Praxis unablässig auf den Prüfstand kommen, angefangen mit den architektonischen Parametern der Volksbühne, in die er wiederholt massiv eingriff. Eine solche Intervention war z. B. die „Agora“, ein an die Theaterarchitektur der römischen Antike angelehntes, in den Stadtraum der neuen Berliner Mitte hineinragendes Freilufttheater, das er entwarf, als der Innenraum mitsamt der alten, historischen Drehbühne des von Oskar Kaufmann entworfenen, 1913/14 errichteten Gebäudes, saniert wurden: Für die Dauer einer Saison (2009/10) wurde die trutzige Säulenfassade der Volksbühne zur ‚Scaenae Frons‘, die Freitreppe zur Spielfläche, umbaut von einem hölzernen Theatron. Ebenso zu erinnern ist an seine viel beachExemplarische Positionen und Perspektiven

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tete, an Piscators Medienexperimente, Gropius‘ Totaltheater-Entwurf und an Gestaltungsprinzipien des Bauhaus‘ anknüpfende Neustadt (2002/03): Ausgestattet mit Stehkneipe, Friseur, Kinoreklame und riesiger Freitreppe glich diese Szenografie – im völlig umgebauten Innenraum des Theaters – eher einem Filmset oder prinzipiell sogar einer bewohnbaren Siedlung, mit anderen Worten: einer ‚Architektur in der Architektur‘ (und entsprechend wurde sie nicht nur als Bühne, sondern auch als Kino, Clubraum oder Tagungsort genutzt). Bei Aufführungen von Castorfs DostojewskiInszenierung von Der Idiot saß das Publikum in einem mehrstöckigen, turmartigen Gerüst, kurvte auf der Drehbühne durch eine verschachtelte Containerlandschaft und konnte, trotz Live-Video und im Close-up dargebotener Spielszenen, zwar viel, aber nie alles sehen. Später, für eine Produktion René Polleschs (Schmeiß dein Ego weg!, 2011), ließ er vor den Guckkasten buchstäblich eine ‚Vierte Wand‘ einbauen, deren holzgetäfelte Undurchsichtigkeit (in der sich die Wandverkleidung des Theatersaals fortsetzte) per Live-Video wieder aufgebrochen wurde (Abb. 11). Für Bespielungen des urbanen Raums mit der Rollenden Road Schau (2000– 2007), die, nach Start in Hannover, durch verschiedene Berliner Bezirke und später nach Schwedt sowie Belgrad, Sofia und São Paulo reiste, entwickelte er eine mobile Bühne, die, für mehrere Pollesch-Projekte, zudem durch eine Zeltkonstruktion und zwei umgebaute Zirkuswagen ergänzt wurde.3 Zuletzt, für die Spielzeit 2015/16, gestaltete er an der Volksbühne, als eine Art Dauerbühnenbild, den Schwarzen Raum, für den – wie schon für die Neustadt – das gesamte Parkett überbaut und außerdem noch mit grobem Asphalt zugeschüttet wurde, als dränge die Stadt in den Innenraum. Zudem bedeckten dunkel schimmernde, an Lametta erinnernde, von der Decke bis zum Boden reichende Vorhänge ringsum die Wände.

All dies trug dazu bei, die dort sonst gewohnte Raumordnung, mit ihrer Bühne und den eingeschriebenen Sichtachsen, temporär zu suspendieren, um immer wieder andere Möglichkeiten für ein neues Spiel, neue Begegnungen zu schaffen.

Das künstlerische Verfahren dieser temporären Architekturen, auch beschreibbar als szenografisches Hacking, ermöglichte ein Erproben hochgradig variabler Konstellationen (vgl. Wiens 2014, 196ff.). Er selbst sprach auch von der „Lust, alte Theaterformen auf ihre heutige Tauglichkeit zu prüfen“ (zit. nach Hurtzig 2015, 198): „Ich finde es spannend, mit den Formen zu experimentieren, Möglichkeiten auszuloten, wie Bühne und Zuschauerraum zueinanderstehen“ (ders. 2009), um dabei – bezugneh88

Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

mend auch auf Filmszenografie oder Verfahren der Environmental Scenography – das Spektrum noch zu erweitern. In ihrer Hybridität sollte für alle diese Szenografien aber gelten, dass sie „nicht zum bloßen Anschauen gemacht“ sind, sondern sich erst einlösten, wenn sie im Spiel „benutzt“ oder gar „bewohnt“ werden (ders. 2013). Ein weiterer, wiederholt verwendeter Begriff war sein Arbeitsbegriff der „offenen (vs. geschlossenen) Systeme“ zur Präzisierung seines Ansatzes und zur Beschreibung eines Prozesses, der von Entwurf über Proben bis hin zu Realisierung und allabendlicher Aufführung reicht und der als nichthierarchische, offene Kunst- und Gestaltungspraxis verschiedener Beteiligter verstanden werden sollte, die selbstbestimmt unterschiedliche Kompetenzen einbringen: „Der Entwurf, den ich mache, muss schon von mir sein, muss mit mir zu tun haben, (…) doch er muss offen sein; im Prinzip mache ich etwas, das nicht fertig ist“, so Neumann (2013). (…) Ich versuche, das Bühnenbild nicht so hermetisch, nicht so fertig zu machen, dass die anderen (Schauspieler:innen, Regie, Publikum, BW) (…) keine Chance mehr haben. Natürlich ist es auch eine ästhetische und politische Entscheidung, was einen letztendlich am Leben interessiert. Mich interessieren die geschlossenen Systeme nicht oder Sachen, die so tun, als wären sie perfekt. Das kann ich im Augenblick nicht glauben (…) (ders., zit. nach Laudenbach 2002, 112)

Wenn er an anderer Stelle betonte: „Ein Bühnenbild sollte eine Setzung sein, eine Haltung haben, konkret sein, aber nicht zu Ende erzählt …“ (zit. nach Döring/Müller-Tischler 2015, 150), hieß dies, dass ein Entwurf, als Setzung mit eigener künstlerischer Logik, in den Proben allenfalls modifiziert, aber nicht mehr geändert wurde und insofern als Impulsgeber oder auch Widerstand fungierte: „Der Entwurf ist da (als Modell bzw. markiertes Bühnenbild, BW), und man kann sich auf ihn beziehen“ (ders.

2013), gern auch in unvorhergesehener, überraschender Weise („Das sind dann glückliche Momente, die ich sehr genieße in der Theaterarbeit“, ders. 2013). Ensemblemitglieder der damaligen Volksbühne wie Sophie Rois oder Bernhard Schütz erinnern sich, wie ausführlich Neumann seine Recherchen und Überlegungen vermittels seiner Modelle während der Proben mit ihnen teilte und sich „bemühte, alles transparent zu machen“ (Schütz, zit. nach Raddatz 2016, 211). Dazu gehörte auch, dass er „für Castorf (…), schon von der Materialität her, ganz andere Bühnen machte als z. B. für einen Regisseur wie Luc Bondy. Bei Castorf war klar: Es musste etwas sein, was sich im Spiel auch zerlegen lässt, (…) für Bondy Exemplarische Positionen und Perspektiven

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hat er so etwas nicht gebaut. (…) Er konnte beides (…) und zugleich komplett autonom sein“ (Rois/Wiens 2021, 50). Dass seine Entwürfe auch für die Spieler:innen funktionierten, sei ein „wesentliches Merkmal von Neumanns Bühnenbildern“ gewesen (Schütz, ebd.); obwohl manche sperrig waren, gab es in seinen Räumen „sehr bequeme Orte, wo die Schauspieler lange stehen oder sitzen konnten, ohne dass das (…) angestrengt wirkte im Hinblick auf die Figur“ (ebd.), und Sophie Rois betont: „Man unterschätzt oft, wie wichtig das Bühnen- und Kostümbild für einen Schauspieler, eine Schauspielerin ist“ (dies. 2016, o. S.).

Versucht man, sein umfangreiches szenografisches Œuvre – aus produktions- und auch rezeptionsästhetischer Perspektive – im Überblick zu betrachten (wie es eine ihm gewidmete, von ihm selbst mitgestaltete Ausstellung 2010 unternahm: Setting of a Drama, Galerie Belvedere/ Augarten Contemporary, Wien (vgl. Wiens 2014b) oder eine kurz vor seinem Tod geplante, nicht mehr zustande gekommene Werkmonografie geleistet hätte), so zeigen sich wiederkehrende Strategien und szenografische Praktiken. Dazu gehören, wie erwähnt, das variationsreiche In-Bewegung-Setzen von Bühne/ Publikumsposition, die Dynamisierung von Raum und Blick (oftmals z. B. im Einsatz der Drehbühne bei offener Szene) sowie die Dekonstruktion und entschieden gegenwartsbezogene Reinterpretation historischer Bühnenformen, zudem Experimente mit partieller Sichtbarkeit/Nichtsichtbarkeit, und Live-Video (seit Endstation Amerika, 2000) sowie das Provozieren jener eigenartigen, osmotischen Relationalität zwischen Innen und Außen, zwischen Bühne und Stadt bzw. konkreter Lebensrealität, die viele seiner Arbeiten kennzeichnen. Hinzu kamen extensive Auseinandersetzungen mit Formsemantik und Materialästhetik von Dingen, im Integrieren von Readymades (z. B. dem weißen Monobloc-Stuhl, als globaler KonsumIkone und Billig-Produkt) und in der Weise, wie bestimmte Materialien, Gegenstände und Gestaltungsformen inkommensurabel kombiniert wurden, so mit Dingzitaten aus dem ost-/ westdeutschen Nachwendealltag, aus (anglophoner) Musik- und Popkultur, Trash, Kino, Gebrauchsdesign und Baumarkt-Plunder. Zu Neumanns erweitertem Szenografie-Begriff – mit der Erfindung des ikonischen Volksbühne-Logos (dem zweibeinigen Räuberrad) und den schrillen Gestaltungen von Theaterplakaten, Programmzetteln, Logo-bedruckten T-Shirts und Streichholzschachteln – gehörte darüber hinaus eine ironisch markierte, künstlerische Aneignung von Werbemitteln und -design durch das von ihm mitbetriebene „autonome Grafikbüro“ LSD (Blievernicht/Fehrmann/Neumann 2004), die wiede90

Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

11 Schmeiß Dein ego weg!, Text und Regie: René Pollesch, Bühne und Kostüme: Bert Neumann, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin, 2011. Oben im Bild (Videoprojektion): Martin Wuttke.

Foto: Thomas Aurin

rum Teil seiner Bühnengestaltungen wurde (Wiens 2014, 218ff.). Weiterer Aspekt waren Auseinandersetzungen mit Typografie, Schriftbildlichkeit und ideologisch belasteten Zeichen (z. B. Frakturschriften) (vgl. Wiens 2014b).

Beschreiben lassen sich diese Verfahren als transgressive Szenografie, in Auseinandersetzung mit Materialmerkmalen, Formästhetiken, Raum- bzw.

Bildsemantiken und visuellen Codes, die – oft nur unterschwellig mit ihnen assoziierte – politische oder ideologische Bedeutungsdimensionen konfliktträchtig und zugleich spielerisch aufscheinen ließen. Kein Entwurf ohne spöttisches Spiel mit Ambivalenzen: Auf den beiden Zirkuswagen, die 2019 nach Prag reisten (Abb. 9 und 10), stand in großen Lettern LOVE, auf der anderen Seite aber auch HATE. Jahrmarkt, Rummelplatz, als triviale Form von Theater und Unterhaltung in all ihrer Schäbigkeit, gehörten zu Neumanns ausgewiesenen Referenzfeldern: Jeder kennt das ja: die Schaufassade einer Geisterbahn zum Beispiel ist ein großes Versprechen, das sich nicht einlöst (…). Also ist die Schaufassade mit ihren Bildern und Lampen eine Lüge, sie verspricht die tollsten Dinge und Exemplarische Positionen und Perspektiven

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die meiste Mühe wurde darauf verwandt, nicht auf das Ereignis dahinter.

Die Lüge finde ich in ihrer Direktheit faszinierend, sie ist unverblümt und offenbar. Sie baut auf mein Einverständnis, die Lüge zu genießen … (zit. nach Blievernicht/Kues 2019, 21f.)

Fast seriell kamen in den 2010er Jahren noch eine Reihe hölzerner, begehund bespielbarer Objektskulpturen für diverse Pollesch-Stücke (in München, Frankfurt am Main, Berlin, Wien, Zürich) hinzu, darunter ein Schiff, ein aus dem Schnürboden schwebendes Flugzeug, ein Orca-Wal und ein überdimensionaler Totenkopf, der später zu einer Bar für das Volkbühne-Theaterfoyer umfunktioniert wurde (Abb. 48). Zudem, ihrerseits einer künstlerischen Eigenlogik gehorchend, entwarf er oft selbst die Kostüme (vgl. Rois/ Wiens 2021). Als Zitate markierte Bezugnahmen auf historische Bühnenbilder, z. B. der Meininger, oder auch Wilfried Minks’ ikonische Bühne für Peter Zadeks Maß für Maß (Bremen 1968), gehörten ebenso zu seinen ästhetischen Strategien. Signifikantes Merkmal seiner Entwürfe war vor allem aber das Samplen, Variieren eigener szenografischer Gestaltungen. Ihm war wichtig, mit einem eigenen, künstlerischen „Vokabular“ zu arbeiten, „das man mischen und mit dem man wieder neue Zusammenhänge herstellen kann“ (Neumann 2013, o. S.). Zu den Leitprinzipien seiner ‚offenen Systeme‘ gehörten ein strategisches ­Offenlegen szenografischer Semiose, das Setzen nichtkongruenter Zeichen sowie Spiele mit der Polyfunktionalität und Mobilität von Zeichen (zwischen Bühne und lebensweltlichen Kontexten), zudem das Ausstellen konkreter Gegenstände (z. B. dem Monobloc-Stuhl) und Erfahrbarmachen ihrer Material- und Formmerkmale und arbiträren Bedeutungsdimensionen als Ideologeme, das heißt, als mit unterschwelligen (und durchaus widersprüchlichen) sozialen, politischen oder ideologischen Konnotationen aufgeladene Objekte. So besehen, und zumal im Rückblick, werden spezifische ästhetische Praktiken, Strategien und, wenn man so will, in der Tat eine Art ‚szenografisches Œuvre‘ erkennbar. Dass Objekte (wie z. B. der hölzerne Totenkopf ) durch mehrmaligen Gebrauch nicht nur eine spezifische Funktion innerhalb des Settings einer einzelnen Produktion erhielten, sondern – über den ihnen theaterüblich zugeschriebenen Status als Bühnenelement bzw. Requisit hinaus – auch einen Eigenwert als Kunstobjekt, postulieren die Kuratorinnen des Bert Neumann 2019 gewidmeten deutschen PQ-Beitrags Service/ No Service (vgl. Blievernicht/Kues 2019, 240). Bedenkt man, dass Szenografie – im Bedingungsgefüge (Dispositiv) des Theaters – eine seiner Teildisziplinen ist, so tritt dieser 92

Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

Anspruch allerdings in Konflikt mit Kategorien und Praktiken, die dispositivbedingt hinsichtlich der archivarischen Behandlung szenografischer Artefakte vorherrschen. Dass Neumanns umfangreicher Nachlass (Skizzenbücher, Modelle, Foto- und Filmmaterial, Kostüme, einige szenografische Objekte) bis heute nicht öffentlich zugänglich ist (z. B. über eine Theatersammlung oder -archiv), mag zum Teil auch an diversen Fragen liegen, die sich im Umgang mit einem solche Erbe jenseits von Institution, etablierter Praxis und Gattungsgrenzen stellen (siehe dazu auch Kap. III.1.).

Dass ein Szenograf (Neumann bevorzugte die Berufsbezeichnung ‚Bühnenbildner‘) die visuelle Ästhetik und die Arbeitsweise eines gesamten Hauses, der Berliner Volksbühne, so nachhaltig und mit bemerkenswerter, internationaler Ausstrahlung prägen konnte, ist sicherlich singulär. Dass er diesen Ansatz – mit dem Anspruch maximaler künstlerischer Freiheit – soweit ausdifferenzieren konnte, hat auch zu tun mit der von ihm ungewöhnlich lange eingenommenen, festen Position als Chefbühnenbildner an dem Haus, mit gewachsenen Arbeitskonstellationen und, formationsgeschichtlich betrachtet, jener Ausnahmesituation nach der Wende: „Da konnten wir selbst die Regeln bestimmen (…). Das war ein einmaliger Freiraum …“ (zit. nach Döring/ Müller-Tischler 2015, 150). Im Fortgang, so die Soziologin Tanja Bogusz in ihrer Studie Institution und Utopie (2007/2015), beruhte „der Erfolg der Volksbühne (…) auf einer gelungenen institutionellen Verknüpfung von Abweichungsprinzipien, die innerhalb der beiden deutschen Kulturen je utopistisch konnotiert waren.

Dieses für die Kulturproduktion so grundlegende Antriebsmoment schuf am Rosa-Luxemburg-Platz einen öffentlichen Bedeutungsraum, der sich seines zeitgeschichtlichen Kontexts (…) bewusst war“ (ebd., 15). Wie Neumann in einem Interview kurz vor Ende der Intendanz Frank Castorfs resümierte, verband sich mit der dort erprobten, offenen Kunstpraxis auch das Etablieren neuer Formen von Kollaboration, mit denen alle (ästhetischen, technischen, organisationalen und institutionellen) Parameter auf den Prüfstand kamen und es – idealiter – auf allen Ebenen (bis hinein auch in die Werkstätten und Technikabteilungen) darum gehen sollte, prozesshaft, offen und weitmöglichst nichthierarchisch zu kooperieren, denn: „im selbstbestimmten Zusammenwirken (…) verschiedener Talente entsteht im besten Falle etwas, das keiner allein oder in anderer Konstellation hätte machen können“,

Exemplarische Positionen und Perspektiven

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(…) Gerade in diesem Modell von Zusammenarbeit liegt meiner Ansicht nach die große, zukunftsweisende Potenz von Theaterarbeit. Es geht also nicht nur um die (künstlerischen) Mittel, sondern um Produktionsbedingungen; um die muss man sich kümmern (…). Es geht um Freiräume, auch um den einer existenzsichernden Bezahlung. (ders. 2015/2016, 151)

Neumanns Resümee klingt geradezu vermächtnishaft. Etwas Vermächtnishaftes, Beispielgebendes mag, von heute aus betrachtet, auch in der Entschiedenheit liegen, mit der er Szenografie als völlig eigenständige Position markierte: künstlerisch frei und in Dialog und kreativer Reibung mit der Regie und allen Beteiligten. Dass dies, wie im Fall der Zusammenarbeit mit dem Regisseur und Autor René Pollesch, so weit gehen konnte, dass der Bühnenbildentwurf (der bei Theater und Werkstätten üblicherweise ohnehin vor Probenbeginn eingereicht werden muss) bereits feststand, noch bevor das aufzuführende Stück geschrieben wurde, bedeutete eine geradezu demonstrative Neuausrichtung der Parameter. Anlässlich der Verleihung des Hein-Heckroth-Preises an Bert Neumann beschrieb Pollesch diese Verschiebung wie folgt: „Die Erfindung ist also, du bist der erste Autor. (…)

Jeder Raum, den du gebaut hast, erzählt diese Autonomie, lieber Bert. Und lässt einen an der eigenen Autonomie bauen“, und weiter: „(…) es geht dabei nicht um unbändigen Gestaltungsdrang, sondern um die Etablierung einer eigenen Praxis, um das Umgehen einer herrschenden und hierarchisierenden Praxis. Deshalb, nur deshalb macht man ein Theater (…), nicht aus Originalitätsgründen, sondern um die Parameter so zu verändern, dass man arbeiten kann“ (ders. 2015, o. S.).

Aufgeworfen ist damit explizit die Frage nach der Autorfunktion in der Szenografie: Qu’est- ce qu’un scénographe, une scénographe? Funktion und Status des Szenografen, der Szenografin im Theatergefüge sind zuweilen wenig umrissen und offenkundig stark abhängig von individuellen Konstellationen, Prägungen, Diskursen, Machtverhältnissen und institutioneller Einbindung. Welche Autorschaft oder Autorfunktion käme der Szenografie also zu, und wie macht sich dies fest an einem Namen, einem Vertrag oder an Zuschreibungen, Haltungen, Entwürfen, Ästhetiken, einer künstlerischen ‚Handschrift‘ (écriture) oder Sichtbarkeit, Erfolgen, Auszeichnungen? Inwiefern ist diese Funktion in der Szenografie an Namen, an Personen gebunden, inwiefern verweist ein Name auf bestimmte Gestaltungsweisen und künstlerische Praktiken, und was wird damit zugleich ausgesagt über Bedingungen, Formationsregeln und Möglichkeiten? Wer prägt den Diskurs?

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Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

Weitere, genauere Ausführungen dazu blieben vonseiten Polleschs an der Stelle aus. Von Bert Neumann ist aber bekannt, dass sich dieser in Gestaltungsdenken und szenografischer Praxis explizit in einem theaterhistorischen Bezugsrahmen verortete. Ein wichtiger Referenzpunkt war die Zusammenarbeit zwischen Bertolt Brecht und seinem ‚Bühnenbauer‘ Caspar Neher, die ehedem – modellbildend – für Kollaboration, für den arbeitsteiligen, „kollektiven Schöpfungsprozess“ (und gegen den isolierten, vereinzelten Schöpfungsakt beim Schreiben, Erfinden, Entwerfen) plädiert hatten.4 Besonders deutlich wurde diese Bezugnahme mit einer der letzten Bühnen Neumanns, die aus einer originalgetreuen Rekonstruktion eines Neher-Bühnenbilds (für Brechts Antigone, Stadttheater Chur, 1948) bestand. Die damit inspirierte Stückentwicklung René Polleschs, die als postdramatische Überschreibung des Antigone-Modellbuchs (1949) und als Brecht/Neher-Kommentar konzipiert war (Bühne frei für Mick Levčik!, Zürich, 2016), präsentierte diese Bühnenbildreplik auf der Szene als Erinnerungsobjekt und quasi-epistemisches Ding („Wir müssen zitieren, damit wir weiterkommen, anders geht es nicht, (…) das nennt man Kultur“, lautete eine Textzeile aus dem Stück).5 Denkt man die „Autorfunktion“ (hier: Autorfunktion in der Szenografie) in solch einem Horizont, so wären mit Namen (wie „Neher“ oder „Neumann“, „Viebrock“, „Schütz“…) nicht in erster Linie Personen (oder Werke, originäre Erfindungen) gemeint, sondern – sofern man nicht von einem subjektzentrierten Autorbegriff ausgeht – vor allem unterschiedliche Haltungen, Denkweisen und künstlerische, epistemische und diskursive Praxen. Ein Name stünde demnach für ein Prinzip, eine Haltung, die sich unter bestimmten Formationsregeln zeigt und sich unter deren Bedingungen formuliert oder aber in diese eingreift. Dass Szenografie im Sinne Neumanns nicht nur maximale künstlerische Unabhängigkeit verlangte, sondern ihr (gegenüber Drama bzw.

Theatertext und Regie) sogar die ‚erste‘ Autorfunktion eingeräumt werden sollte, war im Theaterdispositiv als Versuch einer Parameterverschiebung sicherlich neu. „Einen Vorschlag für einen Ort machen, der etwas bewegen möchte“: Raumkonzeptionelle und vestimentäre Strategien (Nina von Mechow)

Wenn Serge von Arx, Schweizer Szenograf und langjähriger Co-Kurator der Prager Quadriennale, betont, dass es in Performance Design und szenografischem Entwerfen keinen ‚Nullpunkt‘ geben kann (ders. 2019, Exemplarische Positionen und Perspektiven

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219), so verweist er auf ihre Situiertheit und auf die verschiedenen Aspekte ihrer Kontextbezogenheit. Ein Aspekt ist die Architektur oder im weitesten Sinne der Spielort (Schauspielhaus, Opernhaus oder freie Produktionsstätte) und die Grundannahme, dass eine Bühne (oder auch ein vorgefundener Spielort im öffentlichen Raum) niemals ‚leer‘ ist: „There is no ‚point zero‘ to start from, because (…) there is always a spatial and temporal context, a genius loci (…)“ (ebd.). Dazu gehört, dass Räume sich mit Erinnerungen, Materialien, Oberflächen, Stoffen aufladen, dass auch sie eine Geschichte haben und Spuren aufweisen, die sich unaufhörlich überlagern: „Jedes Betreten einer Bühne – auch in Gedanken – konfrontiert unweigerlich mit dem, was dort bereits geschehen ist: einem Fundus früherer Inszenierungen, (…) Formen, Ideen“ (Matzke 2012, 204f.). Ebenso zum Gedächtnis der Szenografie gehören aber auch die Erinnerungen und die Biografien, die sich in Räumen treffen: sedimentiertes bzw. mitgebrachtes Wissen (connaissance) und Erfahrungen (savoir faire) aus Ausbildung, Studium, Assistenzen, vorherigen Arbeitskonstellationen und natürlich das Repertoire der eigenen künstlerischen Ausdrucksmittel (und deren ständige Revision) sowie vielerlei sonstige Einflüsse, die für einen Szenografen, eine Szenografin wegweisend und – mithin auch für Außenstehende erkennbar – prägend waren.

Eine Bühnen- und Kostümbildnerin, die ihre Arbeit explizit als durch künstlerische Kontexte, Partnerschaften und Begegnungen beeinflusst ausweist und diese Einflüsse als diskursives Referenz- und Bezugsystem markiert, ist Nina von Mechow. Nach dem Studium an Kunsthochschulen in Dresden, Berlin-Weissensee und an der Filmuniversität Babelsberg assistierte sie in den 1990er Jahren an der Berliner Volksbühne bei Anna Viebrock und Bert Neumann, mit dem sie anschließend eine langjährige Kollaboration als Kostümbildnerin verband. Zudem entwarf sie Kostüme für Kinofilme (u. a.

Produktionen Leander Haußmanns), für Theaterinszenierungen von Karin Henkel, Johan Simons, Martin Wuttke sowie für die Opernkompanie Novoflot und, bei den Bayreuther Festspielen, für Sebastian Baumgarten.

Zum Kostüm kamen Bühnenentwürfe für Opern- und Schauspielproduktionen mit Jossi Wieler und Sergio Morabito, Frank Castorf sowie für Stücke René Polleschs, darunter Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer (Berliner Volksbühne 2022). Gemeinsame Arbeiten mit dem bildenden Künstler Jonathan Meese untersuchten Möglichkeiten ‚regiefreien‘ Theatermachens.

Als sie 2021 die Professur für Bühnengestaltung an der Wiener Akademie der bildenden Künste übernahm (in der Nachfolge von Anna Viebrock), ­skizzierte sie ihre künstlerische Perspektive – durchaus erkennbar bezugneh96

Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

mend auf das Gestaltungsdenken Neumanns und dessen Parameter (ästhetische und strukturelle Dehierarchisierung, Reflexionen über Autorschaft, Szenografie als bildnerische Setzung, aber ‚offenes System‘, u. a. m.) – wie folgt: Mit einem Bühnenbild mache ich einen Vorschlag für einen Ort, der etwas bewegen möchte – nicht nur auf der Bühne. Und natürlich habe ich eine Vorstellung davon, welche Möglichkeiten dieser Raum aufwerfen soll (…), was da passieren kann usw. Dass sich diese Vorstellungen aber so nicht einlösen, sondern ein Abend entsteht, mit dem ich nicht gerechnet hatte, ist das Lustvollste an der gemeinsamen Arbeit. Das Temporäre an Bühnenbildern empfinde ich als entlastend. Wir arbeiten am Theater jenseits der Gesetzmäßigkeiten, die der Markt bestimmt, und künstlerisch autonom. Natürlich hoffen wir, beim Publikum auf Interesse zu stoßen, aber es gibt auch große Abende, bei denen es ausbleibt. Ist eine Produktion in der Welt, kommt ein neuer Versuch, neues Glück. (von Mechow 2021)

Diesem Statement zufolge geht es ihr (in der Theaterarbeit, Lehre und über einzelne Produktionen, Konstellationen und auch über das modellgebende ‚Projekt Volksbühne‘ hinaus) offenbar um das Fortsetzen und Weiterentwickeln einer ästhetischen Praxis, mit der sich – verschränkt mit einem weitgehend nichthierarchischen Modus künstlerischer Kollaboration unabhängiger Individuen als sozialer Praxis – eine Reflexion über k­ ünstlerische Autorfunktion in der Szenografie verbindet. Einmal mehr sei also gefragt: Wie ‚denkt’ eine solche Szenografie, und wie geht sie vor?

Einige Beispiele: Für die Pollesch-Produktion Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer, ein Stück, dessen Titel assoziativ auf Bertolt Brechts Stück zum Spanischen Bürgerkrieg Die Gewehre der Frau Carrar (1937) verwies (das Anfang der 1950er Jahre am Berliner Ensemble mit Helene Weigel sogar verfilmt wurde), entwarf von Mechow eine freistehende, mobile Bühnenkonstruktion:6 In das Gestänge dieser trommelartigen Konstruktion ließ sie einen quaderförmigen, offenen Innenraum montieren, der begeh- und bewohnbar war und um 360 Grad gedreht werden konnte; in einigen Szenen rotierte diese gesamte Konstruktion zudem auf der Drehbühne (Abb. 12 und 13). Die Bespielung durch ein siebenköpfiges Ensemble (darunter Kathrin Angerer), Auftritte eines tanzenden Chors vor imposanter Showtreppe, die an Varieté erinnerten, sowie Live-Videoprojektion und eine schwenkbare Krankamera, die explizit Teil des szenografischen Entwurfs war (Abb. 58), wiesen den Raum zudem als eine Art Filmset aus; verhandelt wurde dort unter anderem die Frage, was alles in Film und Exemplarische Positionen und Perspektiven

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Fernsehen (bis hin zu Sportwettkämpfen) authentisch oder aber ‚geskripted‘ präsentiert wird. Szenensequenzen mit Martin Wuttke, um Gleichgewicht bemüht in rotierender Trommel, ließen zudem an die ikonische Tanzszene aus dem Hollywood-Musical Royal Wedding (1938) denken, in der Fred Astaire virtuos die Wände entlang und an der Decke tanzte und die seinerzeit – mit freilich verborgenen technischen Tricks und nicht im Sinne epischen Theaters offen demonstriert – in ähnlich drehbarer Kulisse entstand. Den durch Stück, kontrastierende szenische bzw. szenografische Mittel und inkommensurable Zitate weit aufgespannten Assoziationsraum, verbunden mit der beschriebenen Selbstthematisierung aller gebrauchten Mittel, deutete eine Kritikerin als metatheatrale Reflexion über „die Sinnlosigkeit des Versuchs, im Hier und Jetzt fixe Standpunkte einzunehmen“.7 Für ein weiteres Pollesch-Stück (Passing – It’s so easy, was schwer zu machen ist, Münchner Kammerspiele, 2020) entwarf Nina von Mechow eine überdimensionale Spinne aus Holz mit beweglichen, weit in den Bühnenraum ausgreifenden Beinen (die an Bert Neumanns Serie hölzerner Großobjekte der 2010er Jahre denken ließ, die – ebenso wie dieses Objekt – mobil, vollplastisch und bespielbar waren) (Abb. 14). Die Akzentuierung des Szenografischen durch derart groß dimensionierte Objekte hat – sowohl auf der Produktions- wie auch der Rezeptionsseite (doing scenography / scenography in performance) – mehrere Konsequenzen: Zum einen fungieren sie, während der Stückentwicklung, auf inhaltlicher Ebene impulsgebend und, in ihrer Materialität und Objektform, zugleich als konkrete Spielangebote für das Ensemble. In der Aufführung wiederum sind sie auch für das Publikum Assoziationsangebot und – als szenografische Setzung und Spielelement eigenen Rechts – als solche ausdrücklich markiert. „Die Spinne ist dem tentakulären Denken Donna Haraways und der floralen Jugendstilbühne der Kammerspiele gewidmet. Aber auch dem Handwerk der Korbflechterei (…)“, erläuterte von Mechow ihren impulsgebenden Entwurf, „Wichtig war der Vorschlag, mit der Spinne und dem Maschinisten, der sie bewegte (…) das Spieler:innen-Ensemble zu erweitern“.8 Zudem entwickelte sie für die Produktion Passing auch die Kostüme, mit visuellen Referenzen an Harlekinmotive, alte amerikanische Polizeiuniformen sowie die dadaistische Bildsprache John Heartfields. Es entstand ein Stück, das inhaltlich um Selbsttechnologien und um Möglichkeiten eines gesellschaftlich akzeptierten bzw. unbemerkten Wechselns zwischen verschiedenen Selbstbildern und polymorphen Identitätsentwürfen kreiste – in der Verbindung u. a. von Referenzen an Figuren aus Hitchcock-, US-Western98

Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

12–13 Nina von Mechow: Bühne für Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer, Stückfassung/Inszenierung: René Pollesch, Kostüme: Tabea Braun, Video: Marlene Blumert, Jan Speckenbach, Licht: Kevin Sock. Im Bild (oben): Martin Wuttke, unten: Kathrin Angerer. Wiener Festwochen/Volksbühne Berlin, 2021. Fotos: Luna Zscharnt Exemplarische Positionen und Perspektiven

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14 Passing – It’s so easy, was schwer zu machen ist, René Pollesch und Ensemble, Bühne und Kostüme: Nina von Mechow, Münchner Kammerspiele 2020, Probensituation, mit Blick in den Bühnenturm und den Theatersaal. Rechts unten im Bild der Bühnentechniker, der das Objekt – einem Puppenspieler vergleichbar – während der Aufführungen bewegte. Foto: N. von Mechow

und Science-Fiction-Filmen, an das Berlin der 1920er Jahre sowie Einlassungen aus Texten Jacques Lacans und des Philosophen Slavoj Žižek zu Subjektkonstitution bzw. -dezentrierung im Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen, Ideologien, Ängsten und Unbewusstem.

Als ‚tentakuläres‘ Gebilde war diese Bühne, auf zweiter Ebene, überdies Ausdruck eines arachnischen Verwebens und Weiterspinnens heterogener Bezüge in einer über die einzelne Theaterproduktion hinausreichenden, potenziell immer weiter fortgesetzten ästhetischen Praxis.

Sofern es mit dem von Nina von Mechow beschriebenen, aus dem ‚Projekt Volksbühne‘ hervorgegangenen, von ihr selbst mitentwickelten und nunmehr als Erbe weiter vertretenen Ansatz um ein Verändern, Verschieben von Parametern im Theaterdispositiv und – damit verbunden – um das 100

Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

Etablieren eines anderen Verständnisses von Szenografie geht, bleibt die Frage, inwiefern der Ansatz ‚eingreifender Szenografie‘ übertragbar ist – auch in andere Produktionszusammenhänge, Kontexte und andere Gattungen hinein, namentlich den Tanz oder auch in Oper und Musiktheater.

Diskussionen um die Interdependenzen zwischen Regie, Dramaturgie, Darstellung und dem Szenografischen und um die kreativen Reibungen, die sich in der Begegnung von bildender und darstellender Kunst ergeben, sind auch in all jenen Bereichen keineswegs neu (vgl. Kap. I.1.), sondern haben eine weit zurück in das 20. Jahrhundert reichende Geschichte, die – mit besonderem Fokus auf die europäische Oper – unlängst eine Ausstellung am Centre Pompidou-Metz (Opéra Monde. Opéra et arts visuels aux XXe et XXIe siècles, 2019) facettenreich reflektierte (Kap. III.1.). Im deutschsprachigen Raum der letzten fünf Jahrzehnte gehören z. B. Bühnenentwürfe Erich Wonders oder Achim Freyers in diesen Zusammenhang (Klotz/ Hünnekens 1993). Auch Bert Neumann, Anna Viebrock oder Christoph Schlingensief (mit seinem „Animatograph“, vgl. Berka 2011) entwarfen seit den 1990er und 2000er Jahren Szenografien für Opernproduktionen, die eine jeweils spezifische Eigengesetzlichkeit behaupteten. Ähnliches gilt, mit je unterschiedlichem konzeptuellen Ansatz, ebenso für Bühnengestaltungen von Henrik Ahr oder Klaus Grünberg oder auch des (durch sein Studium bei Jürgen Rose, Martin Zehetgruber und durch Klaus Zeheleins Stuttgarter Forum Neues Musiktheater geprägten) Szenografen Sebastian Hannak (ders./Lutz 2018). Im Hinblick auf Reflexionen über Autorschaft/Autorfunktion, künstlerische Freiheit und ästhetische Strategien des Szenografischen stellen sich in der Oper, bedingt durch die Bindung an Libretto und Partitur, allerdings noch andere Fragen.

Exemplarisch sei einigen dieser Fragen im Folgenden mit Blick auf eine Realisierung von Händels Oper Ariodante an der Staatsoper Stuttgart nachgegangen (2017, Regie/ Dramaturgie: Jossi Wieler und Sergio Morabito), bei der Nina von Mechow die Bühnen- und Kostümgestaltung übernahm. Die Gesamtkonzeption der Produktion verdankte sich einem starken Zugriff auf den Opernstoff: In drei Akten erzählt Händels Dramma per musica (Libretto nach Antonio Salvi) von dem verbrecherischen Herzog Polinesso, verschmähter Verehrer der Fürstentochter Ginevra, die dem Titelhelden Ariodante zugetan ist. Weitere Figuren sind die Hofdame Dalinda, die im vom Herzog angezettelten Ränkespiel Ariodante glauben macht, seine Verlobte sei untreu, und dessen Bruder Lurciano, der, nach dem vermeintlichen Selbstmord Ariodantes, Ginevra bei Hofe daher anklagt und sogar drohender Todesstrafe aussetzt. In ihrer Perspektive auf Exemplarische Positionen und Perspektiven

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den Stoff akzentuierten Wieler/Morabito insbesondere den Aspekt von Spiel, Lüge und Täuschung, der im Programmheft explizit noch unterstrichen wurde durch einen Hinweis auf den Soziologen Erving Goffman und dessen Thesen vom Menschen als Darsteller, Darstellerin des eigenen Selbst (1959/ 2003). Die Titelpartie der Oper, bei Händel eine Soprankastratenrolle, übernahm eine Frau (die Mezzosopranistin Diana Haller).

Zudem arbeitete die Regie mit Divertissements, indem sie – aus dem Rang und ausgerechnet von der Figur des intriganten Herzogs als Spielmacher – Auszüge aus Jean-Jacques Rousseaus Lettre sur les Spectacles (1758) vorlesen ließ, von diesem seinerzeit verfasst als Streitschrift gegen die Errichtung eines Theaters in Genf und wider die Schauspielerei als Kunst der Verstellung, Sittenverderbnis und Gaukelei. Die Stuttgarter Produktion, sehr heutig in Szene gesetzt als „bitterböse ‚Reality-Show‘“ (Frei 2017), endete – auf einer für das Finale als Boxring gestalteten Bühne – in tödlicher Begegnung zwischen dem Herzog und dem (der düpierten Hofdame amourös verbundenen) Ritter Lurciano auf erhöhtem, grell beleuchteten Spielpodest, dargeboten als spektakulär-überzeichneter Schaukampf.

In dieser dem Regietheater verpflichteten Opernproduktion war die Szenografie ausdrücklich als konzeptionell mitgestaltender, Inszenierung und Aufführung integral mitkonstituierender Faktor markiert: Nicht nur in ihrer komplexen visuellen Ästhetik, sondern auch in der Weise, wie sie den Modus des Zuschauens bestimmte, bildete sie geradezu eine Dominante. Die szenografische Setzung von Mechows lag darin, dass sie Notizen Brechts „Über den Untergang des alten Theaters“ und über „Dekoration“ aus den 1920er Jahren explizit aufgriff und, in der Umsetzung, erkennbar wörtlich nahm: „Das Theater muss als Theater jene faszinierende Realität bekommen, (die) der Sportpalast hat, in dem geboxt wird“ (ders. 1927/1968, 79), oder auch seine berühmte, an das Publikum gerichtete Wendung: „Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über die Motive dieses Kampfes, sondern beteiligen Sie sich (…), beurteilen Sie unparteiisch die Kampfform der Gegner und lenken Sie Ihr Interesse auf das Finish“ (ders., 1927/1973, 140). Schon die Anlage des Bühnenraums bedingte geradezu, dass ständig jede:r mit jedem und alle gegen alle zu kämpfen schienen (Abb. 15 und 16): Vor offen einsehbarer Orchesterebene verwandelte sich der anthrazitfarbene Grundraum, zunächst mit hellgrauer (später schwarz/ weißbzw. rotgestreifter) Bodenfläche, in eine Zirkusmanege und schließlich in besagte Boxarena. Zudem verstärkt wurde diese Variabilität des Raums mithilfe einer lamellenartige Wandbedeckung, die auf allen drei Bühnenseiten als Videoprojektionsfläche diente, und in der Mitte auch durch das 102

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versenk- bzw. nach oben fahrbaren Spielpodest. Darüber: die auf- und niederfahrenden Trassen der Lichtanlage und ein Videokubus. Forciert, geradezu auf die Spitze getrieben, wurde diese vielschichtige Komposition und Dynamisierung der szenografischen Mittel zudem durch eine hypertrophe Kostümgestaltung und häufige Kostümwechsel: Nachdem das Ensemble, wie noch nach ihren Rollen suchend, sich anfangs in trashig-grauen Trainingsanzügen präsentierte, wurde später – mit heutigen und vielerlei historischen Kostümen – im hellen Bühnenlicht ein rasantes, bunt-opulentes Spiel mit verschiedenen Zeitebenen und Identitäten entfaltet. Gleißende Beleuchtung über die Rampe hinaus oder Videobilder aus dem gesamten Saal rissen auch das Publikum in jenes abgründige Spiel um Identität, Lüge und Verstellung immer wieder mit hinein. Somit gehörte zu den signifikanten Merkmalen dieser Szenografie, dass sie distanzschaffende (Brechtsche) Theatermittel und solche, die Aufmerksamkeit absorbieren, strategisch verschränkte, sodass das Publikum wechselweise in Positionen kritischer Distanz oder aber unmittelbarer Involvierung versetzt wurde.

Eine solche Publikumsadressierung und das darin angelegte Spiel mit Wahrnehmungsmodalitäten und Kippeffekten (Critical Distance versus Critical Intimacy) zielt – im Auge des Zuschauers, der Zuschauerin – auf ein ständiges Anfechten dessen, was die Szene gerade zu sehen gibt: Es ist dies eine Strategie, die das Publikum unablässig daran erinnert, dass es „keine ‚Meistererzählung‘ und keine Außenposition gibt, von der aus wir sehen können, ‚wie die Dinge sind‘. Stattdessen sehen wir uns verwickelt in konkurrierenden Narrativen und verschiedenen Sichtweisen darüber, wie sie möglicherweise sind oder sein sollten (…)“ (Bleeker 2019).9 Eine signifikante Funktion kommt hier offenbar dem Kostümbild zu; wie aber ‚denkt‘ Kostüm? Für ein genaueres Verständnis ästhetischer Strategien und Problemstellungen kostümlicher Gestaltung mag – im Blick auf die Stuttgarter Ariodante-Produktion – ein Rekurs auf Roland Barthes‘ kleinen Text über die „Krankheiten des Theaterkostüms“ („Les maladies du costume de théâtre“, 1955/1964) aufschlussreich sein. In diesem Text, den Barthes unter dem Eindruck eines (im Paris der 1950er Jahre Furore machenden) Gastspiels des Berliner Ensembles verfasste,10 suchte er – im Zuge seiner semiotischen Reflexionen über Theater – Maßstäbe zur ästhetischen Beurteilung des Kostümbilds zu entwickeln; berücksichtigt wurden dabei auch dessen Relationen zu den anderen Theaterelementen (Bühnenbild, Licht, Ton, Sprache und Gestik). Hatte er an anderer Stelle die These vertreten, dass dem Bühnenraum, als Ort, an dem etwas eintritt, „eine beschwörende Funktion“ und der Bühnengestaltung dagegen Exemplarische Positionen und Perspektiven

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„eine intellektuelle Funktion“ zukomme (ders./Rivière 2002, 30), erkannte er nun auch dem Kostümbild in allen Epochen des Theaters „einen starken semantischen Wert“ zu (ebd., 285). Weiter entwarf er eine Pathologie des Theaterkostüms, indem er – mit (an Brecht geschulter) Kritik an opulenten Ausstattungen und mit (nicht unproblematischer) Begrifflichkeit – zwischen „gesunden“ und „kranken“ Kostümbildern unterschied: Ein Kostümbild sei „gesund“, wenn es, „eher intellektueller als plastischer oder emotionaler Natur“, dazu beiträgt, das historische Schema und den sozialen Gestus eines Stückes aufzuzeigen (ebd., 278). „Krank“ dagegen seien „glänzende und visuell dichte“ Kostümbilder, die allzu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen und, in dem Sinne, an „Hypertrophie“ litten (ebd., 279): Dazu zählte er historische Kostüme, die mit Detailtreue und visueller Gefälligkeit auftrumpften, oder erfundene, allein nach ästhetischen Gesichtspunkten gestaltete, um Originalität bemühte oder durch Mode inspirierte Kostüme ohne zwingenden Stückbezug, oder aber Kostüme, die vom Publikum besonders beklatscht werden (ebd., 280f.).

Barthes’ Insistieren auf die Brechtsche Distanz zwischen Zeigen und Gezeigtem und auf übergroßer Strenge in der Verwendung künstlerischer Mittel (die schließlich sogar zu seinem „Zerwürfnis mit dem Theater“ führte, vgl. ebd., 19), zeitigte – trotz ihrer semiologischen Produktivität – eine, mit Lehmann gesprochen, „eigentümliche Blindheit“: „Dass es auch andere Strategien geben konnte, die Naivität der Illusion, der psychologischen Einfühlung und des gesellschaftsfremden Denkens zu überwinden, ging (darin) unter“ (ders. 2015, 42f.). Wieler/Morabitos Opern-Inszenierung Ariodante, die, auch wenn sie – auf szenischer Ebene (und explizit in der Anlage des Bühnenbilds Nina von Mechows) – auf jene berühmte Publikumsansprache Brechts (‚Theater als Boxkampf‘) referierte, bot, wie deutlich wurde, freilich kein Brechttheater und war doch in einigen seiner szenisch-szenografischen Merkmale als Theater post-Brecht beschreibbar.

Signifikant an von Mechows Kostümgestaltung war, wie sie, paradoxal, zwei nach Barthes sich eigentlich ausschließende Verfahren verband: Als argumentierende, kommentierende Kostüme erfüllten sie einerseits durchaus eine „intellektuelle Funktion“ („… das Kostüm (soll) ein Argument sein“, ebd., 285). Zugleich waren diese Kostüme im Sinne Barthes’ aber auch ‚schwerkrank‘: Absichtsvoll opulent-überzeichnet spielten sie mit der Schaulust des Publikums und traten – in dem Fall mehr noch als das Bühnenbild – als künstlerischer Beitrag der Szenografie zu Inszenierung und Aufführung deutlich erkennbar hervor.

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15–16 Szenen aus Ariodante von Georg Friedrich Händel (Dramma per musica, Libretto nach Antonio Salvi), Regie / Dramaturgie: Jossi Wieler und Sergio Morabito, Bühne / Kostüme: Nina von Mechow, Licht und Video: Voxi Bärenklau; mit Diana Haller (Titelpartie), Ensemble und Orchester. Staatsoper Stuttgart 2017. Fotos: Christoph Kalscheuer Exemplarische Positionen und Perspektiven

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Die Szenografie dieser Produktion war – auch unter den gattungsspezifischen Bedingungen der Oper – als markante künstlerische Setzung ausgewiesen. Dem Publikum erschlossen sich die szenografischen Mittel, ihr visuelles Vokabular, ihre Ikonizität, Farbgebung und grafischen Abbreviaturen (z. B. die stilisierte Kameralinse auf dem Boden des Boxrings), vornehmlich auf der Zeichenebene, aber auch in ihrer Stofflichkeit (mit den Federn, Rüschen, Samtstoffen der Kostüme) sowie in der Medialität bzw. Intermedialität der Bühne (Überschreitungen der Grenze zwischen Bühnenrampe/Publikum mit Live-Video und Beleuchtung). Die szenografischen Spiel- und Assoziationsangebote von Mechows mögen in Entwurfsphase und Probenprozess als „Vorschlag“ offen gewesen sein; im ­Vergleich zu den Szenografien für die beiden zuvor beschriebenen Sprechtheaterproduktionen wirkten ihre Bühne und Kostüme für ­Ariodante – den Erfordernissen einer Opernproduktion geschuldet – gleichwohl deutlich stärker dramaturgisch gedacht und interdependent zu einer Gesamtkonzeption. Als szenografische Gestaltungselemente mit künstlerischer Eigenlogik und als Inszenierung und Aufführungen integral mitkonstituierende Faktoren blieben sie jedoch erkennbar. Wenn, der Bayreuther Musiktheaterwissenschaftlerin Ulrike Hartung zufolge, auch „Aufführungen von Repertoire-Stücken (der Oper) postdramatisch sein können“ (dies. 2019, 68), dann mag der Stuttgarter Ariodante ein Beispiel dafür sein. Postdramatische Strategien mit ihrer Dehierarchisierung der Theatermittel, zu denen die Akzentuierung szenografischer Mittel gehört (vgl.

Kap. I.2.), erhalten, Hartung zufolge, dort vornehmlich die Funktion, Innovationsfähigkeit zu signalisieren und für ein Opernpublikum ästhetisch neue Anreize zu schaffen (vgl. ebd., 28f.); im ungünstigen Fall fungierten sie allerdings lediglich als eine Art Garnierung oder Effekt. Darin, szenografische Signaturen stimmig einzubringen und die eigene künstlerische Position im Bedingungsgefüge des Theaters – in den verschiedenen Sparten, jeder neuen Produktionskonstellation und in den verschiedenen Häusern bzw. Aufführungsorten – einzubringen, zu behaupten und immer wieder auszuhandeln, liegt eine ständige Herausforderung an die Szenografie als ‚bildender Kunst in der darstellenden Kunst‘.

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„… diese Materialien haben alle etwas ganz Leichtes“: Bühne und Atmosphären (Katrin Brack)

Wenn die Aufgabe von Szenografie gemäß traditioneller Auffassung darin besteht, den Handlungsort eines Stücks visuell auszuweisen und fiktive Schauplätze mit gestalterischen Mitteln auf einer Bühne zu vergegenwärtigen, so verfolgt Katrin Brack mit ihren Entwürfen seit den Nullerjahren eine entschieden andere, geradezu gegenläufige Strategie: Ihre Bühnen, die z. B. aus Luftballons, großen Mengen Konfetti, Schaum, Bühnennebel, Theaterschnee oder einem ganzen Wald aus Leuchtgirlanden bestehen, verweigern semantische Konkretion, abstrahieren und zielen vielmehr – indem sie überwiegend mit mobilen Elementen und ephemeren, veränderlichen, der Alltagswelt entnommenen oder im Theater vorgefundenen Materialien arbeiten – ostentativ auf eine künstlerische Reflexion und Bearbeitung der Materialität des Theaters.

Ihre Räume – in Kritiken wurde die Künstlerin auch oft als „Minimalistin“ oder „Atmosphärikerin“ bezeichnet (vgl. Grenzmann 2018) – sind keine konstruierten, architektonisch konzipierten Räume (vgl.

Kap. III.2.). In Aufführungen zeigen sie sich vielmehr als Formationen des Formlosen,11 indem sie sich über ihre Materialästhetik, Stofflichkeit, Energien und in sympoietischen Prozessen und Resonanzen mit den Darstellenden und dem Publikum performativ konkretisieren. Dergestalt treten diese Räume flüchtig und ebenso vergänglich in Erscheinung wie der Theatervorgang selbst. Für die zahlreichen Produktionen, die Brack seit Ende ihres Kunst- und Bühnenbildstudiums an der Düsseldorfer Akademie vor allem in der Sparte Schauspiel (in der Regie von Luk Perceval, Dimiter Gotscheff, Johan Simons, Laurent Chétouane, Karin Henkel oder René Pollesch) an Theatern in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Belgien und den Niederlanden realisierte, gab es in den Werkstätten selten Größeres zu bauen. Auch finden sich auf ihren Bühnen kein Mobiliar und keine Requisiten. Leitprinzip ihrer nichtmimetischen szenografischen Praxis ist vielmehr eine konsequente Reduktion der Mittel und oftmals die Verwendung nur eines einzigen Materials, das aber – in großen Mengen und raumfüllend eingesetzt – geeignet sein muss, die Grundthematik eines Stücks zu verdichten, auf der Bühne assoziationsreich zu transportieren und in eine erleb- und erfahrbare Atmosphäre zu übersetzen. Mit diesen selbstgesetzten Prämissen bearbeitet Brack insbesondere das Dispositiv des Regietheaters. So bestand z. B. ihre Bühnengestaltung für Prinz Friedrich von Homburg, Kleists Stück über Krieg, Befehlsgewalt und Todesfurcht in der Regie von Armin Petras (Schauspiel Frankfurt, 2007) darin, dass es Exemplarische Positionen und Perspektiven

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17 Begehbare Installation (o. T.), Foyer Teatro alle Tese, anlässlich der Verleihung eines Goldenen Löwen an Katrin Brack (Preis für das künstlerische Lebenswerk), Biennale Venedig 2017, Detail. Foto: K. Brack

eine ganze Vorstellung lang auf eine abschüssige Bühnenschräge regnete, sodass die Kostüme der Schauspieler:innen zunehmend durchnässt wurden und sich zudem, für alle Beteiligten unangenehm, die Raumtemperatur bis in die Publikumsreihen hinein spürbar abkühlte (vgl. Nioduschewski 2010, 80ff.). In Gotscheffs Inszenierung von Handkes Immer noch Sturm (2011) flatterten vier Stunden lang unzählige kleine, grüne Papierblättchen aus dem Schnürboden – als wollten sie eindringlich von vergehender Zeit erzählen (Abb. 18–20). In der Pollesch-Produktion Carol Reed (Wien 2017), um ein weiteres Beispiel zu nennen, holte Katrin Brack die Bühnentechnik und Beleuchtungsbrücken sichtbar mit in den Spielvorgang hinein und ließ sie als ‚McGuffins‘ ein vermeintlich außer Kontrolle geratenes Eigenleben entwickeln (vgl. Abb. 2). „Mir kommt es darauf an, einfache Bühnenbilder zu machen“, kommentierte sie einmal ihren künstlerischen Ansatz,12 den sie weiter wie folgt erläuterte: Ich arbeite (…) oft mit einem einzigen Element, setze es aber massenhaft ein. Ich mag es zum Beispiel sehr, wenn ein Schauspieler, eine Schauspielerin im Stück ständig das Gleiche macht und sagt, (…) obwohl man längst

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denkt: ‚Ist ja gut. Ich habe verstanden.‘ Und plötzlich bekommt der Text dadurch eine unglaubliche Intensität. (…) dieses Serielle, die ständige Wiederholung (ist) mindestens so wichtig wie das Material, das eingesetzt wird (…). (ebd.)

Die ästhetische Strategie der Reduktion, Multiplikation und Wiederholung zielt zum einen auf eine Arbeit an der Zeichenfunktion szenografischer Mittel, an ihrem wirkungsästhetischen Potenzial und an der Arbitrarität der Zeichen, die forciert wird und in ihren Bühnen (besonders der Nullerjahre) hervortritt in einer visuellen Poetik des Seriellen. Die ausgewählte Sorte von Gegenständen (z. B. Konfetti, Glitzergirlanden, Ballons) oder ein gewähltes Material (Schaum, Theaternebel, Kunstschnee aus Plastikschnipseln), welches – in seiner Masse und Stofflichkeit – das Grundthema bzw. die Grundstimmung eines Stücks transportieren und verdichten soll, sei aber „niemals Symbol, und auch kein Bühneneffekt“ (Brack, zit. nach Grenzmann 2018, o. S.). Vielmehr zielt dieser Ansatz vor allem auf eine basale künstlerische Auseinandersetzung mit der Materialität des Theaters, die sich für den stofflichen Eigensinn von Dingen, für Plastizität, Farbigkeit, Materialeigenschaften (z. B. optische Aktivität, Glanz) und Materialverhalten in seiner jeweiligen Eigendynamik interessiert – und somit für eine ästhetische Dimension des Szenografischen, die erst in der Begegnung und (körperlichen) Involvierung von Schauspieler:innen, Publikum und den Dingen hervortritt. Die Auseinandersetzung mit den Interdependenzen zwischen szenografiertem Raum / Dingen / Materialität des Szenografischen und den Darstellenden sowie dem Publikum ist explizit Teil dieser ästhetischen Praxis (vgl. dies./ Raddatz 2017, 77). Dazu gehört auch, dass künstlerische Konzeption, Produktion und Realisierung (Doing Scenography / Scenography in Performance) untrennbar verbunden sind: Obwohl Brack starke szenografische Setzungen vornimmt, insistiert sie darauf, dass ihre Räume „nicht allein (stehen), nicht isoliert betrachtet werden können“, sondern sich – obwohl hochgradig konzeptuell – erst im Theatervorgang einlösen: „Mit meinen Räumen schaffe ich Voraussetzungen für einen Zusammenhang, der offen ist. Aber erst durch das Spiel (…), die Kostüme (…), das Licht (…) beginnen sie zu ‚spielen‘ …“ (zit. nach Irmer 2019, 123). Unter diesen Prämissen und den Ansätzen der Konzeptkunst dabei durchaus verwandt, operieren Bracks Szenografien im Spannungsfeld zwischen bildender und darstellender Kunst. Betrachtet unter Gesichtspunkten gattungsspezifischer Ästhetik, zeigt sich darin eine grenzgängerische Praxis, die deren längst porös gewordene Grenzen (Rebentisch 2013/2021) geradezu nonchalant außer Acht lässt („Meine Bühnen denExemplarische Positionen und Perspektiven

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ken nicht darüber nach, ob sie Kunst sind oder nicht“, zit. nach dies./ Burkhardt/Philipp 2019). Zugleich verortet sich Brack als Szenografin konkret und auch diskursiv (in Interviews, Rede- und Publikationsbeiträgen) dezidiert im Theaterdispositiv, indem sie strukturelle Aspekte und Theaterkonventionen (einschließlich technischer und organisationaler Zusammenhänge) künstlerisch reflektiert bzw. ‚gegen den Strich‘ denkt und in ihren radikal ephemeren Bühnengestaltungen erkennbar macht: Nebel, Schnee, Regen oder die sich bewegenden Brücken, alle diese Materialien haben etwas ganz Leichtes. Das kommt nie schwer daher. Nie monströs. (…) Auch wenn die sich bewegenden Scheinwerferbrücken für (das Team der) Beleuchtungstechnik ungemein kompliziert zu programmieren sind, ist das alles zugleich sehr unaufwendig und bedeutet für das Theater keine Extrakosten. Man kommt zur Probe (bzw. zur Aufführung), die Brücken fahren herunter und los geht’s. Am Schluss rauschen die Dinger wieder nach oben, und das war es; kein Bühnenbild wird auf- und wieder abgebaut … (Brack, zit. nach Raddatz 2017, 75).

Impulsgebend für diese szenografische Praxis und die anhaltende Auseinandersetzung mit der Materialität des Theaters war in den 1990er Jahren ihre Kollaboration mit dem belgischen Regisseur Luk Perceval und der Blauwe Maandag Company; in dieser freien Theatergruppe galt damals aus eher praktischen und ökonomischen Gründen die Parole, dass ein Bühnenbild nebst den Kostümen einer gesamten Produktion in einen einzigen LKW passen muss. (…) diese Beschränktheit habe ich aber nicht als Beschränkung, sondern als produktive Situation erlebt; sie zwingt zur Konzentration auf das Wesentliche und ist förderlich bei der Suche nach kreativen Lösungen. (dies., zit. nach Irmer 2019, 123)

Die Übertragung dieses Ansatzes in den deutschen Stadt- und Staatstheaterkontext – wie mit zahlreichen weiteren Produktionen in Zusammenarbeit mit Perceval oder auch anderen geschehen – hat freilich Folgen: (1.) ästhetisch (produktions-, ereignis- und rezeptionsästhetisch), (2.) organisational, auf der Ebene der Proben- und Arbeitsabläufe (an den Schnittstellen zu Bühnentechnik, Gewerken, Fundus, Administration) sowie (3.) diskursiv, in der Reflexion über Theater und seine Materialität, die aus ökonomischen und auch zunehmend aus ökologischen Gründen erfolgt.

Diese Vorgehensweise lässt sich als intervenierende Szenografie beschreiben, 110

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die auf allen genannten Ebenen mit künstlerischer Eigenlogik in bisher vorherrschende Konventionen eingreift und, bezüglich der Behandlung von Raum, Dingen, Material und szenografischen Objekten, alternative Strategien verfolgt. Wie also ‚denkt‘ diese Szenografie, und wie geht sie vor?

Gemäß einem Beitrag des britischen Theatertheoretikers und Theatermachers Mike Pearson („How does theatre think through things“, in Bleeker et al. 2019, 115–129) zählen zu den materiellen Dingen der Bühne: Requisiten, Kostüme sowie Bühnenbild bzw. Bühnengestaltung, Architektur und Bühnentechnik. Demnach gibt es keine Bühne ohne Dinge, die nicht bereits vorhanden oder gekauft bzw. eigens hergestellt werden und die – sobald auf dem Spielfeld – mit unterschiedlichen Bedeutungen und Funktionen belehnt werden. Demzufolge vollziehe Theater sich nie nur in Szenarien von Beziehungen zwischen Menschen, sondern vielmehr stets in Konstellationen von „Menschen, Dingen (…) und Materialisierungen in vielfältigen Wechselbeziehungen“ („performance functions not as the scenario of transactions between people, but as a collective of people, things, (…) and materializations in their manifold transactions, (…) and as landscape, taskspace, eco-system“, ebd. 125f.). In ähnlichem Sinne liegt, nach Joslin McKinney, das Besondere, auch Intervenierende der viel beachteten, mit zahlreichen Preisen versehenen Szenografien Katrin Bracks13 darin, wie in ihnen die Materialität der Bühne markiert und im Spiel ‚zum Auftritt‘ gebracht wird (dies., „Scenographic Materiality“, 2019).14 Im Versuch, deren transformatorisches Potenzial weiter zu präzisieren, beschreibt sie Bracks Arbeiten als gestaltende Praxis, die – in Auswahl und Umgang mit unbelebten Objekten – vor allem deren performative Funktion forciert, bei weitestgehender Ausblendung ihrer bühnenpraktischen Funktion (als Requisite, Dekoration, Bühnenmobiliar im traditionellen Sinne) und in arbiträrer Behandlung ihrer semiotischen Funktion. Dies hat gleichermaßen Folgen für Inszenierungsarbeit und Aufführung: Luftballons, Konfetti, Trockennebel, Theaterschnee – wenn in großen Mengen eingesetzt, entstehen mit ihnen fluide, ephemere, ‚atmosphärisch aufgeladene‘ Räume (ebd., 57). Schauspieler:innen agieren in ihnen nicht vor einem Bühnenbild, sondern – wechselseitig responsiv mit den Dingen der Bühne – inmitten einer dynamischen Situation.

Von diesen Beobachtungen ausgehend – und im Rekurs auf New Materialism (mit Jane Bennett und Karen Barad) sowie im Anschluss an Exemplarische Positionen und Perspektiven

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Überlegungen Maaike Bleekers zu einer post-anthropozentrischen ­Perspektive auf Bühne und Bühnengestaltung (dies. 2017) – argumentiert M ­ cKinney für einen Szenografie-Begriff, der auch Dingen Agentialität (agency) und vitale Materialität (vital materiality, „thingpower“)15 zuerkennt. Zweitens sei von einer reziproken Beziehung zwischen menschlichen bzw. nichtmenschlichen Körpern und Dingen auszugehen, die es zu untersuchen gilt (exploring the reciprocal relationship between materials and bodies of different kinds in scenography, dies. 2021, 59). Drittens sei anzunehmen, dass ­Materie diskursiv ist und, auch jenseits von Sprache, Bedeutung trägt (matter is discursive, ebd.). Gemäß McKinneys Deutung liegt die besondere Setzung von Bracks konzeptuellen Szenografien darin, die ‚vitale Materialität‘ der Dinge und ihr poetisches Potenzial (das sich der Sprache und eindeutiger Signifikation widersetzt) performativ hervorzurufen – in wechselseitig-responsiven Konstellationen von Dingen, (menschlichen) Akteur:innen und Publikum. Szenografie orchestriert demnach diesen Vorgang – nicht als Teil einer Mise en Scène, sondern als Mise en ­Performance – und schafft Voraussetzungen für einen offenen Prozess, der, wie Katrin Brack im Gespräch mit Frank M. Raddatz betonte, zwar angestoßen, in seiner Eigendynamik aber „nicht kalkuliert werden kann“ (dies./ Raddatz 2017, 77).

Auf der Ebene der Inszenierung bedingt solche ‚eingreifende‘ Szenografie eine veränderte Arbeits-, Proben- und auch Spielpraxis. In den Entwürfen Katrin Bracks beginnt dies mit der Aufmerksamkeit für die materiellen Bedingungen, technischen Apparate, Licht, Akustik und für die Dinge, szenografischen Objekte oder ein bestimmtes Material, das sie in großen Mengen, aber „konkret, wie es ist“ (ebd.), ins Spiel bringt. Es war der Philosoph Gernot Böhme, der das Heraustreten sinnlicher Qualitäten von Dingen im Raum als „Ding-Ekstasen“ beschrieb:16 Eigenschaften wie Form, Lokalisierbarkeit, räumliche Ausdehnung, Volumen, Farbe, energetische oder materielle Emanationen, z. B. Geruch, die in „Präsenzformen“ und im „Sich-Präsentieren der Dinge“ hervortreten, dabei ein Ding aber auch als diskretes Objekt ausweisen, sind, ihm zufolge, wesentliche Faktoren bei der Entstehung bzw. dem Entstehenlassen von Atmosphären (ebd., 237). In der Tat schien jeder von Katrin Bracks knallbunten, hüpfenden 18–20 Szenen aus Immer noch Sturm von Peter Handke, Regie: Dimiter Gotscheff, Bühne: Katrin Brack, Kostüme: Ellen Hofmann. Oben im Bild: Bibiana Beglau, Mitte: Oda ­Thormeyer, Jens Harzer, Matthias Leja, Hans Löw, Gabriela Maria Schmeide, im Hintergrund die Musiker Matthias Loibner und Sandy Lopicic, unten: Jens Harzer.

Thalia Theater Hamburg / Salzburger Festspiele 2011. Fotos: Ruth Walz Exemplarische Positionen und Perspektiven

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Luftballons (in Johan Simons Inszenierung Radetzkymarsch, Wien 2017) sowohl als raumgreifender Körper, Widerstand und Counterpart für das Ensemble aufzutreten, wie auch als Ding, das sich selbst ‚präsentiert‘ (Abb. 21). Die großen und kleinen, gelben, roten, grünen und blauen Ballons, die auf der Bühne zwischen den schicksalhaft vereinzelten Figuren herumkullerten, über deren Köpfe hinwegschwebten und immer wieder auch Richtung Publikum flogen, verliehen der Szene Leichtigkeit. Dies ließ an Böhme denken, der im Bühnenbild eine Kunst sah, die erlaubt, sich dem kaum fassbaren Phänomen der Atmosphären rezeptions- und auch produktionsästhetisch zu nähern (in dem Sinne sprach er sogar vom „Paradigma Bühnenbild“, ders. 2014, 110). Allerdings gestand er dem Bühnenbild dann doch nur eine dienende Rolle zu, indem er es als „atmosphärischen Hintergrund“ auffasste, der einen „Resonanzboden (…) für das Geschehen auf der Bühne hergeben“ und das Publikum „in das Theaterstück einstimmen soll“ (ebd., 103f.). Die Logik von Bracks Entwürfen dagegen folgt einem anderen Paradigma: Bei ihr werden entschieden ­symmetrisch angelegte, reziproke (und, wenn man so will: ‚post-anthropozentrische‘) Relationen zwischen Menschen und Dingen auf der Bühne erprobt, wenn etwa der Schauspieler Wolfram Koch berichtet: „Ein Raum von ­Katrin Brack ist ein zusätzlicher Schauspielkollege, den so keiner auf dem Besetzungszettel hatte“ (zit. nach Nioduschewski 2010, 231), oder Almut Zilcher über das Spielen in jenen ephemeren Raumgebilden schreibt: Den Kampf mit ihren Materialien (…) nimmt man lustvoll auf, (…) die Materie nimmt dich mit, treibt dich an, verwandelt dich, macht dich unsichtbar, sichtbar, nackt, entblößt dich, verbirgt dich (…) du schwebst auf Wolken, tanzt, tanzt … im Konfettiregen … (ebd., 231f.)

Damit verweigern diese Bühnen offenbar, was Böhme in seinem viel beachteten Atmosphären-Buch als Hauptaufgabe zeitgenössischen Bühnenbilds ausgab: nämlich Atmosphären durch das Schaffen geeigneter Bedingungen künstlerisch herzustellen und „vom Geruch des Irrationalen“ zu befreien (ders. 2014, 104). Bei Brack hingegen, wie die beiden Zitate deutlich machen, bleibt der Spielvorgang – unter Beachtung aller theaterüblichen Sicherheitsregeln – weitgehend ungesteuert, möglichst offen, riskant. Dies erlaubt, die Materialität und performative Dimension der Dinge (Ballons, Papierschnipsel, Glitzergirlanden etc.) gegenüber ihren praktischen und semiotischen Funktionen maximal zu forcieren, damit sich ihre sinnlichen (visuellen, kinetischen, haptischen und akusti114

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schen) Qualitäten entfalten können. Es ist eine konzeptuelle Szenografie, die den Dingen und ihrer Materialität ausdrücklich Raum lässt: „Brack’s designs leave room for the materials themselves (…) to exert some level of thing power in the way that they make a difference or become a decisive force in the ­performance“ (McKinney 2021, 63).

Räumlichkeit, Atmosphären in Aufführungen werden, wie deutlich geworden sein sollte, durch szenografische Praktiken provoziert und hervorgerufen; beim Publikum wiederum, das in seiner Wahrnehmung entsprechend gefordert wird, lassen Bracks Räume mitunter den Eindruck entstehen, dass ihre Dinge, wie etwa die Scheinwerfer in Carol Reed (2017), quasi ein Eigenleben entwickeln, oder, wie der erwähnte Dauerregen oder Nebel auf der Bühne, geradezu so elementar wie das Wetter auftreten.

Manchmal wird das Publikum, wie mit den über den Bühnenrand hinaus hüpfenden Bällen (Radetzkymarsch, 2017), leiblich und sogar haptisch involviert, obwohl Brack ihre Szenografien fast immer für Guck­ kastenbühnen entwickelt. Eine Ausnahme war die begehbare Installation (o. T.), mit der sie auf die Einladung reagierte, anlässlich der Verleihung des Goldenen Löwen für ihr Lebenswerk auf der Biennale Venedig 2017 eine Ausstellung vorzubereiten: Im Foyer des Teatro alle Tese konnte das Publikum in eine silbern glitzernde Girlandenwelt eintauchen, sich zeitweise darin verlieren, um beim nächsten Schritt einem anderen Besucher, einer anderen Besucherin zu begegnen (Abb. 17).

Fragt man nach der operativen Funktion von Szenografie beim Hervorbringen performativer Räume und Atmosphären, so lassen sich diese – wie die beschriebenen Beispiele nahelegen – am besten im Doppelblick auf produktionsästhetische und aufführungsanalytische Aspekte untersuchen. Ein Stück weit hilfreich ist hier eine These Fischer-Lichtes, die (mit Fokus allerdings vornehmlich auf Ereignisästhetik) in ihrem viel rezipierten Band Ästhetik des Performativen (2004) postulierte, dass Theaterräume, „ganz gleich ob fest installiert oder lediglich provisorisch errichtet, (…) immer performative Räume“ sind (dies. 2004/2022, 187). Sicherlich zutreffend stellt sie fest, dass jeder (architektonische) Raum über Merkmale (ablesbar am Grundriss) und messbare Größen (wie Höhe, Breite, Länge, spezifische Raumvolumina) verfügt, die fest, stabil und über längere Zeit unverändert bleiben. Das Performative liegt demnach darin, wie diese Merkmale mögliche Relationen zwischen Darstellenden und Publikum vorgeben, strukturieren: „Wie immer von diesen Möglichkeiten Gebrauch gemacht wird, wie sie genutzt, umgangen oder gar konterkariert werden, hat Auswirkungen auf den performativen Raum. Jede Bewegung Exemplarische Positionen und Perspektiven

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von Menschen, Objekten, Licht, jedes Erklingen von Lauten vermag ihn zu verändern“ (ebd.). Des Weiteren nennt sie drei Verfahren, die geeignet seien, die Performativität des Raums zu intensivieren: 1. Die Verwendung eines (fast) leeren Raums bzw. eines Raums mit variablem Arrangement, welcher beliebige Bewegungen von Darstellenden und Publikum zulässt; 2. die Schaffung spezifischer räumlicher Arrangements, die bisher unbekannte oder nicht genutzte Möglichkeiten zur Aushandlung der Beziehungen von Darstellenden/ Publikum und von Bewegung und Wahrnehmung eröffnen; 3. die Verwendung vorgegebener, sonst anderweitig genutzter Räume, deren spezifische Möglichkeiten erforscht werden (vgl. ebd., 192). Obwohl (nach Böhme) für performative Räume ‚paradigmatisch‘, bleiben ästhetische und epistemische Verfahren des Bühnenbilds und Performance Designs mit dieser Perspektive allerdings unberücksichtigt und geradezu ausgeblendet: Diese als Faktoren in Inszenierung/Aufführung aufzuzeigen, bleibt Desiderat und Aufgabe szenografiebezogener Theaterforschung.

Die Bühnenentwürfe Katrin Bracks, die, wie dargelegt, überwiegend für Produktionen an den großen Stadt- und Staatstheatern entstehen, sind Beispiele für einen szenografischen Ansatz, mit dem die frontale ­Guckkasten-Konstellation als materielles und mediales Dispositiv beibehalten und zugleich entschieden reinterpretiert wird. Ein Aspekt ihrer szenografischen Logik ist der durchgängige Verzicht auf Videoprojektion und ‚theaterfremde‘ Medien. Zudem gilt die Maxime, dass – von wenigen, mobilen Bühnenobjekten abgesehen – ‚kein Bühnenbild gebaut wird‘ (Brack/ Raddatz 2017, 75). Selbstgestellte Aufgabe ist vielmehr, mit jeweils Vorgefundenem umzugehen: mit Architektur, Technik und Material, das bereits ‚da‘ ist (d. h. im Fundus vorhanden oder sich problemlos einsatzfertig beschaffen lässt). Gleichwohl interveniert diese Szenografie in Gegebenheiten des Theater-Dispositivs (hier: des Regietheaters). Dazu gehört, dass sie Bühnentechnik ‚umnutzt‘ und, wenngleich stets unter Verwendung vorhandener Mittel, technisch und pragmatisch andere Abläufe verlangt, um die Parameter – zugunsten einer veränderten Materialästhetik und ‚symmetrischen‘ Dingbehandlung – temporär zu verschieben, z. B. wenn Konfetti oder unzählige Papierschnipsel mithilfe von Schneetüchern, Streuwalzen (und somit Vorrichtungen, die eigentlich für andere Zwecke gemacht sind als für das Rieseln-Lassen von Kunstschnee in einzelnen Szenen) stundenlang – ihre ganz eigene Poesie entfaltend – aus dem Schnürboden flattern.

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Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

21 (oben) Radetzkymarsch, nach dem Roman von Joseph Roth (Szenenfoto), Regie: Johan Simons, Bühne: Katrin Brack, Wiener Burgtheater 2017. Foto: Marcella Ruiz Cruz. 22 Sneeuw, nach Orhan Pamuk, Regie: Luk Perceval, Bühne: Katrin Brack, NTGent 2016. Foto (Probenfoto): K. Brack Exemplarische Positionen und Perspektiven

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Aufschlüsse über Logik, Entwurfsschritte und Realisierung dieser ‚eingreifenden‘ Szenografien geben, produktionsästhetisch gesehen, Bracks Modelle und Zeichnungen (vgl. Kap. III.2.). Rezeptionsästhetisch betrachtet ist es eine Besonderheit, dass die Dinge – mit ihrer Materialität, Multiplikation sowie einer Variabilität, die sich Verfahren serieller Poetik verdankt (vgl. Sykora 1983, Bronfen/Frey/Martyn 2016) – oftmals so ins Spiel gebracht werden, dass ihre performativen und semiotischen Funktionen nicht zur Deckung kommen. Auf Publikumsseite löst dies mithin Irritation aus: Als Brack z. B. für die Produktion Sneeuw (NT Gent 2016, nach Orhan Pamuk, Regie: Luk Perceval) in dichter Reihe bunte Stoffbahnen hängen ließ – wie Fahnen, aber ohne Embleme – befanden türkische Mitarbeitende bei den Proben, dass die Bühne visuell ein gutes Stimmungsbild der Türkei vermittle. Andere meinten dagegen, in der Kombination einzelner Stoffbahnen die Flagge der kurdischen PKK zu erkennen. Ebenso hätte man darin die Farben des Regenbogens sehen können (vgl. Abb. 22).

Angesichts ihrer visuellen Arbitrarität kam es vor der Premiere gar zum Streit um diese Bühne. Da die Farbkomposition aber unter „rein ästhetischen Gesichtspunkten“ erfolgt und keine dieser Bedeutungszuschreibungen intendiert war, bestand die Künstlerin auf der gehabten Hängung der Stoffbahnen (dies. 2017, 76). Eine solche Szenografie, so Frank Raddatz, experimentiert mit phänomenologischen Verfahren, die beim Publikum die „Eigenaktivität der Wahrnehmung und des assoziierenden Bewusstseins befördern, vielleicht sogar eine Art Trance …“ (ders. 2017, 76). Die Bühnenmittel – in ihrer Materialität und nichtsynchronen Referenz zum Stück – performen gewissermaßen ihre eigene ‚Denkweise‘ und Eigendynamik („material mode of thinking“, McKinney 2019, 69), die geeignet ist, beim Publikum im Lauf einer Aufführung starke sensorische Reaktionen und unterschiedlichste Assoziationen, Resonanzen, Gefühle hervorzurufen, welche nicht in Sinn, Sprache und Interpretation aufgehen, sondern jeweils mit den Weltbezügen der Zuschauenden zu tun haben. In dem Sinne operiert diese Szenografie auch in Bereichen des ­Unverfügbaren.

Variationen über „Spannungsverhältnisse im Raum“: Energetisierte und elektrifizierte Bühnen (Ulrich Rasche)

In seinen Ausführungen zur „Theatermaschinerie“ (Machine Théâtrale) erinnert Patrice Pavis daran, dass sich mit Maschinen im Theater – vermittelt über das sehr alte Motiv des deux ex machina – Konnotationen des Wunderbaren, Irrationalen, Metaphysischen verbinden und szenisch ver118

Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

gegenwärtigt werden. Zweitens, so Pavis, sind sie mit den technischen Funktionen, die sie übernehmen (angefangen ehedem mit dem Einfliegen der Götter), ein integraler Faktor seiner Theatralität (ders. 2019, 307).

Drittens manifestiert sich in ihnen die Materialität und Technizität des Theaters, sein „konstruktives oder dekonstruktives Gepräge und die Künstlichkeit der Illusionen und Phantasmen, die die Maschinen induzieren“ (ebd.). Die Frage, wie sich die „Raum-Maschine Theater“ – ihre Apparate, Mechanik und technischen Erfindungen (man denke an die aufwendigen Systeme der barocken Kulissenbühne) bis hin zu den modernen, offengelegten Bühnenmaschinerien (des russischen Konstruktivismus oder der epischen Bühnen Piscators und Brechts) – formierte und seither weiter verändert, verlangt eine kultur- und technikgeschichtliche Betrachtung (vgl. Hesse/Marx 2012). Manches erscheint von heute aus kaum mehr vorstellbar – insbesondere, dass in den großen europäischen Schauspielund Opernhäusern noch bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts bei Öl- oder Gasbeleuchtung gespielt wurde. Die Elektrifizierung des Theaters zu jener Zeit markierte eine Zäsur, die nicht nur die pragmatische Implementierung damals neuer Technologien und technischer Apparate in bestehende Gebäude brachte, sondern – mit viel weitreichenderen Folgen (technisch, ökonomisch, sozial, ästhetisch) – Veränderungen in Institution, Organisation, Abläufen und künstlerischer Praxis bedingte und auf allen Ebenen von Theaterproduktion und -rezeption basale Fragen aufwarf nach dem Wechselverhältnis zwischen Kunst und Technik, also „nach dem, was Technik mit Kunst und Kunst mit Technik macht“.17 Diese Fragen sind auch Schlüsselfragen der modernen und zeitgenössischen Szenografie, zumal diese Kunst unter den beteiligten Künsten im Theaterkontext immer schon diejenige ist, die explizit in eben jenem Spannungsfeld (­Technik/Kunst – Kunst/ Technik) operiert (vgl. Baugh 2013, Palmer 2013/2018, Dixon 2019). Wie also denkt Szenografie über Technik und Technologie nach, und wie denkt Szenografie mit bzw. vermittels von ­Technik/Technologie?

Einen besonders prägnanten Beitrag zur künstlerischen Reflexion über diese Fragen leisten im Gegenwartstheater sicherlich die Arbeiten Ulrich Rasches. Oftmals im Einsatz von Walzen, Laufbändern, Drehscheiben und komplexen Beleuchtungskonzepten szenografiert er dynamische, unaufhörlich rotierende und spürbar mit elektrischer Spannung aufgeladene Gebilde, die in ihrer ausgestellten Technizität geradezu hypertroph anmuten. Vehement rücken diese Gestaltungen Fragen nach den ­Maschinen und Apparaten des Theaters, nach technischen Funktionsweisen, Strom, EnerExemplarische Positionen und Perspektiven

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23–24 Das große Heft, nach dem Roman von Ágota Kristóf, Szenen mit dem Ensemble (16 Choristen), Bühne und Regie: Ulrich Rasche, Kostüme: Romy Springsguth, Licht: Andreas Barkleit, Video: Philip Bußmann, Staatsschauspiel Dresden 2018. Fotos: Sebastian Hoppe

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Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

gien, Semantiken und Erfahrungsqualitäten und – ganz grundsätzlich – auch die Frage nach der Relation Mensch/Maschine in den Blick: alles Fragen, die in gängiger Betrachtung der Bühne als (vermeintlich) ‚leeren Raum‘ gemeinhin ausgeblendet werden und in der Theaterforschung (nachdem man lange um das viel beschworene ‚Hier und Jetzt‘ der Aufführung kreiste) erst neuerdings Beachtung finden.

Für eine Neubetrachtung der materiellen Kultur und Technizität des Theaters – zudem erweitert um die Problemstellung Theater/Theaterbetrieb und Digitalität – plädiert besonders nachdrücklich der Theaterwissenschaftler und Dramaturg Alexander Kerlin. Für eine veränderte Perspektive argumentiert er wie folgt: Man kann Theatergebäude als gigantische Maschinen beschreiben, als komplexe technische Apparaturen mitten in unseren Städten … und das ist nicht als Metapher gemeint, sondern konkret: Überall und immerzu rattern die Motoren, um Hubpodien auf oder Trägerzüge abfahren zu lassen, um Drehbühnen in Bewegung zu setzen oder den Eisernen Vorhang zu heben. Über, unter, neben der Bühne verlaufen die Kabel; Scheinwerfer gehen an und aus, schwingen ihre programmierten Halbkreise, und auf Mischpulten und Laptops werden die eingehenden Tonsignale gemischt und neu ausgespielt; das Ganze ist wiederum eingebettet in ein Kommunikationsnetzwerk, das Büros, Werkstätten und Garderoben miteinander in Austausch hält. Dies sei (…) überdeutlich gesagt, weil (…) Theater mitunter zur Anti-Maschine verklärt wird. (ders. 2019, 461)

Diese Perspektive mag auch ein Künstler wie Ulrich Rasche teilen; als Szenograf und Regisseur in Personalunion trat er in den 2010er Jahren mit Theaterproduktionen hervor, die monumentale technoid-dynamische Bühnenkonstruktionen, Chor-Prinzip, rhythmische Organisation von Sprechen und Bewegung, minimalistische Musik und eine atmosphärische, zugleich präzise gesteuerte Lichtführung in einer kompositorischen, stark konzeptuellen Logik verbinden. Weiter entwickelt, variiert und ausdifferenziert hat er diese besondere Formensprache seither in eigenwilligen Interpretationen von Dramen Georg Büchners (wie Dantons Tod, Schauspiel Frankfurt, 2015 oder Woyzeck, Theater Basel, 2017), Schillers Räuber (Münchner Residenztheater, 2016), Hugo von Hofmannsthals Elektra (ebd., 2019) oder auch Theatertexten wie Sarah Kanes 4.48 Psychose (Deutsches Theater, 2020) sowie besonders eindrücklich mit Inszenierungen antiker Tragödien (darunter Euripides‘ Die Bakchen, Wiener BurgExemplarische Positionen und Perspektiven

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theater, 2019; Sophokles‘ Ödipus, Deutsches Theater Berlin, 2021; ­Orestie: Agamemnon, Epidauros/Residenztheater München, 2023/ 2024). Eigenen Angaben zufolge bezieht sich Rasche, der in Bochum und Gießen Kunstgeschichte, Komparatistik und Theaterwissenschaft studierte, mit seinem Formvokabular auf Minimal-Art (namentlich Donald Judd, Richard Serra), auf Konzeptkunst und auf die streng komponierten Szenografien Robert Wilsons (an dessen Watermill Center er in den neunziger Jahren Stipendiat war), die Spracharbeit Edith Clevers (nach prägenden Begegnungen an der Berliner Schaubühne) sowie explizit auf das Theater Einar Schleefs, das im deutschen Regietheater der Nachwendezeit eine Wiedereinführung des Chor-Stücks bzw. der Chor-Idee brachte: Mich fasziniert seine (Einar Schleefs) Art, Texte zu verstehen, Schauspielerinnen und Schauspieler als Gruppen und Individuen auf der Bühne zu choreographieren. (…) In Schleefs Inszenierungen gab es ein geradezu architektonisches Verständnis von Sprache, vermittels dessen Spannungverhältnisse im Raum entstanden. (Rasche, zit. nach Orlowski 2019, 314)

Tatsächlich sind Merkmale und ästhetische Verfahren von Schleefs chorischem Theater in seinen Arbeiten erkennbar; zu ihnen gehört, ausgehend von der Behandlung von Stücktexten (auch klassischen Dramen) als Material, die Neuverteilung der Figurenrede auf Chorgruppen, das Versinnlichen dramatischer Konflikte mit Mitteln des Körpertheaters, das variationsreiche Komponieren von Körpern, Stimmen, Bewegungen und ein geradezu obsessives Hervortreiben der Materialität der Sprache durch Intonation, Rhythmisierung, Musikalisierung, „Tempoanziehen/Tempodehnen“ und paralinguistische Zeichen (Atmen, Stöhnen, Geheul …)

(Schleef 1998). Der performative Raum, der mit diesen Verfahren entsteht, wird, wie Ulrike Haß gezeigt hat, für die Anwesenden (Spielende, Publikum) als ästhetisches und soziales Kraftfeld erfahrbar (vgl. dies., ­Kraftfeld Chor, 2020): Nachdem, historisch besehen, die Orchestra mit den optischen Einrichtungen der Perspektivbühne und der Frontalanordnung von Darstellung/Publikum verloren ging und der antike Chor „ortlos“ wurde, bewirke die Wiedereinführung des Chor-Prinzips, dass im Spiel Zusammenhänge aufscheinen, die über einzelne Figuren bzw. Konflikte hinausweisen und diese (wieder) in Bezug setzen „zu einem Außen, zu einem Grund (im Sinne der Malerei, die von Figur und Grund spricht)“.18 Von Schleefs Theater, über das freilich viel mehr zu sagen wäre,19 übernimmt Ulrich Rasche eben dieses Prinzip, indem er Protago122

Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

25 Szene aus der Inszenierung von Friedrich Schillers Die Räuber, Residenztheater München 2016, Bühne und Regie: Ulrich Rasche, Mitarbeit Bühne: Sabine Mäder, Kostüme: Heidi Hackl. Foto: Andreas Pohlmann

nist:innen und Chöre als große, zusammenhängende, raumgreifend choreografierte (und szenografierte) ‚Sprachkörper‘ auf die Bühne bringt: Durch chorisches Sprechen, Rhythmen und geballte physische Aktion entstehen hochgradig energetisierte Räume.

Ihr wohl prägnantestes Element aber sind die erratischen Maschinen, die gigantischen elektrischen Laufbänder, rotierenden Drehscheiben oder, wie in seiner Szenografie für Ödipus (2021), die über der Drehbühne und den Spieler:innen sich konzentrisch drehenden, farbchangierenden Leuchtspiralen, die Rasches Räume als dynamische, elektrifizierte Räume (d. h. als durch Elektrizität energetisierte Räume) ausweisen (Abb. 28 und 29). Nun ist Theater an sich „keine ‚Anti-Maschine‘“ (Kerlin), sondern verfügt über ältere, neuere und sogar über genuin für die Bühne gemachte Erfindungen: Eine davon ist die Drehbühne (die, gebraucht für schnelle Szenenwechsel, schon von alters her und vom japanischen Kabuki-Theater bekannt ist). Zeitgleich mit der Elektrifizierung der Schauspiel- und Opernhäuser um 1900 vom Münchner Bühnentechniker Karl Lautenschläger ‚wiedererfunden‘ und als elektrisch betriebene Apparatur weiterExemplarische Positionen und Perspektiven

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26–27 Szenen aus Aischylos’ Die Perser, von Durs Grünbein, Bühne und Regie: Ulrich Rasche, Kostüme: Sara Schwartz, Video: Philip Bußmann, Licht: Johan Delaere, mit Katja Bürkle, Valery Tscheplanova, Patrycia Ziolkowska und Ensemble, Salzburger Festspiele / Schauspiel Frankfurt 2018.

Fotos: Bernd Uhlig

entwickelt,20 gehörte sie europaweit bald zum Standard technischer Infrastrukturen an den großen Häusern. Erste künstlerische Verwendungen werden Max Reinhardt zugeschrieben, mit seinem Sommernachtstraum (Berlin 1905), dessen Zauberwald (eine imposante plastische Bühnenwelt aus echtem Holz, frischem Moos und mit raffinierten elektrischen Beleuchtungseffekten versehen) auf einer Drehbühne vor Rundhorizont und bei geöffnetem Vorhang rotiert haben soll.21 Ebenso bedeutsam, 124

Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

aber ganz anders, gehören zur Geschichte ihres technischen Wandels und künstlerischen Gebrauchs die praktikablen, „rein zweckhaften Spielgerüste“ Erwin Piscators (die sich im Agitprop-Theater der 1920er Jahre ‚im freien Raum‘ drehten).22 Wieder anders gehören dazu aber auch die diversen Ausdeutungen der Drehbühne als „optische Metapher für den Weltenlauf“ in der Nachkriegszeit (Blank 2018, 133) – bis hin zu den fragmentierten, sich bei laufendem Spiel sowie Live-Videoprojektion offen drehenden, multifokalen Szenarien des postdramatischen Theaters, die mit der Guckkastenkonstellation entschieden brechen.

Zudem halten digitale Technologien Einzug in den Theaterbetrieb; schon seit rund drei Jahrzehnten sind sie längst Teil seines (künstlerischen und technosozialen) Betriebssystems – und auch dies zeitigt wiederum Folgen in Gebrauch, Anwendung und Interpretation von Bühnentechnik und Apparaten: Als technische Dinge übernehmen sie nicht nur auf praktischer Ebene neue oder andere Funktionen, sondern erhalten als ästhetische Dinge potenziell veränderte Bedeutungen, wenn sie als Ausdruck „zuständlicher Veränderungen“ in Kultur und Gesellschaft, die über die Bühne hinausreichen, wahrgenommen werden.23 Auch in Rasches Räumen, die ohne digitalbasierte technische Infrastruktur, ihre Steuerungsfunktionen und die heute komplexen Lichtanlagen und Soundsysteme nicht auskommen, rotieren Drehbühnen, ­Drehscheiben, Maschinen. Man kann sagen, die Drehbühne erfährt mit Ulrich Rasches Arbeiten eine zeitgemäße Neuinterpretation. Gleichwohl fällt auf, wie auch Bettina Hering (Schauspieldirektorin der Salzburger Festspiele) anlässlich der Verleihung des Heckroth-Preises 2023 an Rasche hervorhob,24 dass er nicht notwendig die vorhandenen Apparate und Drehbühnen nutzt, sondern Kunstmaschinen, kinetische Plastiken oder auch ­Farb-Licht-Mobile entwirft, die in den Theaterraum, wie man ihn gewöhnlich wahrnimmt, eingreifen, teils Vorhandenes hypertrophieren und vor allem aber eigene künstlerische Setzungen sind.25 Dies können sein: … Scheiben, die sich nicht nur drehen, sondern auch auf- und niederbeugen, ja, fast müsste man sagen, auf- und niederbäumen können, lichtdurchlässige Stahltiere, Interventionen im Raum. Dann wieder Installationen, die sich wie Raupen am Stand bewegen, Walzen, die im Schnürboden gesichert werden, riesige Laufbänder, Bühnenbilder, die für sich zum Staunen sind. Es sind Kunstwerke einer technoiden, industrialisierten, futuristischen und

Exemplarische Positionen und Perspektiven

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doch zeitlosen Welt, von gleißendem Licht durchzogen. Der Mensch in diesem Universum (…) muss sich bewegen, mitdrehen, wird mitgedreht, es gibt kein Entkommen … (ebd.)

Das Markante, Aufsehenerregende der Szenografien Ulrich Rasches liegt demnach darin, wie sich technische und ästhetische Praktiken in ihnen verbinden; stets sind diese Maschinen zugleich als technische Apparate und ästhetische Dinge präsent. So wurden für Die Räuber (2016) auf die Drehbühne des Münchner Residenztheaters zwei mächtige, meterlange Laufbänder montiert, die sich in der Aufführung wie Panzerlaufwerke drehten und, auf der ihrerseits rotierenden Drehbühne, mal emporhoben oder aber abwärts, zum Abgrund neigten (vgl. Abb. 25; mit ihrer technischen Konstruktion und baulichen Realisierung waren die Gewerke über ein Jahr lang befasst). Unaufhörlich angetrieben von der monumentalen Maschinerie nahm die Intrige des Franz Moor gegen seinen Bruder dort ihren unheilvollen Lauf. Generell gehört zur Signatur von Rasches Inszenierungen, dass sie (unter Anwendung postdramatischer Verfahren) von Interpretation weitgehend absehen und vielmehr auf ein (abstrahierendes) Herausarbeiten der den Stücken zugrunde liegenden Konfliktmuster zielen, um diese szenisch – d. h. in eine Komposition aus gesprochenen ‚Textflächen‘, rhythmischer Intonation, spannungsreichen Konstellationen zwischen Chor/Einzelfiguren, Körperchoreografie und Raumstruktur/Szenografie – zu übersetzen. In den Münchner Räubern traten rund zwanzig Schauspieler (und zwei Schauspielerinnen) als Chor und zuweilen als Einzelfiguren bzw. Widersacher auf (darunter die verfeindeten ­Brüder, Spiegelberg, Karls Geliebte Amalia). Unablässig und in wechselnden Formationen schritten sie, mit Sicherungsgeschirr und Leinen seitlich festgezurrt, auf den Laufbändern. Die Drehungen der mächtigen Apparatur, die Worte, Stimmen, Bewegungen, die, obwohl meist synchron, in Rhythmus, Tempi und Intensität variierten, und die minimalistische LiveMusik (von Ari Benjamin Meyers) sowie eine akzentreiche, atmosphärisch meist dunkle Lichtgestaltung – das alles war sorgfältig orchestriert. Die ästhetische (und ausgewiesen technische) Organisationslogik, die sich darin zeigt, lässt sich als Composed Theatre beschreiben. Nach David Roesner und Matthias Rebstock, die den Begriff geprägt haben, liegt dessen Merkmal darin, dass …

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Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

28–29 Szenen aus Sophokles‘ Oedipus (in der Übertragung von Friedrich Hölderlin), Bühne und Regie: Ulrich Rasche, Kostüme: Clemens Leander, Licht: Cornelia Glotz, mit Manuel Harder (Titelrolle), Almut Zilcher (Jokaste) und Ensemble, Deutsches Theater Berlin 2021. Fotos: Arno Declair

Exemplarische Positionen und Perspektiven

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(…) Sprache, Musik und Bühne, Komposition und Szenografie erkennbar stark miteinander verwoben sind, Hierarchien zwischen den Elementen nicht mehr gelten, ihre Notation bisweilen direkt ineinandergreift und ihr Einsatz (Cuing) digital vernetzt und softwarebasiert erfolgt (…)26

Solche Gefüge, die in der Aufführung im orchestrierten Zusammenspiel ganz unterschiedlicher Praktiken und Akteure hervortreten, entfalten ihre Bedeutungen im Grenzbereich des Materiellen, Technischen und Semiotischen.

Ein weiteres, eindrückliches Beispiel ist auch die Bühne für Rasches Salzburger Inszenierung von Aischylos’ Die Perser (2018), die aus zwei riesigen, hydraulisch betriebenen Scheiben bestand (Abb. 26 und 27): Auf der vorderen Scheibe hatten der persische Ältestenchor (verkörpert durch Katja Bürkle und Valery Tscheplanova) und Atossa, Mutter des mit dem Heer in den Krieg gegen die Griechen gezogenen Perserkönig Xerxes (Patrycia Ziółkowska), ihren Ort. Die rotierende, oft riskant steil aufragende Scheibe dahinter, die offenbar auf die ferne Sphäre des Kampfes wies, war Feld der erst stampfenden, dann schwankenden Armee des Männerchors und immer wieder auch Auftrittsort der Boten, die dem Ältestenrat und der Königsmutter von der „vernichtenden“ Niederlage des Perserheers in jener Schlacht berichteten, die sie aus Hybris und schierer Eroberungslust selbst begonnen hatten.27 – Und um überdies noch ein weiteres Beispiel anzuführen: Dazu ähnlich, doch abermals anders konzipiert war die Bühne für Das große Heft (nach Ágota Kristóf, Staatsschauspiel Dresden, 2018). Ebenfalls auf zwei (hier aber nicht hinter, sondern nebeneinander kreisenden) Scheiben inszenierte Rasche die Geschichte zweier Zwillingsbrüder, die, nachdem sie als Kinder Krieg, Not, Schläge und Brutalität erfahren hatten, sich in mehreren Lektionen (die sie in ihrem „Heft“ niederschrieben) selbst beibrachten, wie man überlebt – und dabei aber mehr und mehr ihre Menschlichkeit verloren. Auch hier korrespondierten und verstärkten sich alle Elemente und beteiligten Akteure wechselseitig: die kreisenden, bedrohlich kippenden Scheiben / der rhythmisierte Chorduktus / das Skandieren des Texts / die Härte des Erzählten / das Laufen und dagegen Anrennen des verdoppelten, vervierfachten, schließlich verachtfachten Zwillingspaars / das Sounddesign (Nico van Wersch) / die Musik (Monika Roscher) sowie Videoeinspielung und Licht (Abb. 23 und 24).

Die Frage, wie Rasches erratische Maschinen im Verhältnis zum Ensemble, den Spielenden und den anderen Elementen in Aufführungen ‚mitspielen‘, ist nicht leicht zu beantworten. In ihrer materiellen und technischen Kon128

Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

kretion sind sie zum einen szenografische Artefakte; auf anderer, abstrakter Ebene bewirken sie eine Art Verräumlichung (eines Konflikts, einer Spannung, einer Energie) – und oft scheint es, als wirkten sie geradezu als Motor des verhandelten Konflikts. In der Weise, wie sie Raum, Körper, Bewegung gleichsam orchestrieren, sind sie auch Choreografie-Maschinen. Vermittels ihrer künstlerisch-kompositorischen und zugleich technischen Steuerungslogiken sind Szenografie und Choreografie aufs Engste miteinander verschränkt, und die Körper, Stimmen, Energien der Performance und technischen Energien (Elektrizität, Dynamik und Kraft der Maschinen) wie miteinander verwoben. Bei all seiner wuchtigen Materialität und Dynamik bleiben Aspekte des Geschehens immer auch abstrakt. Bedeutungen entfalten sich im Grenzbereich des Materiellen, Technischen und Semiotischen. Darüber, dass Ulrich Rasches Arbeiten ein „strenges Formkorsett“ verlangen, wurde öffentlich schon viel diskutiert,28 und meist kreisten die Fragen darum, wie offen bzw. geschlossen diese Form – als Composed ­Theater – gefügt ist: Welche Gestaltungsspielräume und Freiheiten lässt es den verschiedenen Beteiligten (bei den Proben, bei der Aufführung) (vgl.

Kap. III.2.), und welche Wahrnehmungsangebote ergeben sich für das Publikum?

Der monumentale Eindruck, die Orchestrierung von Raum, Licht, Körpern, Stimmen, Klängen, Bewegungen und die hohe Intensität – all dies richtet sich visuell, auditiv, energetisch über die Bühnengrenze an ein Publikum, das nicht nur kognitiv adressiert, sondern sinnlich tangiert wird. Entfaltet wird auf diese Weise eine hochgradig suggestive Wirkungsästhetik (manche sagen auch: Überwältigungsästhetik), die vom Publikum entweder abgelehnt oder aber, mithin auch begeistert, angenommen und erlebt wird – fast wie ein Rockkonzert. Eben diese Polyvalenzen, als Aufblitzen und vieldeutiges Hervortreten unterschwelliger Konnotationen, Erwartungen, Wahrnehmungsmuster, zu provozieren und dies weniger auf der Ebene szenischer Narration, sondern vor allem über die Formästhetik, ist offenbar wesentlicher Antrieb von Rasches Arbeiten. Maßgebliche szenografische Strategie ist, wie gezeigt wurde, eine gezielte Hypertrophierung der Technik. Mit ihr steht – grundsätzlicher, auch über das Bühnengeschehen hinaus – die Frage nach der Relation Mensch/Technik im Raum (Wer oder was steuert das Geschehen?). Kann man sich damit durchaus an technik-affine Konzepte der Theatermoderne erinnert fühlen, mit denen z. B. Friedrich Kiesler Anfang der 1920er Jahren eine (damals antizipierte) ‚­Verlebendigung des Technischen‘ begrüßte und für ein Neuverständnis der Bühne als „völlig selbständigem Organismus mit den Gesetzen der Exemplarische Positionen und Perspektiven

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Technik unserer Zeit“ plädierte,29 versteht Rasche, eigenem Bekunden zufolge, seine Szenografien konzeptionell jedoch eher als Gegenthese. Wie er in einem Gespräch über die Produktion Die Räuber (2016) ausführte, seien seine Kunstmaschinen in ihrer wuchtigen Wirkmächtigkeit (geradezu geschichtspessimistischer) Ausdruck „für einen bestimmten Lauf der Dinge, für eine Geschichtssituation, die sich in Variationen wiederholt, für eine Erfahrung persönlicher Art und auch eine Erfahrung historischer Art – die, dass die Dinge sich eigentlich nie zum Besseren entwickeln …“ (zit. nach ders./Mumot 2018, o. S.).

In diesen Zusammenhängen ist noch wichtig zu erwähnen, dass Rasches Kunstmaschinen (die Rollbänder, Drehscheiben, spiralförmigen Leuchtröhren-Mobile, u. a.), die – obwohl in Planung, Umsetzungsphase und Herstellung aufwendig, da sie zuweilen besondere künstlerische, technische und handwerkliche Kompetenzen erfordern und, je nach Entwurf, auch in der Finanzierung herausfordernd sein können (vgl. Hering 2023, o. S.) – formal wie Bühnenbilder behandelt und, betriebsüblich, nach dem Abspielbescheid zerlegt, entsorgt oder recycelt werden. Ebenso bedingt die Inszenierungsarbeit (das Ausarbeiten einer Kompositorik und ihrer Modulation zwischen Maschine / Musik / Sprechen / Choreografie und den Bewegungen der Protagonist:innen und Chöre) jeweils besondere Praktiken, Probenabläufe und Notationsverfahren sowie technische Maßnahmen (Orchestrierung und Programmierung der Abläufe, spezielle Sicherheitsmaßnahmen) (siehe dazu Kap. III.2.). Zumal sie kategorial dem Bühnenbild zugehörig sind, verstehen sich diese Theatermaschinen aber nicht etwa als technische Prototypen, Modelle oder Instrumente mit weiterem Nutzeffekt, sondern als inhärenter Teil der jeweiligen Produktionen, als Manifestationen künstlerischer Konzepte und somit als Szenografien. Als Kunst – und bei all ihrer Technizität – zielen sie indessen nicht darauf, die Assoziationen und Empfindlichkeiten, die Ablehnung oder Zustimmung, die sie in Aufführungen beim Publikum potenziell hervorrufen, vorab zu bedenken oder gezielt zu steuern. „Der Raum beginnt im Kopf“: Phänomenotechniken in der Szenografie (Barbara Ehnes)

Unter den in diesem Kapitel bisher vorgestellten Szenografen und Szenografinnen ist Barbara Ehnes sicherlich diejenige, die ihr Selbstverständnis und ihre eigene Praxis als ‚bildende Künstlerin in der darstellenden Kunst‘ am stärksten unter das Vorzeichen künstlerischer Forschung gestellt hat. Als 130

Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

Bühnenbildnerin – Anfang der 2000er Jahre hervorgetreten im Zusammenwirken mit Schauspiel- und Opernregisseur:innen wie Stefan Pucher, Lars-Ole Walburg, Sebastian Baumgarten, Lydia Steier oder der Choreografin Meg Stuart und in Verbindung besonders mit Kostümbildnerin Annabelle Witt und dem Videokünstler Chris Kondek – arbeitet sie seither an Theatern im deutschsprachigen Raum (D/A/CH) und international. Hinzu kamen immer wieder frei produzierte Projekte, darunter performative Installationen für das ortsbezogene, von Matthias Lilienthal kuratierte Format X Wohnungen (2005 in Berlin, weitere in Istanbul und Caracas), die semi-dokumentarische Videorecherche Die schwarze Botin.

Remastered and Remistressed (Wiener Festwochen 2013) oder die ebenfalls als Gruppenarbeit entstandene Videoinstallation ΑΛΛΗΛΕΓΓΎΗ / Solidarity: Archive of Messages (präsentiert in Athen, Chios und bei der Ruhrtriennale Bochum 2019/2022), die sich mit der Geschichte von Feminismus, Flucht und Migration und weiteren gesellschaftlichen Themen auseinandersetzten.30 Spricht man von künstlerischer Forschung in der Szenografie, wie mit Blick auf Ehnes’ Arbeiten vorgeschlagen wird, so ist zunächst zu klären, was „künstlerisch Forschen“ hier meint, oder genauer: an welche theoretischen Überlegungen und Praktiken, die zu artistic research, oder research in the arts bzw. research through art in den letzten Jahren breit und recht kontrovers entwickelt wurden,31 damit angeschlossen wird. Indem Ehnes die Bühne auch als einen „nicht herrschaftsfreien“ (von vielfachen und unterschiedlichsten Abhängigkeiten durchzogenen) Raum“ beschreibt (dies.

2013/2015),32 kommen dabei diskursiv, unter machtkritischen Gesichtspunkten, abermals überkommene Hierarchien in Produktionsgefügen und künstlerischen Praktiken auf den Prüfstand. Darüber hinaus, wie im Folgenden noch deutlich wird, zielen Ehnes‘ Bühnenentwürfe und Projekte auf eine grundlegende, explorative Auseinandersetzung mit ästhetischen Praktiken und Gestaltungsmitteln der Szenografie, verbunden mit Fragen nach Wissen bzw. Wissensformen (d. h. nach Gestaltungswissen sowie habitualisierten, technischen und institutionellen Wissensformen). Grundsätzlich von Belang ist dabei die in der Debatte um ‚künstlerische Forschung‘ viel diskutierte Frage nach der Vergleichbarkeit von wissenschaftlicher Forschungspraxis und künstlerischem Experimentieren (vgl. Mersch/Ott 2007, Peters 2013, Henke et al. 2020). Unter welchen Aspekten lässt sich beides – scientific research / artistic research – ­vergleichen: Von welchen Erkundungsvorgängen, welchen Praktiken (z. B. Exploration, Recherche, Experiment) und Technologien ist die Rede – und welche Situationen Exemplarische Positionen und Perspektiven

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30 Szene aus Georg Friedrich Händels Oper Alcina, Bühne und Regie: Barbara Ehnes, Kostüme: Annabelle Witt, Video: Meika Dresenkamp. Titelrolle: Elizabeth Bailey. Luzerner Theater 2023. Foto: Ingo Hoehn

oder experimentelle Anordnungen kommen, so gefragt, in den Blick? Um Ähnlichkeiten und Unterschiede transdisziplinär auszuleuchten, bezog man sich in dieser Debatte auf Begrifflichkeiten aus Wissenschaftsgeschichte und Wissenschaftsphilosophie, insbesondere auf die Begriffe „Experimentalsystem“ und „epistemische Dinge“ und, im Rückgriff auf Gaston Bachelard,33 den Terminus der „Phänomenotechniken“ (Rheinberger 2001, ders. 2016).

Zunächst zum Begriff Experimentalsystem: Dieser bezeichnet, dem Molekularbiologen und Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger zufolge, das „Integral aller Ingredienzien – Materialien, Forschungstechnologien, Laborumgebungen, kollektives Erfahrungswissen“, die nötig sind, um „einen in der Regel auf ein einzelnes Labor und sein Kollektiv beschränkten Experimentierprozess in Bewegung zu setzen und (…) in Gang zu halten“ (ders. 2016, 20). Experimentalsysteme und die in ihnen verhandelten epistemischen Dinge sind demnach „zugleich Analysegegenstand und dessen begriffliche Erfassung“, die es braucht, damit ein Versuch durchgeführt und, nicht nur empirisch auf der Makro-Ebene einer 132

Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

Disziplin, sondern auch auf der Mikro-Ebene und dem, was sich darin zeigt, dargestellt werden kann (ebd.). Auch im wissenschaftlichen Labor – und somit nicht nur in den Künsten – sind solche Prozesse der Suche, produktiven Unruhe und des Findens, Erfindens und Entdeckens ­kontingent (darin sind beide, wie oft betont wurde, vergleichbar, vgl. Peters 2013). Wie seitens der Theaterwissenschaft daher vorgeschlagen wurde, kann die Bühne (hier: Probe bzw. Probebühne ) als Experimentalsystem aufgefasst werden (aufgrund der Arten und Weisen, wie sich dort „individuelle künstlerische Fragen mit institutionellen Bedingungen des Theaters, als Inszenierung von Arbeitsszenarien und im Einsatz spezifischer Techniken und Instrumente, überkreuzen“).34 Auch die Szenografie ist an jenen Prozessen forschend und gestaltend beteiligt. Ein wichtiger Unterschied zu wissenschaftlichen Laborexperimenten liegt, wie Dieter Mersch betont hat, allerdings darin, dass künstlerische Experimente, anders als Rheinbergers Experimentalsystem, eben nicht auf das Systematische, Geordnete der Forschung abzielen, sondern eher ins „Chaotische oder Springende“ weisen (ders. 2015, 21) – und in dem Sinne: ins Offene.

Um diese Überlegungen weiterzutreiben, sei der Begriff Phänomenotechnik aufgegriffen. Der Begriff, den Bachelard seit den 1930er Jahren in mehreren Schriften entwickelte, besagt, dass Technik nicht nur Werkzeug oder Nebenprodukt wissenschaftlicher Arbeit oder ihre vergesellschaftete Manifestation ist, sondern in den jeweiligen Zusammenhängen integraler Teil ihres modus operandi (Rheinberger 2019, 39). Mit anderen Worten: zwischen Forschung und ihren materiell-technischen Bedingungen besteht ein untrennbares, dynamisches Wechselverhältnis. Demnach werden Phänomene nicht einfach gefunden, Beobachtungen nicht einfach gemacht, sondern sind gleichermaßen immer auch technisch hervorgebracht. Indem heute also mit und durch Technik gedacht wird und sie, so besehen, mit Gegenständen intellektueller Anschauung und Erkenntnis (Noumena) korrespondiert, kommt dem Technischen eine epistemische Funktion zu.

Forschende Tätigkeit, die im Labor (wie auch immer dieses aussieht oder ausgestattet ist) stattfindet, ist demnach eine phänomenotechnische Arbeit, mit der sich das bis dahin Unbekannte, Unvorwegnehmbare erst in den forschenden Prozeduren, Wiederholungen, Verwerfungen herstellt. Im Rückgriff auf Bachelard spricht Rheinberger daher auch von „ProzessEpistemologie“, die (und an dieser Stelle treffen sich Wissenschaft und Kunst) performative Merkmale aufweist.35 Von hier aus lässt sich fragen: Inwiefern kann Szenografie als forschende künstlerische Praxis verstanden werden, und wie geht sie vor?

Exemplarische Positionen und Perspektiven

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„Alles auf Anfang: Starting Over“: Mit dieser Formel hat Barbara Ehnes das Leitprinzip ihrer künstlerischen Arbeit beschrieben (dies./Carp 2015). Geht man davon aus, dass am Beginn jeder Produktion die Bühne, Struktur und Materialität der jeweiligen Architektur, die Theatertechnik, der Fundus, ein bereits bekanntes Repertoire szenografischer Gestaltungsmittel und ästhetischer Praktiken, verbunden mit vorhandenem Praxiswissen, technischem Wissen, betriebsüblichen Abläufen sowie das jeweils geplante Stück oder Projektvorhaben einiges vorgeben, so setzt Ehnes ihre Formel dem offenbar entgegen: Was ist im Dispositiv dieser Bühne noch nicht ausprobiert worden? Wie weit kann man gehen? Einige Beispiele: Für Stefan Puchers Inszenierung des Genet-Stücks Die Zofen (Münchner Kammerspiele, 2014) entwarf sie eine bühnenbreite Kapsel – als geschlossene, hochartifizielle Welt der beiden Schwestern, die, von einer anderen Wirklichkeit träumend, gnädige Frau und Zofe spielen und die Madame, der sie beide dienen, ermorden wollen. Mithilfe von Videoprojektionen und Spiegelungseffekten ließen sich die Dimensionen des Raums (analog zu den wechselnden Machtstrukturen unter den Figuren) vexierbildhaft verzerren, dehnen oder verengen. Wieder anders, bestand der Raum für Quijote (Stückentwicklung nach Cervantes, Thalia Theater Hamburg, 2012, Regie: Stefan Pucher) aus einer Konstruktion aus Metall, Leuchtmitteln und ausladenden Glasflächen, in denen sich Bilder, die auf den Bühnenboden gemalt waren, und die Körper der Schauspieler:innen spiegelten, sodass sich – im schwer bestimmbaren Dazwischen von physischer Präsenz und Virtualität – immer wieder neue, sinnfällige Spiegelungs- und Doppelungseffekte ergaben. Und im Bühnenraum, den sie für ein Hans Christian Andersen gewidmetes Projekt (Andersen: Trip zwischen den Welten, Thalia Theater Hamburg, 2010) gestaltete, ragten aus schneeweißen, reliefartig gepolsterten Wänden einzelne Möbelteile merkwürdig heraus, sodass im Spiel und bei wechselnder Beleuchtung unterschiedliche Trompe-l’œil-Wirkungen entstanden. „Jeder Raum ist ein Versuchslabor, das Materialien und Maschinen enthält, um Bilder immer wieder neu zusammenzusetzen, etwas in eine andere Perspektive zu bringen, die Körper zu transformieren“, schrieb die Dramaturgin Stefanie Carp über Ehnes‘ Szenografien (dies. 2015, 12). Immer wieder anders leisten diese, so besehen, eine phänomenotechnische Arbeit am gesamten, bekannten Repertoire bühnentechnischer Mittel und an der Visualität der Bühne, die sich darüber hinaus noch mit einer forschenden und geradezu basalen Auseinandersetzung mit technischer Optik (mit optischen Geräten und bildgebenden Verfahren wie Spiegel, Prisma, Kaleidoskop, Dioramen, Bild- und 134

Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

Videoprojektion auf plastische Oberflächen, und vielem mehr) verbindet.

Zu den Leitgedanken ihrer szenografischen Praxis gehört, wie Barbara Ehnes selbst einmal sagte, … (sich) mit den Gegebenheiten der (…) sogenannten Guckkastenbühne auseinanderzusetzen und mit dem, was sie tradiert, mit der Bühnentechnik, die eine Illusionsmaschine ist, spielerisch umzugehen (…). Wenn ich davon ausgehe, dass das Bühnenbild heute nicht mehr der Illusion oder Illustration dient, (…) kann ich diese Maschinerie neu einsetzen. Manchmal macht es Spaß, auch die Trickkiste Theater zu benutzen. Manchmal setze ich die Bühnentechnik im Sinne der Transformation von Räumen für neue (…) Perspektiven oder Spielorte ein, manchmal auch zitathaft als Spiel mit Theatergeschichte … (zit. nach dies./Carp 2015, 216)

Damit stellt sich auch die Frage nach der Epistemologie der Szenografie, nach Szenografie als Wissenstechnik und Denkform. Eine weitere von Ehnes‘ selbstgesetzten Prämissen ist, „alle Raumentscheidungen, die dem vorangehen, jeweils vom Stück, Thema oder Stoff einer Produktion ausgehend zu entwickeln, um das darin Gefundene in „etwas abstrakt Räumliches“ zu übersetzen und „eine Versuchsanordnung (zu) schaffen, eine Grundlage, zu der sich andere verhalten können“ (Ehnes, ebd., 214 und 217). Ihre Entwürfe, die sie theaterüblich intern vorab im Modell präsentiert (zum Bühnenbildmodell als künstlerischem Medium und ‚epistemischem Ding‘ vgl. Kap. III.2.), versteht sie als „Spielmaterial für andere, für Spielerinnen und Spieler, Regie, Kostüm, Video, Musik, Licht, Ton“ und als Versuch, „Situationen zu schaffen, in denen alle Beteiligten neue Erfahrungen machen können (und) … Raum (zu öffnen) für neue Blickweisen auf einen Stoff, neue Spielweisen, neues Denken. Dazu braucht man Überraschung und Irritation …“ (ebd.). Weiter beschreibt Ehnes, geprägt durch ihr Studium der freien Kunst mit den Schwerpunkten Bühnenbild (bei Wilfried Minks) und Performance (bei Marina Abramović), ihren Ansatz als „skulptural“, konzeptbasiert und prozessorientiert, und oft entwirft sie plastische Gebilde für die Drehbühne, die „wie Skulpturen (…) von allen Seiten funktionieren müssen“ (dies./Carp 2015, 219) und die jeweils ihre ganz eigene Plastizität, Materialität und Technizität mit ins Spiel bringen (dies. 2020). Ein besonders prägnantes Beispiel dafür ist ihre Bühne für Puchers Inszenierung von Shakespeares Sturm (Münchner Kammerspiele, 2008), für die sie eine kinetische Bühneninstallation entwickelte, die wie ein riesiges Buch aussah: Mobile Wände, mittig befestigt an einer hochkant stehenden Achse, ließen sich darin wie Buchseiten vorExemplarische Positionen und Perspektiven

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oder zurückblättern, sodass mit jeder Drehung, jeder aufgeschlagenen Doppelseite immer wieder andere Schauplätze entstanden, in denen die Spielerinnen und Spieler wie in einem Popup-Bilderbuch in Erscheinung traten. Als szenografisches Objekt fungierte dieses ‚Buch‘ zum einen als Zeichen, visueller Hinweis und eine Art Meta-Symbol (indem es nahelegte, dass sich das Stück auf einer anderen Ebene, nämlich quasi im Kopf des Magiers Prospero und in seiner Bücherwelt ereignet). Zugleich übernahm es konkrete technische Funktionen als Bühnenapparatur und plastische Projektionsfläche für gleitende, ikonografisch vielschichtig aufgeladene Videobild-Collagen (mit alten Kupferstichmotiven kolonialer Bilderwelten, stilisierten Meereswellen, visuellen Zitaten der polynesischen Tiki-Kultur, u. a. m.). Dergestalt wies diese Szenografie – als Setting, Bühnenobjekt, Versuchsanordnung und phänomenotechnisches Ensemble – somit eine epistemische Eigengesetzlichkeit auf (die im modus operandi von den mit einer Guckkastenbühne gemeinhin gegebenen Funktionen erkennbar abwich) und behauptete zugleich, ästhetisch (und bezugnehmend auf Mittel des Poptheaters) eine sehr eigene, vieldeutige Welt.

Wie man an diesen wenigen Beispielen bereits sehen kann, drückt sich forschende Szenografie ausgesprochen vielgestaltig aus; was solch explorierendes, experimentelles Entwerfen leistet, geht in einzelnen Theaterproduktionen aber nicht auf, sondern wird – ähnlich wie in der wissenschaftlichen Arbeit – erst in „Forschungsreihen“, „Serien“, „Sequenzen“ erkennbar (vgl. Rheinberger 2016, 20f.). Anders als Forschung in den Experimentalsystemen wissenschaftlicher Labors verfährt künstlerisches Forschen aber nicht streng iterativ und entlang von „Lösungsketten“ (ebd.), sondern methodisch springend, assoziativ und oft zugleich in gewisser Reibung mit den im Dispositiv des Theaters jeweils vorherrschenden Praktiken, institutionell gegebenen Bedingungen (Ausstattung, Administration, Budget etc.), geltenden Regeln oder auch Grenzen. Fragt man also – wie hier am Beispiel von Arbeiten Barbara Ehnes‘ – nach Szenografie und künstlerischer Forschung im Theaterdispositiv, so zeigt sich diese Forschung demnach nicht primär in ihren „Produkten“ (also in Inszenierungen bzw. Aufführungen, die zu analysieren wären), sondern vor allem in den je erkennbar werdenden Praktiken des Forschens und Explorierens, die, mit ungewissem Ausgang, mithin ins Unbekannte, „Unvorwegnehmbare“ führen.36 Wie also operiert Szenografie, und was kann oder ‚weiß‘ sie?

Womit wäre aktuell noch zu experimentieren, und wie weit kann man gehen?

Da solch suchende, fragende, einkreisende Erkundung und Selbsterkundung des Szenografischen im Gegenwartstheater ein offener, unabschließ136

Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

barer Prozess ist, bleiben die ästhetischen und epistemischen Dinge, die sich darin ausmachen lassen, eher „unscharf“. Man könnte, mit Rheinberger im Doppelblick auf Wissenschaft und Kunst, „in geradezu konstitutivem Sinne vom Unschärfeprinzip epistemischer Dinge (…) und, dazu analog, vielleicht auch vom Unschärfeprinzip ästhetischer Dinge sprechen“.

Damit, so Rheinberger weiter, …. rücken (…) die Konfigurationen – sowohl im Sinne von Agenden als auch im Sinne von Tricks –, die in den Prozess eingehen (…), in den Vordergrund des Interesses. Es sind (…) diese Anordnungen, in denen sich das Neue ereignet, die es sich näher anzusehen lohnt … (ders. 2016, 26)

Szenografische Forschung (als ständig fortgesetzte Arbeit an ihren Ästhe­ tiken und Epistemen) zeigt sich demnach vor allem in der Betrachtung ihrer unterschiedlichen Anordnungen: Zu den bei Ehnes exemplarisch erkennbaren Strategien, die Bandbreite unterschiedlicher Anordnungen (von Bühne/Guckkasten bis hin zur weit gefassten Theatersituation) phänomenotechnisch aufzufassen und künstlerisch auszuloten (wie sie es in ihren Theaterarbeiten sowie freien Rechercheprojekten und performativen Installationen unternimmt) gehört, die (architektonische, technische, ­ästhetische) Trennung zwischen Bühne/Aktionsraum und Publikum szenografisch zu bearbeiten – im Versuch, unterschiedliche Bewegungen, Dynamiken, Perspektiven und auch nichtfixierte Positionierungen zuzulassen. Weitere Strategien sind, wie beschrieben, eine dezidiert raumplastisch-skulpturale Behandlung des Bühnenraums, zudem explorierende Auseinandersetzungen mit (zeitgenössischer und auch historischer) Bühnentechnik und der Intermedialität der Bühne (in der experimentellen Einbindung von Video und verschiedenster optischer Verfahren). Ein weiterer, hier noch nicht erwähnter Schwerpunkt in Barbara Ehnes‘ Arbeiten ist eine kritische Reflexion der Materialität szenografischen Gestaltens und – geradezu im Sinne einer Grundlagenforschung – das Erproben ökologisch nachhaltiger Materialien und das Entwickeln alternativer künstlerischer Strategien (Eco-­Scenography, Cyclic Design, interdisziplinäre Forschung mit neuen Biotechnologien).

Als ‚bildende Kunst in der darstellenden Kunst‘ entwirft Szenografie Welten, die so flüchtig, so transitorisch sind wie die Theaterkunst selbst. Je nach gewähltem szenografischen Verfahren kommen gleichwohl stets konkrete Dinge und Materialien zum Einsatz (sei es, eher konzeptionell, im gestaltenden, orchestrierenden Umgang mit dem vorgefundenen Raum, Bühnentechnik, Licht und found material, oder in gebauten ManifestatioExemplarische Positionen und Perspektiven

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nen mehr oder weniger aufwendiger Raumplastiken, Theatermaschinen und Bühnenmodelle). Werden Bühnenbilder konventionell in den Werkstätten hergestellt, werden oft große Holz- und Aluminiumteile verschraubt oder verklebt, große Flächen mit Acrylfarben bemalt und Objekte aus Styropor geschnitzt. Ist ein Stück abgespielt, wird später das meiste davon, ebenso wenig nachhaltig, entsorgt. Auf der Suche nach Alternativen nahm Ehnes 2022 eine gemeinsame Produktion mit dem Autor und Regisseur Thomas Köck zum Anlass, mit Myzelkomposit zu experimentieren, einem in der Theaterszenografie hierzulande bisher noch nicht verwendeten, ökologischen Material, das aus fadenförmigen, flechtwerkartig verwobenen Hyphen von Pilzen (Mycelien) gewonnen wird (Solastalgia, Schauspiel Frankfurt/Kunstfest Weimar, vgl. Abb. 31 und 32).

Das Experiment stand in inhaltlichem Zusammenhang mit dem Stück; „Solastalgie“, der titelgebende Begriff, beschreibt Gefühle der Wehmut oder Trauer angesichts eines bevorstehenden Verlusts (der Erde, wie man sie kannte, und gewohnter heimatlicher Umgebungen). Vom Autor selbst inszeniert, erzählt das Stück von längst nicht mehr zu leugnenden Symptomen des Klimawandels, von Entwaldung, Insektensterben, dem Vers­ tummen der Vögel und, am Beispiel der Figur eines depressiv-suizidalen ehemaligen Försters, vom Ende traditioneller Lebensweisen, die in schier unaufhaltsamen Dynamiken ökonomischer Interessen und Verwertungszusammenhänge buchstäblich ihren Grund verlieren. Ehnes‘ ­Bühnengestaltung referierte, was die plastische Form anbelangt, auf die Lehmarchitekturen der Dakhmas (persisch für „Grabmale“, „Türme des Schweigens“) und alte Rituale der Himmelsbestattung (das heißt, der Dekarnierung menschlicher Leichname durch Aasvögel, meist Geier, in nach oben offenen Rundbauten). Wer wollte, konnte im Halbrund dieser Bühnenskulptur aber auch eine Art Hörsaal oder Wissensumgebung des sogenannten Anthropozäns erkennen (vgl. Abb. 31). Den Text, zu dem auch ein aus lateinischen Pflanzennamen kompiliertes Sprech- und Singduett gehörte, boten drei Schauspielerinnen, gehüllt in ausladende Kostüme aus Plastikmüll oder orangene Schutzkleidung (oder einem Mix aus beidem), monologisch oder, vielstimmig intoniert und durchaus eindringlich, im Chor dar.

Die szenografischen Elemente dieser Spielanordnung, 65 Platten aus Myzelkomposit, waren, mit fachlicher Beratung durch das niederländische Design Studio Klarenbeek/Dros und einer Mitarbeiterin der Professur für Pilzbiotechnologie an der Technischen Hochschule München,37 in den Werkstätten des Schauspiel Frankfurt nahezu unter Laborbedingungen 138

Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

31–32 Solastalgia, Text und Regie: Thomas Köck, Bühne: Barbara Ehnes, Kostüme: Agathe MacQueen, Dramaturgie: Marlies Kink / Julia Weinreich. Unten im Bild: Miriam Schiweck. Koproduktion Schauspiel Frankfurt und Kunstfest Weimar, 2022. Fotos: Knut Klaßen und Candy Welz, Kunstfest Weimar Exemplarische Positionen und Perspektiven

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produziert worden (vgl. Ehnes/McDonough 2022). Vorgang und Grundidee dieses Unterfangens fasste Ehnes wie folgt zusammen: Myzelkomposit besteht aus Spänen, z. B. Hanfspänen, die von Pilzsporen – in unserem Fall des Reishi-Pilzes (Ganoderma lucidum) – verstoffwechselt werden; bei hoher Luftfeuchtigkeit und ausreichend Wärme verwandeln die Mycelien das lose Hanfsubstrat in ein stabiles Geflecht. Nach ca. zwei Wochen haben wir das Wachstum gestoppt, die Platten im Spritzraum auf 70 Grad erhitzt und – bühnengerecht – mit einem (biologisch abbaubaren) Flammschutz imprägniert. Kunststoffe wie Styropor oder Styrofoam, die auch im Theater bisher in großen Mengen verwendet werden, könnten durch dieses organische Material ersetzt werden (…). Es ist ein Beispiel für einen neuen Prozess – ein Wachstumsprozess und auch ein Lernprozess. (dies. 2023, o. S.)

Als vorläufiges Ergebnis ihres Experiments hob Barbara Ehnes vor allem zweierlei Aspekte hervor, zum einen den der ökologischen Nachhaltigkeit („Myzelkomposit ist problemlos kompostierbar und vollständig biologisch abbaubar“, zudem sei es „sehr preisgünstig“, ebd.) und zum anderen, als nicht weniger wichtigen Aspekt, das ästhetische Potenzial des neuen Materials und der performativen Prozesse seiner Gewinnung. So lassen sich, laut Ehnes, Farbe, Formen und Oberflächen beeinflussen, „je nachdem mit welchen Nährstoffen man die Mycelien zusätzlich ‚füttert‘ oder durch Dinge, die man auf das noch wachsende Gewebe auflegt und die einen Abdruck hinterlassen“; auch weil das Myzel „in jegliche Form hineinwächst“, eröffneten sich „ästhetisch ganz neue Möglichkeiten“ (ebd.). Als szenografische Forschung bleibt ein solches Experiment freilich zunächst nur eine (vielleicht beispielgebende) Einzelinitiative einer einzelnen Künstlerin, die sie aber, wie in einer Art Forschungsreihe, ausdrücklich in weiteren Theaterarbeiten fortzusetzen, zu sequenzieren und zudem die darin gewonnenen Erkenntnisse auch anderen über Publikationen zugänglich zu machen sucht (vgl. dies./Klaßen 2022).

Ein als Variation und quasi-serielle Fortsetzung dieser forschenden Praxis direkt anschließendes Beispiel ist das Bühnenbild für Georg Friedrich Händels Alcina, einer Opernproduktion, bei der Ehnes auch Regie führte (Luzerner Theater, 2023). Der Stoff, nach dem Libretto L’Isola di Alcina (1728) eines unbekannten Verfassers, das auf einer literarischen Vorlage Ariosts basiert, von einer Frauenfigur, der magische Kräfte zugeschrieben werden. Da sie demnach vermag, ehemalige Liebhaber und vergeblich um ihre Gunst werbende Männer in Tiere, Pflanzen und Steine zu 140

Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

verwandeln, wird sie inszenatorisch oft interpretiert als „selbstbewusste Verführerin“, die jedoch selbst, der Liebe wegen, schließlich jene Kräfte verliert.38 Im Versuch, mit der Frage insbesondere nach ihrem emanzipatorischen Potenzial eine andere Perspektive auf die Figur zu entwerfen, gestaltete Ehnes die verzauberte Insel Alcinas als komplexe, raumplastische Bühnenwelt, bestehend aus merkwürdig ineinander verschachtelten, an Studiolos, die historischen Vorläufern der Wunderkammern, erinnernden Gehäuse, die trotz drahtzaunartiger Wände wie Schaukästen wirkten und Einblicke in vorgeblich heimliche Orte erlaubten. In anderen Szenen zeigten sich biomorphe Architekturen mit wabenartigen Öffnungen und aus bunter Wolle gehäkelte, meterhoch nach oben wachsende Korallenwände, die – als Teil eines anderen Kunstprojekts (The Hyperbolic Crochet Coral Reef, 2019, und Baden Baden Satellite Reef, 2022, von Margaret und Christine Wertheim/Institute of Figuring, Los Angeles) und quasi als Zitat aus diesem – ebenfalls Element dieser (‚weiblich‘ konnotierten, insbesondere auf Kulturleistungen von Frauen verweisenden) Bühne waren.39 Zudem gab es großflächige, teils abstrakt anmutende Videobilder und kreisrunde Projektionsflächen, auf denen collageartig Textzitate (aus Christine de Pizans Le Livre de la Cité des Dames, 1405, und weiteren frühfeministischen Werken) sowie live eingespeiste Kommentare sichtbar wurden: Dies alles konnte gelesen werden als Hinweis darauf, dass, gemäß dieser Interpretation, die weibliche Hauptfigur ihre besonderen magischen, potenziell auch heilenden Kräfte behalten sollte (Abb. 30). In dieser Szenografie war Myzelkomposit, anders als im zuvor beschriebenen Beispiel, nicht in Form pilzlich hergestellter Platten verbaut; das Innovative des Experiments hatte nun vielmehr darin bestanden, erstmals skulptural-plastische Bühnenobjekte ‚wachsen zu lassen‘.

Solche Experimente, die szenografisches Gestalten, Designforschung und biotechnologische Verfahren verbinden, haben im Dispositiv des Theaters einerseits durchaus günstige Bedingungen (mit Probenräumen, den in Stadt-/Staatstheatern und Produktionshäusern meist vorhandenen oder angegliederten Werkstätten, Personal, Produktionsbudgets und, auf künstlerischer Ebene, dem Interesse am ‚Neuen‘). Andererseits stoßen sie aber auch, – bedingt durch organisationale Pfadabhängigkeiten und In/Flexibilitäten des Theaterbetriebs – potenziell immer wieder an Grenzen (hinsichtlich ihrer In/Kompatibilität mit etablierten Betriebsabläufen, Zeitregimes, Mentalitäten, dem vielleicht erhöhten Arbeits- oder Kostenaufwand in den Innovationsphasen und der Frage nach ihrer Adaptierbarkeit an bestehende Strukturen und Regularien, z. B. Brandschutz, und Weiteres).

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Wenn künstlerisches Forschen im Szenografischen in diesem Abschnitt als phänomenotechnische Arbeit (Reflexion und Bearbeitung von Bühnenform, Materialität, Medialität und Technizität des Theaters) diskutiert wurde, zeigt sich hier, dass sich – dispositivbedingt – noch institutionenbezogene und organisationale Faktoren in diese Arbeit einschreiben. Damit ergeben sich zwei Fragen, nämlich (1.) ob (wie und welches) Wissen in der Szenografie durch künstlerisches Forschen entsteht, wie es sich manifestiert und auch wie es geteilt wird. Einem Beitrag des Amsterdamer Kunstwissenschaftlers und Philosophen Henk Borgdorff zufolge („The Production of Knowledge in Artistic Research“, 2011) ist künstlerisches Forschen verstanden als Kunst, die forschend vorgeht, dann eine Form der Wissensproduktion, wenn ein suchender, fragender Prozess mit dem „Ziel eines Wissensund Erkenntnisgewinns“ erfolgt.40 Diese Prozesse lassen sich, ihm zufolge, durchaus auch entlang von Merkmalen beschreiben (subject, method, context and outcome, ders, 2011, 45). Hierbei sei dem Wissen der Künste (und damit auch dem szenografischen Wissen) eigen, dass es sich als Kunst (research in & through art practice ), Denkform (­unfinished thinking) und, nochmals mit Rheinberger gesprochen, als Prozess-Epistemologie manifestiert und somit, anders als wissenschaftliche Forschung, ihre Thesen und Ergebnisse nicht verschriftlicht in Texten darlegt. Tut sie es doch, geschieht dies üblicherweise in nichtakademischen Formen und Formaten (wie Interviews, Proben-, Atelier- oder Podiumsgesprächen und in den Dokumentationen künstlerischer Arbeiten, in Programmheften, Katalogen, Werkmonografien oder auf Websites). Dieses Divergierende und Verstreute der Äußerungen bedingt allerdings, dass künstlerisches (und hier: szenografisches) Wissen zu rezenten, das Theater als Kunst und Institution herausfordernden Problemstellungen und Transformationsthemen (wie etwa Inklusion, Sozialität von Räumen, ökologische Nachhaltigkeit, Digitalität) tendenziell eher disparat bleibt. Die andere Frage lautet daher: (2.) Wie wird szenografisches Wissen verhandelt, geteilt, reflektiert und unter Theaterschaffenden und Publikum – über die einzelne Inszenierung und Aufführung hinaus – diskursiv behandelt? Wie hat Szenografie künstlerisch forschend, mitgestaltend und diskursiv teil an gegenwärtigen Transformationsprozessen in der darstellenden Kunst? (Siehe dazu auch das Kapitel „Ausblick“)

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Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

Temporäre Architektur, intermediale Bühnen: Szenografie als Intervention und forschende künstlerische Praxis (Sebastian Hannak)

Mit Sebastian Hannak steht in diesem Abschnitt ein Bühnen- und Kostümbildner im Fokus, der am Theater spartenübergreifend arbeitet. Seit den Nullerjahren gestaltet Hannak, der an der Kunstakademie Stuttgart bei ­Jürgen Rose und Martin Zehetgruber studierte, Räume für Oper, Ballett, Tanztheater und Schauspiel an Theatern im In- und Ausland (in Kollaboration mit Regisseur:innen wie Florian Lutz, Frank Hilbrich, Lorenzo Fioroni, Sláva Daubnerová, Florentine Klepper, Thorleifur Örn Arnasson, Yuval Sharon, Martin Nimz oder Christof Nel). Bekannt wurde er vor allem mit seiner Serie von Raumbühnen, angefangen mit der Raumbühne HETEROTOPIA (Opernhaus Halle 2016/17, für die er den Theaterpreis DER FAUST erhielt) bis hin zur Raumbühne ANTIPOLIS (Staatstheater Kassel 2023/24). Installiert für mehrere Wochen oder gar für die Dauer einer ganzen Spielzeit, interveniert dieses Konzept mit szenografischen Mitteln in die Architektur, Bühnenform und bühnentechnischen Gegebenheiten eines Hauses: ‚Neuformierung der theatralen Situation (Guckkasten vs. Raumbühne)‘, ‚Perspektivwechsel‘, veränderte Publikumsadressierung, Interaktion und Partizipation sind dabei die Stichworte.41 Sebastian Hannaks Name steht für eine forschende Szenografie, die sich mit Formationen von Raum, Architektur, Bühnenformen, allen Aspekten der Bühnentechnik und im Besonderen mit dem Komplex Theater und ­Digitalität befasst – einer Thematik, die ebenso wie ökologische Nachhaltigkeit, Inklusion und Sozialität der Bühne zu den zentralen Transformationsthemen des Gegenwartstheaters zählt (Lobbes/Zellner/Zipf 2021).

Wie also operiert eine Szenografie, die, im Zeichen des digital turn, auf Digitalität und Digitalisierung als Bedingung und Faktor heutiger Kultur und Gesellschaft reflektiert?

Diese Frage rührt an eine der Grundfragen der Theaterforschung, nämlich der nach seinem Verhältnis zu anderen Medien und nach der ­medialen Spezifität des Theaters: eine Diskussion, die – auch im Hinblick auf Szenografie – bereits intensiv geführt wurde (vgl. Baugh 2017, ­Hannah 2018, O’Dwyer 2021, Wiens 2014). Abermals sind Begriffe und Grundannahmen zu klären. Dass der Begriff „Medium“ in seiner inter- bzw. transdisziplinären Verwendung (je nachdem, ob man von einem technischen, medienanthropologischen oder repräsentationstheoretischen Ansatz ausgeht) unterschiedlich definiert wird, stellt eine gewisse Schwierigkeit dar.

Hauptaspekte in der Diskussion über Medien bzw. Medialität sind: (a.) die Exemplarische Positionen und Perspektiven

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Speicherung und Übertragung von Information, die Medien theaterbezogen leisten, und deren Rezeption und (b.) die Relation zwischen ­Technologie und menschlichem Körper bzw. menschlichem Wahrnehmungsvermögen (Balme 1999/2021, 176). Zum Definiens des Theaters als ästhetischem Medium und zum Konstituens seiner medialen Spezifität bestimmte man die „theatrale Grundsituation, die die Anwesenheit eines Live-Publikums hervorhebt/oder eine Spielästhetik, die ohne moderne Technologie auskommt“ (ders. 2004, 15). Gleichwohl wurde aber auch eingewendet, dass der darstellenden Kunst im breiten Spektrum ihrer Gattungen und Formen immer schon eine Plurimedialität der Zeichensysteme (Wort, Bild, Ton, usw.) und der Elemente (Sprache, Körper, Musik, Bühne/Bühnengestaltung, Kostüme, Bühnentechnik, und vieles mehr) eigen ist, die sie genuin als medial komplexe und interdisziplinäre Praxis ausweist. „Künstler (und Künstlerinnen) aus verschiedenen Disziplinen (finden) einander vor allem im Theater, das nicht nur figürlich, sondern buchstäblich einen Raum, eine Bühne bietet, auf der die verschiedenen Künste aufeinandertreffen“, so der niederländische Kultur- und Medienwissenschaftler Chiel Kattenbelt (2008, 125). Darüber hinaus vertrat er die These, dass Theater als „Grundform des Darstellens (…) alle anderen Künste in sich aufnehmen kann“ (ebd.). Diese These dient ihm als Basis, um – medientheoretisch gewendet – die Relation des Theaters (verstanden als Medium) zu anderen Medien (z. B. Film, Video) entlang dreier unterschiedlicher Perspektiven – Multi-, Trans- und Intermedialität – zu präzisieren. Demnach meint der Begriff Multimedialität basal die Kombination unterschiedlicher Medien; Kattenbelt zufolge ist Theater das einzige Medium, das multimedial sein kann, da es „alle anderen Medien in sich aufnimmt, ohne die Spezifität der in sich aufgenommenen Medien durch die eigene mediale Spezifität zu beinträchtigen“ (ebd., 127). Prozesse der Übertragung von Gestaltungsprinzipien eines Mediums in ein anderes sowie Vorgänge der Imitation, Übersetzung und des Vermischens von Verschiedenartigem in hybriden ästhetischen Phänomenen bezeichnet er als Transmedialität (ebd., 128). Im Unterschied dazu fokussiert Intermedialität auf spannungsvoll erkennbar bleibende Differenzen ästhetischer Konventionen und damit verbundene Wahrnehmungsgewohnheiten: Als Elemente der Aufführung (…) werden die Bilder und Töne des Films, Fernsehens und Videos nicht nur vor-, sondern auch aufgeführt. (…) (Daher) kann Theater als ein Hypermedium betrachtet werden (…); vielleicht ist es gerade dieser Besonderheit geschuldet, dass (es) im Austausch zwischen den

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Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

Künsten eine solch wichtige Rolle gespielt hat und immer noch spielt, wobei im heutigen Theater digitale Technologien oft als Schnittstellen (Interfaces) fungieren. (…) Deshalb bietet es wie keine andere Kunst eine Bühne für Intermedialität. (ebd.)

Ebenfalls mit Blick auf die Pluri-, Inter- und Transmedialität der Bühne fragte der britische Theater- und Medientheoretiker Steve Dixon (in seinem Beitrag „How does theatre think through incorporating media?“, 2019) nach epistemischen und ästhetischen Praktiken der Medienbehandlung und beobachtet im Gegenwartstheater hauptsächlich zwei Strategien: (1.) die Integration bisher ‚theaterfremder‘ Medien und das künstlerische Ausloten ihres ästhetischen Potenzials (audio-visuelle Effekte, Illusion, Simulation, Virtualität, ‚Hybridisierung‘ der Szene) sowie (2.) Strategien intermedialer Praktiken im Sinne kritischer Medienexploration und -reflexion (ders. 2019, 130). Das Aushandeln dieser Fragen – künstlerisch-gestaltend und medienpragmatisch – fällt demzufolge zu großen Teilen in das Feld der Szenografie. Ein weiterer, zu erwähnender Aspekt ist (3.) der Einsatz digitaler Medien beim Entwerfen, der sich in veränderten Gestaltungsprozessen und Ästhetiken des Szenografischen niederschlägt.

Ausgehend von der Definition des Theaters als einem Hypermedium, das unterschiedliche Künste und Elemente synthetisiert oder sie aber verfremdet, ihre Heterogenität hervorhebt, meta-szenografisch markiert und intermedial behandelt, ließe sich sagen, dass seine Hypermedialität – mit der Musik als besonderem, hochkomplexem Element – in Oper und Musiktheater immer schon hervortritt.42 Den Fragen und Gestaltungsmöglichkeiten, die sich mit den digitalen Medien hier zudem ergeben, widmete sich in den Nullerjahren an der Staatoper Stuttgart das von Klaus Zehelein initiierte Forum Neues Musiktheater, das auch Hannaks künstlerische Arbeit stark prägte.43 In diesem ‚Opern-Labor‘ befasste man sich, mit Teilnehmenden aus verschiedenen Bereichen (Komposition, Musik, Gesang, Schauspiel, Regie, Dramaturgie, Szenografie, Choreografie, Bühnen­ technik, Gewerke) und in Verbindung mit Einrichtungen wie dem ZKM Karlsruhe, IRCAM Paris und mehreren amerikanischen Universitäten, mit den künstlerischen Potenzialen elektronischer und digitaler Medien, den durch sie eröffneten Optionen interaktiver Anwendungen und audio-visueller Gestaltung sowie, auch organisational, mit der Implementierung digitaltechnologiebasierter Praktiken und Arbeitsabläufe in das Dispositiv des Theaters (namentlich der öffentlich geförderten Staats- und Stadttheater).

Exemplarische Positionen und Perspektiven

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Sebastian Hannaks Bühnenräume, die seither für Opern- ebenso wie für Schauspiel- und Ballett/Tanztheaterproduktionen entstehen, geben eine kontinuierliche Reflexion der Hypermedialität, Materialität und Technizität der Bühne zu erkennen. Zudem zeigt sich eine forschende Auseinandersetzung mit Digitalität und ein explorativer Gebrauch von Digitalmedien als Gestaltungswerkzeuge der Szenografie in vielen seiner Arbeiten – die sich, wie der Künstler in einem Ateliergespräch einmal erklärte, in mehrere Werkgruppen unterteilen lassen: Dazu gehören demnach Szenografien, die in kreativer Bearbeitung der Konstellation der Guckkastenbühne als Imaginationsräume und „abstrakte, oft mechanisch wandelbare Räume“ konzipiert sind (ders./Knapp 2020, 5). Die zweite Gruppe bildet die Serie seiner Raumbühnen, die als intervenierende Szenografien und temporäre Architekturen auf die „Bespielung des gesamten Theaterraums“ abzielt (ebd.). Als Drittes lassen sich forschende (meist durch zusätzlich eingeworbene Fördermittel getragene) Projekte nennen, die sich experimentell – als „Augmented & Expanded Scenography“ (vgl. ders. 2023) und flankierend zu seinen Bühnenentwürfen – mit digitalen Technologien befassen: Zum einen, um Praktiken und Perspektiven Digitaltechnologie-basierten Entwerfens auszuloten (Entwicklung von Raum-, Kostüm-, Lichtkonzepten vermittels virtueller 3D-Modelle in der Inszenierungs-/Probenphase), und zum anderen, um Spiele- und 3D-Umgebungen zu generieren, die – online zugänglich (z. B. über eine App) – auch dem Publikum als medial erweiterte Theaterräumlichkeiten offenstehen (vgl. Kap. III.2.). „Bühnenräume (…) funktionieren (am besten) als gemeinsam erschaffenes Kunstwerk im Zusammenspiel aller Einzelkünste“, betont Hannak (ders./Knapp 2020, 5). Gerade auch für ihn als Künstler, der Räume für Theaterproduktionen aller Sparten gestaltet, stellt sich – als eine der Grundfragen der Szenografie – die Frage nach der Freiheit vs.

Heteronomie des szenografischen Entwurfs. Einer der erwähnten Ansätze, den er unter die Stichworte „Imagination“ und „(Raum-) Fiktionen“ fasst, zielt – im Sinne einer dramaturgisch gedachten Szenografie (die beim Publikum „Denkprozesse auslösen“ soll) – darauf, ausgehend von diffiziler Analyse des zu inszenierenden Stücks oder Stoffs eine starke künstlerische Setzung vorzunehmen: „Text, Musik, Entstehungszeit, Rezeptionsgeschichte, Literatur, Magazine, Bildbände, Kritiken, Gespräche, alles fließt in die Recherche ein“ (ebd., 5 f.).

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Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

Ist eine Raumidee gefunden, wird gemeinsam mit der Regie und dem Produktionsteam weiter ausgelotet, „wohin die Reise gehen soll: ob abstrakt oder konkret, und was genau uns heute daran jeweils relevant erscheint“ (ebd.). Hannak beschreibt diesen Vorgang als ‚Übersetzungsprozess‘, der einem Stück, als Werk, „die Treue (hält), ohne ‚werktreu‘ zu sein“ (ebd.).

Szenografisch besehen, entspricht dies einer Praxis der Verräumlichung (oder, mit Pavis, einer Mise en Espace),44 die – in eigensinniger künstlerischer Methode – abstrahierend vorgeht: … was sind die (…) zu verhandelnden Fragen und Probleme? – darauf suche ich Antworten im Raum. Meist entstehen absolut unpraktikable Räume, fast durchweg in lichtem Grau, meist ohne Möbel, kaum Requisiten. In diesen Räumen ist der Blick ganz auf den Menschen und das Spiel gerichtet.

Durch die Reduktion auf ein Zeichen und das zusätzliche Verwenden einer Mechanik verdeutlicht der Raum Zustände, in denen die Figuren sich befinden, er vermittelt eine Stimmungslage. (ders. 2020, 9).

Ein Beispiel: Für Brechts episches Stück über Galileo Galilei, das von Erkenntnisgewinn in der Wissenschaft sowie von ihrer Verantwortung und Abhängigkeit von politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen handelt, entwarf Sebastian Hannak eine Bühne, die auf das ptolemäische Weltbild referierte (vgl. Abb. 34): Bezugnehmend auf jene alte Annahme, wonach alle Himmelskörper in kristallenen Sphären um die Erde kreisten (der Galilei mit seinen Beweisen zum kopernikanischen Weltbild widersprach), gestaltete er ein System aus starren, verschachtelten, beweglichen Rahmen, das sich anfänglich als bühnenbreite Wand darbot und – im Auffächern der Rahmen – wie ein Teleskop bewegt werden konnte. Den Schauspielern und Schauspielerinnen bot dieses System in seiner räumlichen Plastizität einerseits Halt; andererseits ließ es ihnen jedoch nur begrenzten Raum – ganz so, wie einst Galilei (den die Kirche bekanntlich zeitweilig gar unter Hausarrest stellte) als Gelehrter und auch im persönlichen Leben eingeschränkt wurde. Mithin waren auf den Rahmen auch Projektionen historischer Grafiken und Sternkarten zu sehen. Als gleichsam bildgebendes, mechanisch justierbares Instrument eigens für das Stück entwickelt und vor den Portalrahmen der Guckkastenbühne montiert, operierte Hannaks Bühnenapparatur intermedial und – mit der so angeregten Reflexion über Weltbilder, ihre Darstellung und wissenschaftliche Beweisbarkeit – auch als visuelle Phänomenotechnik: „Erst am Ende der Aufführung öffnet sich der Raum, und es offenbart sich eine völlig neue Tiefe“, erläuterte er sein szenografisches Konzept, „Galilei hat das alte Exemplarische Positionen und Perspektiven

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33 Aschenputtel, Choreografie: Tim Plegge, Bühne: Sebastian Hannak, Kostüme: Judith Adam, Staatstheater Wiesbaden / Staatstheater Darmstadt, 2015. 34 Szene aus Leben des Galilei von Bertolt Brecht, Regie: Martin Nimz, Bühne: Sebastian Hannak, Kostüme: Jutta Kreischer, Staatstheater Schwerin 2017. Fotos: S. Hannak

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Weltbild widerlegt, und das Publikum ist eingeladen, die Welt anders zu sehen“ (ders. 2017).

Die Plurimedialität des Szenografischen wird in vielen seiner Arbeiten erkennbar verhandelt und akzentuiert; ein markantes Beispiel ist auch seine Bühne für die Produktion Ariadne auf Naxos (Opernhaus Halle, Regie: Paul-Georg Dittrich, 2019). Diese Oper, in den 1910er Jahren in der Zusammenarbeit von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal entstanden als Einakter ‚nebst einem Vorspiel‘, sieht explizit „ein Spiel im Spiele, eine Bühne auf der Bühne“ vor und thematisiert insofern das ­Theatermachen selbst, auch mit Blick auf das Wechselverhältnis ihrer künstlerischen und sozialen bzw. ökonomischen Bedingungen.45 Die Rahmen­handlung lokalisiert das Geschehen in der Villa eines schwerreichen Kunstmäzens, wo das Erstlingswerk eines jungen Komponisten, eine tragische Oper (über die mythologische, von ihrem Geliebten verlassene, unglückliche Figur der Ariadne) sowie ein komödiantisches Singspiel (um eine eher moderne Figur, die leichtlebige Zerbinetta und ihre Liebhaber) an einem Abend aufgeführt werden sollen. Kurzfristig wird von Mäzen und Haushofmeister eigentlich Unmögliches verlangt, nämlich dass beides, Opera seria und Opera buffa, gleichzeitig auf der Bühne gespielt und überdies vor Beginn eines zum Amüsement der Gäste ebenfalls geplanten Feuerwerks beendet sein müssen. Nachdem es im Vorspiel, das teils inmitten des Publikums stattfand, auf der Bühne zwar kein Palais, aber einen ikonischen, gemalten Prospekt aus dem Saal des Wiener Musikvereins zu sehen gab, ließ Hannak – in den Spiel-im-Spiel-Szenen – die im Stück vorgefundenen Gegensätze (Altes vs.

Neues, Mythologisches vs. Profanes, Hochkultur vs. Unterhaltung) geradezu kollidieren: Die Bühne wurde zum Kunstraum mit metallisch-silbernen Wänden (vgl. Abb. 35), darin ein halbes Dutzend pinkfarbene oder grellgrüne, wie billige Massenware gestaltete, teils beschädigte Gipsreplikate von Michelangelos berühmter David-Skulptur und – inmitten des dort auftretenden Ensembles – mehrere Bildschirme mit dem per Video eingespielten, virtuellen Konterfei des Komponisten, der sich (physisch nicht anwesend, da der Rahmenhandlung zugehörig) um die Integrität seiner künstlerischen Arbeit bemühte.

Formal betrachtet, in dieser Theatralisierung, Intermedialität und Kont­ rastierung unterschiedlicher Elemente, Medien, künstlerischer Ausdrucksmittel und Erzählebenen, adressierte die Produktion – metaszenografisch – Aspekte einer Medienkonkurrenz zwischen Theater und anderen Exemplarische Positionen und Perspektiven

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Medien, die freilich auch die traditionsreiche Gattung der Oper betrifft und auf der Seite der Rezeption veränderte (und je nach Medienaffinität) divergierende Publikumserwartungen zeitigt (vgl. Becker 2019).

Die Entwicklung und Realisierung von Raumbühnen (an Mehrspartenhäusern wie den Bühnen Halle oder dem Staatstheater Kassel) bildet den zweiten Schwerpunkt der szenografischen Praxis Sebastian Hannaks. Eine ihrer Besonderheiten ist, dass auch sie – als Architekturen auf Zeit – spartenübergreifend für Produktionen aus den Bereichen Oper, Schauspiel und Ballett/Tanz konzipiert sind und – als variable Settings und eine Art Rauminstrument – für mehrere Wochen oder, wie in Kassel, für die gesamte Dauer einer Spielzeit installiert werden (vgl. Abb. 36 und 37). Als temporäre Interventionen greifen sie nicht nur dezidiert in die Architektur, Bühnenform und in bühnentechnische Gegebenheiten der Häuser ein, sondern verstehen sich als grundständige Arbeit an den Produktions- und Rezeptionsverhältnissen und, in dem Sinne, am Dispositiv des Theaters (hier: des Staats- und Stadttheaters).

Es liegt auf der Hand, dass jede Theaterarchitektur – als Örtlichkeit, Rahmung (oder auch Widerstand) mit den darin gegebenen materiellen, strukturellen und technischen Bedingungen – in die künstlerischen Prozesse mit hineinspielt, die eine Inszenierung konstituieren, und in der Aufführung auch vom Publikum als ein Konstituens des ästhetischen Ereignisses wahrgenommen wird. In ihrer jeweiligen Formation – und als „intelligible Form“46 – bedingen die genannten Faktoren (Architektur/ Bühnenform/Bühnentechnik) wesentlich die Medialität des Theaters mit und sind Elemente seines (in Teilen oder auch insgesamt veränderlichen) Dispositivs. Hannaks Raumbühnen-Projekte, angefangen von seiner HETEROTOPIA-Bühne (Halle 2016/17), gefolgt von weiteren Variationen (den Raumbühnen BABYLON, ebd. 2018/19, PANDAEMONIUM, Kassel 2021/22 und ANTIPOLIS, ebd. 2023/24) zielen offenkundig auf eine künstlerisch forschende Bearbeitung unterschiedlicher, im Dispositiv miteinander verschränkter Parameter und Faktoren. In allen Fällen bedeutete die Realisierung des Raumbühne-Konzepts (jeweils mitgetragen durch den Intendanten Florian Lutz) einen radikalen Eingriff in die Architekturform des Gebäudes (des Opernhauses Halle, des Kasseler Theaterbaus) und zuallererst die (temporäre) Suspendierung der Guckkastenbühne: Die frontalen Fixierungen von Bühne und Zuschauerraum wurden gelöst, indem das Parkett überbaut und – ebenso wie die gesamte Bühne – für Ensemble, Orchester und für das Publikum weitestgehend frei begehbar wurde. Alle 150

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35 Szene aus Ariadne auf Naxos, Oper von Richard Strauss, Text: Hugo von Hofmannsthal, Regie: Paul-Georg Dittrich, Bühne: Sebastian Hannak, Kostüme: Anna Rudolph, Videodesign: Kai W. Meyer; Titelpartie: Anke Berndt (vorne links) und Ensemble. Bühnen Halle/Oper 2019. Foto: S. Hannak

Bereiche des Innenraums (Theatersaal, Hauptbühne, Hinter- und Seitenbühne) sollten variabel bespielbar und möglichst für alle Anwesenden zugänglich sein. Ausgehend von diesem Grundgedanken wurde die räumliche Ordnung mithilfe modularer Elemente (v. a. Gerüstbauteilen) rekonfiguriert, oftmals mit der Drehbühne gearbeitet und für jede Raumbühne ein „Repertoire mit unterschiedlichen Sitzanordnungen“ entwickelt (Hannak 2023, o. S.), sodass – je nach Bedarf einer Opern-, Schauspiel- oder Tanzproduktion – vielerlei räumliche Konstellationen möglich und die jeweils angestrebte Dynamisierung der Bewegungen, Klänge und Blicke szenografisch ‚getriggert‘ wurden. Sebastian Hannak versteht seine Raumbühnen, für die er Walter Gropius‘ und Erwin Piscators Totaltheater-Modell (1926/27), Bert Neumanns „Neustadt“ (2002/03) und diverse Raumexperimente von Rimini Protokoll als Inspiration nennt, insofern als eine Art ‚Makrostruktur‘, als „modifizier- und erweiterbare Grundstruktur“ und „Blaupause eines gemeinschaftlichen Orts, (…) dessen einzige Konstante die Veränderung und der Perspektivwechsel ist“ (ebd.).

Wie lässt sich Hannaks Ansatz – unter dem Aspekt der darin angelegten Architektur- und Medienreflexion – im weiteren Referenzfeld des Exemplarische Positionen und Perspektiven

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S­ zenografischen noch genauer einordnen? Hilfreich mögen zunächst zwei Suchbegriffe („slow“ versus „fast architecture“) sein, die die britische Kunstund Designtheoretikerin Rachel Hann vorgeschlagen hat, um verschiedene Modi des szenografischen Umgangs mit Architektur zu differenzieren.47 Mit ihrer Formel „No architecture is permanent“ geht sie davon aus, dass jeder Architektur (in den Merkmalen ihrer Form, Materialität und Veränderlichkeit ihres Gebrauchs) eine Zeitbezogenheit innewohnt: Die geschlossenen, traditionellen Schauspiel- und Opernhäuser europäischer Prägung (mit Guckkastenbühne und Bühnenmaschinerie, dem Orchestergraben, dem Theatersaal mit Sitzplätzen auf einer bzw. mehreren Ebenen und ihrer zumeist repräsentativen Außenfassade) wären demnach als slow architecture zu beschreiben. Der fast architecture zuzuordnen wären dagegen Konzepte, die entweder in bereits bestehende Gebäude intervenieren und mit modularen Gestaltungselementen temporär neue Strukturen schaffen (wie die Raumbühnen Hannaks), oder aber provisorisch markierte, alternative Theaterarchitekturen, die für den öffentlichen urbanen Raum entwickelt werden.

Ein Beispiel dafür ist der Sommerbau, ein Projekt des Mousonturm Frankfurt (Entwurf und Realisierung: raumlaborberlin und haber turri Architekten BDA), der – als Reinterpretation von Shakespeares Globe und bestehend aus praktikablen Elementen (Baugerüsten) – im Pandemiesommer 2021 als temporäre Open-Air-Spielstätte auf einem Areal zwischen Frankfurt und Offenbach errichtet wurde (vgl. Abb. 79 und 80): Mit solchen Ansätzen versteht sich szenografische Gestaltung nicht vornehmlich als ästhetische Praxis, sondern als „social design“, das auf die Sozialität der Theatersituation und ihre räumlichen Bedingungen reflektiert.48 Beide Varianten zielen darauf ab, die Guckkastenkonstellation zu suspendieren, mit szenografischen Mitteln tentativ aufzulösen und ihr Publikum auf andere Weise zu adressieren: „Wir verändern mit dieser Raumsituation die Situation des Zuschauens; das Publikum ist immer mittendrin“, so ­Hannak (ders. 2018, 76); „Es ist der Versuch, den Publika der Stadt (…) zeitgemäße Andockmöglichkeiten an die Institution Theater (zu bieten). (…) Mein Ziel ist es, mit den Raumbühnen gemeinschaftliche Erfahrungsräume zu gestalten und einen wechselseitigen Austausch zu fördern (…): Aufführungen als offene Gebilde aus Interaktionen“ (ders.

2024, 26).

Die Integration und künstlerische Exploration digitaler Technologien und eine ausgewiesen inter- bzw. transmediale Praxis sind weitere Aspekte 152

Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

36 Raumbühne ANTIPOLIS von Sebastian Hannak, oben: Nutcracker (Aufführungssituation), Choreografie: United Cowboys, Kostüme: Katharina Fitz, Video: Oscar van der Put, Tänzer:innen: Tanzkassel 2023. 37 Carmen von Georges Bizet, Regie: Florian Lutz, Kostüme: Mechthild Feuerstein, Video: Konrad Kästner, Staatstheater Kassel 2023, Blick von der zweiten Etage auf die Bühnenfläche, die Einbauten auf der Bühne und den Publikumsraum (Spielzeit 2023/24). Fotos: Admill Kuyler / S. Hannak Exemplarische Positionen und Perspektiven

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des Hannakschen Raumbühnenkonzepts. Wie beschrieben, zielt das Einrichten multipler Spielflächen und die offene, variable Situierung der Felder von Aktion/Rezeption darauf ab, ‚fluide‘ Klang-, Aktions- und Erlebnisräume entstehen zu lassen und dem Publikum bisher ungewohnte Optionen der Interaktion, Partizipation und Erfahrungen eines stark leiblichen, affektiven Involviert-Werdens in den Aufführungsvorgang nahezulegen. Entscheidender Faktor ist offenbar aber eine ausgefeilte szenografische Praxis im Umgang mit digitalbasierter Licht-, Video-, Audiotechnik und mit Augmented Reality/Virtual Reality-Technologie: In der Raumbühne werden Theaterabende entlang eines minutiösen (…)

Fahrplans inszeniert: über ein Geflecht aus Live-Szenen und deren filmischer Übertragung, Drehscheibenbewegungen, Lichtstimmungen, Auftritten aus allen Richtungen, Einspielungen über Monitor und medial augmentiertem Spiel der Darstellenden – den gesamten Raum, das Publikum immer im Blick. (…) mehrere Live-Kamera-Operator und eine aufwendige Videoregie sowie zusätzliche Filmeinspielungen generieren eine erweiterte Narration. So entsteht in den unterschiedlichen Inszenierungen eine jeweils stückspezifische (…) Erzählstruktur, die die Zuschauenden an allen szenischen Handlungen live und/oder medial vermittelt teilhaben lässt – auf über 20 großen Flatscreens und fünf Leinwänden, die im ganzen Raum verteilt sind. (…) – Mittels der digitalen Vernetzung von theatralen Prozessen, mit AR und VR als virtueller Erweiterung des Spiel- und Erfahrungsraums und der Integration von Film werden starke Immersionseffekte in medial komplexen, hybriden Räumlichkeiten erreicht. (ders. 2024)

Wie bereits mit der ersten Raumbühne dieser Serie signalisiert wurde (­HETEROTOPIA, 2016/17), will der Künstler die so entstehenden Gebilde, im Sinne Foucaults, als heterotopische Räume verstanden wissen, als „Ausnahmeorte“, an denen die Regeln und Ordnungen einer Gesellschaft oder Gemeinschaft „gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet werden“.49 Dass diese Bühnen und ihre digitalbasierte, intermediale Szenografie prototypisch gedacht sind und – als szenografisches I­ nstrument – jeweils in Produktionen aller Sparten (Oper, Sprechtheater, Ballett/ Tanz) operabel sein und „eine größere Variabilität (aller Ausdrucksmittel) fördern und (…) mitgestalten“ sollen, ist demnach ebenfalls Anspruch des Projekts (ebd.).

Mit digitalen Technologien, ihren technischen Funktionalitäten und ästhetischem Potenzialen ergeben sich für die Szenografie zweifellos vielerlei Gestaltungsoptionen und – (1.) inszenierungsbezogen und (2.) auffüh154

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rungsbezogen – auch vielerlei Fragen: zum einen im Hinblick auf ästhetische Praktiken, medientechnische Bedingungen, Mediengebrauch und durch sie veränderte Produktionsabläufe beim Theatermachen. Weitere Fragen betreffen, zum zweiten, die Seite der Rezeption: Indem Architektur und Bühnenformen durch Digitaltechnologien virtuell erweitert, vernetzt und gleichsam neu formatiert werden können, ergibt sich eine Fülle möglicher Interaktions- und Partizipationsformen und, ebenfalls optional, verschiedener Präsenzformen (Zusammenkunft von Spieler:innen/Publikum in ‚leiblicher Ko-Präsenz‘, zudem virtuelle Präsenz, Telepräsenz und Zusammenkünfte in Räumen medial erweiterter Ko-Präsenz) (vgl. Dixon 2019), an deren Erprobung und Ausgestaltung Szenografie konstitutiv teilhat. In diesen Zusammenhängen versteht Sebastian Hannak, nach eigenem Bekunden, seine szenografische Praxis als künstlerisch forschende Praxis und überdies als eine Art Kulturtechnikforschung:50 „Gewohnte Perspektiven aufzubrechen (…) heißt Neuland zu betreten, außerhalb der gewohnten Parameter zu arbeiten, Techniken wie auch Kulturtechniken auszuprobieren …“ (ders. 2024).

Im Zentrum steht dabei die Frage, wie „Digitalität zur Modellierung von Erfahrungsräumen“, die die angestammten Räume von Theaterinszenierung und -aufführung erweitern, produktiv gemacht werden kann (ebd. und ders. 2023, o. S.). Anlass für ein Pilotprojekt, das noch einen Schritt weiter ging, gab die Inszenierung von Alban Bergs Oper Wozzeck (Regie: Florian Lutz) in Hannaks Raumbühne PANDAEMONIUM (Staatstheater Kassel, 2021): Deren Besonderheit war, dass sie vollständig virtuell (d. h. nicht analog, im gebauten Modell, sondern als digitales 3D-Modell) entworfen wurde (vgl. Abb. 59) und auch die Bauprobe digital erfolgte, bevor sie im Kasseler Opernhaus als temporäre Architektur realisiert wurde. Um diesen virtuellen Raum bereits vor der Premiere auch interessierten Zuschauern und Zuschauerinnen zugänglich zu machen, entwickelte Hannak Theatre@Home, eine Mobile App (in Kooperation mit dem Medienkünstler Christian Ziegler): Nach dem Installieren dieser ARApp auf den eigenen Endgeräten (Tabletcomputer, Mobiltelefon) war das Publikum eingeladen, die Raumbühne auf diesem Wege zu erkunden, eine digitale Stückeinführung mit 3D-Avataren der Sänger, Sängerinnen und des Dramaturgen abzurufen (vgl. Abb. 86) und diese Theaterwelt in den eigenen Kontext gleichsam hineinzuspiegeln. Zugleich blieb man während dieses ‚Theaterbesuchs‘ mit dem Körper im materiellen Raum der eigenen, alltäglichen Lebensumgebung verankert. „Ich plädiere für eine Szenografie, die die Virtualität als Gestaltungsparameter berücksichtigt“, so H ­ annak Exemplarische Positionen und Perspektiven

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(ebd.), im Sinne einer Spielart von expanded scenography, die darüber reflektiert, wie sich Theaterräume – virtuell, digital vernetzt, in ihrem (geografischen) Radius und auch als sozialer Raum – erweitern lassen.

Expanding Scenography: Digitalszenografisches Entwerfen im Spannungsfeld zwischen Bühne und anderen Räumen (Philip Bußmann)

Wie dieser Rundgang bisher ergab, sind die Strategien der Szenografie, Theater als ästhetisches Dispositiv, mediale Konstellation sowie Institution und soziales Gefüge zu bearbeiten, oder auch spielerisch zu erweitern, vielfältig, ebenso wie ihre Strategien, mit denen sie ein Publikum adressiert, involviert und – metaszenografisch – über die eigene Praxis und den eigenen Stellenwert als ‚bildende Kunst in der darstellenden Kunst‘ reflektiert. Einmal mehr sei also gefragt: Wie ‚denkt‘ und wie operiert Szenografie?

Diese Fragen lassen sich offenbar nur im Plural beantworten, d. h. im Erkunden ästhetischer und epistemischer Praktiken und im Aufzeigen unterschiedlicher künstlerischer Haltungen und Strategien im Kontext bzw. Widerstreit mit ihren dispositiven Bedingungen. Nimmt man Szenografie, wie in den zuvor untersuchten Beispielen, vor allem im Regietheater in den Blick, wird deutlich, dass sie als Bühnenbild/Bühnengestaltung zum einen – durchaus auch im Sinne ihres traditionellen ‚Kerngeschäfts‘ – Räume schafft, die auf semantischer Ebene Assoziationsangebote vermitteln oder gar erkennbar auf andere Räume verweisen, sei es nun eine Boxarena, ein Galerieraum oder Filmset. Zudem werden Atmosphären und affektive Qualitäten eines Raums evoziert, etwa über Farbe, Form, Volumina, energetische oder materielle Emanationen von ins Spiel gebrachten Dingen oder Beleuchtung. Szenografie – und die Strategien schließen sich untereinander nicht aus – interveniert künstlerisch aber auch in das Theater als Architekturform, bühnentechnischer Apparat und mediale Konstellation, um Elemente des Dispositivs zu bearbeiten, zu reinterpretieren oder auch einzelne Aspekte, z. B. Mediengebrauch, Materialität/Materialverwendung (Stichworte: ökologisch nachhaltiges Design, Digitalität), zu beforschen und – potenziell über einzelne Produktionen oder Experimente hinaus – als veränderbar auszuweisen. Überdies erfährt das Spektrum des Szenografischen, wie im Folgenden gezeigt wird, seit einiger Zeit noch weitere Ausweitungen: In den Blick gerät hier eine große Bandbreite von Ansätzen, die sich jenseits (gebauter) Bühnen und Theaterarchitektur in anderen Kontexten (z. B. Ausstellun156

Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

gen/Museen, öffentliche urbane und mediale Räume) verorten und – als „integrative Inszenierungen“ und „Szenografie partizipativer Räume“ (Divjak 2012) – Konstellationen von (im weiten Sinne als ‚­theatral‘ ausgewiesener) Kommunikation, ästhetischer Reflexion, multi-sensorischer Erfahrung sowie Interaktion, Partizipation und sozialer Begegnung gestalten. Wie bereits eingangs und in Kapitel I.2. dieser Studie dargelegt wurde, werden diese Tendenzen in der anglophonen Szenografie-Forschung als Environmental Scenography oder als Extended Scenography beschrieben und breit diskutiert. Bezugnehmend auch auf die rezenten Editionen der Prager Quadriennale, der internationalen Plattform für Szenografie und Performance Design, wird dabei von der (offenbar in vielen Theaterkulturen geteilten) Beobachtung ausgegangen, dass Szenografie – als ästhetisches Dispositiv (als spatio-temporale Konstellation des Zeigens/Wahrnehmens) – heute in großer Bandbreite hervortritt: „(…) scenography, it seems, can happen anywhere, including ‚our home, a restaurant, a cruise ship, a parking lot, a public square, a theatre venue, a parliamentary building and Everest‘“.51 Mit Blick auf all diese Ausweitungen des Szenografischen war sogar von einem Paradigmenwechsel (Scenographic turn) die Rede, „which is ‚reframing debates and changing established epistemologies in theatre and performance discourse and related cultural, historical, social and ­political fields‘“ (Collins/Aronson, zit. nach McKinney/Palmer 2017, 3). Entsprechend erfährt Szenografie eine (Re-)Definition als Disziplin eigenen Rechts, die – historisch, epistemologisch und formationsgeschichtlich eng mit dem Theater liiert – als inter- bzw. transdisziplinäre Praxis auf diversen Kunst- und Gestaltungsfeldern auftritt: It is a discipline that has its own logic, its own distinctive rules. It can entertain us, work against or attract us. Scenography can be built or it can be found or it can be a combination of the two. It can be built by a scenographer, a collective of artists, an architect or nature itself. It can be found by an actor, a dancer or a spectator. (…) Scenographies are environments that not only determine the context of performative actions, but (…) inspire us to act and (…) directly form our actions. So, how do scenographies make us? (ebd.)

Auch in der Theaterlandschaft im deutschsprachigen Kontext zeigen sich bereits seit Längerem vielfältige Tendenzen erweiterter, experimenteller Szenografie, die in andere Räume intervenieren und/oder ‚site-specific‘ mit Vorgefundenem künstlerisch umgehen, – sei es mit performativen Installationen, Site-specific-Theater oder immersiven Konstellationen, Stadtraumprojekten, Performanceparcours, Audiowalks, Drive-in-Theater, u. a. m. Im Exemplarische Positionen und Perspektiven

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Dispositiv des Theaters sind sie auch im Zusammenhang mit weiterreichenden Entwicklungen zu sehen, die sich in der Veränderung ästhetischer Praktiken, Produktionsweisen, institutioneller Strukturen sowie in Subvention und Kunstförderung zeigen: Nach der Herausbildung des Regietheaters in den 1960/70er Jahren (das nicht zuletzt auch die Option eröffnete, andere Orte, wie urbane Plätze, Fabrikhallen, Parks usw. zu bespielen), brachten die 1980/90er Jahre die Einrichtung von Theaterproduktionshäusern, eine vermehrte öffentliche Förderung der Freien Szene und verstärkte Sichtbarkeit internationaler Festivals (Theater der Welt, Theaterformen, u. a.) sowie eine Durchlässigkeit und wechselseitige Beeinflussung der genannten Sektoren; seit den Nullerjahren artikuliert sich zudem ein verstärkter Bedarf am Erproben neuer Modelle künstlerischer Kooperation (vgl. Siegmund/Aggermann 2020). Diese Transformationen im Dispositiv, die an dieser Stelle nur angedeutet werden können, bedingten wiederum auf der Ebene des Künstlerischen Veränderungen (vgl. die von Siegmund vorgeschlagenen Formeln ‚Von der Interpretation (von Repertoirestücken) zur Produktion (vielfältiger Formate)‘ und ‚Vom Guckkasten zur Situation‘, ders. 2020). Auch im Hinblick auf eine sich zeitgleich abzeichnende Ausdifferenzierung des Szenografischen hatten diese Entwicklungen Katalysatorfunktion: Indem auch die Szenografie ihre ästhetischen und epistemischen Praktiken modifizierte und erweiterte, ist sie an all diesen Umbrüchen als integraler Gestaltungsfaktor beteiligt.

Unter den genannten, veränderten Bedingungen des Dispositivs und angesichts der potenzierten Vielgestaltigkeit der Szenografie ist gleichwohl nicht mehr leicht zu umreißen, wie sie als gestaltender Faktor in Theatersituationen auf und jenseits (gebauter) Bühnen fungiert. Nach Aronson, der mit seinem komparatistischen Blick auf verschiedene Theaterkulturen (und insbesondere jene, die über internationale Netzwerke und Festivals verbunden sind) ähnliche Tendenzen konstatiert, besteht ihr Beitrag weiterhin zuallererst darin, visuelle und räumliche Organisationsprinzipien in Theaterinszenierungen und in die nunmehr vielfältigen Formate von Theaterperformances einzubringen („a set of ‚visual and spatial organizing principles‘“, zit. nach Groot Nibbelink 2019, 102). Zudem wird seither immer wieder ihr Prozesscharakter betont (McKinney/Butterworth 2009) und darauf hingewiesen, dass sie, indem sie ästhetische Konstellationen des Zeigens/Wahrnehmens generiert, überdies das Potenzial hat, ‚dritte‘ Räume für Begegnung, (soziale) Interaktion, Kritik und alternative Relationen entstehen zu lassen (shared spaces). Demnach sind Szenografien eben 158

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38–39 City of Abstracts, ortsbezogene Installation von William Forsythe, Video-SoftwareEntwicklung: Philip Bußmann, Frankfurt am Main, Opernplatz / Hauptwache 2000 und weitere Orte (hier: Tate Modern, London 2009, mit Zufallspublikum), zuletzt Museo Nacional de Bellas Artes, Buenos Aires, 2023, und Pinakothek der Moderne, München, 2023. Fotos: P. Bußmann Exemplarische Positionen und Perspektiven

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nicht nur Elemente oder Dekor einer Aufführung, sondern Entwürfe (oder Raumpartituren), die aufgeführt werden. McKinney/Palmer bestimmten das Szenografische in ihrem Band Scenography Expanded (2017) als „mode of encounter and exchange founded on material and spatial relations between bodies, objects and movements“ (ebd., 2) – im Sinne einer eher konzeptbasierten (und zuweilen ‚unsichtbaren‘) Szenografie, die sich erst in der Partizipation und Interaktion jeweils Beteiligter zeigt. Einem so erweiterten Begriff zufolge (der Begrifflichkeiten von Komposition und Choreografie berührt) setzt Szenografie verschiedene Elemente, Materialien, Körper und Medien performativ zueinander in Beziehung. Weiterhin von Belang ist, dass sie – gleich auf welchem Feld – ihrer Herkunft nach eng mit dem Theater liiert bleibt: „When expanding or travelling, this theatre-based luggage – full of concepts, histories and practical experience – is taken along“ (Groot Nibbelink 2019, 103).

Dies vorausgeschickt, sei im Folgenden mit City of Abstracts (Frankfurt am Main und andere Orte, 2000–2023) exemplarisch eine performative Installation William Forsythes in den Blick genommen, die als Arbeit des US-amerikanischen Choreografen – sie entstand unter Mitwirkung des Bühnenbildners und Videodesigners Philip Bußmann, der die Video-Softwareentwicklung übernahm – üblicherweise nicht unter dem Aspekt der Szenografie, sondern mit einem erweiterten Choreografie-Begriff besprochen wird.52 Dass Forsythe diese Arbeiten, die als begehbare Installationen und partizipative Konstellationen aus räumlich angeordneten Medien und Dingen konzipiert sind, auch als „choreographic objects“ bezeichnete (Gaensheimer/Kramer 2016, 56), bringt gleichwohl zum Ausdruck, dass darin beides, als Szeno-/Choreografie, aufs Engste miteinander verbunden ist. City of Abstracts war nach der Premiere (Frankfurt 2000) an 35 Orten in Europa und auch weltweit (vor allem in Nord- und Südamerika sowie Asien) zu erleben. Entweder in großräumigen Theaterfoyers, Museumshallen oder an öffentlichen, urbanen Plätzen installiert, bestand das Projekt aus einer großformatigen interaktiven Videowand, die die Besucher:innen einer Aufführung respektive Ausstellung oder auch ein Zufallspublikum involvierte (Abb. 38 und 39). Aufgezeichnet mit einer Kamera, wurden die Bewegungen der anwesenden Personen – per Live-Übertragung und vermittels der von Bußmann programmierten Computersoftware – in einem Closed-Circuit-System auf der Videowand zeitversetzt und gemorpht wiedergegeben: Dort wurden sie sichtbar als (offenkundig technisch verfremdete) Spiegelbilder, aber ohne spiegelbildliche Seitenverkeh160

Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

rung. Besucher und Besucherinnen waren angehalten, zu erkunden, wie diese Anordnung (phänomeno-)technisch funktioniert und wie sich die eigentümlich verzerrten Bilder des eigenen Körpers, die auf dem riesigen Bildschirm erschienen, durch Bewegungen im Raum und eigenes Verhalten beeinflussen lassen. Ließ man sich darauf ein, wurde man mit seinen Bewegungen und dem digital zum Fließen gebrachten Körperbild – vor den Augen aller Anwesenden und selbst in beobachtender Position – zur Akteurin bzw. zum Akteur. Generiert wurde somit eine Theatersituation, die – als ästhetische und soziale Situation – spielerisch Anlass gab für Interaktion und Medienreflexion. Jede vollführte Bewegung war zugleich eine Befragung dieser Situation (oder genauer: des ihr zugrunde gelegten, aber verborgenen technikbasierten Steuerungssystems). Überdies bot City of Abstracts Anlass für Reflexionen über Virtualität: Das Virtuelle gehört zum Körper dazu (…). Immer sagt das Virtuelle, hier ist etwas, wo eigentlich nichts ist. Das Virtuelle ist ein Zusatz zum Leben, die Schnittstelle zum Leben. Das Virtuelle gehört zur Etablierung von Realität, nicht zu dem, was man dem Virtuellen nachsagt, dem bloß Irrealen und Immateriellen,

so Forsythe einmal über Idee und den konzeptionellen Ansatz seiner intermedial angelegten Arbeiten;53 Digital Video ist demnach ein integraler Faktor dieser und weiterer Produktionen der Forsythe Company, in denen Bühne, andere Räume (Ausstellung/Museum, urbaner Raum) sowie Digitalität und Explorationen virtueller Körper- und Räumlichkeit experimentell miteinander verknüpft wurden (wie z. B. auch im Bühnenstück Kammer/­Kammer, 2000, der Installation You made me a Monster, 2005, u. a.), und für die der Szenograf Philip Bußmann seit Anfang der Nullerjahre das Video-Software-Design übernahm. Bevor er seine Zusammenarbeit mit Forsythe am Ballett Frankfurt begann, war er mehrere Jahre lang Mitglied der New Yorker Wooster Group, die durch viel beachtete Gastspiele auf internationalen Festivals (wie Theater der Welt, u. a.) signifikant dazu beitrug, das Bühnenvideo als künstlerisches Mittel des sogenannten postdramatischen Theaters zu etablieren. Seither ist Bußmann, der an der Stuttgarter Kunstakademie bei Jürgen Rose studierte und von Haus aus Bühnen- und Kostümbildner ist, als Videodesigner und Video-Softwareentwickler an Theatern deutschland- bzw. europaweit in unterschiedlichen Konstellationen tätig. Hinzukommen (zumeist abstrakt gehaltene) Bühnengestaltungen für Sprechtheater- und Opernproduktionen, u. a. mit dem Regisseur Luk Perceval, und im Tanzbereich z. B. mit Wanda Golonka.

Exemplarische Positionen und Perspektiven

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Als Bühnenbildner und Videokünstler am Theater arbeitet Bußmann (offenbar in Weiterentwicklung seiner v. a. in der Kollaboration mit Forsythe gefundenen Mittel) häufig mit Spiegeleffekten, Live-Video (oft zeitversetzt) und Video-Loops, die Bühnenfiguren virtuell multiplizieren, und weiteren optischen Strategien, die den Bühnenraum visuell aufsplittern und so eine Dezentrierung des Raums, der Bildebenen und Perspektiven bewirken. Als freier Künstler realisiert er überdies eigene Theaterarbeiten mit seiner Kompagnie 2+ sowie Performance-, Film- und Medienkunstprojekte, die am Museum für Moderne Kunst Frankfurt, am Los Angeles Center for Digital Art und an Goethe-Instituten (in Montreal, Tokio u. a.) präsentiert wurden.54 Mit diesem Profil, seinen Schwerpunkten in Videodesign, Medienkunst und Digitalität und geprägt durch die Bedingungen einer sich verändernden Theaterlandschaft, mäandert Bußmann zwischen einem seit den 1980/90er Jahren zunehmend etablierten, auf Internationalität ausgelegten Koproduktionstheater (das sich v. a. über die mit ihm verbundenen Erwartungen künstlerischer Innovation legitimiert), dem (von seinen Kritiker:innen als ‚monolithisch‘ empfundenen) deutschen Staats- und Stadttheaterbetrieb und auch der hiesigen Freien Szene.55 „Ich habe kein Atelier, mein Atelier ist in meinem Kopf“, erklärte er einmal in einem Interview,56 und bedenkt man, dass er als Szenograf vor allem digital entwirft, programmiert und seine Räume und Videoarbeiten intermedial konzipiert, erscheint dies nachvollziehbar. Was die Integration der Videokamera und die Implementierung und künstlerische Reflexion des Bühnenvideos als Gestaltungselement in die szenografische Praxis angeht, gehört Bußmann seit den Nullerjahren, neben dem (ebenfalls durch längere Zusammenarbeit mit der Wooster Group sowie mit Laurie Anderson geprägten) Videodesigner Chris Kondek, oder auch Videokünstler:innen wie Jan Speckenbach oder Meika Dresenkamp (die zunächst v. a. im Kontext der Berliner Volksbühne bekannt wurden), im deutschsprachigen Theater zu den namenhaften Protagonist:innen. Dieses vielfältige Erproben intermedialer Ansätze, das spätestens seit der Jahrtausendwende sowohl an Theaterhäusern wie auch in der Freien Szene zu beobachten ist (vgl. Wiens 2014), bedeutete nicht nur eine Ausdifferenzierung szenografischer Ästhetiken, sondern in der Tat einen Scenographic Turn: Mit medientechnischen Apparaten wie der Videokamera wird eine (wie immer angelegte) Bühne nicht mehr als Situation eines ‚Hier und Jetzt‘, sondern vielmehr – sofern man die Kamera als ‚Quasi-Objekt‘ versteht,57 das die ins Spiel involvierten Akteur:innen, Publika miteinander verknüpft, virtuelle Bilder produziert, modifiziert, verbreitet und so den Vorgang des Zei162

Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

gens (bzw. Verbergens) und des Wahrnehmens wesentlich mitprägt – als komplexes, mediales Gefüge erlebbar.

In der (anglophonen) Theaterforschung führte zuletzt insbesondere die Integration des Digital Video (mit seinen Optionen der Live-Übertragung und der Echtzeit-Manipulation) zur Diskussion um eine ‚Taxonomie‘ multimedialen Theaters (taxonomy of multimedia theatre) (vgl. Dixon 2019, 134); im Hinblick auf die künstlerische Integration von Video sei demnach zu unterscheiden: (1.) zwischen der Einspielung von Videomaterial (vorproduziert oder live generiert) als integralem oder gar primär gestaltendem Element einer Szene (primary medium), (2.) seiner Einspielung (als ergänzendem visuellem Element oder Hintergrund (secondary medium, back-projection) und (3.) der „dialogischen“ Verwendung von Live-Video (video as dialogic medium).58 Mit Blick auf Konstellationen jenseits (gebauter) Bühnen (environmental scenography, digitally expanded scenography) kommt – wie am Beispiel von City of Abstracts gezeigt wurde – überdies noch eine weitere Spielart hinzu: In dieser polylokal auf beliebig viele, unterschiedliche Örtlichkeiten applizierbaren Installation werden Szenografie und Choreografie (in je sehr weitgefasster Definition) als interdependent verstanden; dies bedeutet, dass Raum und Bewegung in den Theatersituationen als voneinander untrennbare Erfahrungsdimensionen akzentuiert werden. Weil Videokamera und Video-Software als integrale Elemente oder sogar als Treiber und steuernder Faktor in dieser (ansonsten offen gehaltenen) Theatersituation operieren, ist (4.) von medial extendierter Szeno-/Choreografie zu sprechen (und von Video/Video Softwaredesign als steuerndem Faktor). Indem Aspekte des Szenografischen dabei aus der Ebene des Sichtbaren, Greifbaren auf eine andere (nämlich in die operative Ebene von Software und Programmierung) verlagert wurden, fungiert Szenografie hier, um eine Formulierung Pamela Scorzins aufzugreifen, als „… Strukturierung, Programmierung, Organisation und Steuerung einer (…) Interaktionssituation (und) adressatengerichteten Konfiguration (…), die eine gemeinschaftliche (…) Wissensproduktion, experimentelle Spielräume und innovative Kreativitätsprozesse befördert“.59

Exemplarische Positionen und Perspektiven

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Flexible Formate, plurale Verortung: Szenografie und Multilokalität (Rimini Protokoll)

Mit den skizzierten Merkmalen der drei Theatertypen Regie-, Koproduktions- und Netzwerktheater, die sich in den vergangenen Dekaden als nebeneinander operierende bzw. konkurrierende Institutionen und künstlerische Betriebssysteme entwickelt haben, ergeben sich immer wieder Fragen nach dem Verhältnis zwischen Ästhetiken des Szenografischen und den je gegebenen Bedingungen szenografischer Praxis: Welche Effekte zeitigen Veränderungen der dispositiven Bedingungen auf Gestaltungsebene?

Mit völlig neuer Dringlichkeit stellten sich solche Fragen, als im Frühjahr 2020 – nach dem weltweiten Ausbruch der Coronapandemie, die, als „exogener Schock“ besonders für die aufführenden Künste,60 eine Zäsur bedeutete – alle Theater (d. h. die Staats- und Stadttheater, die Freie Szene und die internationalen Produktionshäuser und Festivals) ihren regulären Spielbetrieb auf unabsehbare Zeit unterbrechen mussten. Unter den Extrembedingungen dieses Notstands und angesichts geschlossener (bzw. unter Abstandsgebot eingeschränkt zugänglicher) Spielstätten war die Bereitschaft allgemein groß, in Auseinandersetzung mit Bühnen/Bühnenformen sowie mit Digitalmedien, Telekommunikation und Internet alternative Spielkonstellationen zu erproben. Für die Szenografie, deren Kompetenzbereich damit zentral berührt war,61 ergaben sich damit bereits bekannte (im Experimentierfeld des digitalen und intermedialen Theaters jedoch eher marginal gebliebene) Problemstellungen, die – über seine ästhetische Praxis hinaus – grundlegende Fragen nach der Medialität und, unter veränderten Vorzeichen, Fragen nach der Sozialität des Theaters betrafen. Musste, gemäß geltender Definition, das Zusammenkommen im ‚geteilten Hier und Jetzt‘, also die Versammlung von Darstellenden und Zuschauenden an einem Ort, weiterhin als zentrales Konstituens von Theaterkunst gelten,62 oder wie konnten Inszenierungen/Aufführungen noch anders gedacht und in erweiterten auf räumliche Distanz und D ­ islozierung angelegten Spielkonstellationen als Theater bzw. theaterverwandtes Ereignis erlebbar werden?

Im Rückblick lässt sich konstatieren, dass unter Pandemiebedingungen besonders aus dem Bereich des Freien Theaters flexible Lösungen kamen, von denen einige auch danach künstlerisch relevant blieben:63 Dazu gehört, um ein einschlägiges Beispiel zu nennen, The Walks (2021), eine Produktion des Berliner Kollektivs Rimini Protokoll. Variable Gestaltungen und Reinterpretationen von Bühne bzw. Spielsituation kennt man lange schon insbesondere von vielfältigen Experimenten eher lokal in 164

Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

Erscheinung tretender freier Gruppen;64 hinzu kamen – mit den veränderten Rahmenbedingungen und den Förderprogrammen eines verstärkt auf Interdisziplinarität und Internationalität ausgerichteten Theaterdispositivs – etwa seit den Nullerjahren Produktionen freier Kompanien, die, wie Rimini Protokoll, auch in weit größerem geografischen Radius bekannt wurden. Die neodokumentarischen Theaterarbeiten, Bühnenstücke, Hörspiele, szenischen Installationen, Interventionen, partizipativen Projekte und vielgestaltigen Raumexperimente der Theatergruppe, deren Produktionsbüro seit 2003 im Kreuzberger Hebbel Theater verankert ist, werden seither in einem nahezu weltweit verzweigten Produktionsnetzwerk realisiert und (mit Unterstützung u. a. des Goethe-Instituts) vor allem auf internationalen Festivals präsentiert.

Da die Gruppe um Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel im Dispositivbereich des Koproduktions- und Netzwerktheaters (und nicht in dem des Regietheaters) operiert, erfolgen Aufgabenverteilung und Besetzung theaterüblicher Positionen (Regie, Dramaturgie, Bühnenraum, Kostümbild) flexibel. Unter den genannten drei Mitgliedern, die das Kernteam des Kollektivs bilden und die sich vom Studium der Angewandten Theaterwissenschaft in Gießen kennen, gab es von Anfang an keine ausgewiesene professionelle Spezialisierung auf eine der Aufgaben. Danach gefragt, wie sie sich selbst und ihre Funktionen definieren, lautete die Antwort: „(…) als Autoren. Aber wir sind auch Filmer, Schneider, Komponisten, Bühnenbildner (sic!), überhaupt Ausdenker und Ausprobierer, TonAngler, Fragen-Geher, Schlappen-Einstecker und zuversichtliche Zweifler“ (zit. nach Oberländer/Peter 2008). Das heißt nicht zuletzt: Die Aufgabenprofile sollen in dieser künstlerischen Praxis maximal flexibel bleiben.

Dazu passt auch, dass sie in all ihren Produktionen, die stets auf aufwendigen Recherchen basieren, nicht mit professionellen Schauspieler:innen, sondern mit Laien arbeiten, die jeweils themenbezogen engagiert werden, um als Expert:innen (ihrer Biografie, Berufsgruppe, wissenschaftlichen Disziplin oder Lebenswelt) zu Wort oder, in den Bühnenstücken, auch zum Auftritt zu kommen (vgl. Schipper 2021, Wahl 2021). Signifikantes Merkmal aller ihrer Stücke und vielgestaltigen Formate (sei es Bühnenstück, performative Installation oder Stadtraumprojekt) sind zudem künstlerische, meta-theatrale Auseinandersetzungen mit dem Verhältnis von Ort/ Spielort und Raum und überhaupt mit Raumfragen des Theaters auf und jenseits (gebauter) Bühnen. Dass in allen diesen Spielanordnungen stets szenografische Verfahren zur Anwendung kommen, belegt nicht nur ein von Barbara Ehnes mit Haug, Kaegi und Wetzel geführtes Ateliergespräch Exemplarische Positionen und Perspektiven

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(vgl. dies. 2021), sondern zeigt sich auch explizit darin, dass ausgewiesene Bühnenbildner:innen und Szenograf:innen (wie Dominic Huber, Evi Bauer) sowie freiberufliche Licht-, Video- und Mediendesigner:innen zum erweiterten Kreis um das Dreierkollektiv zählen. Ein explorativer Umgang mit anderen Medien (Telefon/Satellitentelefonie, digitale Medien, Internet), partizipative Konzepte und variationsreiche Strategien der Publikumsinvolvierung sind weitere Merkmale, die die vielfach (u. a. mit dem Silbernen Löwen der Theaterbiennale Venedig 2011) prämierten Produktionen der Gruppe kennzeichnen. Entsprechend umfasst ihr Repertoire künstlerischer Praktiken neben dem Kompilieren und Bearbeiten des (zumeist nichtliterarischen) Textmaterials für Bühnenstücke oder Hörspiele, explizit auch intermediale Bezugnahmen auf visuelle und akustische Erzählformen etwa des Films, der Video- oder Gaming Culture sowie auf Verfahren künstlerischer Raumerkundung, die man aus der bildenden Kunst kennt (z. B. Methoden des Mapping oder der Promenadologie).65 Dabei werden ‚theaterfremde‘ Texte, Skripts und Schaubilder (Stadtansichten, Stadtpläne, Landkarten, grafische Darstellungen von Daten, Informationen, Statistiken u. a. m.) konzeptionell immer wieder so integriert bzw. komponiert, dass sich aus ihnen die dramaturgische und szenografische Struktur der Spielanordnungen ergibt und sie deren ästhetische Form wesentlich bestimmen. Gleichwohl, wie Stefan Kaegi betonte, blieb das Theater das zentrale Referenzmedium ihrer Produktionen: „(…) wir bestehen meist darauf, dass es sich um Theater handelt. Dieser tendenziell konservativere Kontext bringt viele Gesetze mit sich, deren Rahmen wir interessant finden“.66 Geht man davon aus, dass sich die Theaterarbeiten des Kollektivs nach den Kategorien Bühnenstück, performative Installation, Stadtraumprojekt unterscheiden lassen, dann gehört die Produktion The Walks zur dritten Kategorie. 2021 als Audiowalk und Serie von Kurzhörspielen konzipiert, wird, wie auf der Website der Gruppe zu lesen ist, damit eine Aufforderung zum Spazierengehen signalisiert und ein (auf diesem Weg gefundenes) Publikum dazu animiert, die eigene Umgebung „neu zu entdecken und mit ihr zu interagieren“.67 Die dafür entwickelte App, die man seither gegen eine kleine Gebühr auf das eigene Mobiltelefon herunterladen kann, enthält ein Menü, das zu insgesamt zehn Spaziergängen (mit den Titeln Aufbruch / 40–42 Rimini Protokoll: The Walks, Audiotour (via App), 2021, Szenen mit Teilnehmer:innen. Text und Regie: Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel, Idee, Dramaturgie: Cornelius Puschke, App-Development: Steffen Klaue, Alexander Morosow. Fotos: Expander Film

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Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

Exemplarische Positionen und Perspektiven

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Park / Ampel / Supermarkt / Kreisverkehr / Theater / Straße / Friedhof / ­Wasser / Spielplatz) einlädt, die in sechs verschiedenen Sprachen und wahlweise in jedem Stadtraum weltweit absolviert werden können: The Walks versteht das Gehen als theatrales Szenario. Ein audio-geführter Spaziergang in Parks, ein inszenierter Besuch in Supermärkten oder eine getaktete Interaktion an Gewässern: In jeder Stadt werden unter der Begleitung von Stimmen, Geräuschen und Musik vertraute Orte zu Schauplätzen und Landschaften zu Bühnen: durch Erzählungen, dialogische Situationen, choreografische Erkundungen oder musikalisch-rhythmische Variationen des Gehens (…) (ebd.).

Wenn gemäß diesem breiten Theater- und Szenografie-Begriff die Verortung ‚theatraler Szenarien‘ nicht mehr an ausgewiesene Schauanlagen (Bühnenraum, Theaterarchitektur oder anderweitig markierte Bühnenform) gebunden wird, bedarf es anderer Dispositive, und im Fall von The Walks fungiert als szenografisches Medium (oder vielmehr: mediales Dispositiv) das Mobiltelefon. Wenn nach Agamben als Dispositiv alles bezeichnet werden kann, „was irgendwie dazu imstande ist, die Gesten, das Betragen, die Meinungen und die Reden der Lebewesen zu ergreifen, zu lenken, zu bestimmen, zu hemmen, zu formen, zu kontrollieren und zu sichern“ (ders. 2008, 26), so lässt sich auch das Mobiltelefon (das Agamben explizit dazu zählte) als Dispositiv auffassen. Man kann auch sagen: In Rimini Protokolls Produktion The Walks fungieren die portablen Telefone, Kopfhörer und die eigens entwickelte Software als Mittler, Aktant und Steuerungsinstrument eines (im weitesten Sinne als ‚Aufführung‘ zu bezeichnenden) Vorgangs. Das Szenografische solcher Anordnungen (die, im Sinne Aronsons, digitaltechnologisch avancierten Spielarten der environmental scenography zuzurechnen sind) liegt darin, wie sie Texte, Informationen, Erzähl- und Klangmodule, Positions- und Handlungsanweisungen und visuelles Material als (optional wählbare) Spielelemente über technische Medien bereitstellen und, sofern ein Publikum darin aktiv partizipiert, ästhetische Kommunikations- und Wahrnehmungsräume en­ tstehen lassen.

Da die Sequenzen von The Walks auf jeden beliebigen Park, Supermarkt oder Friedhof weltweit ortsungebunden (multilokal ) applizierbar sind, lässt sich dieser konzeptionelle Ansatz überdies als szenische Topik beschreiben, wobei sich – im Spielverlauf – Gehörtes, Fiktives und Fakten (wie z. B. in der Sequenz „Friedhof“ zum Thema Trauern und Erinnern) und 168

Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

43 The Walks, Audiotour (via App), 2021ff., Sequenz „Friedhof“, Videostill der Weltkarte, auf der der Standort des Teilnehmers und ein von ihm hochgeladenes Foto lokalisiert und mit einem roten Pfeil für andere sichtbar markiert wurden. Foto: Screenshot (BW), www.rimini-protokoll.de

die Realität der jeweiligen Umgebung überblenden: ein Effekt, der als „Walkman Effect“ und als Erlebnis „klangbasierter Szenografie“ (scénographie sonore) beschrieben wurde (Kim 2024). Das Spezifikum solcher ‚Theatersituationen‘ liegt darin, dass die veränderte, intensivierte Wahrnehmung der Umgebung, die der oder die Einzelne beim Gehen, Schauen, Hören (via Kopfhörer) erfährt, nicht geteilt wird; als ‚Ein-Personen-Publikum‘ bleibt man gegenüber unbeteiligten Passant:innen ebenso wie auch gegenüber anderen Teilnehmenden, die zeitgleich unterwegs sind, auf Distanz gestellt. Der wohl interessanteste Moment ergibt sich, wenn man am Ende einiger Sequenzen von der Stimme aus der App gebeten wird, von einem Motiv eigener Wahl ein Foto zu machen und dieses zu übermitteln, sodass das Bild nebst Standortmarkierung online auf einer digitalen Weltkarte erscheint, die ebenfalls Teil dieser intermedialen Szenografie ist (vgl.

Abb. 43): Dort kann man dann sehen, wann und an welchen Orten Menschen weltweit bereits an The Walks teilnahmen und in einer „Galerie“ die aufgenommenen und hochgeladenen Bilder betrachten.

Wenn das Theater zur Karte greift, um sich im Spannungsfeld zwischen ‚lokal‘ und ‚global‘, zwischen dem ‚Hier und Jetzt‘ und einem ‚Anderswo‘ zu verorten, überschreitet es die basalen vier Raumkategorien, Exemplarische Positionen und Perspektiven

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unter denen Aufführungsvorgänge üblicherweise beschrieben werden: Theaterarchitektur und Bühne (theatraler und szenischer Raum), Aufführungsort/Stadt/Umgebung (ortsspezifischer Raum) sowie Drama/Theatertext (dramatischer Raum), in paradigmatischer Weise (zugunsten einer veränderten, um multilokale und transkulturelle Perspektiven erweiterten Raumpraxis). Über das Verhältnis von Kartografie und Szenografie finden sich Überlegungen in einer viel rezipierten Schrift des Soziologen Michel de Certeau über die „Erfindung des Alltags“ (L’Invention du Quotidien: Arts de Faire, 1980): „Die Karte (…) ist ein ‚Theater‘“, heißt es da.68 Die Karte, als ­Instrument und Medium zur visuellen Vergegenwärtigung von Orten und Territorien, hat demnach zwei Aspekte: zum einen, dass sie abstrahiert und äußerst heterogene Orte transformiert, indem sie diese mit Mitteln darstellender Geometrie ins Bild setzt, und zum anderen, dass Karten ihrerseits ein bestimmtes Raumwissen und -verhalten nahelegen, gar verlangen und somit keine neutrale Indikatorfunktion haben, sondern ihre Weltbilder performativ hervorgebracht werden: „Die Karte, dieser Gesamt-Schaupatz, auf dem eigentlich disparate Elemente vereint sind, um ein Bild vom ‚Stand‘ des geografischen Wissens zu geben, (…) verbirgt (…) (wie) hinter ‚Kulissen‘ (…) diejenigen Handlungen, deren Ergebnisse oder künftige Möglichkeit sie ist. Sie allein bleibt übrig, (…) die Akteure sind verschwunden …“ (ebd.).

Wer Karten benutzt (wie The Walks den Teilnehmenden nahelegt), fragt nach dem eigenen Ort und setzt sich über seinen unmittelbaren Umraum hinaus in Relation zu geografisch entfernten Orten; im Theater, unter der für diese Kunst als konstitutiv gesetzten Bedingung der leiblichen Ko-Präsenz im ‚Hier und Jetzt‘, geschieht dies normalerweise nicht.

Im Repertoire von Rimini Protokoll dagegen finden sich vielerlei Produktionen, die mit multilokalen Ortsbezügen, Mapping-Verfahren und Praktiken künstlerischer Kartografie arbeiten:69 Es sind ‚reisende Konzepte‘, die, im Unterschied zu Gastspielen, nicht fertige Inszenierungen, Ensembles und Bühnenbilder auf Tournee schicken, sondern ihre Texte und Abläufe ortsspezifisch applizieren. Ein Beispiel dafür ist das mobile Format 100% Stadt (Haug/Kaegi/Wetzel, 2008), das Statistiken und aktuelle Umfragewerte mit je 100 Mitwirkenden aus der jeweiligen Stadt in Bühnenstücken zu Gruppenbildern formt und seither u. a. in Berlin, London, Vancouver, São Paulo, Seoul und Hong Kong realisiert wurde. Ein weiteres Beispiel, konzipiert als Audiotour, ist das ‚Glokalisierungsformat‘ Remote X (Stefan Kaegi/Jörg Karrenbauer, 2013), mit dem Teilnehmende von einer künstlichen Stimme, ähnlich wie man sie von GPS-Tracking und Navigations170

Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

systemen kennt, gruppenweise durch bisher weltweit rund 80 Städte geführt werden (vgl. Abb. 3), wobei das ortsspezifische Applizieren der Erzählmodule, Informationen und der szeno-/choreografischen Steuerung der Bewegungen, Handlungen und Blicke im Raum im Vorfeld jeweils komplexe Transfers und Übersetzungen auf inhaltlicher, künstlerischästhetischer und organisationaler Ebene erfordert. Damit stellt sich – auch szenografiebezogen – die Frage nach der kulturellen Spezifität und transbzw. interkulturellen Übertragbarkeit solcher Konzepte, die kontextbezogen an anderen (ästhetischen, sozialen, politischen oder ethischen) Dispositiven rühren und in einigen Ländern explizit an Grenzen stoßen.70 Diese Frage, die Pamela Howard in ihrem für die (anglophone) ­Szenografie- und Performance Design-Forschung impulsgebenden Band What is Scenography? (2002) schon vor Längerem aufwarf, ist weiterhin offen. Kontroverse Diskussionen um Auffassungen des Szenografischen als Hyper-Disziplin oder ‚global art form‘ führten – durchaus im Blick auf die internationalen Verflechtungen der Theaterkulturen – zu der Einsicht, dass szenografisches Gestalten, Rezeption, Publikumserwartungen und die Sozialität szenografierter Räume sowie die dispositiven Bedingungen künstlerischer Produktion nicht universell, sondern stets situiert sind und insofern immer auch kontextbezogen betrachten wären (vgl. Aronson 2018a, von Arx 2019).

Der Fokus dieses „Rundgangs“ lag vornehmlich auf der Auseinandersetzung mit aktuellen Tendenzen dieser ‚bildenden Kunst in der darstellenden Kunst‘ in der Theaterlandschaft im deutschsprachigen Raum; im Blick auf exemplarische Positionen wurde deutlich, wie sehr szenografisches Gestalten sich unter den Bedingungen von etabliertem Regietheaterbetrieb, Freier Szene bis hin zum internationalen Koproduktions- und Netzwerktheater spätestens seit der Jahrtausendwende ausdifferenzierte und auch, dass keine bestimmte Tendenz, Schule oder Stil dominiert.

Diese Vielfalt ist kein beliebiges Sammelsurium; wie mit den angeführten Beispielen aufgezeigt wurde, lassen sich vielmehr markante Aspekte benennen. Ein Aspekt, der sich erkennbar durchzieht, ist (a.) das Betonen des Szenografischen als einem integralen künstlerischen Faktor in Theaterproduktion und -aufführung sowie die Reflexionen über Autorschaft/ Autorfunktion in der Szenografie und das Sichtbarwerden prägnanter künstlerischer Signaturen. Damit verbunden ist oftmals ein Erproben veränderter Modelle künstlerischer Kollaboration, von der Dehierarchisierung der Funktionen Regie/Szenografie/Dramaturgie (verstanden als „selbstbeExemplarische Positionen und Perspektiven

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stimmtes Zusammenwirken (…) verschiedener Talente“ (Bert Neumann), in Revision auch älterer Modelle (z. B. Brecht/Nehers), oder der Übernahme von Regie/ Szenografie in Personalunion (bei Ulrich Rasche) bis hin zur weitestgehend offenen, flexiblen Behandlung künstlerischer Aufgabenprofile (Rimini Protokoll). Zudem zeigt sich, (b.) dass Szenografie mit allen bekannten Bühnenformen arbeitet (vgl. Abb. 6): so weiterhin mit der Guckkastenbühne, deren Materialität bearbeitet und performativ ins Spiel gebracht wird (vgl. Brack, oder eco-szenografisch: Ehnes) und deren ­Architekturform, Bühnentechnik und mediale Konstellation reinterpretiert, multi-/inter- bzw. transmedial und metaszenografisch reflektiert wird (z. B. Ehnes, oder anders: Rasche). Oder, alternativ, mit der Raumbühne (vgl. die temporären Architekturen und Rauminterventionen Sebastian Hannaks) oder aber in medial komplexen, offenen Konstellationen jenseits (gebauter) Bühnen (vgl. Neumann, Bußmann, Rimini Protokoll). Ebenso wird (c.) Kostümgestaltung (mit Maskenbild) dezidiert als künstlerischer Faktor ausgewiesen (von Mechow). Überdies zeigen sich heute insbesondere auch (d.) Digital Video, Game Design, Software-Entwicklung und App Development (Bußmann, Hannak/Ziegler, Rimini Protokoll/Klaue/Morosow) als integrale Elemente vielfältiger szenografischer Gestaltungen partizipativer Räume.

Wie der amerikanische Theaterwissenschaftler Matt Cornish hervorhob (ders., „Worlds of German design in the twenty-first century“, 2018), operiert Szenografie in ihrer Formenvielfalt keineswegs ohne ­kulturelles Gedächtnis; vielmehr seien, seiner Beobachtung zufolge, (e.) anhaltende Auseinandersetzungen mit ihrem historischen Erbe (vor allem Brecht- und Piscatorbühne, Bauhaus) „sui generis or even ex nihilo“ hier eines ihrer auffälligen Merkmale (zit. nach Aronson, 2018, 465). Auch mit den im Rahmen dieses „Rundgangs“ besprochenen Beispielen war diese Tendenz nach wie vor zu beobachten. Zum einen ist eine große Bandbreite szenografischer Ansätze erkennbar, in denen der Diskurs und die Formen des postdramatischen Theaters weiterwirken.71 Ebenso zeigen sich aber auch Ansätze dramaturgisch angelegter Szenografie, die sich auf Mittel und Konventionen des dramatischen Theaters, seines Repertoires und seiner Bühnengestaltungen beziehen, um diese künstlerisch neu zu verhandeln.

Transformations- und Zukunftsthemen (wie Digitalisierung, ökologische Transformation) bearbeiten Szenograf:innen unter dem Vorzeichen künstlerischer Forschung (research in the arts bzw. research through art) (vgl. von Arx 2019). Unter den beschriebenen Bedingungen der drei (mit ­Siegmund/ Aggermann modifizierten) Dispositive Regietheater, feste Häuser / inter172

Tendenzen der Szenografie im Gegenwartstheater

nationales Koproduktionstheater / Freies Theater, Netzwerk und flexible Kollaboration (vgl. dies. 2020) scheinen die verschiedenen Ansätze zuweilen miteinander zu konkurrieren oder sich aber auch auf der Gestaltungsebene (besonders dort, wo die verschiedenen Theatertypen untereinander durchlässig sind) aufeinander zu beziehen. Die Pluralität der Ansätze, die sich nicht etwa ablösen, sondern sich im Gegenwartstheater vielmehr spannungsvoll ausdifferenzieren, macht die Vielgestaltigkeit des Szenografischen aus. Die niederländische Theaterforscherin Liesbeth Groot ­Nibbelink (die, auf den weiteren europäischen Kontext bezogen, ähnliche Beobachtungen teilt), plädiert daher sinnvollerweise für eine Szeno­­grafieForschung, die mit geeigneter Methodik und Begrifflichkeit das gesamte breite Spektrum in den Blick nimmt (stage design dramatic/postdramatic theatre; environmental, intermedial, multi-local, digital scenography). Refe­ renz­punkt bleibt dabei stets das Theater als Kunst und Bedingungsgefüge (Dispositiv) sowie das szenografische Gestaltungsdenken und die ästhetischen und epistemischen Praktiken, die sich mit ihm verbinden (dies., „How does Scenography think?“, 2019). In der Tat gilt es im Blick zu behalten, dass diese – in all ihrer Vielgestaltigkeit – nicht universell sind, sondern ihren Kontext und ihre Geschichte haben, die sie – gewissermaßen als ‚theatrebased luggage‘ voller Geschichten, Ideen, künstlerischen Kompetenzen, Gestaltungswissen und praktischen Erfahrungen – mit sich tragen.

★★★ Die Szenografie als solche gibt es nicht. Szenografie ist agency (…) Sie ist ein Katalysator, der Verborgenes sichtbar macht oder verdeckt, was wir zu sehen und zu wissen glauben. Ein Raum ist nur der Ausgangspunkt. … Was in den Dingen, hinter den Dingen und zwischen ihnen existiert, ist relevanter als die unmittelbare Erscheinung eines mit Objekten gefüllten Raums. Szenografie ist flüchtig. … Das wichtigste Merkmal von Szenografie ist Potenzialität …

Scenography as such does not exist. Scenography is agency (…) It is a catalyst, rendering the hidden visible, or obscuring what we believe to see and know. A space is only the starting point. ... What exists inside things, behind things, and in-between things is more relevant than the immediate appearance of a space beset with objects. Scenography is ephemeral. … Scenography’s main concern is potentiality …

(Serge von Arx: „On Scenography“, 2015) Exemplarische Positionen und Perspektiven

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III. Episteme, Ästhetiken und das ­Gedächtnis der Szenografie Mit Blick auf exemplarische künstlerische Strategien wurde im vorigen Kapitel aufgezeigt, wie Szenograf:innen im Gegenwartstheater Räume für Inszenierungen entwerfen und – metaszenografisch über einzelne Produktionen hinaus – Auseinandersetzungen mit Bühne/Bühnenformen, mit der Materialität, Medialität und Technizität von (Bühnen-)Räumen sowie mit den in ihnen eröffneten Potenzialen des Handelns, Erlebens und ästhetischen Wahrnehmens anstoßen. Indem sie Konstellationen des Zeigens/ Wahrnehmens, der Interaktion und der ästhetischen Erfahrung entwerfen, initiieren sie künstlerische Befragungen der Gestaltung, Darstellung bzw. ­Herstellung sowie der Sozialität von Räumen. Reflektiert werden basale Fragen der Bühne – verbunden mit Fragen nach dem kulturellen Wandel von Raumauffassungen und den vielfältigen Faktoren, die (im Zeichen insbesondere von Digitalisierung, Transkulturalität und post/dekolonialer Perspektiven) paradigmatisch als Spatial Turn diskutiert werden.1 Im Zuge vielfältiger Explorationen der Bühne als Heterotopie stehen, wie deutlich wurde, traditionelle Auffassungen der Funktion des Szenografischen als ‚Ausstattungskunst‘ lange schon zur Disposition – zugunsten veränderter Begrifflichkeiten, die Szenografie als gestaltende, experimentierende oder auch künstlerisch forschende und nicht zuletzt als diskursive Praxis beschreiben (vgl. Kap. I.2. und II.2.). Mit dem Hinweis auf die vielgestaltigen (Selbst-)Thematisierungen und Reflexionen des Theaters als ‚Raumkunst‘ sprechen Künstler:innen, wie etwa der Berliner Bühnenbildner und Mediendesigner Oliver Proske, gegenwärtig sogar vom „szenografischen Zeitalter“, in dem der Szenografie eine (auch über die Künste hinausweisende) Schlüsselfunktion zukäme.2 Wie auch der „Rundgang“ gezeigt hat, sind vielfältige ästhetische Strategien erkennbar. Überdies interveniert Szenografie heute sowohl auf Theaterproduktions- wie auch der Rezeptionsseite in etablierte Abläufe, Gepflogenheiten und Hierarchien, setzt verändernde Impulse (z. B. im Hinblick auf Digitalität, ökologische Nachhaltigkeit und Sozialität von Räumen) und leistet, so besehen, eine künstlerische – mithin ‚eingreifende‘ (Neumann) – Arbeit am Dispositiv des Theaters.

Wenn der Ansatz theaterwissenschaftlicher Dispositivforschung darauf zielt, den bisherigen Fokus des Fachs auf Inszenierung/Aufführung um Perspektiven auf die ‚Bedingungsgefüge‘, kulturellen Paradigmen und gesellschaftlichen Machtstrukturen, die in ihnen jeweils zum Tragen kom174

men oder auch reflektiert werden, zu erweitern, so eröffnen sich damit grundsätzliche Fragen nach der epistemischen Dimension von Theaterarbeit, d. h. nach dem Wissen des Theaters und nach szenografischem Wissen. Im Zentrum der folgenden Überlegungen steht daher die Frage nach Archiven sowie nach Archivpraktiken, Archivprozessen und epistemischen Dingen der Szenografie – auch als Frage danach, wie szenografisches Wissen und Wissen über Szenografie im Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und dem ‚Hier und Jetzt‘ der Bühne aufgerufen bzw. verworfen, revidiert und verhandelt wird (und von welchem Wissen überhaupt die Rede sein kann).

1. Szenografisches Wissen / Wissen über Szenografie Was bleibt von einer Theaterszenografie und ihrer Realisierung, wenn die Inszenierung, für die sie entworfen wurde, nicht mehr auf dem Spielplan steht? Wie in Kap. I.2. bereits angesprochen, ist der Status szenografischer Artefakte jenseits von Inszenierung und Aufführung prekär und reicht von ihrer Behandlung als Kunst bzw. Kunstobjekte oder aber als Überbleibsel, bloße Werkstoffe oder (materiell eher wertlose) Erinnerungsdinge bis hin zu ihrer Bewahrung und Anerkennung als Wissensobjekte und epistemische Dinge. Die Bandbreite des Nachgelassenen, das – sofern es aufgehoben wird – über die abgespielten Aufführungen hinaus archiviert wird, umfasst: (1.) künstlerische Medien und Objekte (visuelle Skizzen, künstlerische und technische Zeichnungen, Collagen, Kostümfigurinen, Bühnenbildmodelle, Raumpartituren, vestimentäre Partituren) sowie schriftliche Quellen (z. B. Notizbücher, Ideenskizzen), die über Produktionsprozesse Auskunft geben, und (2.) dokumentierendes Material (Szenenfotos aus Proben und Aufführungen, interne Video- bzw. Tonaufzeichnungen) sowie mediale Berichterstattung (Fernsehaufzeichnungen, Reportagen, Theaterkritiken print/online). Eine weitere Gruppe bilden (3.) die Realisierungen der Entwürfe (wie Bühnenbildelemente, szenografische Objekte, Kostüme, Masken, Bühnenvideo, Audio-Tracks), die jedoch eher selten erhalten und in Archiven aufbewahrt werden, sondern teils in die Fundus gehen oder aber entsorgt werden.3 Geht man davon aus, dass Sammeln als „Wissenspraxis“ zu verstehen ist (Heesen/Spary 2001), stellt sich die Frage, welche Faktoren im Umgang mit szenografischen Artefakten und bei der Entscheidung, ob und wie archiviert wird, zum Tragen kommen. Ein wichtiger Faktor ist die Rechtefrage: Urheber- und Verwertungsrechte waren an öffentlich geförderten Theatern in Deutschland noch bis vor Kurzem vertraglich 175

so geregelt, dass Bühnen- und Kostümbildentwürfe (in der Endfassung) in das Eigentum der produzierenden Häuser übergehen.4 Bedingt durch mangelnde Ressourcen und oft fehlende Strukturen (im Hinblick auf Platz, Personal, technische Infrastrukturen), die es braucht, um – neben dem laufenden Spielbetrieb – den Herausforderungen des Bewahrens, Ordnens, Verzeichnens und Zugänglichmachens gerecht zu werden, gilt die „Situation der Archive und Sammlungen in den Theatern“, laut aktueller Selbsteinschätzung, allerdings als „divers und instabil“.5 Gleichwohl gibt es mit Theatermuseen und sammelnden Institutionen (wie etwa dem Deutschen Theatermuseum München oder dem Archiv Darstellende Kunst der Akademie der Künste Berlin) etablierte, öffentlich geförderte Einrichtungen, mit denen sich andere Bedingungen ergeben, wenn diese entscheiden, einzelne szenografische Artefakte oder auch einen gesamten künstlerischen Nachlass oder Vorlass aufzunehmen, konservatorisch zu pflegen und für Forschungszwecke bereitzustellen. Ein Beispiel ist das Wilfried-­ Minks-Archiv, das seit 2018 Teil der Sammlungen der AdK Berlin ist. Für den Aufbau gemeinsamer Archivstrukturen der Freien Szene engagiert sich seit den 2010er Jahren die Initiative für die Archive der Freien Darstellenden Künste e.V.6 Zudem ist zu beobachten, dass die Mehrzahl der Szenograf:innen in ihren Ateliers private Archive führen, um ihre Arbeit zu dokumentieren, ihr Formen- und Ausdrucksrepertoire als ‚Ideenfundus‘ verfügbar zu halten und – zur Konturierung ihres eigenen, spezifischen künstlerischen Profils – öffentlich sichtbar zu machen (z. B. über Ausstellungen und Publikationen). Mithin gehen Entwurfsmaterial, Fotos und Erinnerungsstücke aber auch verloren oder werden bewusst entsorgt, um Platz für Neues zu schaffen; dabei sind die Praktiken und Vorgehensweisen ausgesprochen individuell und uneinheitlich. Dies zeigt sich auch in der bemerkenswert großen Anzahl der in den letzten rund 20 Jahren erschienenen Monografien und Werkstattbücher, mit denen Szenograf:innen Einblicke in Entwurfsprozesse, Gestaltungsdenken und Arbeitszusammenhänge geben und die von ihnen oft selbst in Auftrag gegeben oder mitherausgegeben werden.7 Ebenso fällt auf, dass die (meist freischaffend in unterschiedlichen Konstellationen und Kontexten tätigen) Künstler:innen häufig eigene Websites betreiben und ihre Arbeitsbiografien (anhand von Entwürfen, Proben- und Aufführungsfotos, Daten und flankierenden Texten) präsentieren.8 Offenbar artikuliert sich so ein aktuell verstärkter Impetus, den Beitrag des Szenografischen zu Inszenierungen/Aufführungen zu markieren und die Ateliers gewissermaßen zu öffnen, um Reflexionen über Szenografie anzustoßen. Zu diesen Initiativen gehört etwa ein viel 176

Ästhetiken und Episteme

beachtetes Projekt Anna Viebrocks, die 2011, zusammen mit dem Schweizer Architekturmuseum (SAM), eine Auswahl ihrer Fotorecherchen, Entwürfe und Bühnenbildmodelle für eine Ausstellung zusammenstellte und, nach der Eröffnung in Basel, einem interessierten Publikum europaweit (u. a. in Rotterdam, Prag, Madrid, Brüssel, Gent, Helsinki, Avignon und Frankfurt am Main) präsentierte.9 Was sich mit solchen Initiativen vermittelt, sind keine wissenschaftlichen oder systematischen Zugänge zur Szenografie, sondern – gewissermaßen am Fallbeispiel der eigenen Arbeiten – künstlerische Auseinandersetzungen mit Epistemologien in der Szenografie und Erkundungen der ästhetischen Dimension des Archivs. Implizit aufgeworfen ist damit auch die grundsätzliche Frage nach dem Archiv als Ort bzw. Funktion der Wissensproduktion: Wie und wo lässt sich szenografisches Wissen auffinden? Was gilt als ‚Wissen‘ und anhand welcher Schauplätze, Ereignisse, Bildquellen und Textzeugnisse wird es verhandelt?

Und schließlich: Mit welchen Begriffen und Theorieperspektiven formieren sich Erkenntnisse, Wissen und Diskurse über Szenografie?

Wenn im Folgenden davon ausgegangen wird, dass Archive Teil des Theater-Dispositivs sind und nach den Relationen zwischen Archiv/Praxis und Szenografie gefragt wird, ist zunächst der verwendete Archivbegriff zu klären. Der Terminus „Archiv“, als ein Schlüsselbegriff der Wissensgeschichte (Ebeling/Günzel 2009/2025), bezeichnet, prominent v. a. in Anschluss an Foucault, ein Konzept diskurstheoretischen Denkens; vorgelegt in L’Archéologie du Savoir (1969) und modifiziert in seiner sogenannten genealogischen, machtkritischen Phase, ging seine Archivtheorie später in das von ihm entworfene Dispositivkonzept ein.10 Eine ihrer Grundannahmen besagt, dass ‚Archiv‘ nicht als Wissensspeicher und lokalisierbarer Raum zu verstehen sei, sondern als Archivpraxis und fortwährende Arbeit an der diskursiven Ordnung und (Trans-)Formation von Wissen.11 Dieser Auffassung von Archiv bzw. Archivfunktion zufolge ist dessen Hauptaufgabe weniger die ‚richtige‘ Kategorisierung und Deutung von Sammlungsstücken, sondern vor allem das „Entbergen“ der Bedingungen, Mechanismen und Dynamiken von Wissensproduktion zu einem Themenfeld (Ebeling/Günzel 2009, 12), mit anderen Worten: die Auseinandersetzung mit Archivprozessen. Wer entscheidet, wo und nach welchen Kriterien darüber, ‚was bleibt‘ (d. h. was dokumentiert, in Sammlungen und Archiven wie bewahrt und zugänglich gemacht wird oder unter Verschluss kommt) und ob ein Ding bzw. Ereignis überhaupt zum Wissensobjekt wird oder aber zukünftig aus dem Blick fällt, sprich: vergessen wird?

Und über welche Archivpraktiken und Vermittlungen bleibt ein Ding Szenografisches Wissen / Wissen über Szenografie

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oder Ereignis im Gedächtnis? Ein so verstandener Ansatz, der sich nicht für ‚Universalien‘, sondern für diskursive ‚Monumente‘ und hinterfragbare Wissensordnungen interessiert, wurde seither interdisziplinär von vielerlei Seite aufgegriffen. Dabei wurde, verbunden mit einiger Kritik an Foucaults ‚Bibliotheksfixiertheit‘, argumentiert, dass sich sein Ansatz durchaus auch auf real existierende Archive beziehen lässt und, methodisch erweitert, erlaubt, neben Texten auch Bildquellen und andere Medien in archäologische Explorationen und in die Archivtheorie miteinzubeziehen (vgl.

Gnosa 2018, 67f.). Für das Archiv gelte insofern die Annahme, „dass man es mit einer dynamischen Ordnung von schriftlichen, sprachlichen, filmischen, bildlichen, musikalischen u. a. Monumenten zu tun hat, die über Aussage- oder genauer: Wissenspraktiken miteinander vermittelt sind und kulturelle Geltung erlangen oder erlangt haben“ (ebd., 69). Dabei geht es, um nochmals Foucault zu zitieren, „weder (um) Formalisierung noch Exegese. Eine Archäologie (…) bedeutet, wie der Name nur allzu offensichtlich besagt, die Beschreibung von Archiven“.12 Was bleibt? Szenografie im Archiv: Perspektiven der Theaterwissenschaft auf einen aus dem Blick geratenen Gegenstand Welche Perspektiven auf das Archiv und welche Zugänge und archivtheoretischen Ansätze wurden im Fach Theaterwissenschaft bisher entwickelt?

Dass das Transitorische des Theaters – seine Flüchtigkeit als Kunst des ‚Hier und Jetzt‘ – „allzu leicht den Umstand (verdeckt), dass auch theatrale Praktiken in vieler Hinsicht an der Entstehung und Bearbeitung eines kulturellen Gedächtnisses teilhaben“, vermerkt der Leipziger Theaterwissenschaftler Patrick Primavesi.13 Die im Fach lange vorherrschende Fokussierung auf die Situation der Aufführung vor Publikum gelte es (wieder) um Perspektiven zu erweitern, die auch die „Konzeption und (…) Vorbereitung durch Proben sowie die Gestaltung des Spielorts und der körperlichen Erscheinung der Akteure“ umfassen (ders. 2020, 99f.); umso mehr gewinne die „Arbeit mit Archiven und dem Archivalischen“ in der aktuellen Methodendiskussion „besondere Bedeutung“ (ebd.). Die (dabei allerdings oft ‚vergessene‘) Szenografie – das sei noch einmal betont – gilt es notwendig mit zu berücksichtigen: Da Gestaltungen von Bühne, Kostüm, Maske stets in Relation sowohl zu überliefertem Theaterwissen wie auch zum jeweiligen Zeitkontext, zu gesellschaftlichen Verhältnissen, kulturellen Konventionen (wie z. B. Körpertechniken) sowie Spielpraktiken ste178

Ästhetiken und Episteme

hen, können sie – als Wissensdinge im Archiv – Auskunft über Konstruktion und Wandel von Identitätsbildern, Ein-/Ausschlüsse, Beziehungen zu Historie, anderen Kulturen und zur Natur sowie über Medienwechsel und technischen Wandel im Spannungsfeld zwischen Vergangenem, Gegenwart und (theatral imaginierter) Zukunft geben. Zu fragen wäre somit nach der Geschichte, Historizität und kulturellen Prägung szenografischer Praktiken, die künstlerisches Gestalten sowie alltägliche Praktiken und vielerlei Kulturtechniken einschließen. Dazu zählen Verfahren z. B. des Skizzierens, Zeichnens, Modellierens, der Notation und des Entwurfshandelns mit seinen technischen, ästhetischen und symbolischen Praktiken, Visualisierungstechniken und verwendeten Medien (vgl. Gethmann/Hauser 2009). In ihnen artikuliert sich ein (sprachlich/nichtsprachlich vermitteltes) szenografisches Denken, das nicht als linearer Diskurs nachgezeichnet werden kann, sondern dem, im Sinne Foucaults, vielmehr in Sprüngen, komplexen Bezügen und Veränderungen von „­Denksystem(en)“ (ders.

1969/1981, 23) nachzuspüren wäre. Welches sind also – den bisherigen Erkenntnissen der Theaterwissenschaft zufolge – die Knotenpunkte und Zusammenhänge, in denen szenografiebezogene Archivpraxis im Dispositiv des Theaters bedeutsam wird?

Als Beitrag zu solchen Überlegungen brachte der US-amerikanische Theaterwissenschaftler Marvin Carlson in seinem Buch The Haunted Stage. The Theatre as a Memory Machine (2001) die These ein, dass jeder Bühne bzw. jedem Spielort eine Gedächtnis- und Archivfunktion innewohnt: zum einen, weil Bühnen und Spielorte eigene Merkmale und Gegebenheiten haben (Architektur, Raumstrukturen, Materialität, Bühnentechnik) und zum anderen, weil vergangene Aufführungen und deren Szenografien darin stets Spuren, Reste und Erinnerungen hinterlassen, die gleichsam weiterlebten. Zur Erläuterung griff er auf die Begrifflichkeit des „leeren Raums“ zurück, mit der sich der britische Regisseur Peter Brook in seinem gleichnamigen, 1968 erschienenen, ins Deutsche, Französische und viele weitere Sprachen übersetzten Buch einst gegen konventionelles Ausstattungstheater (und für „unmittelbares“ Theaters) ausgesprochen hatte.14 In seiner Re-Lektüre referiert Carlson auf die berühmte Anfangspassage des Brook‘schen Texts, um seine These des mit Bedeutung und gelebter Erfahrung ‚gefüllten‘ Raum dagegen wie folgt zu formulieren:

Szenografisches Wissen / Wissen über Szenografie

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Theater ist auf erster Ebene (…) noch nicht gegeben, wenn man sagt: „Ein Mann geht durch einen leeren Raum, während ihm ein anderer zusieht (das ist alles, was zur Theaterhandlung notwendig ist)“. Eine gewisse Wahrnehmungskonvention, eine Verabredung ist nötig, damit diese Handlung als Theater ‚gerahmt‘ wird; in dem Zitat von Brook ist sie in der Formulierung „and call it a bare stage“ versteckt. Weder die Handlung des Gehens noch die (…) damit verbundenen Handlungen im „leeren Raum“ sind Theater.

Auf zweiter Ebene suggeriert Brooks Gebrauch des Begriffs „leer“ einen phänomenologischen Nullpunkt, was ebenfalls nicht korrekt (not accurate) ist. Anders als die Schöpfung am ersten Tag entsteht (…) Theater nicht aus einer Leere, sondern wird in einem Raum gemacht, der zuvor als etwas anderes gedacht war. Diese Differenz ist entscheidend (…), denn das ‚Andere‘, das der Raum vorher war, ebenso wie die Körper der Schauspieler:innen, die vor der Verwandlung in eine Figur existieren, haben das (…)

Potenzial, sich der Wahrnehmung (des Spiels) unterzumischen, darin ‚durchzuscheinen‘ – ein Vorgang, den ich Ghosting genannt habe. (ders.

(2001) 2003, 132f., dt. BW)

Mit theatersemiotischem Ansatz sowie mit dezidiert phänomenologischer Perspektive auf den Raum argumentiert Carlson vor allem aufführungsund rezeptionsbezogen. Bühnen bzw. Spielorte haben ihm zufolge Archivfunktion: Materielle Merkmale und Spuren von Vergangenem, die in ihnen gleichsam sedimentiert sind, wirken demnach performativ (‚geisterhaft‘) in den Aufführungsvorgang hinein und werden für die Beteiligten als erfahrbare und bedeutsame Qualität wahrnehmbar. Sein Einwand gegen Brooks viel perpetuierte (oft allzu wörtlich genommene, nicht selten missverständlich zitierte) Formel mag berechtigt sein. Darüber hinaus – aus oben erwähnten Gründen und mit veränderter Perspektive auf den theatralen Raum – gilt es aber, zudem nach den dispositiven Bedingungen sowie den technischen, ästhetischen und symbolischen Praktiken zu fragen, durch die eine Inszenierung/Aufführung überhaupt erst zustande kommt und die ihrerseits auch eine Arbeit am kulturellen Gedächtnis leisten. Mit anderen Worten: Um Theater, Szenografie und ihre Ästhetiken auch als Wissenspraxis in den Blick zu nehmen und Archivprozesse des Theaters zu eruieren, bedarf es einer Erweiterung aufführungsanalytischer Methoden um produktionsbezogene sowie auch archivtheoretische Perspektiven.

Blickt man weiter in die Fachgeschichte der vergleichsweise jungen Disziplin Theaterwissenschaft zurück, so finden sich dazu Ansätze, aber auch signifikante Lücken. Die Anfänge des Fachs liegen in der deutschen Hochschullandschaft rund hundert Jahre zurück. Ging es in den ersten drei 180

Ästhetiken und Episteme

Dekaden grundlegend um die Bestimmung des eigenen Gegenstands sowie um Perspektiven der Theoriebildung, so zeichneten sich darin zwei divergierende Tendenzen ab, die als der ästhetische vs. kulturwissenschaftliche Ansatz beschrieben werden:15 Zum einen der (heute weitgehend durchgesetzte) Ansatz Max Herrmanns, der die Aufführung – verstanden als ästhetisches Gebilde mit Werkcharakter – ins Zentrum stellte. Die Arbeitsschwerpunkte des Instituts an der Berliner Universität, das er von 1923 bis 1933 leitete,16 lagen auf der Erforschung der deutschen bzw. europäischen Theatergeschichte und auf Methodenfragen der Aufführungsrekonstruktion. Teilbereiche wie Dramaturgie, Regie, Schauspielkunst, Kostümkunde, Dekorationswesen oder Theaterrecht sollten (auch mit Praxisbezug) in Spezialstudien gelehrt und vertieft werden.17 Zunächst ging es vor allem um die Konturierung des Theaterereignisses als (von Werken der Literatur gesondert zu betrachtendem) Gegenstand. Zudem wurden Abgrenzungen der Theaterkunst gegenüber anderen Kunstformen vorgenommen, etwa indem Herrmann (in seinem einflussreichen Aufsatz Das theatralische Raumerlebnis, 1931) postulierte, dass das „malerische Raumerlebnis“ – vermittelt über Bühnenbild und Dekorationen –, trotz „alle(r) noch so geschickte(r), bühnentechnisch noch so gut berechnete(r) Verwendung von Farben und Lichtwirkungen“, stets „theaterfremd“ bliebe (ders. 1931/2006, 510). Eine methodische Abgrenzung des Fachs gegenüber ihrer Nachbardisziplin Kunstgeschichte sah sein Ansatz jedoch nicht vor; vielmehr legte Herrmann bereits erste (im Weiteren wenig beachtete) Grundsteine für systematische Forschungen zu Maske und Kostüm sowie für Methoden theaterwissenschaftlicher Analyse von Bildquellen.18 Den zweiten, kulturwissenschaftlichen Strang früher Fachentwicklung bildeten die Ansätze des Münchner Theaterwissenschaftlers Artur Kutscher sowie, in Köln, der von Carl Niessen. Auf ihrer Suche nach den ‚Ursprüngen‘ des Theaters in rituellen Praktiken oder Ausdrucksformen eines als überzeitlich verstandenen, menschlichen Spiel- und Nachahmungstriebs waren beide kulturanthropologisch und ethnografisch orientiert (beeinflusst durch eine damals einschlägige Studie des Altphilologen Herrmann Reich, Der Mimus, 1903). Die Besonderheit des Ansatzes Niessens lag darin, dass dieser seit den 1920er Jahren am Kölner Institut, parallel zu seiner Lehrtätigkeit, eine äußerst umfangreiche theaterwissenschaftliche Sammlung aufbaute, als deren Kurator und Leiter er bis zu seiner Emeritierung 1959 fungierte. Die Sammlung, die Eigentum der Universität zu Köln ist, befindet sich seit Mitte der 1950er Jahre in Schloss Wahn (im Stadtteil KölnPorz), ergänzt um die 1960 angekaufte Privatsammlung Niessens und bis Szenografisches Wissen / Wissen über Szenografie

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heute erweitert um diverse Vor- bzw. Nachlässe (z. B. des in Kap. II.1. erwähnten Theater- und Filmszenografen Hein Heckroth) sowie Einzelstücke und Sondersammlungen (vgl. Marx 2020, Probst 2022). Ein physisches Archiv von Theatralica als Materialgrundlage für die theaterwissenschaftliche Forschung und Lehre zu schaffen: Dieses Bestreben war in den ersten Dekaden des Fachs stark ausgeprägt und stand, zeitgeschichtlich betrachtet, zudem im Zusammenhang mit den ersten expliziten Theaterausstellungen im deutschen Sprachraum (z. B. der Internationalen Ausstellung für Musik und Theaterwesen, Wien 1891, der Deutschen Theaterausstellung Berlin, 1910, und dem aus der Clara-Ziegler-Stiftung als Dauereinrichtung hervorgegangenen Deutschen Theatermuseum in München).19 Vor allem aber suchte die damals junge Disziplin mit dem Sammeln, Sichern und Archivieren von Theaterdingen einem ihrer Grundprobleme, der Transitorik des Theaterereignisses, zu begegnen – im (vergeblichen) Bemühen, die Flüchtigkeit ihres Gegenstands mithilfe materieller Relikte gewissermaßen einzuholen. Das Postulat, wonach sich historische Aufführungen anhand von Quellen ‚lückenlos‘ rekonstruieren ließen, war von Beginn an umstritten20 und wurde – spätestens in der ‚zweiten Formierungsphase‘ des Fachs in den 1960/70er Jahren – radikal angefochten. Einen konstruktiven Beitrag zu dieser Theorie- und Methodendiskussion leistete der Theaterwissenschaftler und -kritiker Dietrich Steinbeck, indem er erkenntniskritisch und mit phänomenologischem Ansatz zwischen den ephemeren Phänomen von (stets raumzeitlich situierten) Theaterereignissen und ihren materiellen Dingen und deren „Quellenwert“ unterschied (1968/1981).21 Im Hinblick auf die Unmöglichkeit tatsächlicher Rekonstruktion vergangener Aufführungsereignisse besteht inzwischen einhellig Konsens, dass – vermittelt über erhaltene Objekte, Dokumente (sowie heute auch mit den technischen Verfahren von Videodokumentation und Online-Archivierung) allenfalls Annäherungen möglich sind.

Für die Archivpraxis hat das freilich Folgen. Die Bedeutung quellenkritischer Methoden als wichtiger Teil des wissenschaftlichen Instrumentariums stand nie in Frage; allerdings zählt das Fach das Sammeln und Archivieren von Theaterdingen nicht mehr zu seinen Aufgaben, sondern überlässt dies anderen Institutionen. Eine prominente Ausnahme ist die bereits erwähnte Theaterwissenschaftliche Sammlung (TWS) in Köln; als eine der größten Theatersammlungen Europas wird sie, rund einhundert Jahre nach ihrer Gründung, auch aktuell als Hochschuleinrichtung 182

Ästhetiken und Episteme

geführt.22 Mit ihrem Aufbau, dem umfangreichen Archivgut und der sich darin abbildenden Sammlungsstrategie gemäß Carl Niessens erklärtem Programm, Anschauungsmaterial theatraler Phänomene „aller Zeiten und Kulturen“ zusammenzutragen,23 ist sie, im Sinne Assmanns, zuallererst ein „Ort der Ansammlung“ (dies. 2009, 173) und der Akkumulation von Wissensdingen, die als solche für Lehre, Studien- und Forschungszwecke zugänglich sein sollten. Bis heute ist das „Projekt der Kölner Theaterwissenschaft“ (Peter W. Marx)24 durch Niessen, den Initiator und langjährigen Leiter der Sammlung, erkennbar geprägt: Mit seinem anthropologisch-ethnografisch ausgerichteten Fachverständnis und sehr weit gefassten Theaterbegriff trug dieser jahrzehntelang alles zusammen, was Bezüge zum Theater aufwies: Theater- und Ritualmasken aus aller Welt, Puppenund Schattenspielfiguren, Papiertheaterbögen, szenische Grafik, technische Zeichnungen und Bühnenbildmodelle (darunter Bayreuther Originale aus Uraufführungen von Richard-Wagner-Opern), zudem Gemälde, Stiche, Fotografien, Dias, Postkarten, Plakate, Programmhefte und Theaterzettel, Regiebücher, Manuskripte, Korrespondenz, Theaterkritiken sowie Statuetten, Büsten, Kostümteile, Requisiten, Devotionalien und vieles mehr. Ziel war es, Artefakte und Relikte höchst unterschiedlicher theatraler Kulturphänomene als materielle Grundlage für eine wissenschaftliche Arbeit zu sichern, die Theater nicht allein als bürgerliche Kunst und Institution verstehen sollte, sondern als ‚weltumspannendes‘ Phänomen,25 das ebenso Populärkunst, Schaustellerei, Artistik, öffentliche Festivitäten und explizit auch außereuropäische Theaterformen umfasst. So fanden in die Kölner Archivschränke und Vitrinen etwa Figuren chinesischer, indonesischer und indischer Schattenspiele ebenso Eingang wie eine dem Bauhaus-Künstler Oskar Schlemmer zugeschriebene Theatermaske oder Spielfiguren des Kölner Hänneschen-Theaters. Antrieb dahinter war eine (der Mimus-These verpflichtete) Suche nach ‚Anfängen‘ und „Urkräften“ des menschlichen „Trieb(s) zur Schaustellung und zum Schauen“ (welche die Auseinandersetzung mit nichtliterarischen Theaterformen ausdrücklich miteinschloss),26 verbunden mit der selbstgestellten Aufgabe, dessen Ausdrucksformen und kulturellen Entwicklungslinien universell, quer durch die Historie und über geografische Grenzen hinweg aufspüren zu wollen.

Aus dieser Fülle zusammengetragener Theaterdinge sollten ausgewählte Artefakte als unmittelbar sinnlich erlebbare, für die Studierenden tangible (oder auch per Diavortrag visualisierte) Objekte direkt in die Lehre eingebunden werden. Zudem, wie Nora Probst unlängst aufzeigte, sollte Szenografisches Wissen / Wissen über Szenografie

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auch eine kulturinteressierte Öffentlichkeit Einblicke erhalten und vermittels von Ausstellungen und Vorträgen erreicht werden (dies., Objekte, die die Welt bedeuten. Carl Niessen und der Denkraum der Theaterwissenschaft, 2022). Auch für eine historiografische und vergleichende Szenografie-Forschung wäre die Sammlung geradezu eine Fundgrube. Zudem lassen sich hier – im Hinblick auf die Frage nach der diskursiven Formation, den Ansätzen, Lücken und der fachgeschichtlichen Verankerung von Szenografie-Forschung im Fach – einige Weichenstellungen und Problemlagen deutlich machen. Im Unterschied etwa zu Max Herrmann, der sich methodenstreng an Verfahren der Bild- und Literaturwissenschaft orientierte und grundlegend bemühte, ein Theorie- und Methodeninstrumentarium zu erarbeiten und in seinen Publikationen bereitzustellen, ging Niessen in der institutseigenen Schausammlung mit einer Arbeitsweise vor, die ein positivistisches, auch akribisches Sammeln von Daten mit aleatorischen Verfahren vergleichender Argumentation und eher gewagter, „‚freihändiger‘ Thesenbildung“ verband:27 Bevorzugte wissenschaftliche Praxis war, vertrauend auf die „Magie des lebendigen Wortes“,28 die veranschaulichende Präsentation von Objekten vor Studierenden bzw. Publikum und weniger die schriftlich vorgelegte (oder gar systematisch ausgearbeitete) Analyse.

Die kulturvergleichende Perspektive, die Niessens Ansatz eröffnete, erhielt indes in der Fachdiskussion (wenngleich mit Einschränkungen) unlängst neue Aufmerksamkeit.29 In frühen Schriften sowie in seinem Hauptwerk Handbuch der Theaterwissenschaft (von zehn geplanten Bänden erschien nur der erste in drei Teilbänden, 1949-1958) hatte er eine ethnologisch begründete Komparatistik von Theater, Performance und Ritualformen angestrebt. Das Fragmentarische des Handbuchs, seine eklektizistische Materialbasis (auf rund 2000 Seiten) und deren rudimentäre wissenschaftliche Aufbereitung machen ein Arbeiten damit allerdings fast unmöglich.

Problematisch ist auch seine hegemonial eurozentristische Prägung, die es zum ideologisch belasteten Erbe macht, etwa wenn er von „Primitiven“ und „Völkern auf niederer Kulturstufe“ spricht (versus der als ‚hochstehend‘ herausgestellten europäisch-abendländischen Kultur).30 Erwähnt sei auch, dass er zu den Figuren der deutschen Theaterwissenschaft gehört, die deutliche Nähe zum Nationalsozialismus gezeigt hatten, nach 1945 aber wieder Hochschulpositionen bekleideten.31 Niessen – in vorsichtiger Neubetrachtung – als Vertreter einer Form der „globalen Performance Studies avant la lettre“ zu sehen, die in ähnliche Richtungen gewiesen habe wie Cultural Studies, New Historicism und die (in den 1960er Jahren von Richard Schechner geprägten) Performance Studies (vgl. Balme 2009, 187), 184

Ästhetiken und Episteme

fällt somit schwer. Zuletzt fand indes ein weiterer Aspekt neue Beachtung, der – fachgeschichtlich gesehen – gerade für die Frage nach Szenografie im Archiv durchaus interessant ist, nämlich sein Ansatz, „auf der Basis von Bildern über kulturgeschichtliche Wissensordnungen nachzudenken“ (Probst 2022, 183): Ein Beleg dafür ist sein in den 1920er Jahren erarbeiteter „Bühnenbild-Atlas“, der einige bemerkenswerte Parallelen zu Aby Warburgs berühmten Mnemosyne-Atlas und dessen Forschungen zu Bildlichkeit und Bildpraxis aufweist. „Atlas“ – eigentlich Name jener griechisch-mythologischen Gottheit, die die Säulen des Universums trägt – wurde um 1600 mit einer berühmten Kartensammlung des Globenbauers und Kartografen Gerhard Mercator zur Bezeichnung eines Buchtypus, der geografische oder astronomische Fakten versammelt und übersichtlich vermittelt. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts, seitdem eine vollständige empirische Erfassbarkeit der Welt mittels positivistischer Wissenssysteme zunehmend in Zweifel geriet, veränderte sich der Wortgebrauch und „Atlas“ wurde zur metaphorischen Bezeichnung einer Wissenspraxis: „Das erste herausragende Beispiel einer solchen metaphorischen Wendung dieses Begriffs begegnet uns in dem monumentalen Projekt für einen Atlas der bestimmbaren Formen kollektiver Erinnerung: dem Mnemosyne-Atlas, so der Kunstwissenschaftler Benjamin Buchloh. Dieses Projekt, das Warburg Mitte der 1920er Jahre konzipierte, wurde bis zu seinem Tod 1929 von ihm ausgearbeitet.32 Etwa zeitgleich sammelte Niessen Bilddarstellungen von Bühnenformen aus verschiedenen Epochen und Kulturen, um für eine mehrteilige Publikation eine fotografisch reproduzierte Bildauswahl zusammenzustellen. Diese Lehrbildsammlung, die vom Verlag in einer Reihe von Abonnementlieferungen bezogen werden konnte, erschien ab 1924 unter dem Titel Das Bühnenbild. Ein kulturhistorischer Atlas (vgl. das Titelblatt, Abb. 44).33 Die rund fünfzig Schautafeln präsentieren Bühnen, Bühnenbildlösungen und bühnentechnische Apparate v. a. aus der Geschichte des europäischen Theaters sowie einige zum Theater im asiatischen Raum (Bali, Indonesien, China, Japan), pro Tafel wurden (bis zu zehn) Abbildungen (Grafiken wie z. B. Holzschnitte, Kupferstiche, Radierungen und auch einige Fotografien) mit knappen Bildunterschriften auf lose Kartonpapierblätter abgedruckt, sodass sie sich für Lehrzwecke einsetzen und variabel anordnen ließen. „Zum ersten Mal macht dieser Atlas es möglich, die wichtigsten Bühnenformen und ihre mannigfaltigen Abwandlungen in ihrer Gesamtheit zu überblicken (…)“, heißt es in der Begleitbroschüre.34 Geplant Szenografisches Wissen / Wissen über Szenografie

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waren insgesamt 70 Tafeln in acht (anstatt der fünf realisierten) Lieferungen; wegen Verlagsinsolvenz konnte das Vorhaben nicht abgeschlossen werden. Nachweislich war Niessen während der Arbeit am „Atlas“ mit Aby Warburg in Kontakt. Warburg verwendete im Bildprogramm seines Mnemosyne-Atlas‘ um 1928 wiederum eine von dessen Tafeln.35 Auch wenn es in ihrer Suche nach visuellen, bildsprachlichen Ausdrucksformen, die von der Annahme einer anthropologischen Universalität kultureller Formen ausging, sowie im Versuch, diese im „Zwischenraum zwischen Denken und Erleben“ zu erkunden (Probst 2022, 31), gewisse Korrespondenzen geben mag, sind beide Projekte aber nur bedingt vergleichbar. Niessen ging es im Bühnenbild-Atlas primär darum, Entwicklungslinien der Schauplatzgestaltung und Bühnentechnik kulturhistoriografisch aufzuzeigen und für die Lehre anschauliches Bildmaterial vorzulegen. Warburgs MnemosyneProjekt und seine (zu dessen Lebzeiten nicht publizierten) Schautafeln, die sich seit 1933 im Londoner Warburg Institute befinden, sind dagegen, wie auch Probst betont, „deutlich umfangreicher und komplexer arrangiert“ (ebd., 187). War es dessen Ziel, mithilfe von Bildtafeln grundlegend „das kollektive Gedächtnis überlieferter (Bild-)Vorstellungen, Motive und Gesten nachzuzeichnen“ und der kulturellen Zirkulation ihrer Ästhetiken und Episteme nachzuspüren (Sherman 2021, 6), wurde seine Methode der Ikonografie und Ikonologie – posthum weiter ausformuliert v. a. durch den Kunsthistoriker Erwin Panofsky – zu einer bis heute validen, interdisziplinär weiterentwickelten Methode der Bildwissenschaft.36 Anders als Warburgs ‚Modell des Atlas‘ (Buchloh 2009, 234), das zum prominenten epistemischen Modell eines Denkens und Argumentierens in Bildern wurde, geriet Niessens Ansatz zu einer Globalgeschichte des Bühnenbilds fast in Vergessenheit. Dass eines seiner wichtigsten Anliegen darin bestand, anhand von Bilddokumenten und -objekten den Blick für visuelle Strukturen der Theater- und Kulturgeschichte zu schärfen, kann man ihm zugutehalten. Problematisch bleibt, wie das von ihm angelegte visuelle Repositorium Ausblicke auf andere Kulturen zwar einbezog, aber eurozentrische Sichtweisen und koloniale Deutungsmuster transportierte: In den knappen Bildunterschriften (zum Bereich „Ostasien“, Tafel 1–3: „Malaiischer Archipel (Bali, Java) und China“, „Japan“, Nō- und KabukiBühne) sind die Ereignisse undatiert, die geografischen Verortungen grob und die abgebildeten Theatertruppen und Personen namenlos. Interessant ist wiederum, dass Niessen (in gewisser Übereinstimmung mit einem modernen Szenografie-Begriff ) in einem Begleittext die These vertrat, dass 186

Ästhetiken und Episteme

der Begriff des Bühnenbilds „in vielen Abschnitten der Inszenierungsgeschichte irreführend“ sei („Man sollte (…) von Bühnenraum sprechen“).37 Reflexionen kulturell unterschiedlicher Raumvorstellungen und Bildbegriffe finden sich, im Schematismus der Darstellungen und entsprechend seiner beschriebenen Perspektive auf das Forschungsfeld, jedoch nicht. Ähnliches gilt hinsichtlich der Würdigung außereuropäischer Kulturleistungen; ein Beispiel: Im Bühnenbild-Atlas zeigt Tafel 2, Fig. 4 Die Drehbühne eines Kabuki-Theaters (Grafik, Herkunft unbekannt). In einem 1938 verfassten Aufsatz über den (europäischen) Erfinder der Drehbühne, den Münchner Theatermaschinisten Carl Lautenschläger (1843-1906), dessen Nachlass ins Kölner Archiv gelangte, versäumte Niessen aber, ihren aus der japanischen Theatertradition bereits bekannten Vorläufer zu erwähnen.38 Offenbar interessieren Niessen insgesamt nur „die raw facts“ (Marx 2020, 32), mit denen sich die im Bild thematisierte ostasiatische Spielkultur – auf seiner Suche nach den Anfängen des ‚Mimus‘ – quasi als ‚Parallel-Antike‘ ausweisen ließ. Als Dokument seines Projekts einer ‚weltumspannenden‘ Theaterwissenschaft bleibt sein Atlas, so der heute einhellige Befund, nur mehr wissenschaftsgeschichtlich interessant.39 Eine historiografische und kulturkomparatistische Szenografie-Forschung mit globaler Reichweite zu etablieren, bedeutet indessen eine enorme Herausforderung und wurde seitens der (deutschsprachigen) Theaterwissenschaft nicht weiterverfolgt. Ansätze aus pluralen Perspektiven erarbeiten hingegen wissenschaftliche Forschungsnetzwerke wie die Working Group „Scenography“ der IFTR (International Federation for Theatre Research) und die 2023 gegründete, an der Sorbonne Nouvelle in Paris verankerte Initiative „Espace et Scénographie – LIRIS“ (Laboratoire International de Recherche sur l’Image et la Scénographie). Die wohl wichtigste etablierte Begegnungs- und Austauschplattform für theorie- und praxisbezogene Reflexion szenografischen Wissens mit Foren für Buchpräsentationen, Vorträge und Diskussionen ist die Prager Quadriennale. Der Herausforderung einer transkulturellen und/oder kulturvergleichenden SzenografieForschung lässt sich nur im internationalen Dialog und, wie der amerikanische Theaterwissenschaftler Arnold Aronson (aus seiner Sicht auch als langjährigem PQ-Gremiumsmitglied) vorschlug, in breit angelegten synchronen und diachronen Untersuchungen szenografischer Elemente (scenographic elements) begegnen. Diese sind ihm zufolge: 1. Stage and audience (relations and opportunities), 2. Scenery, 3. Costume, 4. Light and projection, 5. Sound (design) und 6. Scenography and the senses (engaging the tactile, Szenografisches Wissen / Wissen über Szenografie

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oilfactory, and gustatory senses) (vgl. ders 2018, 12f.). Etwas anders bzw. als weiteren, ergänzenden Ansatz skizzierte der japanische Kulturwissenschaftler, Germanist und Theaterforscher Yuji Nawata, im Rückgriff auf Ansätze der Kulturtechnikforschung (vgl. Siegert 2011, 2015), unlängst das Projekt einer vergleichenden Kulturtechnikforschung zu Bühnenraum, Bühnentechnik und zu Aufschreibesystemen des Theaters (ders., „Cultural Techniques of Play. A Global Perspective“, in: ders./Dethlefs 2022, 157– 169),40 das ebenfalls ein Desiderat ist.

Einer der besonders neuralgischen Punkte in diesen Zusammenhängen ist nach wie vor die Bilderfrage, die im deutschsprachigen Kontext (seit der zweiten Formierungsphase des Fachs)41 vor allem als Frage nach Bildbegriffen und Bildphänomenen im Kontext von Aufführungsereignissen sowie als Methodenfrage (semiotischer, phänomenologischer oder medientheoretisch fundierter) Aufführungsanalyse diskutiert wird, auch unter Berücksichtigung rezenter bildanthropologischer Ansätze.42 Dass sich die frühe Theaterwissenschaft, namentlich Max Herrmann, bereits um Ansätze theaterbezogener Bildanalyse bemüht hatte, die ermöglichen sollten, Bildquellen ikonografisch auszuwerten und Bild- und Textquellen in Kombination zu untersuchen (Corssen 1998, 129f.), wurde kaum weiter verfolgt. Bei Niessen wiederum, mit seinem (fachgeschichtlich gesehen konkurrierenden) kulturanthropologischen Ansatz, findet sich in einem (späten) Text über die Aufgaben der Theaterwissenschaft (1956) nur der pauschale Hinweis: „Dass für die Würdigung von Bühnenraum, Bühnenbild und Theaterkostüm eine kunsthistorische Schulung notwendig ist, versteht sich ebenso von selbst wie die Kenntnis des Dramas aller Zeiten und aller Kulturen …“;43 weitere Angaben, was eine entsprechende ‚Schulung‘ beinhalten sollte, fehlen. Auch seine Studien (z. B. Max Reinhardt und seine Bühnenbildner, 1958), die viel Biografisches zu den besprochenen Künstler:innen und oft ausschweifende Betrachtungen zum jeweiligen Gegenstand präsentieren, verfahren nicht analytisch und vermitteln keine Methode. Rezente Versuche, ihn – aus Sicht einer an Warburg anschließenden bildtheoretischen Grundlagenarbeit sowie rezenter interdisziplinärer Forschungen zu materieller Kultur, Wissenschaftspraxis und der ­Curatorial Studies – als ersten ‚Bilddenker‘ des Fachs neu einzuordnen, mögen daher strittig bleiben; im Hinblick auf die Frage nach theaterwissenschaftlicher Archivtheorie/-praxis, Methodenfragen und (fachgeschichtlich bedingter) Lücken sind sie indes allemal anregend.44 Generell blieb das Fehlen einer elaborierten Methodik im Umgang mit Bildquellen und sze188

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44 Carl Niessen: Das Bühnenbild. Ein kulturgeschichtlicher Atlas (Quartband-Reihe, großformatig, rund 50 Bildtafeln, schwarzweiß, einzelne farbig), Kurt Schröder Verlag, Bonn/Leipzig 1924ff. und Fritz Klopp Verlag Bonn 1927, Foto/Scan Titelblatt, Theaterwissenschaftliche Sammlung der Universität zu Köln Der „Atlas“ umfasst folgende Bildtafeln: Tafel 1–3: Ostasien, 4–5: Antikes Theater, 7–14: Theater des Mittelalters bis zum 16. Jahrhundert, 15–15a: Fürsteneinzüge, 16: Niederländische Rederijkerbühne und elisabethanische Volksbühne, 17: ­Römisches Theater, 18–30: Perspektivische Bühne im 16. und 17. Jahrhundert., 31: Gärten, 33–34: Deutsches Hoftheater im 17. Jahrhundert., 37: Die Jesuitenbühne, 38–41: Einfache Bühnen, Markt- und Quacksalberbühne, Commedia dell’arte, 42–43: Theater im Freien, Gartentheater, 44–45: Dramatische Turniere und Rossballette, 46–47: Naumachien und Feuerwerke, 48–49: Galli-Bibiena, 51: Carceri, 52: Chinoiserie, 53: Aufbau der Dekoration.

nografischen Artefakten in der weiteren Entwicklung des Fachs bis heute ein kaum gelöstes (und nur wenig adressiertes) Problem. Dieses Manko mag seither auch viel mit jenem einschlägig proklamierten Turn zu tun haben, mit dem man sich im Fach seit den 1960/70er Jahren (v. a. in der deutschsprachigen Theaterforschung) von „der Erforschung von Theateraufführungen der Vergangenheit“ tendenziell ab- und – unter dem Eindruck eines „sich radikal verändernden institutionellen Theaters“ – der „AuseinSzenografisches Wissen / Wissen über Szenografie

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andersetzung mit theatralen Formen der Gegenwart“ (Fischer-Lichte 2010, 21) zuwandte.

Die Beschäftigung mit Theaterdingen – im Dialog mit dem Archiv (verstanden als Wissenspraxis) – ist jedoch keinesfalls obsolet, sondern eine notwendig fortzusetzende (bzw. an benannten Stellen wieder neu aufzunehmende) Arbeit an den Wissensgrundlagen des Fachs. Eine Taxonomie theatergeschichtlicher Quellen legte Dietrich Steinbeck bereits in den 1970er Jahren vor; sein Ansatz differenzierte zwischen „unmittelbaren Quellen“ (darunter Bildmaterial, szenografische Objekte) und „­mittelbaren Quellen“ (z. B. Textbücher, Noten) und sah ihre Analyse auf zwei Ebenen vor (Objektsprache / Metasprache) (ders. 1970, 159f.). Die Entscheidung, welche Quellen für eine Forschungsarbeit herangezogen werden, d. h. die Auswahl und Herangehensweise an die Quellen, ist demnach abhängig von dem jeweils angesetzten (eng oder weit gefassten) Theaterbegriff.

Erfahrungsgemäß sind die gesuchten Quellen oftmals verstreut und müssen in Archiven, Theatersammlungen, Publikationen, Datensammlungen oder direkt im Kontakt mit den Theatern bzw. Künstler:innen recherchiert werden. Zu den Quellen, die in der Szenografie-Forschung besonders zu berücksichtigen sind, gehören Theatergebäude und Spielorte, d. h. Architekturen, die sich noch besuchen lassen – sei es (im europäischen Raum) z. B. das Brecht-Theater am Schiffbauer Damm oder das antike Epidauros Theater, das Teatro Olimpico in Vicenza oder das 1876 eröffnete Bayreuther Festspielhaus, in dem bis heute Richard Wagners Opern gespielt werden. Liegt das Hauptinteresse auf (historischer) Bühnentechnik und Dekorationsteilen, wie z. B. die im 19. Jahrhundert europaweit verbreiteten illusionistischen Dekorationen der Gebrüder Brückner aus ihrem Coburger Atelier, so findet man einiges davon im Meininger Theatermuseum. In vielen Theatermuseen sind zudem neben szenischen Grafiken, Entwürfen und Modellen auch einige Originalobjekte (Kostüme, Masken und andere Theaterdinge) archiviert.45 Diese Quellen können insofern als ‚authentisch‘ gelten, als Aufführungen in diesem Gebäude bzw. jenem Raum tatsächlich stattfanden bzw. dieses Kostüm oder jene Maske ihren Auftritt hatten. Zu beachten ist allerdings, dass auch diese Orte und Dinge altern, dass sie in Stand gehalten bzw. kuratorisch behandelt werden müssen und dass die (kulturell, sozial und durch technischen Wandel und Medienwechsel geprägte) Wahrnehmung der Orte und Dinge stets aus dem jeweiligen Gegenwartskontext heraus erfolgt. Ähnliches gilt im Umgang mit Text- ebenso wie auch mit Bilddokumenten bzw. -objekten, also mit szenischer Grafik, z. B. 190

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Entwurfsskizzen, Collagen, Modelle. Inwiefern solche szenografischen Artefakte (die überwiegend zu den Bildobjekten gehören) Quellenwert haben und nicht nur einst Arbeitsmittel waren, sondern als ästhetische sowie explizit auch als epistemische Objekte zu betrachten sind,46 davon handeln die folgenden Abschnitte.

Ein Problem in dem Zusammenhang ist, wie schon erwähnt, dass es im Fach Theaterwissenschaft – anders als in anderen Fächern – nach wie vor „an einer eingespielten Praxis des Umgangs mit den Objekten mangelt“ (Marx 2020, 19): „So werden Archivalien entweder in einem rein illustrativen Sinne verwendet oder (einer quellenkritischen Würdigung enthoben) eher fetischisiert als kritisch diskutiert“ (ebd.). Was fehlt, ist eine elaborierte bildwissenschaftliche und medienanalytische Methodik, um Bilddokumente als Artefakte und Zeugnisse vergangener Aufführungen eingehend zu untersuchen und, zweitens, um Logiken szenografischen Gestaltens, Entwurfsmedien und Kulturtechniken sowie veränderliche Bedingungen ästhetischer Praxis im Theaterdispositiv aufzuzeigen. Recherche in den Archiven (mit Szenografie-Fokus) trifft auf Quellen, die (nach Steinbeck) ‚mittelbar‘ sind (wie Modell, Zeichnung, Raumpartitur) und auf ‚unmittelbare‘ (z. B. Originalkostüme und Bühnenbildelemente einer Aufführung sowie auch Proben- oder Szenenfotos), die es auf objekt- und metasprachlicher Ebene zu betrachten gilt. Als Entwurf, Vor-Zeichnung und/oder Relikt transitorischer visueller und räumlicher Phänomene sind sie ästhetische Artefakte und selbst Resonanzraum von (über die Bühne hinausweisenden) künstlerischen Tendenzen. Ihrerseits haben sie als Bilder bzw. Bilder von Räumen wiederum eine in Wahrnehmung, Vorstellung und potenziell auch in zukünftiges Gestaltungsdenken hineinspielende ‚Prägekraft‘. Bedingt durch das Ineinandergreifen von Produktion/Rezeption im Aufführungsprozess und die Arbeitsteiligkeit im Produktionsprozess sind sie zudem immer auch soziale Vorstellungsräume.47 Ihrem vormaligen Gesamtzusammenhang (Inszenierung/Aufführung) entrissen und mit Bedeutungen und Spuren von Vergangenem aufgeladen, führen szenografische Objekte mithin ein ‚Eigenleben‘, das über das Sichtbare, direkt Greifbare hinausweist. Die Annäherung an diese Objekte, verstanden als Wissensobjekte, ist insofern herausfordernd. Dies gilt bereits auch für all jene Dinge, die Skizzen, Modelle und szenischen Artefakte, die soeben noch Teil einer (vielleicht gestern noch gespielten) Inszenierung waren und nun gewissermaßen an der Schwelle zum Archiv stehen. – Was also bleibt? Zum einen bleibt, was über Bezugnahmen auf Vergangenes, noch Erinnertes bzw. Vorhandenes, Dokumentiertes aktuell auf einer Bühne als Szenografisches Wissen / Wissen über Szenografie

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‚szenografisches Wissen‘ aufgerufen, künstlerisch bearbeitet, weitergedacht und, wie z. B. bei Sebastian Hannak (vgl. Kap. III.2.), vielleicht sogar mit künstlerischen Reflexionen über die Funktion von Archiven sowie über Archivprozesse und Dynamiken des Erinnerns bzw. Vergessens verbunden wird. Die wissenschaftliche und kuratorische Auseinandersetzung mit ihren Objekten in Theatersammlungen und (physischen) Archiven wiederum bedeutet, im Sinne Aleida Assmanns, eine notwendige, basale Arbeit am kulturellen Gedächtnis der Szenografie. „Da mindestens 95 Prozent dessen, was unser Leben und unsere Kultur ausmacht, unwiederbringlich verlorengeht“, sei die immer neue Annäherung an das in Archiven Abgelegte, vielleicht schon Fremdgewordene unverzichtbar – denn ohne das als bewahrenswert Befundene (oder auch nur zufällig Erhaltene) „hätten wir keine Vergleichs- und Reflexionsmöglichkeiten“ (2010, 168). Dies gilt auch und ganz besonders für das Feld der Szenografie, deren Konzeptionen und Gestaltungen (von Raum, Kostüm/Maske, Licht, Video, Sound) Teil der transitorischen Kunst des Theaters sind, und für eine Forschung, die – an jener Schwelle von Archiv/Praxis – nach Ästhetiken sowie auch nach Epistemen der Szenografie fragt. Ästhetiken des Entbergens. Szenografische Artefakte in Ausstellungen, Museen und anderen Räumen Welchen Platz hat Szenografie – als die ‚bildende Kunst in den darstellenden Künsten‘ – im kulturellen Gedächtnis? Und wie gelangen szenografische Objekte in Archive und, als (wieder) Sichtbares, in Ausstellungen oder Museen? Mit welchem Ziel oder Erkenntnisinteresse stellt man Theaterdinge, die doch eigentlich für die Bühne und eine höchst flüchtige Kunst gemacht wurden, überhaupt aus? Unter welchen Vorzeichen werden Artefakte, die als Relikte vergangener Aufführungsereignisse oder als Objekte mit künstlerischem Eigenwert gesehen werden (wobei der ihnen jeweils zuerkannte Status oft changiert) einem Publikum in anderem Rah45–47 Situationen in der Ausstellung Opéra Monde (Die Oper als Welt. Die Suche nach einem Gesamtkunstwerk), Centre Pompidou-Metz, 2019/2020, oben: Małgorzata Szczęśniak, L‘Affaire Makropoulos, King Kong, Bühnenbildelement, Opéra National de Paris 2007, Mitte: Cy Twombly, Untitled, 2010, Vorhangentwurf (Reproduktion), Wiener Staatsoper / museum in progress; unten: Christoph Schlingensief, Operndorf Afrika, 2008, links im Bild: Modell, Courtesy Hauser & Wirth; rechts: Filmstill aus Sibylle ­Dahrendorf: Knistern der Zeit. 2016 (HD-Video), Produktion: Perfect Shot Films. Courtesy Filmgalerie 451, Berlin. Fotos: Jacqueline Trichard / Centre Pompidou-Metz 2019

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men präsentiert? Wie verändern sich potenziell die Perspektiven auf ­Theaterszenografie, wenn man sie – über die einzelnen Inszenierungen und Aufführungen hinaus – im Spannungsfeld zwischen Bühne/Archiv/ Ausstellung betrachtet? Diese und ähnliche Fragen nach Dingpräsenzen, Ästhetiken und nach der epistemischen Dimension szenografischer Artefakte stehen im Zentrum des folgenden Abschnitts.

Ausstellungen zu Themen und Aspekten der darstellenden Kunst sind (zumal, wenn sie nicht in den wenigen, dafür vorgesehenen Theatermuseen stattfinden) im gegenwärtigen Kunst- und Kulturbetrieb eher selten; und sicherlich ein Sonderfall sind Ausstellungsprojekte, die sich im Besonderen der Szenografie widmen. Eine aufsehenerregende Ausnahme war vor wenigen Jahren eine Präsentation am Centre Pompidou-Metz, die das 350jährige Jubiläum der Pariser Oper zum Anlass nahm, – mit einem forschenden kuratorischen Ansatz und mit Blick auf die jüngere europäische Theatergeschichte – produktive und spannungsvolle Begegnungen zwischen Oper/ Musiktheater und bildender Kunst im ‚Gesamtkunstwerk‘ Theater auszuloten, unter Berücksichtigung sich verändernder ästhetischer Praktiken und kultureller sowie gesellschaftlicher Paradigmenwechsel (Opéra Monde – La Quête d’un Art Total: Opéra et les Arts Visuels aux XXe et XXIe Siècles, Kurator: Stéphane Ghislain Roussel, 2019/2020).48 Die Bandbreite der Exponate war ausgesprochen facettenreich: Aufgezeigt wurden künstlerische Bezugnahmen (angefangen von Referenzen an Wagners Bayreuth), Kontinuitäten, Brüche, ikonische Positionen und – auch in die Zukunft gerichtet – einige aktuelle Tendenzen szenografischer Gestaltung. Wie Szenografie im Gegenwartstheater auftritt und in welcher Weise sie ihrerseits als künstlerischer Diskurs erkennbar wird, suchte man anhand einer Fülle von Material (Bühnen- und Kostümbildentwürfe, Modelle, Originalkostüme, Bühnenbildelemente, Videodokumentation, u. a. m.) aufzuzeigen. Effektvoll wurden die Besucher:innen in der Eingangshalle von einem der wohl größten Bühnenobjekte begrüßt, das in den letzten Jahren für eine Theaterproduktion gebaut wurde: der KingKong-Figur der polnischen Szenografin Małgorzata Szczęśniak (für Leo Janáčeks L’Affaire Makropoulos, Opéra National de Paris, 2007) (Abb. 45).

Im Ausstellungsparcours traf man sodann auf teils bekannte, teils überraschende künstlerische Positionen, darunter szenische Kompositionen Adolphe Appias und Wassily Kandinskys, Entwürfe des tschechischen ­Szenografie-Pioniers Josef Svoboda sowie Fotos und Videodokumentatio194

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nen zu Arbeiten von Robert Wilson, William Kentridge, Romeo Castellucci. Signifikant in dieser Zusammenschau war auch eine Arbeit von James ­Turrell: sein dynamisches Raum- und Lichtkonzept für Pascal Dusapins Kammeroper To be Sung (Festival d’Automne, Paris 1994). Wieder anders Dominique Gonzalez-Foersters Arbeit Helen & Gordon von (2015), entstanden als Beitrag zu der seit 1998 von wechselnden internationalen Künstler:innen gestalteten, einmal jährlich in der Wiener Staatsoper präsentierten Großbildserie Eiserner Vorhang (Wien, museum in progress) (vgl. Abb. 46). Auch Pläne und ein Modell von Christoph Schlingensiefs Operndorf Afrika (Abb. 47) gehörten zur Palette der vorgestellten Arbeiten, sein als ‚soziale Skulptur‘ über Europa hinausweisendes, als transkultureller Dialog angelegtes Langzeitprojekt, das seither nach Ideen des 2010 verstorbenen Künstlers in Quagadougou, Burkina Faso, realisiert und weitergeführt wird.

Das Präsentieren von theaterszenografischen Artefakten in einer Ausstellung bedeutet zuallererst eine Kontextverschiebung – von der Bühne bzw. aus dem Depot, Theaterfundus oder Archiv hinein in die veränderten Bedingungsgefüge von Ausstellungen/Museen, oder mit anderen Worten: einen Wechsel vom Dispositiv des Theaters in das ‚Dispositiv Ausstellung‘, das als Relation von Institution (hier: ein Kunstmuseum), Architektur, Ausstellungskonzeption/Objektkonstellation und Subjekten (Besucher:innen) beschrieben wird (vgl. Prinz, Schäfer 2015). Der Transfer, wie die hier knapp vorgestellte Ausstellung Opera Monde exemplarisch zeigt, hat mehrere Aspekte und Konsequenzen, die sich unter folgenden Stichpunkten zusammenfassen lassen: • Statusveränderung der Objekte: Theaterdinge, – angefangen mit Skizzen, Zeichnungen, Modellen (Entwurfsmedien) über Bühnenbildelemente, Kostüme, Requisiten (üblicherweise betrachtet als Gebrauchsdinge, nur in Ausnahmefällen als Kunstobjekte) bis hin zu Text-/Bilddokumenten, Fotos, Video, u. a. (Dokumentation) – die im Theaterkontext als mittelbare bzw. unmittelbare Quellen zur Inszenierung/Aufführung gelten, werden zum Exponat. Damit einher gehen Gesten der Musealisierung; die Dinge und das Publikum sind zueinander eher auf Distanz gestellt (z. B. Platzierung hinter Glas, auf Stelen); ihr Status oszilliert, tendenziell erfahren sie eine Aufwertung vom Gebrauchsobjekt bzw. Theaterrelikt zum künstlerischen Artefakt.

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• Kontextualisierung (kuratorisches Konzept, ‚Objekte im Dialog‘): Themenausstellungen wie Opera Monde arbeiten mit kuratorischen Konzepten, die der Kunst- und Museumswissenschaftler Paolo Bianchi als „Zeigen von Dingen im Dialog“ umschreibt (ders. 2016). Dies erfolgt vermittels konzeptioneller Verfahren des Auswählens, Zusammenstellens und Zeigens (im Sinne einer kuratorischen These und zuungunsten von Raum/ZeitOrdnungen der Chronologie und geografischen Zuordnung); die Exponate werden nicht als isolierte Artefakte präsentiert, sondern in Gefügen von Hinweisen, Bedeutungen und Bezügen. Oft zudem flankiert durch Begleitveranstaltungen, Online-Auftritt und Katalog (vgl. Roussel/Éd. Centre Pompidou-Metz 2019), sind solche Ausstellungen als Denk-, Erinnerungssowie Erfahrungs- und Diskursräume angelegt, in denen (sonst verborgene) Archivobjekte gezeigt und/oder die – im spannungsvoll komponierten ‚Zueinander‘ der Objekte – dem Publikum ungewohnt-überraschende Sichtweisen auf bereits bekannte Artefakte und Wissensbestände eröffnen.

• Inszenierung/Dramaturgie/Ausstellungsszenografie und Publikumsadressierung: Auch im Museum (sei es Kunst- oder Technikmuseum, Archäologisches, Ethnologisches, Historisches oder Naturwissenschaftliches Museum) wird inszeniert: Exponate werden nicht einfach nur platziert, Filme nicht nur gezeigt, vielmehr sind Rahmen, Sockel, Vitrinen und Projektoren, Ausstellungsarchitektur, Beleuchtung, Leitsysteme u. a. m. sowie oft auch eine kalkulierte Raumdramaturgie Teil der Ausstellungskonzeption. Überdies gilt das Aufgreifen von Theatermitteln (in Dauer- und v. a. in Wechselausstellungen) als wohl markanteste Tendenz in der gegenwärtigen Museumspraxis (vgl. Walz 2016, 245; Brückner 2011, 2019): Entlang spezifischer Parameter (nach Brückner/Greci: „content (storytelling), object (subject), space (architecture) recipient (addressee), dramaturgy (spatial choreography/orders of perception“, dies. 2019, 124f.) werden Ausstellungsparcours entworfen, um ihr Publikum ebenso intellektuell wie auch sinnlich anzusprechen und einer Ausstellung performative Dimension und Erlebnispotenzial zu verleihen. Akzentuiert wird damit der Aufführungs- und Ereignischarakter gegenüber dem reinen Ausstellen. Räumlichkeit, Atmosphäre und die Zeichenhaftigkeit sowie insbesondere auch die Materialität und die Konstellation der präsentierten Objekte und – denkt man etwa an Kostüme und Masken – ihre A ­ ffordanz, werden spürbar mitbestimmende Faktoren. Wie jede:r einzelne als Besucher:in eine solche Ausstellung erlebt, hängt davon ab, auf welchen Wegen man den Parcours begeht, von welchen Objekten man sich affizieren lässt, welche Assoziationen man 196

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jeweils damit verbindet und welche Informationen, Narrative und Eindrücke in Erinnerung bleiben.

Im Fall der Ausstellung Opera Monde wurde man schon in der Eingangshalle auf eine erlebnisorientierte, zugleich explorierende Rezeptionshaltung eingestimmt. Der spektakulär-irritierende Empfang mit Szczęśniaks King-Kong-Figur, einer Nachbildung des fiktiven, furchteinflößenden, durch einen Hollywood-Film der 1930er Jahre berühmten Riesenaffen, ließ an Fragen nach dem ‚Eigenleben‘ von Bildern und ihrer Wahrnehmung denken (und an ein hinterlassenes Diktum Aby Warburgs, „Du lebst und thust mir nichts“).49 Das Publikum wurde zur gesteigerten Aufmerksamkeit und – im mit dieser Begegnung nahegelegten ‚Bildakt‘ – zur Reflexion über Bildexponate und Objekte geradezu animiert.50 Aufgeworfen werden in solchen Konstellationen Fragen nach Gestaltungen und Bedeutungen, die szenografische Artefakte tragen, sowie nach den jeweiligen Objektgeschichten (‚Für welches Theaterstück wurde dieses oder jenes Objekt in der Vergangenheit entworfen, und wie hat es darin mitgespielt?‘), und – allgemeiner – auch Fragen nach der ‚Bildaktivität‘ und nach dem Affordanzcharakter und der Agentialität von Objekten sowie nach Modi ästhetischer Erfahrung und nahegelegten Wahrnehmungsweisen (Affekte oder Assoziationen, die sie herausfordern). Nicht zuletzt stellt sich angesichts solcher, vom Theater ins Museum gewanderter Objekte auch die Frage nach ihrer Memoria-Funktion: Wie hat Szenografie über Theaterbühnen hinaus Teil an der kulturellen Produktion und Zirkulation von Bildern und Weltentwürfen, und in welcher Weise bleiben szenografische Gestaltungen im kulturellen Gedächtnis?

• Museum, Archiv und der wissenschaftliche Blick – szenografische Artefakte als epistemische Dinge: Dass eine Ausstellung sich so eingehend der Szenografie widmet, ist selten. Der Ausstellungsrahmen erlaubt indes – über die Theateraufführung hinaus –, anhand szenografischer Artefakte (wie Architektur- und Bühnenbildmodelle, -entwürfe, Kostümskizzen und Bühnenobjekte, Originalkostüme sowie Rollenportraits, Theaterfotografien, Filmmaterial u. a. m.) künstlerische Ansätze, Bezugnahmen, Entwicklungen und Zusammenhänge aufzuzeigen. Das Betrachten der unterschiedlichen Exponate, Objekttypen und Artefakte während des Abschreitens eines kuratierten Parcours fordert von den Ausstellungsbesucher:innen auch einen eher wissenschaftlichen Blick; angeregt wird so eine veränderte Aufmerksamkeit für die bildende Kunst in der darstellenden Kunst und, damit Szenografisches Wissen / Wissen über Szenografie

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verbunden, auch eine (Neu-)Betrachtung und Reflexion von Theaterdingen als epistemische Dinge. Sofern unter den Exponaten etwa auch Entwurfszeichnungen, -collagen und Bühnenbildmodelle sind, erlauben Ausstellungen überdies einen (dem Theaterpublikum sonst normalerweise verstellten) Blick in die Ateliers von Szenografen und Szenografinnen, indem sie Einsichten und Wissenswertes über unterschiedliche Entwurfsmedien, Kulturtechniken (wie Zeichnen, Modellieren, Komponieren), künstlerische Verfahren und szenografische Praktiken vermitteln.

Wenn szenografische Entwürfe und Artefakte, die im Theaterdispositiv produziert wurden und dort künstlerische Verwendung fanden, in die Ordnungs- und Präsentationszusammenhänge von Ausstellungen/Museen (d. h. in ein anderes Dispositiv) gelangen, geraten auch Begriffe und Kategorien in Bewegung (‚autonome‘ vs. angewandte Kunst, Kunstobjekt vs.

Gebrauchsobjekt, Ausstellung vs. Aufführung). Dass sich gerade in der Gegenwartskunst – mit ihren oszillierenden Gattungsgrenzen, vielfach gebrochenen Konventionen und Überschreitungen – Tendenzen der ­Theatralisierung und Performativierung in der bildenden Kunst51 mit den aktuellen, vielgestaltigen Tendenzen theaterszenografischer Gestaltung berühren und wechselseitig inspirieren, wurde bisher erstaunlich wenig untersucht (vgl. Kjellmer/von Rosen 2021) und ist sicherlich eingehendere Studien wert. Befasst sich eine Ausstellung wie die im Centre Pompidou-Metz thematisch-inhaltlich mit Szenografie, kommt das den von Vertreter:innen dieser Kunst vielfach geäußerten Wünschen nach mehr Wertschätzung, differenzierter Betrachtung und einer gewissen Sehnsucht nach Nobilitierung entgegen (vgl. Döring/Müller-Tischler 2015, Berghausen 2020). Andererseits gibt es aber auch Argumente, die von Künstler:innenseite gegen solche Musealisierung vorgebracht werden: „(…) eigentlich mag ich das Flüchtige, das Vergängliche, das Kantige, das, was eben im Gegensatz zum Museum steht“, so die Berliner Bühnen- und Kostümbildnerin Janina Audick (dies. 2018, 39). Im Vergleich zur Galerie oder zum Museum könne Theater „noch immer (als) ein Entzugsraum vom turbokapitalisierten Kunstraum“ gesehen werden (ebd., 40). Ebenso haben Künstler:innen wie Katrin Brack hinsichtlich ihrer Objektmerkmale, Präsentationszusammenhänge und Performativität dezidiert betont, dass szenografische Artefakte und Bühnengestaltungen nicht isoliert zu betrachten seien, sondern (…) die Schauspieler (brauchen); (…) erst durch das Spiel (…), die Kostüme (…) und das Licht beginnen meine Räume zu ‚spielen‘ …“ (dies., zit. nach Irmer 2019, 123). Ähnlich hatte 198

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auch Bert Neumann stets darauf bestanden, dass seine Rauminstallationen und Bühnenobjekte „nicht zur reinen Betrachtung gedacht“ (und insofern nicht ‚autonom‘) seien, sondern sich erst „durch Benutzung, durchs ‚Bewohnen‘“ einlösten (zit. nach ders./Müller-Tischler 2010, 9). Und doch gibt es aufseiten von Szenograf:innen immer wieder auch den Wunsch, einzelne Bühnenobjekte jenseits des Theaterzusammenhangs auszustellen, oder es kommen Anfragen von Museen oder Galerien. Eben dann kommen aber die auf den verschiedenen Feldern geltenden, unterschiedlichen Kategorien und Regularien zum Tragen, etwa wenn sich herausstellt, dass ein Bühnenobjekt – übereinstimmend mit den Vertragsbedingungen und Theatergepflogenheiten, dann aber doch zum Bedauern der Künstlerin (vgl. Audick 2018, 39) – bereits ausgelagert, zerlegt oder sogar vernichtet wurde. Neumann, der sich schon seit den 1990er Jahren an Kunstmessen (u. a. Berlin Biennale) und Ausstellungen beteiligte (dazu gehörte auch eine Einzelausstellung im Belvedere/Augarten, Wien 2010), erprobte gewissermaßen einen dritten Weg: Szenografische Artefakte, deren Theaterherkunft immer erkennbar blieb, sollten als Exponate im neuen Kontext nicht auf Distanz gestellt, sondern situativ präsentiert und so auch für ein Publikum berührbar, benutzbar und ‚bewohnbar‘ sein.

Eines der Artefakte, die gewissermaßen ein zweites Leben jenseits der Bühne führten, ist ein überdimensional großer Totenkopf – Teil einer Serie überwiegend aus Holz gefertigter Objekte, die für Bühnenräume ­Neumanns in den 2010er Jahren entstanden (vgl. Kap. II.2.). Der vollplastische, begehbare hölzerne Schädel, entworfen für die René-PolleschProduktion Eure ganz großen Themen sind weg! (Münchner Kammerspiele) und inspiriert durch das mexikanische Brauchtum um den Día de Muertos, fungierte auf der Bühne weitgehend ungeachtet seiner Bildsymbolik vor allem als Spielangebot und Impulsgeber für szenisches Handeln (vgl. ­Neumann 2013). Die nach Neumanns Entwurf in den Münchner Werkstätten aufwändig hergestellte Objektskulptur blieb nach Intervention des Künstlers in die theaterüblichen Abläufe erhalten, wurde nach Berlin gebracht und, etwas umgebaut, im Sternfoyer der Volksbühne bis Ende der Spielzeit 2016/17 als begehbare Installation und – im neuen Kontext durchaus pragmatisch – als vom Theaterpublikum in den Pausen gern frequentierte Bar genutzt (Abb. 48).

Ende der 1960er Jahre wurde in Prag die bereits mehrfach erwähnte PQ (Quadrennial of Performance Design and Space, anfänglich unter dem Namen International Exhibition of Stage Design and Theatre Architecture) Szenografisches Wissen / Wissen über Szenografie

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48 Bert Neumann: begehbares Bühnenbildobjekt / Totenkopfskulptur für Eure ganz großen Themen sind weg! Text / Regie: René Pollesch, Münchner Kammerspiele 2013, genutzt als Bar im Foyer der Berliner Volksbühne 2017). Foto: Christian Werner

etabliert – die heute größte und weltweit wichtigste Ausstellungsplattform für Szenografie. Im Rückblick betrachtet, ziehen sich Auseinandersetzungen mit der Frage, wie Bühnen-, Masken- und Kostümgestaltung, Lichtund Sounddesign bis hin zu multi- und intermedialen Konzepten als Kunst ausgestellt werden kann, wie ein roter Faden durch die Geschichte dieser Quadriennale und ihre bisher 15 Ausgaben (Stand 2024). Von Beginn an (gemäß der Präambel zur ersten PQ-Edition 1967) lautete die Zielsetzung, dass szenografische Entwürfe und Artefakte der beteiligten Länder im Rahmen eines Wettbewerbs präsentiert und von einer Jury begleitet unter künstlerischen Aspekten betrachtet, bewertet und prämiert werden sollten (mit dem Hauptpreis „Goldende Triga“ und weiteren Medaillen) – und zwar so, dass ihre ‚synthetische Qualität‘ (synthetic nature) und ‚Untrennbarkeit von der Regie und den anderen Theaterelementen‘ (the inseparability of scenography from the direction and all other components of a dramatic work) nicht außer Acht gerät (zit. nach: PQ/Arts and Theatre Institute Prague 2017, 8). Wurden die Rahmenbedingungen und Regularien dieser 200

Ästhetiken und Episteme

‚Szenografie-Olympiade‘ (nach Ende des Prager Frühlings, im Wandel der politischen Systeme und multilateralen Verhältnisse sowie nach dem Zusammenbruch des ‚Ostblocks‘) mehrmals modifiziert und in Teilen verändert, thematisiert man jene (kuratorischen) Grundproblematik indes immer wieder, wenn etwa Vladimir Jindra, Prager Gremiumsmitglied, 1971 schrieb: „Szenografie (…) sollte nicht im Stil einer Galerie ausgestellt werden, da dies nicht dem Wesen der Szenografie entspricht. Für ihre Exponate sollte eine ‚Theaterumgebung‘ (theatre environment) geschaffen werden“; zu erwarten sei, „dass sich die Ausstellung (…) in Zukunft in diese Richtung entwickeln wird …“.52 Die Prager Quadriennale, auf der bereits 1967 Länder aller Kontinente vertreten waren, wurde seither unterstützt und getragen von der UNESCO, dem International Theatre Institute (ITI) und der International Organization of Scenographers, Theatre Architects and Technicians (OISTAT), in Zusammenarbeit mit dem tschechischen Kulturministerium (damals insgesamt 20, nehmen inzwischen pro Edition etwa 60-70 Länder teil). Zum Programm gehörten – neben der Ausstellung der beteiligten Länder (exhibition of cultures and regions) und der Architekturausstellung – von Anfang an flankierende Konferenzen und Theoriesymposien, die in Verbindung u. a. mit der International Federation for Theatre Research durchgeführt wurden (darunter der IFTR-Workshop On Transformative Scenographic Discourses and Practices, 2023). Um kulturvergleichende Perspektiven spezifischer zu verfolgen, richtete man zudem eine thematische Sektion ein – zunächst mit komparatistischem Blick auf Inszenierungen bestimmter, je vorgegebener Stücke (z. B. Performances of Mozart’s Operas, 1967) oder Theaterformen (z. B. Puppenspiel, 1979); im Zuge diverser Revisionen des kuratorischen Konzepts wurde diese Sektion seit den Nullerjahren zunehmend für unterschiedliche Themen geöffnet (u. a. mit Formaten wie den PQ Talks). Ebenfalls hinzu kamen ein internationales Hochschulforum sowie die Abteilung Buch-Präsentationen (mit Auslobung des „Best Publication Award“). Um für bzw. mit den Exponaten ‚Theaterumgebungen‘ zu schaffen, und auf der Suche nach Alternativen zur vormals konventionellen Präsentation von Bühnenbildmodellen und Kostümfigurinen, integrierte man 1983 erstmals auch performative Installationen in die Palette der einzureichenden Arbeiten (vgl. PQ/Arts and Theatre Institute Prague 2017, 32); seit den 1990er Jahren (und in politisch völlig veränderter Situation) kamen Happenings, Live Performances, Screenings, SiteSpecific-Projekte, interaktive Installationen und Szenografien im öffentliSzenografisches Wissen / Wissen über Szenografie

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chen urbanen Raum hinzu (ebd., 56 und 62). Um den so erweiterten, auch über die darstellenden Künste hinausreichenden Szenografie-Begriff bereits im Veranstaltungstitel zu signalisieren, erhielt die PQ im Jahr 2011 einen neuen Namen: Prague Quadrennial of Performance Design and Space.

Die künstlerische Leiterin jener Edition, Sodja Lotker, erläuterte die Namensänderung wie folgt: Using the term performance design aims towards acknowledging the changes in the theatre in the last decades as well as the changes in scenographic ­activity being part of numerous genres and disciplines. (…) Scenography, or performance design, today can be defined as a complex environment including space, light, sound, and body, an environment for the creation of performance relations.53

Besonders in den letzten drei Jahrzehnten formierte sich die PQ zur weltweit größten und bedeutendsten Plattform für szenografische Gestaltung, künstlerische Forschung, Theoriedebatte und Dokumentation.54 Bereits seit 1967 war auch (Ost- und West-)Deutschland regelmäßig beteiligt, erhielt in den verschiedenen Programmschienen diverse Preise, darunter die Goldene Triga im Länderprogramm (DDR 1971; BRD 1983), und in die Zeit nach der ‚Wende‘ fielen Auszeichnungen für das Lebenswerk Achim Freyers und Bert Neumanns, Bühnen-/Kostümentwürfe von Johannes Schütz und für Katrin Bracks monografische Publikation Bühnenbild/Stages (2010). Zur dieser Bilanz gehört aber auch, dass dieses im osteuropäischen Kontext verankerte, internationale, über Jahrzehnte etablierte Szenografie-Festival in seiner Bedeutung hierzulande kaum wahrgenommen wird: Seit den 2010er Jahren stand die deutsche Teilnahme mehrmals in Frage, und im Jahr 2023 kam ein deutscher Länderbeitrag wegen fehlender Förderzusage durch das Auswärtige Amt gar nicht mehr zustande.55 Das mag mehrere Gründe haben; „Maybe this indicates a certain saturation“, mutmaßt PQ-Kurator Serge von Arx, (…) the German theater and museum landscape and all in all the entire field of art is very large; it is recognized and acknowledged internationally. Due to the complexity in expression (…) and the attention that these works have already received, a strong urge to present oneself at the PQ may not be a priority. There are of course relevant individual representatives that appear in the discursive events of the PQ, having their own branding. But above and beyond this, the understanding of scenography on the ‚meta-level‘ as well as creating a wider framework do not seem to have been strongly promoted in the German-language countries so far. (ders. 2019, 218)

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Ästhetiken und Episteme

49–51 Spectators in a Ghost City, Länderbeitrag Zyperns zur Prager Quadriennale 2023, Cyprus Theatre Organisation, Projektidee / Konzeption: Marina Maleni, Artistic Research und Installation Design: Melita Couta, Video-Performance: Pascal Caron, Melita Couta, technische Beratung: Haris Kafkaridis. Fotos links oben und unten: V ­ or-Ort-Situationen mit Modellen verlassener Häuser jenseits des Zauns im von der Türkei besetzten Sperrgebiet Varosha/Famagusta. Rechts oben: Projektpräsentation auf der Prager Quadriennale, Ausstellungssituation. Auszeichnung mit der „Goldenen Triga“, PQ 2023. Fotos: Melita Couta Szenografisches Wissen / Wissen über Szenografie

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Damit einher geht abermals auch der Befund, dass an die heute sehr lebendige internationale Forschungsdiskussion der Scenography and Performance Design Studies, an ihre Theorie- und Methodenperspektiven sowie inter-/ transkulturelle Debatten zu Geschichte und aktuellen Tendenzen der Szenografie in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft bisher kaum angeschlossen wurde (vgl. Kap. I.2.). Als Aufgabe bleibt hier somit, Ästhetiken und Epistemologien der Szenografie sowohl in der eigenen Geschichte wie auch im Hinblick auf die Komplexität globaler Zusammenhänge (neu) zu betrachten, zumal, wie etwa Johannes Schütz zutreffend konstatierte, „Tauschphänomene der globalen Kulturen“ (die in der Architektur und der bildenden Kunst „deutlicher bemerkbar“ seien), im Gegenwartstheater und der erkennbaren Bandbreite des Szenografischen längst „nicht mehr zu übersehen sind“ (ders. 2016, 15). Über befristet mit Drittmitteln geförderte Forschungsprojekte hinaus (wie jenes, aus dem das vorliegende Buch hervorging),56 ist der Gegenstand ‚Szenografie und Performance Design‘ universitär bisher allerdings nicht systematisch implementiert. Zudem zeigen sich, sowohl auch im Blick auf die sogenannte angewandte Theaterwissenschaft und ihre im Hochschulkontext etablierten Arbeitsfelder, wie auch im Hinblick auf die Theorieanteile im Bühnen-/Kostümbild- bzw.

Szenografie-Programmen an Kunsthochschulen, besagte Lücken. Auch für die Szenograf:innen, als Berufsgruppe im Praxisfeld, ist die so angezeigte, gewisse Marginalisierung ihrer Kunst sicherlich nicht von Vorteil. Insofern bestätigt sich die Beobachtung Serge von Arx‘, dass es hier – über die gängigen Instrumentarien theaterwissenschaftlicher Inszenierungs-/Aufführungsanalyse hinaus – weiterreichende Ansätze zur Reflexion von Szenografie auf der ‚Metaebene‘ und in größeren Zusammenhängen (a. a. O.) erst noch zu entwickeln gilt.

Was aber meint ‚Metaszenografie‘ und welche Forschungsperspektiven werden damit eröffnet? Als exemplarischer Gegenstand für Metaperspektiven in/auf die Szenografie (wie sie mit den Foren und dem kuratorischen Konzept der PQ ins Spiel gebracht werden) sei eine künstlerische Experimentalanordnung angeführt, die 2023 als Länderbeitrag Zyperns präsentiert (und mit dem Hauptpreis Goldene Triga prämiert) wurde, Spectators in a Ghost City. Die mehrteilige Projektkonzeption referierte auf einen realen Ort und seit 1974 andauernden geopolitischen Konflikt: die Besetzung östlicher Teile Zyperns durch das türkische Militär, mit der die Stadt Famagusta mit ihren am Meer gelegenen, touristischen Hotelanlagen im Stadtteil Varosha, zu einer Geisterstadt wurde. Als das Sperrgebiet 2020 204

Ästhetiken und Episteme

partiell wieder betreten werden konnte, wurde die Begegnung mit den verlassenen, ruinösen Häusern – wie in einer ‚Zeitkapsel‘ – für Marina Maleni, Projektinitiatorin, und ihr künstlerisches Team zum konzeptionellen Ausgangspunkt: Wie lassen sich Orte des Konflikts und des Traumas als materielle Träger von Erinnerungen verstehen? Wie kann man sich ihnen mit szenografischen Mitteln annähern, und welche Vorstellungen einer möglichen Zukunft lassen sich darüber entwickeln?57 Um diesem Ort und den darin sedimentierten Narrativen, Emotionen, Erinnerungen und Momenten von Zugehörigkeit, Verlust, Schmerz oder Verdrängung explorierend und, trotz aller Konflikte, ergebnisoffen zu begegnen, entwickelten Maleni und ihr Team ein künstlerisches Verfahren der Umkehrung von Modell und gebautem Artefakt („reverse scenography“): Plastische Modelle entstanden – als Versuch, die Eigenheiten und Energien jener Architektur und urbanen Landschaft en miniature zu vergegenwärtigen, gewissermaßen zu verdichten und ihnen in der künstlerischen Praxis des Modellbauens nachzuspüren. Im nächsten Schritt konfrontierten zwei Performer:innen die erarbeiteten Modelle situativ mit dem realen Ort, bevor diese schließlich – nebst historischem Bildmaterial, Originalfundstücken aus Famagusta und aktuell vor Ort gedrehten Videofilmen – in den Prager Ausstellungräumen dem internationalen Quadriennale-Publikum präsentiert wurden (Abb. 49–51). Erprobt werden sollte so erklärtermaßen die Anwendung szenografischer Methoden als „politischer Akt, Verhandlung realer Konflikträume und performative künstlerische Praxis“ und als gemeinsam mit dem Publikum unternommener „Denkprozess“ (ebd.). „Nur wenige Begriffe werden allgemein und im wissenschaftlichen Diskurs undifferenzierter gebraucht als ‚Modell‘“, kritisierte einst Nelson Goodman (ders., Sprachen der Kunst, 1968/1995, 164). Ein Typ oder Prototyp, ein Exemplar, ein Modell in Originalgröße, eine mathematische Beschreibung und anderes mehr: In der Tat wird das alles unter dem sehr weit gefassten Terminus versammelt. Aber auch, wenn man sich – wie mit dem Projektbeispiel angedeutet – auf visuelle Modelle (d. h. pikturale und materielle Modelle, wie etwa Architektur- oder Bühnenbildmodelle) konzentriert, bleibt der Gegenstandsbereich weit, zudem stellen sich Fragen nach ihrer Funktion, ästhetischen Produktivität und Medialität: In welchem Verhältnis steht das im Modell Dargestellte, Vermittelte überhaupt in Bezug zu dem, das damit entworfen, aufgerufen und vorstellbar gemacht (und vielleicht später gebaut und realisiert) wird? Und wie verhält es sich im Fall des beschriebenen PQ-Beitrags, der mit dem konventionellen VerSzenografisches Wissen / Wissen über Szenografie

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hältnis von Modell/Realisierung offenkundig spielte, indem in einer szenografischen Experimentalanordnung die Relation zwischen beidem tentativ gewendet und performativ in Bewegung gesetzt wurde?

Einem heute verbreiteten Verständnis zufolge (vgl. Reichle/Siegel/Spelten 2008) versinnbildlichen Modelle – als physisches, virtuelles oder abstraktes Modell – einen Entwurf und fungieren als Werkzeug, Medium oder eine Art Vehikel, um etwas zu planen, zu erforschen, zu bearbeiten und/oder zu kommunizieren. Vermittelt über Formeln oder Visualisierungen eröffnen sie Potentialitäten; indem sie weder als bloße Replik auf schon Vorhandenes noch als bereits ausformuliertes Vorbild auf Zukünftiges fungieren, eröffnen sie plurale (wenngleich nicht völlig unbeschränkte) Optionen und ‚triggern‘ Phantasie und Imagination. Zugleich stehen Gebrauch und Entwicklung von Modellen stets im Spannungsfeld gesellschaftlicher, politischer, wissenschaftlicher, kultureller und ethischer Paradigmen. Ein wesentlicher Aspekt visueller Modelle (wie Architektur- oder Bühnenbildmodelle) ist (1.) das Verkleinernde, die Miniatur, die mit Kinderspielzeug und der Idee der ‚Unschuld‘ des Modells verbunden wird. (2.) Ein weiterer Aspekt ist die Annahme ihrer – vermeintlich neutralen – Funktion als Entwurfswerkzeug, basierend auf einer mathematisch zu berechnenden, maßstabsgetreuen Skalierung, mit der gewissen Komplexitätsreduktion einhergeht. Ein dritter Aspekt (3.) ist ihr habitualisierter Gebrauch in ver­­schiedenen Feldern (der Wissenschaft, Kunst, Kultur) als Medium konzeptioneller Entwicklung, Kommunikation oder auch Dokumentation.

Entscheidend ist somit weniger, was ein Modell repräsentiert oder zeigt, sondern vor allem, wie es als Medium und Artefakt operiert. Wie in diesem Zusammenhang in der Szenografie- und Performance Design-Forschung hervorgehoben wurde (vgl. von Arx 2018, s. a. Brejzek/Wallen 2018), sind szenografische Medien und Praktiken (wie Modell/­Modellieren oder, ähnlich, auch Skizze, Zeichnung sowie Notation und Raumpartitur) dazu angetan, eigene Realitäten, ja geradezu eine ‚Vielheit von Welten’ zu konstituieren. So besehen, sind sie effektive, machtvolle Werkzeuge und valide Instrumente dessen, was Goodman als ‚worldmaking‘ (vgl. ders., Weisen der Welterzeugung, 1978/1984) bezeichnete: ein Begriff, der auf den menschlichen Impetus verweist, sich die Welt vorzustellen, Welten zu entwerfen, zu gestalten oder – wie der beschriebene PQ-Beitrag Spectators in a Ghost City – vermittels solcher Medien und Praktiken zu explorieren und verstehen zu wollen, um sie vielleicht sogar zu verändern (s. a. 2018b).

Gestellt ist damit auf einer ‚Metaebene‘ (von Arx) die Frage: Inwiefern 206

Ästhetiken und Episteme

sind Modelle (ebenso wie Skizzen, Zeichnungen, Skripts, szenografische Notation und Raumpartituren) ästhetische und epistemische Dinge, ‚weltentwerfende‘ Konzeptionen und in dem Sinne Medien künstlerischer ebenso wie geistiger Tätigkeit? Und welches Wissen drückt sich darin aus?

2. Über Entwerfen, Kulturtechniken und epistemische Dinge „Die Wirklichkeit des Theaters ist nicht die Aufführung“: Dieses bemerkenswerte Postulat stellte der Bühnenbildner Johannes Schütz einer seiner monografischen Publikationen voran (vgl. ders. 2016, o. S.), in denen er Einblicke in sein Atelier, in künstlerische Überlegungen beim Entwerfen und in Erfahrungen bei der Probenarbeit gibt. Dort heißt es weiter: … Das Theater bildet außerhalb dieser Zustandsform aufgeführt/nicht aufgeführt eine eigene Wirklichkeit, vergleichbar mit der autonomen Wirklichkeit einer Zeichnung, eines Modells oder einer Probebühne. Realisiert oder nicht realisiert bestimmen weniger den Wert und die Wirklichkeit des Theaters, als das Befragen und das Ausprobieren … (ebd.)

Am Anfang der Vorbereitung einer Inszenierung stehen Recherchen und Entwürfe für die Bühne (in Skizzen, Zeichnungen, Collagen, Moodboards, Modellen), die üblicherweise im Atelier des Szenografen bzw. der Szenografin entstehen,58 bevor Präsentationen, Entwurfs-/Modellbesprechung und konzeptionelle Abnahme am Theater in Kooperation mit Regie, Werkstätten und Technikabteilungen erfolgen. Die Abgabe des Bühnenbildmodells zu einem vereinbarten Termin (und im verabredeten Maßstab, meist 1:20 oder 1:50), nach der die Bauprobe (in Originalgröße) und die finale Abnahme erfolgen (sowie, etwa zeitgleich, die Abgabe hinreichend detaillierter Kostümentwürfe und deren Abnahme), sind wichtige Etappen im Theaterproduktionsprozess und zugleich (im Rahmen von Werkverträgen) vertraglich geregelte Verpflichtung (vgl. Bolwin/Sponer 2023). Im Dispositiv des Theaters haben Entwürfe wie Kostümfigurinen und Bühnenbildmodelle demnach eine mindestens dreifache Funktion: (1.) als Medium und Instrument künstlerischen Entwerfens, (2.) als Kommunikationsmedium und Artefakt sowie (3.) als Vertragsgegenstand.

Auf übergeordneter Ebene (und im Sinne des oben angeführten Zitats) könnte man aber auch sagen, dass szenografische Entwürfe (wie die ­Miniaturwelten des Modells) so etwas sind wie ‚utopische Treffpunkte‘,59 d. h. Residuen aufscheinender Ideen, Assoziationen und (noch nicht realisierter) Möglichkeiten, die bei den Proben von Regieteam, Ensemble und Über Entwerfen

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den Mitarbeiter:innen der Gewerke erst noch zu erkunden sind – oder, im Rückblick auf vergangene Aufführungen, vielleicht später auch von Besucher:innen einer Ausstellung, eines Theatermuseums oder Archivs.

Das Bühnenbildmodell als Medium und Artefakt „Die Arbeit an Modellen ist eine naheliegende Option für Theaterarbeit, weil das Theater selbst nichts anderes als ein Modell ist; Bühnen sind (…)

Modelle im Maßstab 1:1“: Diese These Johannes Schütz‘, formuliert aus künstlerischer Perspektive (ders. 2016, 11), wirft Fragen auf. Was bedeutet der Begriff ‚Modell‘ im Theaterzusammenhang, und welche Praktiken zeigen sich im Umgang mit Modellen?Bei solch grundsätzlichen Fragen60 hilft zunächst meist eine kurze Rekapitulation der Etymologie eines Begriffs. Der Terminus modello, gebräuchlich seit der italienischen Renaissance, ist ein Diminutiv des Wortes modus (lat. für ‚Maß‘); das ‚kleine Maß‘ steht für Reduktion und somit für den Versuch, in der Verkleinerung komplexe Phänomene oder Zusammenhänge zu veranschaulichen. In der Kategorie der visuellen Modelle (vgl. Reichle/Siegel/Spelten 2008) besteht eine enge Verwandtschaft zwischen dem Architektur- und dem Bühnenbildmodell;61 Architekturmodelle sind schon für die Han-Zeit in China und das alte Ägypten belegt, in Europa werden sie nachweislich seit der Renaissance – unter Anwendung der Kulturtechnik der perspektivischen Raumdarstellung – beim Planen und Entwerfen von Bauvorhaben verwendet. Die ersten Bühnenbildmodelle datieren ins frühe Barock und zeigen Miniaturkonstruktionen der perspektivisch organisierten Guckkastenbühne mit ihrer Kulissenapparatur und Bühnenmaschinerie, die in dieser Formation bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts im (europäischen) Theater dominant blieb. Wie sehr die Elektrifizierung der Bühnen, die Erfindung der Drehbühne, praktikable Bühnen sowie die Raumbühnenexperimente und diverse Ikonoklasmen der traditionellen Kulisse seit den historischen Theateravantgarden und den sogenannten Neoavantgarden die Bühnenformen veränderten – auch davon erzählen Modelle.62 Wie also lassen sich szenografische Modelle als ästhetische und epistemische Dinge verstehen und was leisten sie – (1.) als Medien des Entwerfens und (2.) als Medien der Vermittlung von Gestaltungsdenken?

Als visuelle Modelle erlangen Bühnen- bzw. Bühnenbildmodelle ihre wohl wesentliche Bedeutung darüber, dass Sprache zumeist nicht hinreicht, um Ideen, Entwürfe, Parameter und Merkmale räumlicher Gestaltungen, 208

Ästhetiken und Episteme

darin angelegte Handlungs- und Spieloptionen und potenzielle ästhetische Wirkungen zu beschreiben. Modelle sind Medien, die erlauben, narrative und performative Räume zu entwerfen. In dieser Funktion sind sie allerdings nicht nur reine Werkzeuge, sondern ästhetische und epistemische Objekte und Vehikel szenografischen Gestaltungsdenkens; hierbei oszillieren sie zwischen Nachbildung (von Formen, Strukturen, Dingmerkmalen, auf die sie referieren) und Vorbildung/Entwurf dessen, was erst noch entstehen soll und was sie zu präskribieren suchen. Der Vorgang des szenografischen Modellierens, dem oft auch künstlerisch forschende Aspekte innewohnen (vgl. von Arx 2018), verbindet Abstraktion und Anschaulichkeit.

Indem Modelle Versteh-, Prognose-, Gestaltungs- und Erfahrungsangebote als eingeschriebene, ‚bildaktive‘ Eigenanteile in sich bergen und, in einer Art doppelten Geste, Phantasie und Vorstellungsvermögen stimulieren, aber auch lenken, übernehmen sie im Entwurfsvorgang sowie auch in der Reflexion darüber eine Katalysatorenfunktion.

Befragt man Szenograf:innen zu ihren Entwurfspraktiken und darüber, wie und mit welchen Entwurfsmedien sie arbeiten (Skizze, Zeichnung, Collagen und/oder verschiedene Modelltypen), erhält man unterschiedliche Auskünfte. So notierte beispielsweise Johannes Schütz in einem seiner Arbeitsbücher: „(…) ich kann die Arbeitsphasen der Findung und der Durchführung einer Idee kaum sortieren. Die Grenzen zwischen Idee, Zeichnung, Arbeit am Modell, Proben mit Schauspielern und Beleuchtungsprobe sind sehr fließend“ (ders. 2008, 15). Zur Relation Zeichnung/Modell heißt es dort: „Manchmal ist für mich Zeichnen die schnellste Art, Bühnenbilder zu entwickeln. Eine Zeichnung entsteht in Sekunden. Sie hat beides, einerseits ist sie schon ein Schritt, die Idee festzuhalten, andererseits kann man sich alle Wünsche erfüllen“, und weiter: „(…) danach arbeitet man an Modellen, meist im Maßstab 1:20, die eine sehr genaue Simulation sind. Man kann um das Modell herumgehen, man kann hineingreifen. Beide Mittel – die Zeichnung und das Modell – halte ich für unverzichtbar, gerade weil sie so unterschiedlich sind“ (ebd., 15).

Bei anderen Künstler:innen gehen Skizzieren/Zeichnen und Modellieren im Findungs- und Formulierungsprozess eher Hand in Hand, oder man arbeitet, wie z. B. Barbara Ehnes, stark konzeptbasiert, ‚raumplastischskulptural‘ und nutzt von Anfang an vor allem Modelle, genauer: verschiedene Modelltypen in unterschiedlichen Größen (Arbeitsmodelle, detailliertere Entwurfsmodelle, 1:50 oder 1:20).63 Auch Katrin Brack, die sich beim Entwerfen stets auf wenige szenografische Elemente beschränkt und, überwiegend abstrakt und in einer ‚Poetik des Seriellen‘, mit den wenigen, Über Entwerfen

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repetitiv und in großen Mengen einzusetzenden Mitteln Voraussetzungen für performative Räume schafft, für die in Werkstätten zumeist wenig gebaut wird (und die indes aber auch einen speziellen Aufwand verlangen), arbeitet sowohl mit Skizzen (vgl. Abb. 61–64) wie auch mit dem Modell: „Für mich ist es normal, ein Modell zu bauen und zwar immer in der Größe 1:20, nicht kleiner; ich brauche genau diesen Maßstab“,64 (vgl.

Abb. 52–54). Da sie, wie in Kap. II.2. beschrieben, oftmals lose, bewegliche Elemente und pro Entwurf ein bestimmtes, ausgewähltes Material (wie Konfetti, Leuchtgirlanden, farbige Stoffbahnen, Theaterschnee u. a. m.) einsetzt, bedeutet ‚Modellieren‘ in dem Fall, jeweils geeignete, unkonventionelle Praktiken zu entwickeln, um Materialverhalten, Raumund Objektverhältnisse, ästhetische Wirkungen und überhaupt die Tragfähigkeit einer konzeptionellen Idee zu erproben. Um dem Regisseur Dimiter Gotscheff ihren Gestaltungsansatz für Iwanow – eine Bühne voller Nebel – zu präsentieren, „haben wir Zigaretten geraucht, ins Modell hineingeraucht, um den Nebel zu simulieren“ (Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin, 2005) (ebd.). Auf diese Weise ließ sich – en miniature, ohne Nebelmaschine – andeuten, wie Nebelschwaden einen Raum füllen, sich bewegen, dynamisch formieren, die Schauspieler:innen (vergegenwärtigt durch maßstabsgetreue Figurinen) effektvoll umhüllen und ihrerseits gewissermaßen eigene Spielräume bilden. Ein weiteres Beispiel: In der Arbeit am Raum für Das große Fressen (Berliner Volksbühne, 2006) gab es anfänglich die Assoziation einer Welt der Dekadenz, der Übersättigung. Zur Überprüfung und Präsentation der daraus entstandenen Entwurfsidee – eine Bühne aus Schaum – habe sie, so Brack, „Rasierschaum ins Modell gesprüht, und das hat gut funktioniert. (…) Im Modell kann man vieles ausprobieren, auch Lichtwirkungen (…); ich finde ein Modell unerlässlich“ (ebd.). „Modellieren ist Handeln und Denken im Dreidimensionalen, es ist praktische Raumforschung und ästhetische Raumerkundung“ (Dreissigacker, in: Badura et al. 2015, 183), „(…) Im Modellieren gewinnt die Imagination kommunizierbare Sichtbarkeit, lassen sich Aussagen über die Materialbeschaffenheit und Proportion konkret erkennen und bestimmen, Atmosphären scheinen auf und können durch die gemeinsame Erfahrung hindurch gestaltet werden“ (ebd.). Gegenüber Skizze und Zeichnung, die Formulierungen einer konzeptionellen Idee auf Papier erlauben, ermöglicht das Modell deren Veranschaulichung im Dreidimensionalen. Hinzu kommt noch ein weiterer Aspekt, der untrennbar zu jeder Entwicklung 210

Ästhetiken und Episteme

52 Sneeuw, Bühne: Katrin Brack, Regie: Luk Perceval, NTGent 2016. Bühnenbildmodell, Holz, Pappe, bunte Seidenpapierstreifen

53 Richard the Kid & the King, Bühne: Katrin Brack, Regie: Karin Henkel, Schauspielhaus Hamburg / Salzburger Festspiele 2021.

Bühn­­­­en­­bildmodell, Holz, Pappe, farbige Papierkugeln in verschiedenen Größen

54 Hamlet, Bühne: Katrin Brack, Regie: Karin Henkel, Burgtheater Wien, 2024.

Bühnenbildmodell, Holz, Metall, Pappe, aquarellierte Bildelemente Modellfotos: K. Brack Über Entwerfen

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einer räumlichen Konzeption für eine Theaterproduktion gehört und den das Bühnenbildmodell – in seiner Verwandtschaft mit dem Archi­ tekturmodell – ebenso nahelegt, nämlich die Auseinandersetzung mit dem jeweils vorgefundenen Kontext, mit gegebener Architektur, Bühnenraum und Bühnentechnik. Jeder reale, bereits vorhandene Raum macht seinerseits Angebote durch Raumproportionen und -strukturen, durch Höhe, Breite, Tiefe sowie auch Licht, Farbigkeit, Klang bzw. akustische Verhältnisse. Szenografische Modelle nehmen solche Gegebenheiten mit auf und machen sie gewissermaßen neu zugänglich, um sie als transformatorisch zu bearbeitende Aspekte in die Entwurfs- und Probenprozesse hineinzunehmen.

Immer wieder aufs Neue stellen sich dabei, wie etwa der Bühnenbildner und Regisseur Michael Simon betont hat, grundsätzliche Fragen: Was ist ein Raum? / Wer definiert den Raum? / Wie definiert sich der Raum? / Was verlangt der Raum von mir? / (…) Wie ist das Verhältnis zwischen Zuschauerraum und Bühne? / Was gibt mir der Bühnenraum an essenziellen Informationen? / Was macht das Theater aus, außer die Summe seiner Einzelteile? (zit. nach Neuffer/Wetzel 2022, 146f.)

Engagements führen Szenograf:innen produktionsbezogen zumeist an verschiedenste Theaterhäuser. Die spezifischen Kontexte werden im Erstellen detaillierter Modelle der vorgefundenen Architektur und Bühnenräume entweder bereits mitberücksichtigt, oder aber Künstler:innen, wie z. B. Katrin Brack, verwenden eine Art ‚Grundkasten‘, ein justierbares Grundmodell, um die jeweiligen Gegebenheiten mitzudenken und mit ihnen kreativ umzugehen. Alle diese Modelle – als physische Objekte – sind Medien und mobile Artefakte, die Gestaltungsdenken vermitteln und sich, wenn notwendig, in der Vorbereitungsphase einer Produktion von Ort zu Ort transportieren lassen; ihnen eignet eine besondere Mobilität und Medialität. Hierin zeigt sich, wie eng ihre Funktionen als Entwurfsmedien und als Medien der Vermittlung von Gestaltungsdenken miteinander verbunden sind.

Ein nächster Arbeitsschritt in der fortgeschrittenen Entwurfsphase ist im Zuge dessen das Fotografieren von Modellen, das, so Schütz, den Blick allerdings modifiziert; der gerichtete, selektive Kamerablick, der Modellfotos eingeschrieben ist, „emanzipiert das Puppenhaushafte dieser ‚miniature rooms‘. (…) Der Wirklichkeitsgrad der Fotos ist höher als der des Modells“ (ders. 2016, 400). Der „Spiel- und Basteltrieb, der zum Modellbau führt“, verschwinde gleichsam in der „Camouflage der Abbildung“ (ebd.). Darüber, dass es gerade aber das Haptische, Physisch-Tangible des Modells ist, das 212

Ästhetiken und Episteme

performativ – im Prozess der Proben- und Inszenierungsarbeit – unter den Beteiligten Vermittlung und Austausch über Gestaltungsideen und das gemeinsame Finden und Erkunden von Spieloptionen erlaubt, besteht im Praxisfeld bisher offenbar weitgehend Einigkeit. In dem Sinne wird gegen computergenerierte Raumsimulationen häufig eingewendet, dass sie „technisch verführerisch, aber unhaptisch“ seien (ebd., 401). „Manchmal“, so Katrin Brack, „bringe ich der Regie und den Technikabteilungen zunächst Modelfotos. Doch spätestens, wenn die Schauspieler und Schauspielerinnen dazu kommen, ist mein (physisches) Modell da – denn gerade für sie ist es erfahrungsgemäß wichtig, dass sie das Modell vor sich haben und eben nicht nur die Fotos“ (dies., wie Anm. 64). Ähnliches gelte, so Brack, bis zur Bauprobe für die Kommunikation mit den Technikabteilungen und den Werkstätten: „(…) manchmal passieren Dinge auch einfach beim Bauen, eine Änderung oder andere Idee ergibt sich. Übertragungen vom Modell in den Raum funktionieren aber eigentlich immer …“ (ebd.). Eine weitere, besondere Funktion übernimmt das Modell darüber hinaus, wenn eine Produktion für zwei oder mehrere Bühnen entsteht, wie z. B. Richard the Kid & the King (Regie: Karin Henkel, Bühne: Katrin Brack, 2021) für das Schauspielhaus Hamburg und die Salzburger Festspiele oder, ein anderes Beispiel: Ulrich Rasches Version von Agamemnon, dem ersten Teil von Aischylos‘ Orestie (Regie/Raumkonzept: ders.), realisiert als Koproduktion zwischen dem Festival Epidauros und dem Residenztheater München (2022/2023). In solchen Fällen kommt dem Modell (das ggf. modifiziert und an die Bedingungen verschiedener Spielorte adaptiert wird) eine wichtige Übertragungs- und Übersetzungsfunktion zu.

Auch Rasches skulpturale Theatermaschinen, die er als Szenograf und Regisseur in Personalunion für seine Inszenierungen entwirft, entstehen, wie erwähnt, im Modell. Konzeptionell sind die Rollbänder, Walzen, spiralförmigen Leuchtmobile und drehenden Scheiben (vgl. Kap. II.2.) so angelegt, dass sie Handlung bzw. Grundkonflikt des aufzuführenden Stücks wie ein unerbittlicher, unbegreiflicher Motor antreiben und zugrun­ deliegende Konfliktstrukturen gleichsam verräumlichen und amplifizieren.

Zugleich nehmen diese Kunstmaschinen stets Bezug auf die architektonischen Gegebenheiten, vorgefundene Bühnenform und Bühnentechnik, indem sie auf diese aufsetzen, sie erweitern (z. B. multiple Drehbühnen auf der Drehbühne) oder – mit ihrer energetischen Wucht – zu diesen spürbar in Spannung treten. Unter Berücksichtigung beider Aspekte – Stückanalyse und Architekturkontext/Bühnenraum – erfolgen IdeenfinÜber Entwerfen

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dung und Formentscheidung, so Rasche, in der Vorbereitungsphase früh und eher intuitiv.65 Ein Konzept für zwei verschiedene Bühnen – und, wie für die Produktion Agamemnon (2022/2023), für zwei unterschiedliche Bühnenformen: ein griechisch-antikes Amphitheater und die (ehemals höfische) Guckkastenbühne des Münchner Residenztheaters – zu entwickeln, bedeutete überdies eine besondere Herausforderung. Zunächst war es auch dort jeweils die Vor-Ort-Erkundung der räumlichen Gegebenheiten, die einen kreativen Umgang mit ihnen und das Entwickeln einer szenografischen Strategie ermöglichte: „Wenn man selbst in Epidauros sitzt, begreift man die architektonische Klarheit, mit der die Anlage gebaut ist.

Den Bühnenraum umgibt die weite peloponnesische Landschaft, davor die Orchestra, die man unbedingt als Scheibe wahrnehmen muss – als Fokus, auf den sich die Blicke konzentrieren“, so Rasche (ebd.). „Anders als in der Guckkastenkonstellation geht der Blick nicht von unten nach oben zum Portal, sondern man schaut von der Tribüne aus auf die Scheibe.

Damit verändern sich auch Relationen und Wahrnehmung von ‚hinten‘ und ‚vorn‘, man hat beides zugleich im Blick“ (ebd.). So entstand die Idee des Uhrwerks, das sich unablässig dreht. In den Münchner Werkstätten wurde dann eine von Ulrich Rasches technisch hochkomplexen Drehscheiben gebaut, die 2022 nach Epidauros reiste, um auf den Lehmboden der Orchestra des Jahrtausende alten Theaters installiert zu werden, wo sie die Protagonisten und Chöre der Inszenierung vor offener Landschaft – im wohl nicht endenden, seit Menschengedenken offenbar nicht enden wollenden Kreislauf von Gewalt, Kampf und Rache – ihrem Schicksal entgegentrieb. In München galt es, diese Konstellation in die Gegebenheiten des Residenztheaters szenografisch zu ‚übersetzen‘. Gelöst wurde diese Herausforderung mit einem hoch oben im Bühnenhimmel angebrachten, mehrteiligen, schräg gekippten Spiegel, der den Zuschauer:innen (im sonst schwarzen Raum, vor weggeleuchteter Brandmauer) eine Draufsicht auf die Bühne vermittelte, die im antiken Theatron ohnehin gegeben war; wie nebenbei schien hier die (sonst meist ausgeblendete) Frage auf, für welche Architektur bzw. Bühnenformen antike Tragödien oder etwa auch Shakespeares Stücke, die heute mit großer Selbstverständlichkeit auf Guckkastenbühnen gespielt werden, ehedem geschrieben wurden. Die Arbeit mit und am Modell erweist sich – vor Ort und im konzeptionellen Transfer (in dem Fall zwischen Epidauros und München) als unverzichtbarer Teil szenografischer Praxis. Modelle haben in der Szenografie, wie deutlich wurde, nicht nur rein instrumentelle Funktion, sondern sind ästhetische und epistemische Dinge, die auch als ‚Denkwerkzeuge‘, Kommunikatoren sowie als 214

Ästhetiken und Episteme

55–57 Das große Heft, Bühne / Regie: Ulrich Rasche, Schauspielhaus Dresden 2018. Modell des Bühnenentwurfs (aus Holz, schwarz lackiert), Modellfotos: Sabine Mäder / U. Rasche Über Entwerfen

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‚Übersetzer‘ von Entwurfsdenken und szenografischem Wissen fungieren und in dem Sinne als Medien metaszenografischer Reflexion.

Szenografisches Entwerfen geschieht, wie auch Serge von Arx betont, nicht voraussetzungslos („… design never starts from ‚point zero‘“, ders. 2019, 219), sondern zeigt sich im Aufgreifen, (Re-)Interpretieren bzw. Verwerfen und Reflektieren ästhetischer Praktiken und szenografischen Wissens. Vergleicht man im Gegenwartstheater verschiedene szenografische Verfahren in der Behandlung gegebener Räume, Architektur und Bühnenform, so zeichnen sich Strategien ab, die von „Komplizenschaft mit dem Raum“ (Dreissig­ acker, in Badura et al. 2015, 182), dem quasi-dialogischen, responsiven Erkunden von Räumen (responsive listening, von Arx 2015) über ihre prononcierte Performativierung (z. B. Brack), Dynamisierung/Energetisierung (z. B. Rasche) sowie raumplastisch-skulpturale Behandlung und künstlerische Beforschung (Ehnes) bis hin zu szenografischen Interventionen, De/konstruktion und plurimedialer Augmentierung gegebener Raumverhältnisse, v. a. des Guckkastens, (z. B. Neumann; Hannak) oder deren Überschreitung (environmental scenography, z. B. Rimini Protokoll) reicht. Diese große Variabilität der Strategien zeigt sich auch im künstlerischen Gebrauch von Modellen und/oder szenografischen ­Partituren.

Zu den Tendenzen, die sich wie rote Fäden durch die Geschichte der modernen Szenografie (europäischer Prägung) ziehen, gehören insbesondere die bis heute anhaltenden Auseinandersetzungen mit der Guckkastenbühne – als Kritik und fortgesetzte künstlerische Arbeit an ihrer Visualität und Sichtbarkeitsordnung. Zudem zählen die Dynamisierung des Bühnenraums vermittels praktikabler Elemente und mobiler Objekte, der raumdramaturgische Einsatz der Drehbühne sowie das Eröffnen pluraler Perspektiven mithilfe ‚theaterfremder‘ Medien (Bildprojektion, Film, Video) zu den prominenten Strategien, die sich auch an Entwurfszeichnungen und Modellen ablesen lassen.

Die szenografische Praxis, Drehbühnen im Theaterguckkasten auf offener Bühne (d. h. bei geöffnetem Vorhang) rotieren zu lassen, verlangte – seit ersten Erprobungen bei Max Reinhardt und, anders, auf der Bühne des epischen Theaters und der konstruktivistischen Bühne – die plastisch gebaute Bühnendekoration, die sich gegenüber der (illusionistischen) Kulisse und Bühnenmalerei zunehmend durchsetzte. Das Denken in sequenziellen, (raum-)dramaturgischen Abfolgen veränderte Wahl und Gebrauch der Entwurfsmedien, etwa im Arbeiten mit ‚visuellen Story­boards‘,66 fotografischen Studien und Fotoserien (z. B. zu Spielpotenzial und ästhetischen Wirkun216

Ästhetiken und Episteme

gen einer Drehbühne in verschiedenen Positionen) sowie dem Erstellen von Raumpartituren (vgl. den Abschnitt zu Notation und Raumpartituren).

Nachgerade übernimmt Szenografie im Gegenwartstheater die Aufgabe, die medialen Parameter jeder Inszenierung immer wieder neu zu justieren und die räumlichen Bedingungen für die Spieler:innen sowie etwa auch für LiveVideo-Produktion/Projektion, mögliche Kamerapositionen/-bewegungen und – in der Relation zum Publikum – für Bild- und Raumwirkungen zu gestalten (vgl. exemplarisch Nina von Mechows Bühnenmodell für die Pollesch-Produktion Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer, 2021, Abb. 58).

Als pluri- bzw. intermediale Szenografie operiert Szenografie somit an den Bedingungen für die Nicht/Sichtbarkeit von spielerischer Aktion auf einer Bühne, am Zeigen (oder Verbergen) von Projektionsapparatur/ Technik und der szenischen Verknüpfung von live- und medial vermittelter Performance.

Zum gebauten, haptischen Modell kommt heute auch in der Szenografie das Entwerfen mit digitalen Modellen als weitere Option hinzu; ebenso können Bauproben analog (sozusagen als physische Modelle 1:1) oder, sofern im Produktionszusammenhang entsprechende Technologie und Bereitschaft vorhanden sind, als ,virtuelle Bauprobe‘ durchgeführt werden.67 Im digitalen Modell werden Bühnenentwürfe als computergenerierte Simulationen entwickelt und als über den Bildschirm zugängliches, navigierbares 3D-Objekte oder als mithilfe von Datenbrillen immersiv erfahrbare VR-Umgebungen programmiert. Im Unterschied zu physischen Modellen sind digitale Modelle nicht haptisch erfahrbar; dafür lassen sie sich aber leichter verändern und in mehreren Varianten vergleichen, für die sonst mehrere Modelle aufwändig gebaut werden müssten. Zudem erlauben sie, einen Raum aus beliebig vielen Blickwinkeln zu betrachten und z. B. auf Sichtlinien zu überprüfen; auch lassen sie sich als Datenpakete rasch online versenden und anderen ortsverteilt präsentieren und zugänglich machen. Der Prozess der Ausarbeitung eines digitalen Modells orientiert sich an den Entwicklungsschritten eines physischen Bühnenbildmodells und zeigt zugleich Parallelen zur Programmierung und zum Interactiondesign von Computerspielen. Digitale Modelle sind, so gesehen, zum einen prospektive Entwürfe noch zu realisierender Theaterszenografien und, sofern sie archiviert werden, zum anderen auch Zeugnisse und digitale Wissensobjekte sowie, drittens, potenzielle Spielumgebungen.

Insofern bergen digitale Modelle als Objekte und szenografische Artefakte Potenziale, die es künstlerisch und wissenschaftlich erst noch weiter zu explorieren und auszuleuchten gilt. Über Entwerfen

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58 Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer, Bühne: Nina von Mechow, Text/Regie: René Pollesch, Volksbühne Berlin / Wiener Festwochen, 2021. Bühnenbildmodell (Holz, Pappe). Foto: N. von Mechow

Die Abgabe eines Modells – analog oder digital – ist für Szenograf:innen im Stadt- und Staatstheaterzusammenhang (nicht notwendig in der Freien Szene) vertraglich verpflichtend. Auch wenn die Angaben digitaler Modelle für die handwerkliche und technische Umsetzung in den Werkstätten hinlänglich detailliert sind, werden zudem weiterhin physische Modelle gebaut, um eine haptische Anmutung zu haben. So berichtet etwa der serbische, europaweit für Film, TV und Theater tätige Szenograf Aleksandar Denić, seit Anfang der 2010er Jahre bekannt v. a. durch seine Zusammenarbeit mit dem Regisseur Frank Castorf (Faust, Berliner Volksbühne 2017, und weitere Produktionen): Wenn ich eine Bühne entwerfe, entstehen zuerst von Hand gezeichnete Ideenskizzen. Der nächste Schritt besteht darin, per Computer sogenannte ‚Weißmodelle‘ zu entwickeln, Arbeitsmodelle, die erlauben, die räumlichen Proportionen und Positionen zu testen und zu sehen, wie der Entwurf auf eine bestimmte Bühne (z. B. die Bühne im Berliner Ensemble oder der Volksbühne) passt. Die Programme ermöglichen uns sogar, jeden Platz im Publikum virtuell einzunehmen und zu prüfen, wie die Sicht auf die Bühne sein wird. In den folgenden Schritten geht es dann um Beleuchtung: Wir können simulieren, (…) wo die Scheinwerfer sein werden, und einige ­Atmosphären und Lichtwirkungen ausprobieren. Das alles geschieht am Computer, fühlt sich aber fast so an, als wären wir im Theater. Dennoch bauen wir auch ein physisches 3D-Modell, denn das ist nach wie vor das

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Ästhetiken und Episteme

wichtigste Werkzeug bei den Konzeptionsgesprächen mit dem Regisseur und dem Team, und meist (...) im Maßstab 1:50, also relativ klein, aber sehr detailliert und leicht zu transportieren. Das ist sinnvoll, denn ich arbeite an Theatern und Opernhäusern in ganz Europa und muss häufig reisen.

Manchmal nutzen wir auch einen 3D-Drucker. Je nachdem, mit wem wir zusammenarbeiten, bauen wir auch größere Modelle, im Maßstab 1:20 (...).68

Üblicherweise orientieren sich szenografische Entwürfe im Bühnenbildmodell an den architektonisch gegebenen Grenzen einer Bühne (wobei Guckkastenkonstellation und Bühnenraum mit vielerlei Strategien künstlerisch bearbeitet werden). Anders verhält es sich, wenn Künstler:innen wie etwa Bert Neumann oder Sebastian Hannak in Architektur und Gebäudeinnenraum massiv intervenieren und – wie z. B. mit Neumanns Neustadt (Berliner Volksbühne, 2002) oder Hannaks Raumbühne ­HETEROTOPIA (Opernhaus Halle, 2016) – Szenografien entwerfen, die den gesamten Saal ebenso wie das Bühnenhaus mit Seiten- und Hinterbühnen einbeziehen, um offene Situationen und flexible Bühne/­PublikumKonstellationen herzustellen; an anderer Stelle in diesem Buch wurde dieser Ansatz als ‚szenografisches Hacking‘ beschrieben (Kap. I.2. und II.2.).

Auch Hannak entwickelt seine Raumbühnen im konventionell, im gebauten Modell. Als erste ausschließlich digital entwickelte Bühne (mit der Open-Source Multiuser VR-Anwendung Mozilla Hubs) entstand 2021 am Staatstheater Kassel seine Raumbühne PANDAEMONIUM (mit beratender Begleitung durch die digital.DTHG und abgenommen in einer ‚virtuellen Bauprobe‘, vgl. Abb. 59 und 60). Diese Raumbühne, die als temporäre ‚Architektur in der Architektur‘ im Kasseler Opernhaus für die Dauer fast einer Spielzeit installiert war und mit einer Inszenierung von Alban Bergs Wozzeck (2021) eröffnete, wurde während der Proben für das Produktionsteam und über eine App später auch für das Publikum digital zugänglich gemacht. Im Zuge dieser Produktion ergab sich eine Reihe grundsätzlicher Fragen: Inwiefern kann es sinnvoll sein, VR/AR-Technologie als Visualisierungs-, Gestaltungs-, Konstruktions- und Kommunikationsmedium in das Dispositiv des Theaters zu integrieren? Welche Rolle übernimmt dabei die Szenografie? Wie lassen sich digitale Räume gestalten, bespielen, wie verhält sich dazu Kunst und wie lässt sich mit digitalen Technologien ästhetisch agieren bzw. technischen Dispositiven (einschließlich KI) gegenüber auch eine notwendig kritische Distanz einnehmen? Wo liegen bereits identifizierte Potenziale (vgl. O’Dwyer 2021), wie verändern sich künstlerische Praktiken, und auf welche PublikumserwarÜber Entwerfen

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59 Raumbühne PANDAEMONIUM, digitales Modell, Opernhaus des Staatstheater Kassel, Spielzeit 2021/2022, Entwurf, Screenshot: S. Hannak, 60 Digitale Bauprobe für die Inszenierung von Georges Bizets Carmen, Regie: Florian Lutz, im Bild: Sebastian Hannak mit Vincent Kaufmann (digital.DTHG). Foto © Staatstheater Kassel

tungen treffen experimentelle Formate? Für Szenograf:innen wie Sebastian Hannak, der sich als forschender Bühnenbildner versteht, ist die Beschäftigung mit solchen Fragen Teil ihrer künstlerischen Praxis: (…) Aktuell arbeite ich vermehrt an virtuellen 3D-Modellen und der Entwicklung szenografischer Räume in 3D-Environments und deren Bespielung. Diese Räume, Szenen und Objekte können (vom Publikum) dann

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Ästhetiken und Episteme

mittels eigener mobiler Endgeräte und einer AR- oder VR-Brille in die eigene Umgebung gespiegelt werden, sodass diese sich dergestalt schon im Vorfeld (oder danach, BW) mit einer Inszenierung (und) mit der Szenografie auseinandersetzen können. (…) Das Spezielle an dieser Art der Narration (…) ist das aktive Einbinden der Zuschauer:innen. Der Einsatz von Digitalität (…) kann somit einen andersartigen Werkbegriff prägen. Ebenfalls können diese Räume ortsunabhängig zu Zwecken der Forschung online zugänglich gemacht werden. (Hannak 2023b, o. S.).

Digitale Modelle sind, so gesehen, Objekte sowohl künstlerischer wie auch wissenschaftlicher Forschung (ganz im Sinne der ‚Digital Humanities‘). Übersetzt und simuliert im medialen Raum – je nach Zugangs- und Teilhabeoption (accessability) schlagen Brejzek/Wallen hier die Unterscheidung zwischen ‚emergent spaces‘, ‚dialogic spaces‘ und ‚immersive spaces‘ vor (dies. 2021, 3) –, kann Wissen über Szenografie vermittels digitaler Modelle kompiliert, verknüpft, zugänglich gemacht und geteilt werden.

Zieht man sie insofern als Objekte der Wissensvermittlung und digitales Quellenmaterial in Betracht, gehen mit ihnen Potenziale der Dokumentation, Re-/Konstruktion, Forschung und Reflexion über Räume, Bühnen und Szenografie einher, die seitens der Theaterwissenschaft jedoch bisher nur wenig genutzt69 und noch nicht genauer bestimmt sind. Grundsätzlich eignet allen Modellen – analog oder digital – Virtualität, weil sie als ‚utopische Treffpunkte‘ Möglichkeitsräume eröffnen. Gaston Bachelard, in seiner Poetik des Raums (1957/1987), mag die Arbeit am Modell allzu sehr banalisiert haben – als Spiel en miniature und „metaphysische Ausgleichsübung“, die erlaube, „mit geringem Risiko weltschöpferisch zu sein“ (ebd., 166f.). Wie sich im Theater, das seinerseits gewissermaßen stets ‚Modell‘ ist, aber immer wieder auch zeigt, sind visuelle Modelle – weit mehr als bloßes Werkzeug – ein vielseitiges, hochproduktives und (besonders wenn mit ideologischen Vorzeichen gebraucht) durchaus mächtiges Instrument (vgl. von Arx 2018, Wiens 2018; Brejzek/Wallen 2018, 2021). Dabei, wie die in diesem Kapitel angeführten Beispiele verdeutlichten, erfahren ihr künstlerischer Gebrauch, Funktionsverständnis und ihre Technizität mit den metaszenografischen und inter- bzw. transmedialen Praktiken des Gegenwartstheaters Veränderungen und unterschiedliche Interpretationen. Für die Theaterwissenschaft wiederum sind Modelle basale (bisher aber vergleichsweise marginal behandelte) Forschungsgegenstände, die – als ästhetische und epistemische Objekte – in der Dispositivforschung, angewandten Theaterwissenschaft, Probenforschung sowie in den aktuellen Debatten um Archivtheorie/-praxis, ÜberÜber Entwerfen

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lieferungspolitiken, Sammlungsstrategien und Transformationsprozesse des Archivs im Zuge der zunehmenden Verarbeitung digitaler Quellen mehr fachliche Aufmerksamkeit verdienen.

Notation, Skizzen und Raumpartituren Auch Bühnen- und Kostümskizzen, visuelle Storyboards, Skripts oder Raum- bzw. vestimentäre Partituren sind nicht nur „Arbeitsobjekte des Theaters“ (Förster 2020), sondern lassen sich vielmehr als Medien ­szenografischen Entwerfens, Gestaltens, der künstlerischen Reflexion und als Aufzeichnungsmethode und Manifestationen visueller Denkformen betrachten. Aus­zugehen ist dabei von der Beobachtung, dass diese Medien und Praktiken – das Zeichnen, Skizzieren sowie die Techniken und grafischen Verfahren der Notation – in den Künsten des 20. und 21. Jahrhunderts im Zuge der Entfesselung, Kritik und Dekonstruktion des traditionellen Werkbegriffs europäischer Prägung ihrerseits Neubetrachtungen, Neubewertungen und Funktionsveränderungen erfahren haben (vgl. Busch/ Jehle/Meister 2007; von Amelunxen/Appelt/Weibel 2008), die sich auch im Dispositiv des Theaters auswirken. Was also ist eine Zeichnung, eine Skizze, und was unterscheidet sie von einem Szenario, Skript, einer verbalen Beschreibung oder einer szenografischen Partitur?

Die Zeichnung fungiert in den Bereichen Bühnen-, Kostüm-/Maskenbild und Theaterarchitektur – wie das Modell, aber in ihrer Zweidimensionalität freilich anders als dieses – als Medium zur Darstellung und Vermittlung von Entwurfsideen. Ohne kurzen Rückblick in die Geschichte dieser Darstellungsform kommt die Frage nach der Zeichnung freilich kaum aus: Nicht nur rankten sich mit Blick auf frühe Formen grafischer Markierung seit der Antike Legenden und Annahmen um ‚Ursprünge‘ von Kunst, vielmehr, so Busch, Jehle und Meister in ihrem Band ­Randgänge der Zeichnung (2007), zeigen sich im Wandel der ihr zugeschriebenen Funktionen und Begrifflichkeit „mit besonderer Deutlichkeit der Kunstbegriff einer jeweiligen Epoche“ (ebd., 9). In der europäischen Kunstgeschichte der Neuzeit lange prägend wurden bekanntlich die im Italien des 16. Jahrhunderts entwickelten disegno-Theorien, die eine Neubewertung der Zeichnung und Blickverschiebung vom rein Technischen hin zum Konzeptionellen brachten. Im Zuge dessen erfuhr die Zeichnung eine Aufwertung zum „Intimus der Idea“, zum Vehikel des Gedankens im künstlerischen Schaffensprozess und zu demjenigen Medium, das „das Denken mit der Hand, dem Handwerk kurzschließt und den Transfer von 222

Ästhetiken und Episteme

Ideen in die Sichtbarkeit reguliert“ (ebd.). Giorgio Vasari, mit seinem ­Terminus arti del disegno, benannte Malerei, Bildhauerei und Architektur als die drei Zeichenkünste, in welchen sie als Vermittlerin zwischen schöpferischer Idee und Umsetzung fungiert; die Nobilitierung der freien Künste gegenüber dem Handwerk in der klassischen Kunsttheorie gründete insofern „auf der Erkenntnisfunktion der Zeichnung“ (Busch/Jehle/Meister, ebd.). Seither, infolge der diversen Umbrüche der Moderne, des Verlusts metaphysischer Gewissheiten, der Verbreitung technischer Medien (von Fotografie, Film bis hin zum Computer) sowie einer Reihe weiterer Faktoren, die das Konzept und überlieferte Verfahren des disegno nachhaltig erschütterten, zeigt sich die Geschichte der Zeichnung vor allem als Geschichte der Krisis und Anfechtungen, aber auch der Öffnungen und Überschreitungen ihrer akademischen Verfahren. Bis in die Gegenwart hinein gehen diese einher mit ihrer Reflexion und (zeichentheoretischen sowie phänomenologischen) (Neu-)Betrachtung als Zeichnung/Zeichen bzw. Graphie, also (bildhafte) Äußerung bzw. performativer Akt oder Spur einer schreibenden, zeichnenden Hand oder eines sich bewegenden, vielleicht sogar tanzenden Körpers. Von heute aus ergeben sich im Hinblick auf die Zeichnung (und verwandte Praktiken, z. B. die Skizze) eine Reihe von Fragen, u. a. die nach dem Verhältnis von Konzept (Idee) und Entwurf (gewissermaßen die alte Frage nach concetto e disegno, aber mit anderen Begriffen und Vorzeichen) oder die basale Frage, inwiefern zeichnerisches Entwerfen eine gestalterische, handwerkliche, technische oder künstlerische respektive geistige Tätigkeit sei. An rezente Diskussionen, die interdisziplinär um die Bedeutung der Zeichnung als diskursives Instrument und Mittel zur Konkretisierung von Ideen geführt werden, suchen auch die Scenography & Performance Design Studies anzuschließen (vgl.

Collins/Aronson 2017, Field 2021). Gefragt wird dort, wie szenografische Entwurfszeichnungen als Medium und Prozess, performativer Akt und Vehikel für Ideenfindung fungieren: Inwiefern eröffnen sich in ihnen – im Zweidimensionalen, auf der Zeichenebene und auch vermittelt über ihre Materialität – (Denk-) Räume des Verhandelns von Bekanntem und von noch Unbekanntem? Auf welche Arten und Weisen fungieren Skizzen als Medien von Präskription, Exploration, Risiko und tastender Analyse oder auch als Aufzeichnungsmethode und diskursives Feld? Welche Imaginationen, Anmutungen und Assoziationen regen sie an?

Über Entwerfen

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Dass Zeichnungen und Skizzen nicht nur Hilfsmittel und Werkzeuge auf dem Weg zu künstlerischen Realisierungen sind, sondern „eine Autonomie, einen eigenen, künstlerischen Ausdruck“ besitzen, postulieren – aus der eignen bühnen- und kostümbildnerischen Praxis heraus – Künstler:innen wie etwa Johannes Schütz (ders. 2008, 15): „Eine Zeichnung entsteht in Sekunden“ – gleichsam im ‚Denken mit der Hand‘ –, wobei gezeichnete Bühnenentwürfe (im Vergleich zum Modell) „verfahrenstechnisch verantwortungslos“ seien. „In dem Moment, in dem man etwas zeichnet, denkt man es sich oft erst aus, (…) (man) fixiert eine Idee, kommt aber auch durch eine Zeichnung auf die nächste“ (ebd.). Auch Katrin Brack betont das Vorläufige – ein ‚Denken in Prozessen‘ –, das die Zeichnung bzw. das Zeichnen als Notationsverfahren erlaubt: Am Anfang mache ich immer eine Zeichnung oder Skizze; ich zeichne, um herauszufinden, wie eine Idee in der Umsetzung aussehen könnte. Es sind eher Notizen, meist rasch und von Hand zu Papier gebrachte Bildnotizen, die ich am Theater nicht unbedingt zeige. Manchmal ist es gut, schon früh etwas zu zeigen, anstatt über eine Idee nur zu reden. Die meisten habe ich aufgehoben, ich habe viele … Ob schön gezeichnet oder nicht, war nie der Punkt … (dies. 2024, wie Anm. 64)

Bracks Zeichnungen entstehen – knapp und in prägnanten, schwungvollen Strichen – zuweilen als freie Studien und Ideenskizzen zu Raum oder Kostüm, meist aber als spezifisch produktionsbezogene Entwürfe, d. h. in Auseinandersetzung mit einem Drama, Theatertext (oder auch, wie im Fall der Zusammenarbeit mit René Pollesch, ohne durch ein Stück gesetzte Vorgaben). Wie an anderer Stelle in diesem Buch dargelegt wurde (vgl. Kap. II.2.), zielen ihre ins Abstrakte weisenden Bühnenentwürfe nicht darauf ab, fiktive Schauplätze zu gestalten und der Regie, den Spieler:innen und dem Publikum bestimmte Interpretationen nahezulegen. Stattdessen – wie auch die Skizzen mit ihrer dynamischen Strichführung ahnen lassen – soll es offenbar darum gehen, mit wenigen Elementen, ausgewähltem Material und (oft ungewöhnlicher) Nutzung vorgefundener Bühnentechnik kalkulierte Bedingungen für das Entstehen semantisch vieldeutiger, atmosphärisch aufgeladener, ephemerer Räume zu schaffen, die im Theatervorgang im wechselseitigen Zusammenwirken zwischen Szenografie, Spieler:innen und dem Publikum hervortreten (und an dessen Ende wieder verschwinden). So betrachtet, sind Katrin Bracks szenografische Entwürfe keine gezeichneten Bühnenbilder, sondern skizzenartige Notationen performativer Räume.

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Ästhetiken und Episteme

Der Begriff ‚Notation‘, der mit der Partitur in der Musik, Notenschrift und den Aufzeichnungsverfahren althergebrachter Tanzschriften eng verbunden ist, sowie allgemein die Bedeutung von ‚Notiz‘ trägt, dient heute als Oberbegriff für verschiedene Formen und Verfahren der Notation, die in den Künsten im 20. Jahrhundert Eigenwert gewannen, im veränderten Mediengebrauch (analog/digital) seither weitere Ausdifferenzierungen erfahren (vgl. von Amelunxen/Appelt/Weibel 2008, Lammert 2016) und auch in der Szenografie aufgegriffen werden: Erkennbar werden Bezugnahmen auf kompositorische Praktiken zur Organisation von Raum, Klängen, Visualität und Bewegung (grafische Notation, Bildpartituren, performance scripts), wie sie John Cage, Allan Kaprow und Künstler:innen der Fluxus-Bewegung erprobten, auf rezente Praktiken der Choreografie sowie auch auf digitale, softwarebasierte Verfahren (Maar 2021). Entsprechend ihrem neueren Verständnis gerieten Begriff und Form der Notation ihrerseits in Bewegung. Hatte der amerikanische Philosoph Nelson Goodman in seinem Buch Sprachen der Kunst (1995, orig. 1968) versucht, eine Taxonomie ihrer Symbolsysteme auszuarbeiten, und eine Theorie der Notation entwickelt, die diese als System aus syntaktischen und semantischen Elementen und Regeln definierte, welches Formfindung, Formulierung und Wiederholbarkeit ermöglicht, mag der wichtige Beitrag dieses Ansatzes zunächst darin liegen, grafische, d. h. schriftliche und visuelle, also explizit auch nichtsprachliche Zeichen (u. a. im Blick auf Tanz und Architektur) zu berücksichtigen. Indem er die vorrangige Aufgabe der Notation allerdings darin bestimmte, die „Identifikation eines Werks von Aufführung zu Aufführung“ zu gewährleisten (ebd., 125), vertrat er einen geschlossenen Werkbegriff. Diese Geschlossenheit und das ihr zugrunde gelegte Postulat identischer Reproduktion suchte man bekanntlich aber seit Ende der 1960er Jahre zunehmend aufzubrechen; prominent ist John Cage zu nennen, der das Prinzip des kalkulierten Zufalls in den Aufführungsprozess integrierte und sich gleichermaßen auf musikalische Partituren und die Handlungsanweisungen der Performance Art bezog, um die latente Performativität und Variabilität des Notierten hervorzutreiben.70 Jenseits der ihr vormals zugewiesenen Identifikations- und Reproduktionsfunktion ergaben sich so produktive, nahezu unbegrenzte Möglichkeiten, Notationen und ihre Operationalität nicht als geschlossene, sondern als offene Systeme zu verstehen und in ihrer Offenheit zu erkunden und ästhetisch produktiv zu machen.

Über Entwerfen

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Eine von Katrin Bracks Skizzen deutet in kreisender Linienführung Nebel an, wie er piktogrammartig angedeutete Figuren umhüllt und über den Bühnenrand quillt (Abb. 62). Eine andere vermittelt in unzähligen, aufs Papier getupften Punkten die Anmutung von rieselndem Schnee oder Konfetti. Weitere Zeichnungen – offenbar eine Art Serie – untersuchen in mehreren Farbvariationen und dichter Anordnung von Linien und kleinen Kreisen die Wirkung von Leuchtgirlanden, die, dem Entwurf zufolge, eine Guckkastenbühne in gesamter Breite und Tiefe ausfüllen sollten.

Wieder andere inszenieren Begegnungen von Figurinen und ganzer Batterien plastisch anmutender, farbig schillernder Ballons: Spielbälle (oder mit Michel Serres: szenografische ‚Quasi-Objekte‘), von denen manche fast über den Bildrand zu hüpfen scheinen (Abb. 61). Bracks Zeichnungen, die sie entweder mit Filz- oder Bleistift oder, als Farbstudie, mit Bunt- oder Wachsmalstiften erstellt, arbeiten mit Linien, Punkten Schraffuren, visuellen Kürzeln (z. B. Strichmännchenfiguren), und viele dieser Grafien kombinieren Bildzeichen und Schrift. Die eingetragenen Stichworte bezeichnen aber nie spezifische Orte, Schauplätze oder fiktive Lebenswelten, sondern benennen das Material, das der jeweilige Bühnenentwurf vorsieht: „Nebel“, „Schnee“, „bunte Glühbirnen“, oder auch die bühnentechnische Vorrichtung, die, oft anders als in sonst theaterüblicher Verwendung, gebraucht werden soll, damit eine gesamte Aufführung lang vom Bühnenhimmel Kunstschnee fällt oder farbiges Konfetti zu Boden flattert („Schneetuch“). Des Weiteren gehört zu Katrin Bracks szenografischen Notationsverfahren, dass – im Sinne ihres interventionistischen Umgangs mit den Gegebenheiten von Theaterraum und Bühnentechnik – in Stichworten bestimmte Praktiken und (technische) Abläufe präskribiert werden, die es zum Hervorbringen der von ihr konzipierten, performativen Räume braucht (und die dem Publikum in den Aufführungen allerdings meist verborgen bleiben). So findet sich auf einem der Skizzenblätter, unter grob markierten Bühnenrahmen und darin schwebender, bunter Ballonkugeln, folgende handschriftliche Notiz: Der eiserne Vorhang öffnet sich, und Luftballone in verschiedenen Größen, rot, weiß, lila … alle mit Helium gefüllt, schweben nach oben in den Bühnenturm; außer Sicht für die Zuschauer ist ein Netz gespannt; Techniker schießen mit Wasserpistolen auf die Ballone, die sinken durch die Last des Wassers; im Licht der Scheinwerfer verdunstet das Wasser, und die Ballone schweben wieder empor. (Brack, o. J., unveröffentlicht)

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Ästhetiken und Episteme

61 Bühnenentwurf von Katrin Brack für Radetzkymarsch, Regie: Johan Simons, Burgtheater Wien, 2017. Zeichnung, Bleistift und farbige Wachsmalstifte auf Papier © K. Brack

Die Entscheidung für ein bestimmtes Material und bestimmte Objekte – seien es bunte Ballons (Radetzkymarsch, 2017, Ubukoenig, 2008), kon­ trastreich unifarbene, raumfüllende Fahnen (Sneeuw, 2016), Scheinwerfer und Beleuchtungsbrücken, die ein vermeintliches Eigenleben entwickeln (Carol Reed, 2017; Krankenzimmer Nr. 6, 2010), verstörende Objekte, z. B. eine metallische, mit viel Qualm in den Bühnenraum hineinrumpelnde Rakete (Geht es dir gut?, 2022), schräggestellte, runde Podeste und plastisch wirkende, auf Elemente aus Holz und Leinwand gemalte, umherschwebende Wolkengebilde (Hamlet, 2024) oder der erwähnte Theaterschnee sowie Glitzergirlanden, Konfetti, u. a. m. – ist in dieser szenografischen Praxis von größter Wichtigkeit. Assoziationen, die beim Entwerfen Über Entwerfen

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62 Entwurfszeichnung von Katrin Brack für Iwanow, Regie: Dimiter Gotscheff, Volks­bühne Berlin, 2005. Filzstift auf Papier. 63 Zeichenstudie Richard the Kid & the King, Bühne in Relation zum Publikum, Schauspielhaus Hamburg 2021, Bleistift auf Papier © K. Brack

eine gewisse Rolle gespielt haben mögen, z. B. der Gedanke an ‚Munition, Pistolenkugeln‘ bei der Wahl der Ballons (für die Theaterfassung von Joseph Roths Radetzkymarsch), kommunizieren Bracks Skizzen grundsätzlich nicht; gleiches gilt für die Bühnenbildmodelle. Entscheidend ist in der Tat jedes Mal die Auswahl der Dinge, die ‚zum Auftritt‘ kommen sollen und die sich, anders als die Schauspieler und Schauspielerinnen, freilich nicht scheren um Modelle, Raum- bzw. Bewegungsnotation oder um Regieanweisungen. Materialästhetik und Materialeigenschaften müssen daher stets eingehend erforscht werden – im Fall besagter Ballons, Konfetti oder Seidenpapierblätter wäre z. B. zu fragen, welche Wirkung sie je nach Farbe, Größe und Form auf der Bühne entfalten („Wenn die bunten Papierpartikel zu klein sind, wirken sie grau …“; Brack, wie Anm. 64) und inwiefern sie sich, etwa wenn sie vom Bühnenhimmel durch ein ‚­Schneetuch‘ auf den Boden flattern sollen, höchst unterschiedlich verhalten („Das lässt sich vorab, indem man auf eine Leiter steigt, sehr einfach ausprobieren …“, ebd.). Materialmengen müssen berechnet, Stofflichkeit, Verhalten und Energien des jeweiligen Materials gemeinsam mit dem Ensemble bei den Proben erkundet, Abläufe verabredet und Spielvorgänge 228

Ästhetiken und Episteme

64 Katrin Brack: Bühnenentwurf für Immer noch Sturm, Regie: D. Gotscheff, Volksbühne Berlin, 2011. Skizze, Bleistift und Filzstifte auf Papier © K. Brack

(in gewissem Widerspruch zur konzeptionellen Offenheit und Fluidität Brack’scher Räume) orchestriert werden. Ebenso sind Brandschutzbestimmungen und Sicherheitsvorschriften zu beachten, wenn es ohne Unterlass schneit oder die Schauspieler:innen auf Nebel, glitschigen Schaum oder auf vermeintlich außer Rand und Band geratene, ein Eigenleben entwickelnde Technik treffen. Im Dispositiv des Theaters (oder hier genauer: im Bedingungsgefüge des Regietheaters im deutschsprachigen Raum) gehören Bracks Szenografien gleichwohl zu den prominentesten Beispielen für den Versuch, weitmöglich ‚offene Systeme‘ zu konzipieren: „(…) Mit meinen Räumen schaffe ich Voraussetzungen für einen Zusammenhang, der offen ist, nicht kalkuliert werden kann. Erst durch das Spiel (…), die Kostüme (…) und das Licht (…) beginnen meine Bühnen zu ‚spielen‘ …“ (dies., zit. nach Irmer 2019, 123, Hervorh. BW). Die Elemente der so angelegten szenografischen Konstellation fungieren für die SchauspieÜber Entwerfen

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ler:innen gewissermaßen als ‚Ko-Akteur‘, Widerstand oder auch Impulsgeber; so berichten beispielsweise Wolfram Koch und Bibiana Beglau: Die Proben … sind anfangs schwierig. Man stockt, fühlt sich verloren, flucht.

Aber irgendwann fängt man an zu spielen und fühlt sich in Katrin Bracks Kunstwerken frei, völlig frei … Dann huste und stolpere ich durch Nebelwände, jage Ballons hinterher, steige vollständig in einen hinein, entdecke die Vielfalt von Konfetti … (Koch, zit. nach Nioduschewski 2010, 231) (…) das Bühnenbild ist unser erweitertes Kostüm. (…) Der Raum macht Biografien und schafft Verhältnismäßigkeiten. (…) Manchmal muss man sich Räume richtig erobern, manche sind von Anfang an sehr dynamisch. (…) Katrin Brack, sie macht leere Räume, die trotzdem voll sind (…) mit riesigen Seifenblasen oder Nebel, der aufsteigt. In so einem Raum gehst du nicht verloren. (…) Wir Schauspieler:innen spielen uns gerne in den Vordergrund, dabei sind wir so eng mit den anderen Gewerken verbunden. Das Kostüm, das mich presst oder erweitert, zeigt, wer ich bin. Genauso verhält es sich mit dem Szenenbild … (Beglau, zit. nach Präkelt 2024, 62)

Wie sehr Notationen je nach künstlerischer Strategie und formaler Logik einer Szenografie differieren, zeigt ein Vergleich etwa der Räume Bracks und der Raumkompositionen Ulrich Rasches. Anders als in Bracks ostentativ ‚offenen‘ Szenografien ist bei ihm eine prononcierte Formstrenge ausdrücklich gewähltes, künstlerisch eingesetztes Mittel. Als Szenograf und Regisseur in Personalunion verbindet er seine markanten Bühnenmaschinen mit einem ‚kompositorischen‘ Inszenierungsansatz, der auf rhythmische Korrelation aller szenischen Elemente (einschließlich des Sprechens und der Bewegungen der Spieler:innen) abzielt. Entsprechend seinem ‚skulpturalen‘ Ansatz, ist, wie schon erwähnt, im Entwurfsprocedere ein wichtiger Schritt zunächst die Ausarbeitung des Bühnenbildmodells, das – als Medium eines prozessualen Gestaltungsdenkens – in weiteren Schritten dann zum Element einer Notation wird, die in einem komplexen, kompositorischen Verfahren die Raum-/Zeitsequenzen der Inszenierung organisiert: Mithilfe einer Serie von Modellfotos werden (während der Proben) verschiedene Positionen ausgelotet, Wirkungen überprüft und Grundpositionen festgelegt, sodass eine Art Raumpartitur entsteht. Exemplarisch lässt sich dieses Verfahren am Beispiel seines Bühnenmodells für Die Räuber (2016) und der dazugehörigen Modellfotoserie nachvollziehen (vgl. Abb. 65 und 66). Für Schillers Drama über die ungleichen Brüder Franz und Karl Moor, in welchem Rivalität, Intrigen und ein unauflösbares Ringen zwischen Verstand und Gefühl, Gesetz und Freiheit, Inte230

Ästhetiken und Episteme

grität und Aufbegehren die Figuren ins Verderben führt, entwarf Rasche eine räumliche Grundkonstellation aus zwei mächtigen, bühnenbreiten Laufbändern: Diese sollten parallel bzw. entgegengesetzt zueinander rotieren, sich kippen und zudem als Gesamtkonstrukt auf der Drehbühne um 360 Grad drehen lassen. Obwohl für ein Theater mit Guckkastenbühne entworfen, sollen diese Kunstmaschinen in ihrer Plastizität und Mobilität dem im Saal gegenübersitzenden Publikum möglichst vielerlei Perspektiven auf das Spielgeschehen erlauben – „wie in einem Kaleidoskop“, mit dem sich, sobald man daran dreht, immer wieder neue Perspektiven herstellen lassen, oder sich „ähnlich wie in der bildenden Kunst, wenn man um eine Skulptur herumgeht, (…) eine Erfahrung der Theatralität, der Präsenz (hervorrufen lässt), wie Michael Fried sie in ‚Art and Objecthood‘ beschrieb, auch wenn er in den 1960ern die Minimal Art, mit Künstlern wie Frank Stella, genau dafür kritisierte …“ (ders, 2024, vgl. Anm. 65).

Wie aber kommen die Bühnenmaschinen und die Protagonist:innen und Chöre sowie Musik, Licht, Video und alle weiteren Elemente miteinander ins Spiel? – Danach gefragt, benennt Ulrich Rasche mehrere Typen von Notation, oder in seinen Worten „Systeme der Aufschreibung“ (ebd.), die in seinem rhythmisch organisierten Theater zwischen den beteiligten Akteur:innen und Elementen gewissermaßen eine Koppelungs- und Scharnierfunktion übernehmen. Eine Frage, die sich beim Arbeiten an den Text-/Musik-/Raum-/Bewegungspartituren, Beleuchtungsplänen u. a. m. allen Beteiligten offenbar immer wieder stellt, ist die nach der sich manifestierenden Prägekraft und Agentialität der (in der Herstellung aufwändigen und stets TÜV-geprüften) Walzen, Laufbänder und Drehscheiben als ‚Quasi-Objekte‘ und technische Dinge, die sowohl die Ästhetik wie auch die Sozialität des Theatervorgangs erkennbar mitformen oder sogar weitgehend bestimmen.71 Einher geht damit die basale Frage nach der ­Offenheit vs. Geschlossenheit (oder: dem Grad an Formstrenge), die eine solche Szenografie vorgibt: … ist es die Maschine, die sich mit ihrer Eigengesetzlichkeit (…) dem Ensemble aufdrängt, oder ergeben sich mit ihr möglicherweise besondere Zugänge zu Inhalten, Figuren und Situationen? Ich denke – beides; die Grundidee ist, die Konfliktstrukturen eines Stücks aufzuspüren und diese sozusagen in die (…) ‚Choreografie‘ einer Maschine zu übersetzen; Ähnliches gilt für das Spiel, den Rhythmus des Sprechens und die Bewegungen der Schauspieler:innen, für die Musik, das Licht. Formal gesehen, arbeiten wir viel an diesen Interdependenzen. Insofern verstehe ich meine Bühnen nicht als Maschinen, sondern eher als Skulpturen oder kinetische Objekte … (Rasche, a. a. O.) Über Entwerfen

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Die erste Setzung ist, wie abermals deutlich wurde, mit dem Raumkonzept und dem jeweiligen Entwurf einer Bühnenmaschine bzw. kinetischen Bühnenskulptur gegeben. Das kompositorische Verfahren, mit dem bei den Proben sodann gearbeitet wird, verlangt verschiedene Typen von ­Notation (Skripte, Skizzen, Partituren, Excel-Tabellen), die schriftliche, visuelle, musikalische bzw. gemischte Notation, Papier-und-Bleistiftsowie rechnergestützte Notation und somit analoge Aufschreibesysteme (z. B. das Regiebuch) mit digitalen Werkzeugen verbinden. Den Proben voraus gehen dramaturgische Analysen; mit dem Ensemble wird dann – dem ‚oratorienhaften‘ Theater Einar Schleefs verwandt – in mehrschrittiger Probenarbeit eine Fassung mit der Aufteilung des Textes in chorisch bzw. von Protagonist:innen gesprochene Passagen erarbeitet (und notiert in einer ‚Textpartitur‘). Hinzu kommt die Musikpartitur (von Komponist:innen wie Ari Benjamin Meyers, Nico van Wersch, o. a.). Zudem müssen in technischen Tabellen und Text-/Bildcollagen, wie z. B. für Die Räuber, Angaben zu Position, Drehgeschwindigkeit und Horizontal-/ Kippantrieb der Podien und beiden Rollbänder (in Relation zur Drehbühnenrotation) für allen Sequenzen detailliert festgehalten werden oder, wie für Das große Heft, Geschwindigkeit, Richtung, Neigungswinkel und Positionswechsel der Drehscheiben notiert werden (in szenografischen ­Partituren). Unterdessen werden mit den Schauspieler:innen Bedeutungsebenen der Textpassagen sowie Rhythmus und Musikalität der Sprache detailliert untersucht und (mithilfe provisorischer Drehscheiben, Laufbänder oder dergl.) Bewegungskonzepte entwickelt. Indem die verschiedenen Partituren (Sprach-, Musikpartitur, Bewegungsnotation, szenografische Partitur, technische Programmierung der Drehbühne, Beleuchtungspläne etc.) ­verknüpft und Daten tabellarisch zusammengeführt und (computerbasiert) verschaltet werden, wird der Spielablauf sodann in ‚Modulen‘ organisiert und über Time Codes koordiniert. Alle Beteiligten sind, wie Rasche betont, in die Mitgestaltung und Realisierung des Spiels (im Sinne des verabredeten Gesamtkonzepts) kollaborativ und co-kreativ involviert. Das Prinzip, welches die Chöre, Protagonist:innen, das Musikensemble und die szenografischen Elemente im Ästhetischen verbindet, ist der Rhythmus. Vor allem für die Spieler:innen sei er geradezu „Lebenselexier, um denkend sprechen zu können, (…) etwas, auf das man sich formal einlassen kann, sodass der Körper und das Sprechen in Bewegung kommen – ähnlich der prozesshaften Beschreibung des Denkvorgangs bei Heinrich von Kleist in seinem Aufsatz ‚Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden‘“; und weiter: „Es sind feine Vorgänge, energetische Prozesse und 232

Ästhetiken und Episteme

65–66 Fotografische Studie des Bühnenbildmodells für Die Räuber, Residenztheater München, 2016, in verschiedenen Positionen und aus unterschiedlichen Perspektiven. Fotos: Sabine Mäder / Ulrich Rasche

Übertragungen, mit denen wir arbeiten, die wir regulieren und immer wieder justieren können (…), es ist ein wechselseitiger Prozess …“ (ders., a. a. O.).

Will man Katrin Bracks ephemere Räume und die formstrengen Szenografien Ulrich Rasches vergleichen, so sieht man exemplarisch zwei extreme (auf den ersten Blick völlig konträre) Positionen gegenwärtiger szenografischer Praxis: Während die Räume Bracks die Spieler:innen, fast jeglichen Halts beraubt, ‚ins Offene‘ werfen, bringen Rasches Räume – als Sinnbilder zu verhandelnder Macht- und Konfliktstrukturen sowie mit ihrer energetischen Wucht und übermarkierten technischen Dispositiven – spezifische Bedingungen und auch Zwänge (der Körperdisziplinierung, Wahrnehmungssteuerung, starken Sinnesreizung) mit sich, die für die Über Entwerfen

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67 Die Räuber, Residenztheater München, 2016: Szenografische Partituren, ­Cue-Listen, Ablaufpläne © Sabine Mäder / Ulrich Rasche

Spieler:innen (und auch das Publikum) fast unausweichlich spürbar werden. Die durchkalkulierte Ordnung dieser (eng gefügten, vergleichsweise geschlossenen, in ihrer Strenge leicht unter Ideologieverdacht geratenden) Form ist bei Rasche künstlerisches Mittel, dessen Ambivalenz bewusst in Kauf genommen wird. So besehen, scheinen beide, sowohl Rasche als auch Brack, implizit (und auf sehr unterschiedliche Weise) – schon auf der Ebene ihrer Entwurfsverfahren – abermals eine der Grundfragen des Szenografischen aufzuwerfen, nämlich die Frage nach dem ‚leeren Raum‘: Inwiefern ist die Bühne ein ästhetischer ‚Raum der Freiheit‘, oder (wie oft ausgeblendet) nicht vielmehr eingebunden das Dispositiv des Theaters (hier: des Regietheaters), das immer auch mit „Bedingtheiten, Konditionierungen, kurzum: mit Unfreiheiten“ zu tun hat?72 Sowohl Ulrich Rasches als auch Bracks Räume sind, so betrachtet, Herausforderungen, ja Zumutungen: für das Publikum, das in seinen Wahrnehmungsgewohnheiten irritiert wird, und (zuallererst) für die Spieler:innen – denn nicht jeder bzw. jede kommt dort zurecht oder möchte sich dem aussetzen. Fühlen sich manche in Brack‘schen Räumen zwar ungeschützt, aber ‚frei‘, zeigen andere hingegen explizit Interesse daran, schauspielerische Erfahrungen mit unterschiedlichen, auch sehr formalisierten Spielweisen zu machen, wie z. B. 234

Ästhetiken und Episteme

den szenischen Grafien Robert Wilsons oder, anders, den Raum-/Körper-/ Stimmen-/Klangkompositionen Ulrich Rasches. Die Notation fungiert darin als Regelwerk, Kompositionsschema und steuerndes Instrument, das einerseits spielerische Artikulation (v. a. in den Chor-Partituren) stark vorgibt, andererseits seien ‚Momente der Freiheit‘ (etwa in der Abweichung, oder Asynchronizität in Stimmführung, Bewegung, Kostümdetails) durchaus vorgesehen; „(…) für die Spieler:innen und die Musiker:innen gibt es immer eine Art Live-Dirigat, und es gibt jeden Abend ein von der Inspizienz gesteuertes Dirigat für die Bühnenfahrten …“ (ebd.). Aus Publikumssicht mag die Variabilität und eingeräumte Offenheit in der Aufführung mithin wenig erkennbar werden. Eher mögen die Sicherheitsgurte im Gedächtnis bleiben, die die Spieler:innen (zum eigenen Schutz) auf steil aufragenden Laufbändern oder Drehbühnen tragen, die sie aber gleichsam auch ans Getriebe fesseln und, ganz in der Logik der Gesamtkonzeption, semantisch eine eigentümliche Ambivalenz entfalten (Abb. 25). Das – im Ringen um (individuelle) Gestaltungsfreiheit, (relationale) Agentialität und konzeptionelle Form – alles verbindende Prinzip ist, wie erwähnt, der (für die Spieler:innen über kabellose Kopfhörer stets hörbare) Rhythmus. Wie Valery Tscheplanowa, Protagonistin in mehreren Rasche-Produktionen (u. a. Die Perser, 2018, Nathan der Weise, 2023), ausführt, ist es dieser (verborgene) Rhythmus, der einerseits steuert, andererseits aber auch erlaubt, gegenüber der starken Form und ihrem inszenatorischen ‚Räderwerk‘ eine abständige, widerständige Haltung einzunehmen: … dieses Klickklick: das hat man die ganze Zeit auf dem Ohr, und sollte man plötzlich Bambambam machen, bleibt es ja auf dem Ohr, das heißt, man kommt wieder rein. Es ist tatsächlich so: Wird man emotional quasi weggeschwemmt von einer Replik (…), gerät dieses Ticken (…) in den Hintergrund, und dann muss man sich wieder einfädeln. Es ist (…) (eine Bewegung) zwischen Anarchie und Disziplin: Wenn man nur diszipliniert ist, wird es langweilig; wenn man die Sache (…) ganz öffnet, passt es nicht mehr in dieses Konstrukt. (…) Es gibt … Momente in den Proben, wo (Ulrich) Rasche sagt: Ist ja fein, dass du um Freiheit ringst, aber (…) jetzt funktioniert es mit der Form nicht mehr; (…) manchmal sage ich dann: Aber das hier brauche ich, das muss ich so machen, und dann sagt er: OK … (Tscheplanowa, zit. nach dies./Burkhardt/Philipp 2024, o. S.)

Demnach ist diese Form, obwohl durchkomponiert, nicht ‚geschlossen‘, sondern birgt im vor Publikum ausgefochtenen Widerstreit zwischen Formstrenge und ‚Anarchie‘ vielmehr stets Risiken, oder um nochmals Über Entwerfen

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Rasche zu zitieren: „… wir produzieren Räume, Gegebenheiten, die uns auch entgleiten, die nicht mehr fassbar sind, (und) (…) die wir beobachten, wahrnehmen (…) und in ihrer Selbsttätigkeit verstehen müssen, um sie wieder einfangen zu können …“ (ders., a. a. O.).

Theater, so Siegmund/Aggermann, verfügt als ästhetisches Dispositiv „über die Möglichkeit, seine eigenen Regeln und Verfahren ins Spiel zu bringen“, indem es seine (technische) Apparatur sichtbar macht, Materialität und Körperlichkeit einbezieht, künstlerische Praktiken und konzeptionelle Überlegungen offenlegt und die Inkommensurabilität seiner Elemente aufzeigt (dies. 2020, 138). Überall dort, wo im Gegenwartstheater – sei es im internationalen (Ko-)Produktionstheater, Festivalbetrieb, in der experimentierfreudigen Freien Szene oder, wie im Fall der soeben besprochenen Beispiele, im Dispositiv des Regietheaters – explizit und auf unterschiedlichste Weise an seinen ästhetischen und epistemischen Parametern und an Formfragen gearbeitet wird, werden, damit untrennbar verbunden, auch auf der Produktionsseite bisher etablierte Ordnungen, Kräfteverhältnisse und Hierarchien von Regie/ Dramaturgie/Szenografie/Musik/Licht und Schauspielerei zunehmend hinterfragt – im Ringen darum, wie Autorschaft, individuelle Gestaltungsspielräume und Risiko in der kollaborativen Kunst des Theatermachens zukünftig (vielleicht neu oder anders) zu verteilen wären. Mit ihren künstlerischen, ‚eingreifenden‘ Strategien und metaszenografischen Reflexionen (auch an den Schnittstellen zwischen Praxis und Archiv bzw. dem Gedächtnis des Theaters) trägt Szenografie erheblich dazu bei, dass solche Fragen gestellt werden und die Gefüge in Bewegung geraten.

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Ästhetiken und Episteme

3. Zwischen Bühne, Atelier, Theaterfundus und Archiv: Kostüm als integrales Gestaltungselement der Szenografie Kostümbildner und Kostümbildnerinnen sind Szenograf:innen mit Spezialgebiet Kostüm und Maske; in künstlerischer Zusammenarbeit mit der Regie, Dramaturgie, den Bühnenbildner:innen, Lichtdesigner:innen und den Ensembles sind sie im Gegenwartstheater integral daran beteiligt, Interpretationen und Assoziationen zu Stücken, Theatertexten oder Themen zu entwickeln, visuelle Ästhetiken von Inszenierungen zu prägen und – in enger Kooperation mit den Werkstätten (Kostüm- und Maskenbildabteilungen) – das transformative Potenzial des Theaters auszuloten.

Historisch und kulturvergleichend betrachtet, sind Kostüm und Maske immer schon Teil des Theaters und diejenigen Artefakte, die den Prozess der Verwandlung eines Spielers (oder, seitdem im Europa der frühen Neuzeit auch Frauen die Bühnen allmählich betraten: einer Spielerin) in eine Kunstfigur entscheidend mitbedingen. Kostüm (einschließlich Maske und Frisur) sind Transformer, die vermögen, die Körper der Spielenden aus ihrer sozialen, kulturellen und zeitlichen Gebundenheit temporär gewissermaßen zu lösen und mit der Übertragbarkeit von Codes (z. B. Zuschreibungen von Geschlechtsidentität, ethnischer Zugehörigkeit oder Altersmerkmalen) zu spielen (Kostümsemantik): Schon wenige Kostümrequisiten, wie etwa Zepter und Krone, mögen genügen, um eine Schauspielerin zur Königin zu werden zu lassen, oder ein junger Schauspieler verwandelt sich vermittels von Kostüm, Maske und entsprechendem Spiel glaubhaft in einen Greis. Kostüme tragen somit wesentlich dazu bei, Figuren für ein Publikum ‚lesbar‘ und als Bühnen-Personae erlebbar zu machen. Überdies sind sie auch in dem Sinne ‚Transformer‘, als sie – mit Merkmalen wie Farbigkeit, Stofflichkeit, Formästhetik und ihrer spezifischen ­Materialität – als Mittler zwischen den Körpern der Darstellenden, der Bühne und dem Publikum fungieren (vgl. Carriger 2018, 43). Mit anderen Worten: An der Schwelle zwischen Alltag und Kunst, zwischen Realität und Illusion sind sie dasjenige Element, das die Körper als Figuren ­markiert und performativ in das Heterotop einer Bühne bzw. szenografischen Konstellation integriert (vgl. Barbieri 2019). Dort sind Kostüme sowohl textile Hülle (der Körper der Spieler:innen) als in gewisser Weise auch eine Raumskulptur. So (ver)formt und komprimiert ein Korsett den Körper, wohingegen etwa ein Reifrock oder, ganz anders, die konstruktivistischen Kostüme der Bauhaus-Bühne den menschlichen Körper (über)formen, als plastische, gestaltete Form in den Raum hinein erweitern und Wechselverhältnisse zwischen Körper, Architektur, Farbe und anderen Formen sichtKostüm als integrales Gestaltungselement

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bar machen. Der Raum, die Körperlichkeit der Spielenden sowie kostümlich gegebene Möglichkeiten bzw. Einschränkungen der Bewegung können dabei (v. a. in stark formalisierten Theaterformen) so verknüpft werden, dass spezifische Bewegungsmuster produziert oder geradezu vorgegeben werden. Auch die Auseinandersetzung mit der Intermedialität der Bühne im Spannungsfeld zwischen Materialität und Virtualität sind im Gegenwartstheater – im Rahmen von Inszenierung/Aufführung (vgl. z. B. Andy Besuchs Kostüme für Baracke, Regie: Claudia Bossard, Berlin 2023) wie auch im Produktionsprozess (Stichwort: Augmented Costumes, E-Textiles, digitales Entwerfen73) – Aspekte des Kostümdesigns. Ebenso einher gehen damit auch (ecokritische) Auseinandersetzungen mit der Agentialität von Kostüm und Material, im Sinne künstlerischer Reflexionen des der Bühne inhärenten Anthropomorphismus, sowie mit Perspektiven ökologischer Nachhaltigkeit und Cyclic Design (Fossheim/Pantouvaki/Suurla 2021, u. a.).

Bühnenkostüm und Kostümwesen

Die Formierung, die das Kostümwesen im Wandel von Theaterformen, Gesellschaftsordnungen, Geschlechterverhältnissen, Identitätsbildern sowie menschlichen Selbst- und Körpertechniken bis hin zu rezenten Debatten (um Digitalität, Ecocritical Costume sowie Gender, Diversität und post-/dekoloniale Perspektiven) erfahren hat, nachzeichnen zu wollen, würde an dieser Stelle zu weit führen. Einige der wichtigsten Funktionsbestimmungen und Deutungen, die das Bühnenkostüm im europäischen Theater – verbunden mit Entwicklungen der Schauspielkunst und modernen Regie – erfuhr, reichen von Typenkostümierung sowie Stilkostüm, Rollenfächersystem und Bühnennaturalismus über die ‚Übermarionette‘, plastische Raumfigur, Maschinen-Kostüme, ‚gestische‘ Kostüme bis hin zu den vielfältigen Gestaltungen im ‚postdramatischen‘ Theater und in der Gegenwart (vgl. Burde 2016). Dass Kostümgestaltung im zeitgenössischen Theater den Anspruch erhebt, als „eigene künstlerische Setzung“ verstanden zu werden, mit der die Vertreter:innen dieser Profession im Zusammenwirken mit künstlerischen Partner:innen (wie Bühnenbild, Regie) mit jeder Inszenierung „eine Welt erfinden“, postulieren namhafte Kostümbildner:innen wie etwa Florence von Gerkan (dies./Gronemeyer 2016, 6f.). Mit diesem Anspruch trifft das Kostüm heute

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Ästhetiken und Episteme

68–69 Baracke von Rainald Goetz, Regie: Claudia Bossard, Bühne: Elisabeth Weiß, Kostüme: Andy Besuch, Sound und Video: Annalena Fröhlich, Dramaturgie: Daniel Richter; mit: Mareike Beykirch, Frieder Langenberger, Daria von Loewenich / Lisa Birke Balzer, Janek Maudrich, Jeremy Mockridge, Evamaria Salcher, Andri Schenardi, Natali Seelig, Jurek Lane, Mio Südhoff. Deutsches Theater Berlin 2023. Fotos: Thomas Aurin Kostüm als integrales Gestaltungselement

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… auf ein weites Verständnis dessen, was Theater sein kann: Neben die psychologisch motivierte Figureninterpretation des klassischen Dramentexts treten Einflüsse aus der bildenden Kunst, dem Tanz und der Performance, die mit ganz anderen Strategien der Verkörperung arbeiten. Der Versuch, einen anderen Wirklichkeitsbezug auf der Bühne herzustellen, kennt gleichermaßen Formen des Dokumentartheaters, die mit Laien arbeiten, wie kunstautonome Bestrebungen, die die Realität des Bühnenereignisses und die Präsenz des Akteurs (bzw. der Akteurin, BW) zum Thema machen. In diesem Spektrum haben die ästhetischen Setzungen, die das Kostümbild macht, völlig verschiedene Aufgaben … (ebd.)

Wie Julia Burde in ihrem Beitrag „Das Bühnenkostüm“ aufzeigt (2016),74 ist zuallererst zwischen Kostüm, Mode und Kleidung zu unterscheiden: Bezeichnet ‚Kleidung‘ (von mhd. kleit, klēt ‚Kleid, Kleidungsstück, Bekleidung‘, auch: das mit Tonerde gewalkte ‚gekleite Tuch‘), etymologisch besehen, in erster Linie das textile Material, werden dagegen mit dem Begriff ‚Mode‘ (frz. mode, lat. modus, ‚Art und Weise‘) temporär vorherrschende Umgangsformen, -regeln und Bekleidungspraktiken beschrieben, die jeweils stark von ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen bestimmt sind (und von Bekleidungsformen, die sich weniger rasch verändern wie z. B. Tracht, Uniform oder Arbeitskleidung, abgegrenzt werden). Der Terminus ‚Kostüm‘ (von lat. consuetudo, ‚Gewohnheit, Gewöhnung‘, vermittelt über altfrz. costume sowie ital. costume, Brauch, Gewohnheit, Tradition, Praxis) ist nach heutigem Verständnis wiederum Name für jene ganze Bandbreite textiler Objekte (einschließlich Masken), die mit dem Ritual, den darstellenden Künsten oder auch mit karnevalesken Praktiken verbunden sind; vermutlich im 18. Jahrhundert gewann er seine zweifache Bedeutung als Bezeichnung für „Bühnenkleidung, zugleich aber auch ethnische, national- oder epochenspezifische Bekleidungsweisen“ (Burde 2016, 108f.). Bringt man historische oder heutige Kleidungsstücke auf die Bühne (ob höfische-feudale Roben oder aktuelle Streetstyles oder Antimoden), werden vestimentäre Codes und Kostümmerkmale „zur Kennzeichnung und Kommentierung von Figuren wirksam; ihr spezifischer Einsatz in der Bühnenkleidung stellt zugleich eine Verbindung wie Differenz zwischen Kostüm, Alltagskleidung und Mode dar“ (ebd.). Im Gegenwartstheater, so von Gerkan, ist das Entwerfen des Kostüms als künstlerischer Handlungsmodus zu beschreiben; bei „aller künstlerischen Eigenständigkeit“ könne es jedoch „nie isoliert von dem Menschen auf der Bühne betrachtet werden, mit dem es agiert“ (dies., a. a. O., 7). Ähnlich betonen wiederum Schaupieler:innen, wie z. B. Stefan Hunstein, die wichtige, nachgerade unverzichtbare Funktion des Kostüms als ‚Transformer‘: 240

Ästhetiken und Episteme

(…) Was es allein für das Gedächtnis ausmacht, wenn ich die Straßenschuhe ablege und ein Kostüm anziehe. Ich habe ein Gedächtnis mit den Schuhen, mit den Socken, mit der Jacke (…), ich habe ein Gedächtnis mit der Maske.

Ich könnte die Rolle (…) in einem anderen Kostüm wahrscheinlich gar nicht spielen (…). Das alles sind Sicherheiten (…). Dazu gehört auch die Bühne, der Geruch, die Geräusche auf dem Boden, dazu gehören verschiedene Bewegungsabläufe, selbstverständlich auch die Sätze (…), die Sprache …, der Rhythmus, (der) ein Teil der Sprache (ist) … (ders., zit. nach Güstrow 2013, 268f.)

Ein wichtiges künstlerisches Werkzeug und Kommunikationsmedium in der Kostümgestaltung ist die Figurine, die „den Beteiligten der Produktion und den Werkstätten als Medium (dient), um die gesuchte Erscheinungsform einer Figur zu vermitteln“ (von Gerkan 2016, 58) und deren Ausarbeitung mehrere Entwurfsschritte (Recherchen, Skizzen) vorangehen: „Im Entstehungsprozess einer Figurine findet eine intensive Auseinandersetzung mit der Figur statt“ (ebd.). Im Prozess des Entwerfens kommuniziert, prüft und verhandelt der Kostümbildner bzw. die Kostümbildnerin mithilfe der Figurine Entwurfsideen und trifft darüber konkrete Entscheidungen, wobei die Darstellungsform variiert und frei gewählt wird: Eine Figurine kann gemalt, gezeichnet, fotografiert, collagiert, modelliert oder mit Stoffen und Kleidung an der Schneiderpuppe bzw. direkt am Körper gearbeitet sein. Kleine Stoff- und Farbproben, Erläuterungen und schnitttechnische Skizzen ergänzen die Figurine bei der Werkstättenabgabe, d. h. der Übergabe des Entwurfs an die Kostümwerkstätten des Theaters. (ebd.)

Die Anfänge des Kostümbilds als (künstlerischem) Aufgabenfeld sind indes nicht leicht auszumachen. Auswahl, Finanzierung und auch Gestaltung von Kostümen wurden im europäischen Theater lange von unterschiedlicher Seite (Mäzenen, Theaterleitern, Prinzipal:innen fahrender Truppen) übernommen; zudem war Usus, dass die Bühnenkostüme von den Schauspieler-, Sänger-, Tänzer:innen selbst mitzubringen waren. Seit sich ab der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die bürgerlichen, ‚stehenden Theater‘ formierten, konnten mitgebrachte Kostüme auch durch Kostümteile aus den dort allmählich eingerichteten Fundusbeständen ergänzt und vom jeweiligen Haus im Rahmen detaillierter vertraglicher Reglements teilsubventioniert werden (Burde 2016, 137). Einer durch jene Praktiken der ‚Selbstkostümierung‘ bedingten Uneinheitlichkeit (und aufseiten von Schauspieler:innen mithin darin zum Ausdruck kommenden Eitelkeiten) Kostüm als integrales Gestaltungselement

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suchte prominent August Wilhelm Iffland am Ende jenes Jahrhunderts zu begegnen, indem er „frühzeitige Absprachen über Kostüme vorsah und die Verwendung privater Kostümteile nur mit vorheriger Genehmigung durch den Regisseur erlaubte“ (ebd., 142f.). Bühnenstars des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erhielten für Theaterkleidung, die sie in Modeateliers nähen ließen, an einigen Häusern (z. B. dem Wiener Hofburgtheater) zuschussweise „Garderobengeld“ (vgl. Demski 2010, 33). – Erst 1923 einigten sich der Bühnenverein und die Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger auf einen Vertrag, der als „Normalvertrag Bühne“, mit einigen Änderungen, bis heute Gültigkeit hat. Darin wurde die Kostümfrage (seither nur unwesentlich verändert) in Paragraf 9 geregelt; demnach sind Theater als Arbeitgeber gegenüber den Spieler:innen verpflichtet, (…) die (…) zur Aufführung eines Bühnenwerkes erforderlichen Kleidungs-, Ausrüstungs- und Schmuckstücke (…) zur Verfügung zu stellen‘. Ausgenommen sind Leibwäsche und ‚solche Kleidungsstücke, die das Mitglied zu seinem persönlichen Gebrauch besitzen muss‘.75

Erst mit der Formierung der Regie im modernen Sinne und im Zuge der erwähnten vertrags-rechtlichen Veränderungen wurde die Kostümgestaltung am Theater zum eigenen Berufsfeld. Das heißt aber nicht, dass Kostümbild als ein Metier, das ‚eigene künstlerische Setzungen‘ vornimmt, damit bereits etabliert war – noch heute gilt es immer wieder auszuhandeln, wie weit Gestaltungsfreiräume und Autorschaft potenziell jeweils gehen (siehe dazu das Gespräch mit Andy Besuch in diesem Kapitel). Eine signifikante Zäsur markierten die historischen Avantgarden, als über Maler wie etwa Pablo Picasso, Kasimir Malewitsch oder die äußerst vielseitig in den verschiedenen Feldern von Malerei, Skulptur, Bühnenbild, der Gestaltung von Ballett-, Film- und Bühnenkostümen, Marionetten sowie der Kalligrafie tätige Künstlerin Alexandra Exter Bildsprachen des Suprematismus, Symbolismus, Futurismus oder auch Expressionismus und Surrealismus in die Theater gelangten (vgl. Wendel-Poray 2017; Simhandl 1993).

Damit änderte sich auch das Selbstverständnis von Kostümkünstler:innen, wie sich z. B. einer von Léon Bakst, dem Mitbegründer und Kostümbildner der Ballets Russes, überlieferten, autobiografischen Äußerung entnehmen lässt: „… der Knirps, der Bonbonschachteln zerschneidet und kleine Theater daraus baut, der Puppen, die er selbst hergestellt hat, ankleidet, anmalt und mit Servietten und den indischen Taschentüchern seines Großvaters den Hut seiner Schwester lustig verziert – in dem schlummert 242

Ästhetiken und Episteme

der zukünftige Bühnen- und Kostümbildner“ (zit. nach Burde 2016, 166).

Demnach war der Beruf, auch im Sinne von künstlerischer ‚Berufung‘, damals bereits soweit nobilitiert, dass man sich sogar als Kostümbilder:in ‚geboren‘ fühlen konnte.

Gestaltungen, Funktionen und ästhetische Praktiken des Kostüms sind heute ausgesprochen vielfältig; weil aber Kostüm, Bühnenbild und Lichtdesign vom Publikum in der Aufführung stets in ihrem Zusammenspiel mit allen anderen Theaterelementen wahrgenommen werden, gerät das Kostüm als künstlerischer Faktor und Eigenleistung mithin auf eigentümliche Weise aus dem Blick: Nicht selten bleiben die Namen von Kostümbildner:innen in Kritiken unerwähnt, wobei offenbar – so ein Erklärungsversuch – die Annahme weit verbreitet ist, dass das Merkmal gelungener Kostümgestaltung darin bestünde, in der Gesamtkonzeption und den ästhetischen Strategien einer Inszenierung aufzugehen und in dem Sinne „unauffällig“ zu bleiben (Behrends 2020, o. S.). „Ganze Jahrbücher von Theaterzeitschriften“, wie Burde bemängelt, kämen ohne spezifischere Betrachtungen oder „ohne Erwähnung auch nur des Wortes ‚Kostüm‘“ aus (dies. 2016, 182). Auch in der (deutschsprachigen) Theaterwissenschaft bleibt die Auseinandersetzung mit Kostümen bzw. Kostümdesign bisher eher marginal, während in den Performance Design Studies neue Perspektiven auf den Gegenstand diskutiert werden und Kostüm unter produktions-, ereignis- und rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten (Doing ­Costume und Costume in Performance) beforscht wird.76 Die transformierende Funktion und die Bedeutungen von Kostüm und Maske – zumal sie (signifikant in Inszenierungen und performativen Installationen z. B. Susanne Kennedys oder Ersan Mondtags) aktuell wieder verstärkt künstlerisch exploriert und reinterpretiert wird (vgl. Wiens 2023b) – ist indessen unbestritten. Jenseits von Inszenierung/Aufführung und den ästhetischen Praktiken, Strategien und Objektivationen (Vergegenständlichungen), die sich dort zeigen, sind Kostümstücke, für sich genommen, szenografische Objekte: zum einen Theaterkleidung und zum anderen mit Energien, Bedeutungen und eigener Geschichte aufgeladene Artefakte, die gleichwohl nur in Ausnahmefällen in ein Archiv, Museum oder eine Ausstellungsvitrine gelangen. Etwas anders verhält es sich mit den Zeichnungen, Skizzen, Collagen und Figurinen, die Auskünfte über konzeptionelles Denken und ästhetische Praktiken in der Kostümgestaltung geben und die (als Medien im Entwurfs- und Probenprozess bzw. Archivdinge) kommunikative und dokumentierende Funktionen haben. Als grafische Arbeiten Kostüm als integrales Gestaltungselement

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wird ihnen – in Zuge der ‚szenografischen Wende‘ im modernen und zeitgenössischen Theater – mithin (wie prominent u. a. den gezeichneten Kostümfigurinen Oskar Schlemmers) ein künstlerischer Eigenwert zuerkannt.

Wie mit diesen Ausführungen knapp verdeutlich wurde, verlangt die Frage nach dem Kostüm – als Frage danach, wie sich Kostümbild (als Teildisziplin der Szenografie) formiert, wie sich Funktion und Verständnis des Bühnenkostüms historisch und kontextbezogen verändern, auf welche institutionellen Bedingungen es an den Theatern jeweils trifft und zu welchen vestimentären Formulierungen, Ästhetiken und eigenen künstlerischen Setzungen es findet – eine dispositivanalytische Perspektive. Im Folgenden wird diesen Fragen – sozusagen in einer ‚Innensicht‘ im Netzwerk des Theaterdispositivs und von einer exemplarischen künstlerischen Position ausgehend77 – im Gespräch mit dem Berliner Kostümbildner Andy Besuch nachgegangen.

Im Dispositiv. Bedingungen, Positionen und Strategien szenografischer Praxis: Ein Gespräch mit dem Kostümbildner Andy Besuch Der Szenograf Andy Besuch, der seit den Nullerjahren Schauspiel- und Opernproduktionen in Zusammenarbeit mit Regisseur:innen wie Falk Richter, Simone Blattner, Claudia Bossard, Thorleifur Örn Arnarsson sowie Lydia Steier und Valentin Schwarz im deutschsprachigen Raum und europaweit realisiert, zählt zu den namhaften Vertreter:innen dieser Disziplin, die Kostümentwurf und dessen Umsetzung dezidiert als künstlerische Praxis verstehen. Im Folgenden geht es um die Frage: Wie bringt sich Kostümbild in das Dispositiv des Theaters ein, als künstlerische Position und gestaltender Faktor?

Birgit Wiens: Die Kostümgestaltung ist Teildisziplin der Szenografie, und oft übernehmen Künstler:innen sowohl die Bühnen- als auch die Kostümgestaltung.

Es gibt aber auch Argumente dafür, beides als ineinandergreifende und dennoch eigene Disziplinen zu betrachten. Welcher Stellenwert wird dem Kostüm im Theaterbetrieb zuerkannt, und wie lässt sich die Position des Kostümbildners, der Kostümbildnerin mit Blick auf die gegenwärtige Praxis beschreiben?

Andy Besuch: Obwohl ich Bühnen- und Kostümbild studiert habe, arbeite ich ausschließlich als Kostümbildner. Allerdings denke ich, dass beides 244

Ästhetiken und Episteme

70 Andy Besuch im Atelier bei der Arbeit an den Kostümen für Salome, Regie: Lydia Steier, Opéra Bastille / Opéra National de Paris, 2022. Foto © A. Besuch

untrennbar verbunden ist: die Figur im Raum und der Raum um die Figur. Zugleich besteht zwischen Kostüm, Maske und den Körpern der Darsteller:innen eine enge Relation, und gerade darin liegt die besondere Herausforderung des Kostümdesigns. Auch wenn dieser Beitrag zur Inszenierungsarbeit noch heute oft unter dem veralteten Begriff ‚Ausstattung‘ gefasst wird, ist sie eine eigene – und wie ich meine, künstlerische – Disziplin, und in dem Sinn verstehe ich mich als eigenständiger Künstler.

Mit der Forderung, Kostüm als Kunst zu verstehen, sind mehrere Ebenen angesprochen: Zum einen die seiner Wahrnehmung durch das Publikum und die Theaterkritik. Zum zweiten die Frage, wie sich Kostümbildner:innen innerhalb künstlerischer Teams (Regie/Bühnen/Dramaturgie, Ensemble) und in der Relation zu Werkstätten, Technikabteilungen und Theaterverwaltung positionieren; zudem wirkt sich oft aus, welche Ausbildung, Begegnungen und welcher individuelle Weg in den Beruf hineinführten. Und nicht zuletzt stellt sich die Frage nach dem Stellenwert, den man dem Kostüm als Kunst bzw. Gestaltungsdisziplin im Dispositiv der darstellenden Künste jeweils zuerkennt; zu berücksichtigen sind immer auch die Bedingungen, die an den Theatern und in konkreten Arbeitszusammenhängen gegeben sind.

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Kostümbildner:innen – die meisten arbeiten freiberuflich – haben in der Mehrzahl eine Kunsthochschule besucht,78 im Allgemeinen wird Kostüm jedoch nicht als Kunst betrachtet. Die Frage nach dem Stellenwert unserer Disziplin berührt in der Tat mehrere Ebenen, und die Probleme liegen sowohl in der Innen- wie auch der Außenwahrnehmung. In meinem Fall führte der Weg zum Beruf über ein Studium an der Hochschule für Bildende Künste Dresden bei Henning Schaller und Johannes Leiacker. An diese Akademie ist zudem ein renommierter Fachhochschulstudiengang angegliedert, in dem Theaterplastik, szenische Malerei, Kostümgestaltung und Maskenbild gelehrt werden. Das heißt, ich konnte entwerfen, künstlerisch experimentieren und mir unentbehrliches Praxiswissen über Materialien und handwerkliche Techniken aneignen. Zuvor hatte ich Erfahrungen beim Film gesammelt und sogar ein erstes, eigenes Kostümkonzept umgesetzt (in Peter Greenaways Produktion Bolzano Gold, 2004). Prägend war sicherlich auch, in der Requisitenabteilung der Berliner Volksbühne während eines halbjährigen Praktikums mitzuerleben, wie Bühnen und Kostüme für Inszenierungen von Frank Castorf, Christoph Marthaler, Jonathan Meese oder Christoph Schlingensief, d. h. Szenografien mit sehr unterschiedlichen Ästhetiken, entstanden. Intern praktizierte man eine weitmöglich nichthierarchische Arbeitsweise, auch in der Kooperation mit den Werkstätten. Dass man sich am Theater als ‚Partner in Crime‘ verstehen sollte, habe ich dort gelernt – und auch, wieviel künstlerisches und handwerkliches Wissen in jeder Produktion zusammenkommt. Seit dem ersten Engagement nach dem Diplom (Der Meister und Margarita, Schauspiel Stuttgart 2011, mit Corinna Harfouch) bin ich als Kostümbildner für Sprechtheater, Oper sowie für Filmprojekte und Werbeproduktionen tätig.

Was die Innenperspektive auf den Beruf im Theaterbetrieb angeht, ist zu erwähnen, dass man von Szenograf:innen v. a. an kleinen Häusern häufig erwartet, beides – Bühnen- und Kostümbild – zu übernehmen, und Kostüm als etwas betrachtet wird, das man ‚nebenbei‘ macht. Mit meiner Arbeitsbiografie und gemäß meinem Selbstverständnis bestehe ich dagegen explizit darauf, als Kostümbildner engagiert zu werden. Bei Vertragsverhandlungen zeigt sich immer wieder, dass beim Kostümbild, das als eher ‚weibliches‘ Berufsfeld gelesen wird, die Gagen oftmals weit niedriger angesetzt werden als für das Bühnenbild.79 Das sollte sich ändern, zumal Kostümentwürfe die visuellen Dramaturgien und Ästhetiken entscheidend mitprägen und einen eigenen, wichtigen Beitrag zur Inszenierungsarbeit leisten. Auch in der Außenwahrnehmung gibt es Missverständnisse, 246

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etwa die weit verbreitete Meinung, unsere Aufgabe bestünde vor allem darin, Kleidung einzukaufen oder vorhandene Kostüme im Theaterfundus zusammenzusuchen. Dem komplexen Prozess, den das Entwickeln eines Kostümkonzepts und einer stimmigen Bildsprache erfordert, wird das aber keinesfalls gerecht. Selbst im seltenen Fall, dass für eine Produktion keine Kostüme neu angefertigt, sondern Kaufartikel oder bereits abgespielte Fundusteile ausgewählt, kombiniert, umgeändert und variiert werden, verlangt dies Fachkenntnis und künstlerische Entscheidungen, und somit handelt es sich immer um einen gestalterischen Vorgang.

Als Teil der Regieteams wurden Theaterkostümbildner und -bildnerinnen bisher selten namentlich bekannt, da gab es – mit Moidele Bickel als künstlerischer Partnerin von Peter Stein oder Frida Parmeggiani in vielen Produktionen Robert Wilsons – lange nur wenige Ausnahmen. Wie haben sich die Arbeitsbedingungen für Kostümbildner:innen an den Theatern und, damit verbunden, die künstlerische Praxis der Kostümgestaltung in den letzten beiden Jahrzehnten verändert?

Wenn man – angefangen beim (west)deutschen Regietheater der 1960er und 1970er Jahre – in die letzten Jahrzehnte zurückblickt, so sieht man nach der Wiedervereinigung und mehr noch in den Nullerjahren eine Art Zäsur, die nicht zuletzt mit Sparmaßnahmen zu tun hat. Mir wird das immer bewusst, wenn ich auf Kostüme Moidele Bickels stoße, die im Fundus der Berliner Schaubühne hängen, oder auf Kostüme von Jürgen Rose, die in den Münchner Kammerspielen und in Spezialschränken im Staatstheater Stuttgart aufbewahrt werden. Im Archiv gibt es dort faszinierende historische Kostüme aus der Zeit, als die Württembergischen Theater noch Hoftheater waren. Ähnlich kostbar mögen einem heute Jürgen Roses Kostüme vorkommen; wenn man sie näher betrachtet, sieht man die Sorgfalt und den Aufwand, mit dem sie kreiert und hergestellt wurden. Um besondere Stoffe zu finden, soll Rose selbst nach Italien oder sogar bis nach Indien gereist sein; unter heutigen Bedingungen im Theaterbetrieb ist das kaum mehr vorstellbar. Auch der Wandel der Mode ist ein Faktor: In den 1990er Jahren, beeinflusst z. B. durch das Modedesign Jil Sanders oder Helmut Langs, wurden die Kostüme reduzierter, sachlicher, doch mit Gucci, Galliano und Alexander McQueen gab es bald auch wieder andere Einflüsse. Allerdings gilt: Fashion is not a Costume, das heißt, zwischen Mode und Kostüm muss man klar unterscheiden. Neue Tendenzen im Theaterkostüm sieht man seit den Zehnerjahren, z. B. mit Victoria Behrs Kostüm als integrales Gestaltungselement

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71–72 Andy Besuch: Kostümzeichnungen, Notizen und Collage für Baracke von Rainald Goetz, Deutsches Theater Berlin, 2023 © A. Besuch

Entwürfen für Inszenierungen von Herbert Fritsch, Antú Romero Nunes oder Barrie Kosky, die mit ihrer Farbigkeit, Stil- und Formenvielfalt eine große Opulenz, Expressivität und Artifizialität brachten: ‚kranke Kostüme‘ (im Sinne Roland Barthes‘) mit einer neu entdeckten Lust am Sinnlichen.

Viele Kostümbildner:innen meiner Generation, wie Teresa Vergho oder Josa Marx, haben wieder Freude an der Figur und am Gestalten. Eines meiner Schlüsselerlebnisse hatte ich in Stuttgart beim ersten Engagement: Alle Sparten (Oper, Schauspiel, Ballett) haben dort eigene Kostümwerk248

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stätten und zudem eine eigene Lehrwerkstatt für Auszubildende. Es geht einem das Herz auf, wenn man all die Stoffe, Perlen und alten Stickereien sieht und mit den Gewandmeister:innen, Schneider:innen, Modist:innen und den Fachgewerken für Kostümmalerei, Färberei oder auch Schuhmacherei und Rüstmeisterei zusammenarbeiten kann, wo alle ihre Handwerkskunst (einschließlich traditioneller Techniken, von denen einige nur noch am Theater gepflegt werden) auf faszinierende Weise beherrschen; gleiches gilt für die Maskenbildabteilung. Die Stuttgarter Bedingungen sind mit denen in Paris oder Amsterdam vergleichbar, und auch andere Häuser (sofern nicht rationalisiert und ausgelagert wurde) haben sehr gute Werkstätten. Schon für sich ist das kulturell wertvoll, und als Künstler:in schöpft man viel aus diesen Möglichkeiten – sollte aber entsprechend damit umgehen können. Es ist schade, wenn Kostümbildner:innen zu H&M laufen, um von den Werkstätten dann zu verlangen, das Zeug nur aufzutrennen und anders zusammenzunähen; auf diese Weise geht vieles verloren. Das aber hat wiederum auch mit niedrigen Gagen, Budgets und dem eher geringen Stellenwert zu tun, den man dem Kostümbild eingeräumt hat, und – von außen – mit der weitgehend fehlenden Auseinandersetzung mit unserer Kunst.

Wie lässt sich – aus der Innenperspektive – ein Entwurfsprozess exemplarisch beschreiben, und wie hierarchisch oder aber beweglich und durchlässig sind die Positionen von Regie, Dramaturgie, Ensemble sowie Kostüm- und Bühnenbild geworden?

Jedes Stück verlangt eine andere Sprache und andere Perspektiven. Immer schon ist da ein Kosmos von Inspirationen, denn ich bin kein Kostümbildner, der mit dem Stift in der Hand nur im Atelier sitzt oder sich Ideen online sucht, sondern ich gehe in Museen, ins Kino; und unendlich viele Anregungen gibt die Natur, allein schon mit ihrer Vielfalt an Farben und Farbkombinationen. Eine Freddy-Mercury-Biografie interessiert dabei ebenso wie z. B. ein Bildband über Hüte im Barock, und zur Kostüm- und Stilgeschichte lässt sich wunderbar in der Lipperheideschen Kostümbibliothek zu Berlin oder der Von Parish Kostümbibliothek des Münchner Stadtmuseums recherchieren. Wichtig ist auch die kontinuierliche Auseinandersetzung mit Materialien, etwa auf Stoffmessen (wie z. B. der Pariser Fachmesse Première Vision). Ich benutze gern wertige Stoffe, aber auch simples, billiges Material – oft beides in Kombination –, und arbeite beim Entwerfen und Gestalten viel mit visuellen Zitaten, kulturellen Codes und Kostüm als integrales Gestaltungselement

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73 Andy Besuch: Kostümentwurf für Am Königsweg von Elfriede Jelinek, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, 2017. 74 Szene mit Frank Willens, Matti Krause, Julia Wieninger, Benny Claessens, Anne Müller, Regie: Falk Richter, Bühnenbild: Katrin Hoffmann, Kostümbild: Andy Besuch, Video: Meika Dresenkamp, Michel Auder. Foto: Arno Declair

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Referenzen. Als Kostümbildner habe ich eine eigene, auch wiedererkennbare Signatur entwickelt, und in der Zusammenarbeit ist mir wichtig, als gleichberechtigte künstlerische Position beteiligt zu sein. Am Beginn gehe ich das Stück – sei es ein Theatertext Elfriede Jelineks, wie Am Königsweg, der am Hamburger Schauspielhaus uraufgeführt wurde (Regie: Falk Richter, 2017), oder eine Oper (wie Richard Wagners Der Ring des ­Nibelungen, Bayreuther Festspiele 2022, Regie: Valentin Schwarz) – ­ systematisch durch. Dann entstehen Figurenanalysen und, zunächst v. a. in Form schriftlicher Notizen, Schemata zu Struktur, Handlung bzw. Themen, sowie Skizzen und Assoziationen erster Ideen. Die eigentliche Arbeit am Kostümkonzept beginnt, wenn ich den Bühnenentwurf und Regieansatz kenne; in der Teamarbeit greifen dann Kostüm, Regie, Dramaturgie sowie Bühnengestaltung, Video und Musik ineinander. Mithilfe des Bühnenbildmodells und ausgehend von Erfahrungen bei der Bauprobe untersuche ich, wie der Raum als Counterpart für Kostüm funktioniert und welche Möglichkeiten oder Reibungsflächen er bietet. Sind die ersten Fähnchen für meine Konzeption gesetzt, entsteht schrittweise, im Ausarbeiten von Zeichnungen, Materialsammlung und Collagen, eine vestimentäre Partitur. Für jede Figur muss überlegt werden: Wie tritt sie ins Spiel, in welchen Relationen (zu Ort, Zeit, den anderen Figuren) bewegt sie sich, wo wird sie am Ende sein und was passiert dazwischen? Welche Kostümelemente und Merkmale (wie etwa Farbigkeit) sollen durchgehend oder nur in einzelnen Szenen vorkommen? In der Leseprobe (die bei Am Königsweg eine Woche lang dauerte) stelle ich die Recherchen, Inspirationen und Entwürfe in einer Powerpoint-Präsentation vor, Regieteam und Performer:innen treten gemeinsam in den Probenprozess ein, und die Konzeption verdichtet sich. Wichtig ist, immer wieder nach den Identitätsmarkern zu fragen und danach, in welcher Weise Kostüme bestimmte Mentalitäten, soziale Codes und Machtverhältnisse reflektieren und welche Assoziationen sie hervorrufen; die Figuren sollen ambig sein. Kostüme sind Artefakte, künstlerische Medien und haben als solche ihre wohl wichtigste Funktion darin, den Darsteller oder die Darstellerin in eine Kunstfigur zu verwandeln.

Kostüme beeinflussen Spielweisen und Bewegungen, sie geben Spielimpulse, mit anderen Worten: Zwischen Kostümgestaltung sowie Schauspieltechnik und Gestaltung der Figur bzw. Rolle gibt es starke Wechselwirkungen. Sophie Rois sagte beispielsweise einmal über die Kostüme Bert Neumanns: „(Er) wusste (…), dass er mich für ein Stück begeistern kann, indem er mir das Kostüm zeigt (…). Mehr brauchte ich oft gar nicht, nicht die seelische Gestimmtheit Kostüm als integrales Gestaltungselement

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75 Kostümentwurf von Andy Besuch Am Königsweg von Elfriede Jelinek, Deutsches Schauspielhaus Hamburg, 2017. 76 Aufführung, Szene mit Julia Wieninger, Benny Claessens, Matti Krause und Frank Willens (2017), Regie: Falk Richter, Bühnenbild: Katrin Hoffmann, Kostüme: Andy Besuch. Foto: Arno Declair.

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der Figur, sondern dass ich dachte: In dem tollen Fetzen oder mit dieser Krone habe ich auf jeden Fall Lust aufzutreten, weil das bei mir alles Mögliche auslöst“ (dies. 2016). Sie nennt das ‚von Aussen nach Innen arbeiten‘ (ebd.). Es gibt verschiedene Techniken, eine Figur zu entwickeln; Kostüme sind auf unterschiedlichste Weise daran beteiligt. Dazu gehört auch, dass Kostümbildner:innen unter den Szenograf:innen diejenigen sind, die am engsten mit den Darsteller:innen und buchstäblich an und mit deren Körper arbeiten.

Wenn man den Raum entwirft, ist da niemand, der eine Taille möchte oder vielleicht einen Hut tragen will; beim Kostüm dagegen hat man es mit Menschen zu tun. Nach Abgabe des Konzepts in den Werkstätten (mit Angaben zu Schnitt, Stoffen und sonstigen Details) werden einige Kostüme teilangefertigt oder Prototypen genäht, um sie auf den Proben zu überprüfen. Nicht alle Entscheidungen sind also final, und meist gibt es Entwürfe, die szenisch ausprobiert, weiterentwickelt oder notfalls verworfen werden. Wie der Bühnenraum, jede Wand, Bodenschräge, rotierende Scheibe oder auch jeder Stuhl und sonstigen Objekte beeinflussen die Kostüme das Körpergefühl der Spieler:innen, sind Impulsgeber im Hinblick auf Haltung, Gestus, Spielduktus – z. B. hat ein dicker Mantel einen lastenden, beschwerenden Effekt und ein enger Rock verändert sofort die Präsenz und Bewegungen. Eine Anprobe in der Kostümabteilung ist daher fast eine szenische Probe und zugleich immer etwas Besonderes, beinahe Intimes. Als Kostümbildner ist man an der Stelle Berater, Vertrauter oder auch die ‚strenge Mutti‘, die sagt: ‚Zieh das bitte an, lass es uns ausprobieren!‘, und manchmal eine Art Chirurg. Es kann auch Krisen geben; man fängt in der Kostümabteilung vieles auf. Teil der Aufgabe ist einerseits, herauszufinden, was ein Schauspieler bzw. eine Schauspielerin (oder in der Oper, etwas anders, ein Sänger, eine Sängerin) jeweils braucht. Andererseits ist Kostüm in gewisser Weise ‚Zwang‘, weil es Figuren modelliert und – je nach Gesamtkonzeption – manchmal gezielt Einschränkungen schafft, z. B. indem man in einem Anzug die Taschen zunäht, sodass die Hände nicht darin verschwinden können, oder man einer Figur das Gesicht nimmt. In der Inszenierung von Baracke, Rainald Goetz‘ Stück über dysfunktionale Kleinfamilien, NS-Erbe und transgenerational fortwirkende ideologische Prägungen (Regie: Claudia Bossard, Deutsches Theater Berlin, 2023), bekamen die beiden Elternfiguren, die beim ersten Auftritt einer Museumsvitrine entstiegen, Biedermeierkostüme; in einer anderen Szene ließ ich ihre Köpfe in bunten Bauklötzen verschwinden, die sie auf visueller Ebene zwar verbanden, aufgrund ihrer Sperrigkeit und Kostüm als integrales Gestaltungselement

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Materialität aber auch trennten, die Figuren quasi in sich einsperrten und ihre Körper puppenartig fast erstarren ließen. Auch griffen hier das Bühnenbild (von Elisabeth Weiß) und die Kostüme stark ineinander, nicht zu vergessen das Licht- und Videodesign (vgl. Abb. 68 und 69). Wie dieses Beispiel zudem deutlich macht, hört Kostümentwurf bei den Figuren nicht am Hals auf, sondern umfasst auch das Maskenbild. Kostümteile wie diese sind eigentlich plastische Objekte – in ähnlichem Sinne, wie man es etwa vom Theater Achim Freyers oder, anders, von Szenografien Robert Wilsons kennt. Eine solche formale Strenge haben die Produktionen, an denen ich beteiligt bin, allerdings nicht, sondern vorzugsweise einen offenen Inszenierungsansatz, bei dem man sich mit kontroversen Sichtweisen, Assoziationen sowie divergierenden künstlerischen Formulierungen gegenseitig überraschen kann. Auf der Ebene der Formensprache interessiert mich besonders das Diverse, Mehrdeutige oder auch vermeintlich Häss­ liche, das ich mit meiner von anderen oft als eklektizistisch bezeichneten Gestaltungspraxis auslote. In der Produktion Baracke gab es z. B. neben den Biedermeierkostümen auch Ganzkörperkostüme in Form überdimensionaler Schokoriegelpackungen, in denen die Schauspieler:innen durch die Bilderrahmen hindurch in den Museumsraum (der ja heute nicht allein Bildungsort, sondern längst auch Konsumwelt ist) eindrangen: Das erzählten diese Kostüme auf der Inszenierungsebene, und zudem fungierten sie als Impulsgeber, die ungewöhnliche Spielweisen bedingten.

Kostüme sind künstlerisch gestaltete Artefakte, die, sobald ein Stück abgespielt ist, als Theaterkleider und „Gebrauchsgegenstand zur Wiederverwertung“ angesehen werden; zugleich gehören sie zu den szenografischen Objekten, die neben ihrem Wert als materielles Relikt einer Inszenierung einen hohen emotionalen Wert haben, weil sie in den Aufführungen gewissermaßen ‚mitspielten‘ und direkt am Körper getragen wurden.80 Dass ein Kostüm danach als Artefakt separat aufgehoben und archiviert wird und nicht als ‚Gebrauchsgegenstand‘ in den Fundus kommt, ist dennoch eher die Ausnahme. Was also bleibt von den Kostümen und was von den Skizzen, Collagen, Kostümpartituren und Fotografien?

Was das Dokumentieren und Aufbewahren angeht, gibt es keine ganz einheitliche Praxis. Bei den Bayreuther Festspielen wird alles aufgehoben – ein musealisierender Ansatz: Meine Kostümentwürfe mussten für den Ring (2022) bei der Entwurfsabgabe detailliert ausformuliert sein und wurden, ebenso wie die realisierten Kostüme, archiviert. In anderen 254

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Zusammenhängen entstehen Konzepte, wie beschrieben, eher prozessorientiert, was sich auch auf die Wahl der Entwurfsmedien und -techniken auswirkt. Mehr als die Zeichnung hat sich – besonders für meine Mix & Match-Gestaltungspraxis – die Collage (auch digital per Photoshop) als geeignet erwiesen – verstanden als Werkzeug, um Ideen prägnant zu vermitteln. Was die Kostüme, Hüte, Accessoires etc. selbst betrifft: Es berührt schon, wenn man im Fundus auf besondere, im Gedächtnis gebliebene Stücke von Moidele Bickel oder von Kolleg:innen wie Klaus Bruns, Victoria Behr oder auf Eigenes aus vergangenen Produktionen trifft. Ein Fundus ist ein Kosmos voller Erinnerungen, aber auch eine Ressource von Theaterkleidung, Stoffen und Material. An dem System partizipieren wir, indem wir es nutzen und auch prägen; die Kostüme gehören dem Theater und werden immer wieder Material für etwas Neues. Bei ikonischen Entwürfen wird allerdings schon überlegt, ob man die Schere ansetzt. Die wichtigsten Kostümskizzen, -partituren, Collagen, Proben- und Aufführungsfotos hebe ich digital auf,81 eben weil unsere Kunst so vergänglich ist, und weil sich anhand der Entwürfe aufzeigen lässt, inwiefern Kostümbild in den darstellenden Künsten nach heutigem Verständnis nicht als ‚Ausstattung‘, sondern als künstlerisches Gestaltungselement fungiert.

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Perspektiven der Theaterszenografie: Résumé und Ausblick In den drei Kapiteln dieses Buchs wurden Untersuchungen zu Ästhetiken und Epistemen des Szenografischen unternommen; zu fragen war nach den Produktionsbedingungen, auf die sie im Theaterbetrieb gegenwärtig trifft, und nach der Aufmerksamkeit und theoretischen Reflexion, die ihr zuteilwird. Szenografie ist zu verstehen als künstlerische Konzeption und Gestaltung von Raum, Kostüm/Maske, Licht, Video, Sound und als integral mitkonstituierender Faktor jeder Inszenierung und Aufführung – so lautete das Ausgangsargument. In einer Reihe exemplarischer Analysen, mit Überlegungen zur Archivpraxis und dem ‚Gedächtnis der Szenografie‘ sowie mit Beobachtungen zur Ausstellungspraxis in Museen und auf internationalen Plattformen, erfolgte die Annäherung an den Gegenstand Szenografie/Performance Design aus unterschiedlichen Perspektiven. Des Weiteren wurden Ansätze der Scenography & Performance Design Studies vorgestellt und der Diskussionsstand in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft eruiert. Deutlich wurde, dass letztere an die international einschlägige Forschungsdebatte bisher kaum angeschlossen hat. Dies erstaunt umso mehr, als die besondere Relevanz von Szenografie-Forschung darin liegt, dass sie untersucht, wie basale Aspekte der Materialität und Technizität sowie der ästhetischen Praxis und sozialen Dimension des Theaters aktuell künstlerisch bearbeitet und mithin unter machtkritischen, diversitätssensiblen und ökologischen Gesichtspunkten im Gegenwartstheater adressiert werden. Zudem rückt sie, mit ihrer Doppelperspektive auf die künstlerische Produktion sowie auf die Aufführung und deren Rezeption, das Theater als Dispositiv in den Blick, d. h. die Stadt- und Staatstheater, Koproduktionshäuser, Fördernetzwerke und Infrastrukturen der Freien Szene, die mit ihren jeweiligen Gegebenheiten – Institution, Administration, Bühnentechnik, Gewerken, Fundus, Budgets, Regularien und habituellen Abläufen – das Bedingungsgefüge für die Kunst der Szenografie bildet: Für die (meist freiberuflich in wechselnden Produktionsteams tätigen) Szenograf:innen markiert dieses Gefüge den (künstlerischen, diskursiven und konkreten) Möglichkeitsrahmen, den sie nutzen, bespielen und kreativ ausloten. Ebenso kommt – auf der Rezeptionsseite – die Funktion des Szenografischen in den Blick: als einen die Bühne bzw. Theatersituation variabel formenden, gestaltenden Faktor, durch den das Publikum in seinem Rezeptions- und ästhetischen Wahrnehmungsverhalten aktiviert, potenziell 256

irritiert und zuweilen (in Stadtraumprojekten, intermedialen Konstellationen oder experimentellem Digitaltheater) so in ein Spielgeschehen involviert wird, dass – auf zweiter Ebene (metaszenografisch) – Reflexionen über die ‚weltentwerfende‘ Dimension und basale Kulturfunktion der Bühne in Gang kommen. Auf eben dieser Ebene wird erkennbar, wie Szenografie (auch über ihre theaterimmanenten Funktionen hinaus) auf rezente gesellschaftliche Herausforderungen und Transformationsthemen Bezug nimmt und diese gestalterisch reflektiert. Gemäß diesem Verständnis der Szenografie als Kunst, Disziplin und Forschungsgegenstand ist es das Hauptanliegen dieser Studie, Theorie- und Methodenbausteine bereitzustellen und anzuregen, szenografische Gestaltung im besagten Doppelblick auf Produktion und Aufführung (Doing Scenography/Scenography in Performance) und als eminenten Faktor im Theaterdispositiv stärker in den Fokus zu rücken.

Einen gedanklichen Leitfaden durch alle Kapitel hindurch bildet die eingangs zitierte, von Pamela Howard formulierte Forderung der Scenography & Performance Design Studies, szenografische Praktiken und Ästhetiken aufzuzeigen, um im Theater den genuinen, co-kreativen Beitrag dieser Disziplin deutlich zu machen (It is very important to use scenography as a more accurate way of describing the role of the visual artist in the theatre, no longer being a servant but rather … a creator, initiator and a collaborator, dies. 2002, 73). Wie in den Abschnitten zur internationalen Debatte der Szenografie-Forschung gezeigt wurde (die im Kontext v. a. der IFTR sowie der Prager Quadriennale englischsprachig geführt wird, neuerdings ergänzt durch die multilinguale Initiative LIRIS an der Pariser Sorbonne),1 zielen die meisten der bisher vorgelegten Beiträge darauf ab, das Spektrum des Szenografischen breit sowohl theaterbezogen als auch inter-/transdisziplinär und inter-/transmedial (als expanded scenography) zu untersuchen.

Zentraler Gegenstand (durchaus im Sinne der Fachtradition) bleibt dabei die Aufführung, wobei etablierte Analysemethoden (Theatersemiotik, phänomenologische Analysen) um Perspektiven auf relationale Ästhe­ tiken und die Affektivität, Materialität, Medialität und Temporalität des Szenografischen erweitert werden (vgl. McKinney/ Palmer 2017; Groot Nibbelink 2019). In Auseinandersetzung mit Theaterproduktionsprozessen werden mithin aber auch theoretische Aspekte szenografischen Entwerfens diskutiert, z. B. Fragen nach der Performativität und ästhetischen Dimension von Zeichnung/Zeichnen (Collins/Aronson 2017; Field 2021) oder nach dem ‚weltentwerfenden‘ Potenzial, der ästhetischen Autonomie oder der bis ins Soziale und Politische hineinreichenden Prägekraft von ArchitekturPerspektiven der Theaterszenografie: Ausblick

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und Bühnenbildmodellen (Brejzek/Wallen 2018; von Arx 2018). Zugleich wird die theoretisch-methodisch unscharfe Behandlung der Disziplin als „global art form“ oder universelle ‚Hyperdisziplin‘ (McKenzie 2008) kritisiert – zugunsten differenzierender Betrachtungen, die berücksichtigen, dass künstlerische Praktiken und ästhetische Wahrnehmung stets in ihrem gesellschaftlichen Kontext und im Horizont unterschiedlicher Theaterkulturen und Publikumserwartungen situiert sind. Kulturvergleichend betrachtet, erweist sich bereits der Terminus ‚Szenografie‘ in Wortsemantik und Gebrauch als mehrdeutig und polyvalent (vgl. von Arx/Wiens 2021, 219). In Forschungen, die den Blick auf transnationale ‚Verflechtungen‘ von Theaterkulturen legen oder in synchronen/diachronen Untersuchungen einzelner szenografischer Elemente (z. B. Bühnenformen oder Kostüm und Masken) den Wandel von Traditionen, Konventionen, Kulturtechniken und ästhetischen Praktiken kulturvergleichend analysieren (Aronson 2018; Nawata 2022), werden Fragen nach Institution und diskursiven Rahmungen sowie nach den gesellschaftlichen und (kultur-)politischen Kontexten des Theaters oft nur am Rande berücksichtigt. Hinzu kommt, dass gegenwärtige Umbrüche (digitale Transformation, wirtschaftlicher Wandel, Migrationsbewegungen, Klimaproblematik u. a. m.) auch im Theaterfeld Veränderungen mit noch kaum überschaubaren Transformationsdynamiken und Herausforderungen mit sich bringen. In der deutschsprachigen Theaterwissenschaft wird dies neuerdings zum Anlass genommen, die ohnehin pluralen theater-, kunst-, medienwissenschaftlichen und performancetheoretischen Ansätze des Fachs zudem noch um sozialwissenschaftliche Methoden zu erweitern (Hoesch/Wihstutz 2020; Balme/Szymanski-Düll 2020). Zuletzt wurde u. a. der Versuch unternommen, mithilfe von Ansätzen aus der soziologischen Organisationstheorie des New Institutionalism neue Erkenntnisse über Diskursdynamiken und den Wandel gesellschaftlicher Verankerungen des Theaters zu gewinnen (vgl. Balme/ Fisher 2021) und diese – am Beispiel des deutschen Theatersystems und seiner Institutionengeschichte – anhand von ‚Legitimationserzählungen‘ über Theater (Balme 2021) zu beleuchten. Mit Transformationsthemen und Perspektiven der aktuellen Szenografie- und Performance Design-Forschung (z. B. zu relationalen Ästhetiken und Sozialität szenografierter Räume, zu Nachhaltigkeit, ‚grünen Bühnen‘, Eco-Szenografie oder zu Szenografie und Digitalität) blieben diese Diskussionen bisher jedoch unverbunden.

Um demgegenüber Potenziale und die Relevanz von Szenografie-Forschung im Fach Theaterwissenschaft zu unterstreichen und mit einem 258

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tragfähigen Ansatz notwendige Grundlagen zu legen, wird mit dieser Studie vorgeschlagen, Szenografie als Dispositiv zu verstehen, das im Kontext verschiedener Kunst- und Gestaltungfelder (Theaterbühne, Ausstellungen/ Museen, Urbanität und öffentlicher Raum, inter-/transmedialen Raumpraktiken) operiert (vgl. Wiens 2019/2021) und sie zugleich – darauf liegt der besondere Akzent der vorliegenden Studie – als dispositiven Faktor des Theaters zu begreifen (vgl. die Ausführungen in der Einleitung und in Kap. I.). Ästhetiken, Episteme, künstlerische Strategien, Objektivationen, Subjektpositionen und Autorfunktionen des Szenografischen wurden differenziert und in Case Studies exemplarisch analysiert (Kap. II.). In Erkundungen des Theaters als Dispositiv (das Bühnenform/Architektur, Technik, Gewerke, Fundus, Juristisches und sicherheitstechnische Reglements, Administration, habituelle Abläufe, institutionelle und soziopolitische Verankerungen sowie seine Funktion als Archiv und kulturelles Gedächtnis umfasst) wurde untersucht, wie Szenografie in jenen Bedingungsgefügen operiert und als Kunst in Erscheinung tritt (Kap. III.). Die Frage, ob es nicht „grundsätzlich ein Paradox“ sei, Ästhetik und Dispositiv zusammenzudenken (Siegmund/Aggermann 2020, 138), sowie Dieter Merschs nachdrücklicher Hinweis auf die „Unregierbarkeit der Kunst“ (ders., in: Wiens 2021, 169ff.) stehen freilich immer im Raum. Mersch zufolge spielten die Künste und ihre Ästhetiken in heterogenen dispositiven Gefügen (die auf gesellschaftliche ‚Erfordernisse‘ antworten, Realitäten schaffen) eigentlich keine Rolle – oder wenn doch, so träten sie auf, um mit ihren Mitteln Ordnungen und Machtverhältnisse zu unterlaufen, „Gegenoffensiven“ auszurufen, „Sprengungen oder Konversionen vorzunehmen“ und „Entwürfe alternativer ‚Aufteilungen des Sinnlichen‘ wie des Praktischen (zu) erproben“ (ders., in: Bippus/Huber/Nigro 2012, 27f.). Demgegenüber wurde von anderer Seite argumentiert, dass auch Kunst bzw. Theater „dispositivisch bedingt“ sind (Siegmund/Aggermann 2020, 138), mit anderen Worten: Auch widerständige, subversive oder grenzüberschreitende Praktiken nutzen vorhandene Dispositive. Dies gilt demnach für das Dispositiv des Regietheaters mit seinen Ensembles ebenso wie auch für das der multilateralen Szenen der internationalen (Ko-)Produktionshäuser sowie der Freien Szene, die, soweit sie von öffentlicher Hand gefördert werden, keine Außenposition einnehmen (‚Re-Dispositivierung‘). Gleichwohl mag auch im Dispositiv das besondere Potenzial von Kunst und Kunstereignissen darin liegen, dass sie „vermögen (…), im Modus des Ästhetischen über ihre Konstitutionsbedingungen zu reflektieren“ (Siegmund/Aggermann, a. a. O.). Folgt man dieser Argumentation, wären aus den in Kap. II.2.

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vorgestellten Beobachtungen zur Kunst der Szenografie (im Regietheater) exemplarisch etwa zu nennen: Bert Neumanns De/Konstruktionen der Logik der Guckkastenbühne (z. B. seine hölzerne ‚vierte Wand‘, Abb. 11), Katrin Bracks theaterunüblicher Umgang mit Materialien, Objekten und Apparaten, die Hypertrophierungen des Technischen bei Ulrich Rasche sowie die szenografischen Interventionen Sebastian Hannaks, wenn er das gesamte Gebäudeinnere eines Opernhauses zu einer (für das Publikum zudem virtuell über eine App zugänglichen) Raumbühne umbauen lässt.

Wieder anders (im Kontext des Koproduktions- und Netzwerktheaters) entwickelt das Performancekollektiv Rimini Protokoll die künstlerische Logik seiner Audiotouren, Stadtraum- und intermedialen Projekte im Wesentlichen daraus, dass diese sich formal und diskursiv auf Theater und auf Verfahren der environmental / expanded scenography beziehen und, auf pragmatischer Ebene, die Netzwerke und Infrastrukturen der internationalen Produktionshäuser und Festivals im Sinne ihrer multilokalen Strategien nutzen.

Offen blieb bisher die Frage, durch welche Prozesse oder Kräfte sich Dispositive langfristig verändern und welche Faktoren eine Transformation oder sogar dauerhafte Ablösung eines Dispositivs in Gang setzen: In Betracht kommen sowohl exogene Faktoren (wie Kriege, gesellschaftliche Umbrüche, politische Systemwechsel oder Krisen, z. B. Finanzkrisen, Pandemien) wie auch Kräfteverschiebungen und Umbauten innerhalb eines dispositivischen ‚Netzes‘. Um solche Prozesse mit Blick auf das Theaterdispositiv zu untersuchen, zielt theaterwissenschaftliche Dispositivanalyse darauf ab, (1.) Praktiken zu identifizieren, die in den verschiedenen Ausformungen (z. B. im Regietheaterdispositiv) auftreten, vorherrschen, konkurrieren oder intervenieren, und (2.) nach Objektivationen (Inszenierungen/Aufführungen im jeweiligen Bedingungsgefüge) zu fragen und (3.) nach Subjektivierungen (Subjektpositionen/-strategien, künstlerische Signaturen) sowie (4.) nach (alten vs. aktuellen) Entwicklungen und Erfordernissen (urgences) (Foucault 1978), die im Dispositiv adressiert, beantwortet oder in erkennbarer Weise reflektiert werden.Mit diesem mehrteiligen Ansatz wurde in den vorliegenden Kapiteln ein facettenreiches Spektrum szenografischer Praktiken und Strategien im Gegenwartstheater aufgezeigt (vgl. Kap. II. und III.). Die beobachteten Objektivationen (Inszenierung/ Aufführung) legen nahe, dass (v. a. im Regietheater) die kritische Auseinandersetzung mit der Guckkastenbühne (die bereits im 20. Jahrhundert einen ‚roten Faden‘ des Szenografischen bildete) fortgesetzt und in konti260

Perspektiven der Theaterszenografie: Ausblick

nuierlichen Reflexionen ihrer Episteme, Ästhetiken und im Erproben alternativer raumbildender Prozesse (Intermedialität, Expanded Scenography) vielgestaltig erweitert und aktualisiert wird. Die Kunst der S­ zenografie wäre, so gesehen, die Kunst, die im Theaterdispositiv verknüpften (diskursiven/nicht-diskursiven, materiellen, technischen, medialen) Elemente, mit denen sie sich kreuzt, kreativ so zu bearbeiten, dass das Gefüge in Bewegung gerät, Veränderungsimpulse erfährt und durch diese andauernde künstlerische Kritik zugleich erhalten und bestätigt wird. Eine neuralgische Frage ist die der Subjektivierung, die die Problematik der (traditionell der Regie subordinierten) Position der Szenograf:innen berührt, d. h. die Frage nach der ihnen zuerkannten Autor:innenposition einschließlich der damit verbundenen ökonomischen Aspekte (Gagen, Honorare, Produktionsbudgets, zur Verfügung stehende Infrastrukturen, etc.). Verbände, wie der Szenografie-Bund, reklamieren ‚verkrustete‘ hierarchische Strukturen und ungesicherte, oft prekäre Arbeitsbedingungen in der Breite v. a. für die freiberuflichen Vertreter:innen dieser Profession (Sturm/Adam 2024). Um die eigenen Verhandlungspositionen zu stärken, lassen sich viele von ihnen von Theateragenturen vertreten. Nach wie vor wird in Äußerungen zur eigenen Innen- und Außenwahrnehmung oft betont, dass sie als Künstler:innen (und nicht etwa als ‚Ausstatter:innen‘) gesehen werden wollen.

All dies legt nahe, dass individuelle Subjektkreativität und erfahrene Anerkennung nicht immer zur Deckung kommen. Prozesse kollektiver Kreativität im gleichberechtigten Dialog zwischen Regie/Dramaturgie/Szenografie/Ensemble werden indessen heute nicht nur in der Freien Szene, sondern durchaus auch im Regietheater erprobt (vgl. Besuch, Kap. III.3.). Insgesamt lässt sich die These vertreten, dass der Szenografie – als Kunst – eine ‚weltentwerfende‘ und (potenziell auch über Theater hinausweisende) kulturstiftende Funktion zukommt. Wie mit dieser Studie gezeigt wurde, trägt sie mit ihrem ästhetischen und epistemischen Potenzial und ihren künstlerisch forschenden Strategien aktuell erheblich dazu bei, dass Theater auf vielerlei Ebenen – so mit neuen Formen von Produktion und ästhetischer Praxis (die auf geteilte Autorschaft, Co-Kreativität, verändertes Medien- und Technikhandeln und/oder auf ökologische Nachhaltigkeit abzielen) sowie mit dem Erproben neuer Formate, Aufführungspraxen und Strategien der Publikumsadressierung – als Kunstform und Institution auf gegenwärtige gesellschaftliche Umbrüche und ‚­Erfordernisse‘ (urgences) (Foucault 1978, 120) reagiert und kreativ antwortet.

Welche Herausforderungen sind es also, die die Szenografie adressiert und welche transformatorischen Prozesse werden in ‚gegenwärtigen KrisenShared Spaces

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diskursen des Theaters‘ (Balme/Fisher 2021) entfaltet? Zu solch weitreichenden Fragen können an dieser Stelle nur wenige Überlegungen skizziert werden. Dazu herangezogen sei zunächst der bereits erwähnte Vorschlag Christopher Balmes, diese und ähnliche Fragen in der Verbindung von Methoden theaterhistoriografischer Forschung, Diskursanalyse und institutionsgeschichtlichen Perspektiven zu umkreisen (ders. 2021).

Krisendiagnosen, Sparmaßnahmen und die (zuweilen kontroversen) Debatten um ihre Zukunftsfähigkeit, die mit Hinweis v. a. auf den demografischen Wandel, veränderte Publikumsstrukturen und vermehrte Medienkonkurrenz in den letzten Jahren in Deutschland (und auch in anderen europäischen Ländern) an die darstellenden Künste und ihre Einrichtungen herangetragen wurden, deutet er als Symptome einer „Legitimationskrise“ (ebd., 20). Seine These lautet, dass die gesellschaftliche Legitimation von (Kultur-)Institutionen, diskursarchäologisch betrachtet, auf Legitimationserzählungen beruht, d. h. auf „Geschichten“ (ebd.), in denen Leitideen und Argumente geltend gemacht, verbreitet, bestätigt oder durch andere Erzählungen abgelöst werden. Demnach beruht Legitimität auf der „Wahrnehmung oder Annahme, dass die Handlungen einer Institution oder Organisation wünschenswert, richtig oder angemessen sind und diese innerhalb eines gesellschaftlich konstruierten Systems von Normen, Werten, Überzeugungen und Definitionen ihre Grundlage haben“ (ebd., 22).

Tentativ unterscheidet er, im weiten Bogen zurückblickend, folgende Narrative: (1.) Theater als moralisches Gut (seit Herausbildung der ‚sesshaften‘ Theater der Aufklärung als ‚des sittlichen Bürgers Abendschule‘), (2.) als Gemeinschaft (im Sinne der Nationaltheateridee des 19. Jahrhunderts), (3.) als öffentliches Gut (Theater im 20. Jahrhundert als integraler Bestandteil des Wohlfahrts- bzw. Sozialstaats), (4.) als Marktteilnehmer (namhafte Festivals und traditionsreiche Häuser als zu vermarktender Standortfaktor im urbanen Kontext), (5.) als soziales Gut (relationale Ästhetik, ‚angewandtes Theater‘ auch für soziale und pädagogische Zwecke) und (6.) als kreatives Gut (Theater als Ort des künstlerischen Experiments, der Innovation sowie als Faktor des ‚Kreativitätsdispositivs‘ (Reckwitz), der über die Theaterbühnen hinaus auch auf andere kulturelle und gesellschaftliche Felder ausgreift) (Balme, a. a. O., 23–37). Legitimitätserzählungen sind demnach dynamisch, können (wie die beiden ersten) an Bedeutung verlieren bzw. von anderen überschrieben werden; als Muster, die über längere Zeiträume etabliert wurden, können sie in Krisenzeiten aber auch stabilisierend wirken, weil sie Argumente und Anhaltspunkte für selbstvergewissernde Orientierung bieten.

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Perspektiven der Theaterszenografie: Ausblick

Damit zurück zu der Frage nach (Selbst-)Legitimation und dispositiven Transformationen von Theater und Szenografie/Performance Design im Horizont gegenwärtiger ‚Erfordernisse‘. Als Schlussfolgerung liegt auf der Hand, dass sich Szenografie – in der Bandbreite ihrer ästhetischen Praktiken sowie mit ihren aktuellen, prononcierten Selbstbeschreibungen als ‚bildende in der darstellenden Kunst‘ – v. a. im Sinne einer Arbeit an der ständigen (Neu-)Legitimierung des Theaters als Ort der Kunst und Kreativität einbringt. Gesetzt, dass ihre künstlerischen Praktiken, Objektivationen und Wissensbestände zugleich ein ‚soziales Gut‘ darstellen und – als Faktor des Kreativitätsdispositivs – auch unter ökonomischen Aspekten bedeutsam sind (Kiedaisch/Marinescu/Poesch 2021), spielen sie sicherlich in mehreren dieser ‚Erzählungen‘ eine Rolle. Einige Beobachtungen und prospektive Überlegungen, wie Szenografie als Kunst und gestaltender Faktor in aktuellen Transformationsdebatten auftritt und zur Behandlung von Problemstellungen (digitale Transformation, ökologische Nachhaltigkeit, Sozialität des Theaters) kreativ beiträgt, seien – nicht abschließend, sondern als Ausblick – im Folgenden aufgezeigt.

Shared Spaces: Anmerkungen zur Sozialität szenografierter Räume

Seit seinen Anfängen gehört zu den im Fach Theaterwissenschaft (v. a. mit Verweis auf Schriften Max Herrmanns) immer wieder formulierten Überzeugungen, dass seinem Gegenstand, der Theaterkunst, genuin eine soziale Dimension innewohnt. Die These, dass mit dem Darstellen, dem Zeigen vor Publikum, „immer eine soziale Gemeinde gegeben“ sei, dient gemeinhin als Ausgangspunkt, um „unterschiedliche Theaterformen historisch und strukturell als ‚Orte der Hervorbringung von Gemeinschaft‘ zu bestimmen“ (Roselt 2014, 128). Demnach lässt Theater sich als „soziale Praxis der Begegnung und des Austauschs“ verstehen, die „verschiedene Formen von Sozialität sowohl (…) organisiert als auch erfahr- und wahrnehmbar macht“ (ebd., 129f.). All dies mache es zu einem „Ort, an dem eine Gesellschaft sich darstellt und das eigene Selbstverständnis zugleich reflektiert, affirmiert oder kritisiert“ (ebd.). Da theatrale Ereignisse immer temporäre Öffentlichkeiten entstehen lassen, erlangt die künstlerische Arbeit mit bzw. an den Bedingungen ihrer Sozialität in dem Maße auch eine politische Dimension, als sie unterschiedliche programmatische Ausrichtungen und Ausgestaltungen (z. B. mit der Homogenisierung und Behandlung des Publikums als Masse vs. Distanzierung, Strategien der Verfremdung) erfahren hat. In der Fachdiskussion wird ihre theoretische Erörterung in Shared Spaces

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zweierlei Hinsicht entfaltet: (1.) Im Kontext unterschiedlicher Theaterformen wird untersucht, wie sich Produktionsgemeinschaften jeweils herausbilden, und (2.) wird Theater als Aufführungs- und Rezeptionsgemeinschaft analysiert, in der einzelne Personen oder soziale Gruppen sich als Publikum zusammenfinden und als Zuschauer:innen adressiert oder auch partizipativ bzw. immersiv in ein Spielgeschehen eingebunden werden. (ad 1.) Obwohl Szenografie als integraler Faktor jeder Inszenierung/Aufführung Gegenstand beider Forschungsansätze wäre, bleibt sie, wie sich beim Blick in die Fachdiskussion einmal mehr zeigte, weitgehend unberücksichtigt. Im Blick auf die Formierung von Produktionsgemeinschaften steht dem die Beobachtung gegenüber, dass die ‚Meilensteine‘ der Ensemblekunst, für die das deutsche Theater des 20. Jahrhunderts – einschlägig mit Bertolt Brechts Berliner Ensemble oder, ab den 1960er Jahren, mit der Theaterarbeit Peter Steins an der Schaubühne oder den Inszenierungen Peter Zadeks – internationale Anerkennung erlangte, ohne Bühnenbildner wie Wilfried Minks, Karl-Ernst Herrmann und Kostümbildnerinnen wie Moidele Bickel nicht denkbar wären: Ihnen verdanken sie ihre Raum- und Bildlogiken und prägenden visuellen Signaturen. Zudem kann offenbar nicht genug betont werden, dass bis heute Gleiches für alle Ensembleleistungen gilt, für die Schaubühne unter der Leitung Thomas Ostermeiers oder die Berliner Volksbühne während Frank Castorfs Intendanz, mit denen Bühnen- und Kostümbildner:innen wie Jan Pappelbaum, Florence von Gerkan oder Hartmut Meyer, Bert Neumann, Anna Viebrock, Aleksandar Denić, Adriana Braga Peretzki, Tabea Braun, Nina von Mechow und anderer untrennbar verbunden sind. Die Geschichte des Regie- und Ensembletheater lässt sich somit, wie der britische Theaterforscher Christopher Baugh zurecht betont, nicht ohne ihre veränderlichen Weichenstellungen im Verhältnis zur Szenografie begreifen. Nachdrücklich erinnert er daran, dass die Brecht‘sche Arbeitsweise und die seiner Szenografen Caspar Neher, Teo Otto und Karl von Appen keine hierarchisch-weisungsgebundene, sondern eine durchaus dialogische war (ders. „Bertolt Brecht and Scenographic Dialogue“, in: Aronson 2018, 411–419). Davon zeugen Probendokumente, überlieferte Äußerungen und, programmatisch, das von Brecht gemeinsam mit seinem ‚Bühnenbauer‘ Neher verfasste Vorwort zum ersten der rund einhundert ‚Modellbücher‘ des Berliner Ensembles (Antigonemodell 1948, Berlin: Verlag Gebr. Weiss 1949, 5–10). Diese dialogische Neuordnung des Verhältnisses von Regie/Szenografie wurde zum Referenzmodell für die Ensemblekunst der 1960er Jahre (explizit z. B. für 264

Perspektiven der Theaterszenografie: Ausblick

Wilfried Minks, vgl. ders./ Maack 2011) und, wenngleich mit kritisch veränderten Vorzeichen, noch für das post-Brecht‘sche, ‚postdramatische‘ Theater (vgl. Neumann/Hurtzig 2001, Raddatz 2016, Wiens 2018) und dessen Nachklänge bis in die Gegenwart (vgl. Cornish 2018). Hinzu trat seit den 1960er Jahren jene vielfältige Off-Theaterszene, die in multilateral vernetzten Ko-Produktionsstandorten (in Deutschland z. B. das Frankfurter TAT, 1980–2004, das HAU Berlin oder das Kulturzentrum Kampnagel in Hamburg, u. a. m.) verankert ist, auch im Rahmen internationaler Festivals in Erscheinung tritt und sich (wenngleich ebenfalls mit öffentlichen Geldern gefördert) als Alternative zum institutionalisierten Theater versteht (vgl. den Abschnitt zu Rimini Protokoll, Kap. II.2.).

Dabei gehört zum Selbstverständnis und zu den (mithin emanzipatorischemphatisch vertretenen) Parametern, andere, experimentelle Formen künstlerischer Projektentwicklung und Kollaboration zu erproben. Dass freie Gruppen im Sinne kollektiver Kreativität zugunsten „eines gewandelten Verständnisses von (…) künstlerischer Autorschaft“ und „gemeinsam geteilter Verantwortung“ für eine Produktion in „wechselnden Zuständigkeiten und Funktionen“ agieren, gilt als Ausweis für eine Demokratisierung kreativer Kollaboration (Roselt, a. a. O.). Das Postulat der wechselnden Zuständigkeiten kommt indessen aber auch an Grenzen. Regelmäßig holen sich etwa Rimini Protokoll den Schweizer Bühnenbildner Dominic Huber dazu, weil ihr Projektportfolio (Spielformate für Guckkastenbühnen/Theaterinstallationen/Stadtraumprojekte und intermediale Formate) immer wieder professionelle szenografische Kompetenz erfordert. Mit einem allzu unbedarften Verständnis des Postulats ‚kollektiver Kreativität‘ (‚Alle machen alles‘) würde man hingegen riskieren, dass künstlerische Kompetenzen, Könnerschaft und gestalterische Expertise verflachen und, auf lange Sicht, Wissen, Wahrnehmung und Anerkennung dieser Disziplin womöglich verloren gehen. Für ein co-kreatives selbstbestimmtes Zusammenspiel eigenwilliger, in ihren verschiedenen Disziplinen (Szenografie/Regie/Schauspiel/Tanz/Gesang etc.) spezialisierter Künstler:innen plädierte dagegen Bert Neumann, der an dieser Stelle nochmals zitiert sei: Theater ist eine kollektive Kunstform; im selbstbestimmten Zusammenwirken von Künstlern mit verschiedenen Talenten entsteht im besten Falle etwas, was keiner (oder keine) von ihnen allein oder in anderer Konstellation hätte machen können. Gerade in diesem Modell von Zusammenarbeit (…) liegt meiner Ansicht nach das große, zukunftsweisende Potenzial von Theaterarbeit. (…) (ders. 2015)

Shared Spaces

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(ad 2.) Ebenso wie Szenograf:innen mit ihren Gestaltungen und ihrem jeweiligen Profil dazu beitragen, Produktionsgemeinschaften zu formen (und alle Beteiligten künstlerisch herauszufordern), sind sie an der Formierung von Aufführungs- und Rezeptionsgemeinschaften integral beteiligt und daran, wie ein Publikum im Spiel auf der Bühne mit nicht-sprachlichen, visuellen und akustischen Gestaltungsmitteln adressiert oder in eine Theatersituation räumlich, performativ oder sogar aktiv handelnd involviert wird. Im Programmtext zu einer der letzten Ausgaben der Prager Quadriennale, die sich unter dem Leitbegriff Shared Spaces der Frage nach der sozialen Dimension des Szenografischen, d. h. nach Potenzialen szenografierter Räume als Orte für Begegnung, geteilte Erfahrung oder auch Aushandlung von Konflikten und Krisen in pluralen, kulturell diversen Gemeinschaften widmete, heißt es: (…) scenography (is) a strong and sometimes invisible force of performance; a power that influences us just like music, weather and politics influence us.

Theatre is a place where people gather and where important socio-political relations are created. The term shared space (…) points to scenography’s social function, providing a space for sharing, relating, and also for being in conflict – a place of connection and of difference. (Lotker/Kuburovic 2016, 10. Hervorh. BW)

Mit den performativen Vorgängen des Zeigens, Theaterhandelns und Wahrnehmens konstituiert sich im Aufführungsverlauf ein ästhetisches Gebilde, dem durch die (theaterhistorisch und kulturvergleichend besehen variable) Anordnung von Spielenden und Publikum stets eine soziale Dimension inhärent ist (vgl. Aronson 2018, 183ff.; Carlson 1989, Hannah 2018); der Szenografie kommt in der Konzeption und Gestaltung kollektiver Erlebnisräume eine Schlüsselrolle zu. Nach einer sich bereits seit der Theatermoderne abzeichnenden ‚(Wieder-)Entdeckung des Zuschauers‘ (Fischer-Lichte 1997), deren wirkmächtige ‚Totaltheater‘-Konzepte aber auch kritisch zu reflektieren sind (Annuß 2016), sowie im Anschluss an Spielarten der environmental scenography seit den 1960er Jahren und, seit der Jahrtausendwende, an vielfältige Verfahren von urbaner Intervention, Inter-/ Transmedialität und expanded scenography (vgl. Kap. I.2.) zählt die variationsreiche Involvierung der Theaterbesucher:innen in den Spielvorgang aktuell zu den auffälligsten Strategien: „Spatial organization is now and today primarily focused upon the audience with new possibilities – to liberate the gaze and/or activate mobility in space“, so Thomas Irmer in einem Beitrag über die szenografische Gestaltung und Reorganisation des 266

Perspektiven der Theaterszenografie: Ausblick

Raums (ders., in: Wiens 2021, 94). Die Strategien gehen dabei oft deutlich über die schon viel geübte Kritik an der monofokalen Blick- und Wahrnehmungslenkung der Guckkastenbühne und über bekannte Verfahren der Publikumsaktivierung und Partizipationsangebote hinaus – zugunsten grundsätzlicher Befragungen der Sozialität des Theaters und möglicher Erfahrungen, Gestaltungen und Formen von Gemeinschaftlichkeit. Damit wird abermals die (im Fach inzwischen kontrovers geführte) Diskussion um die ‚leibliche Ko-Präsenz‘ von Spielenden und Publikum als Konstituens und Grundbedingung jeder Aufführung berührt; Argumente beziehen sich hier u. a. auf Giorgio Agamben (Die kommende Gemeinschaft, 2003) oder Jean-Luc Nancys Überlegungen zur ‚Undarstellbarkeit von Gemeinschaft‘ (1988, 2018) und fragen, inwiefern es grundsätzlich Ziel oder Aufgabe des Theaters sein könne, „eine Gemeinschaft zu konstituieren, die etwas bzw. einen gemeinsamen Sinn teilt“ (Roselt 2014, 131).

Wenn Szenografie begehbare Installationen oder Audiotouren gestaltet, in denen Zuschauer:innen separiert und vereinzelt ihren individuellen Aufführungserlebnissen überlassen werden, so mag dies einhergehen mit jenen Reflexionen über die nichtrealisierbare, ‚nicht darstellbare‘ Gemeinschaft. Andere Überlegungen, die die Frage der Korporalität Spielender und Zuschauender im Aufführungsvorgang neu aufwerfen, beziehen sich auf Einsichten aus der Mediensoziologie, wonach sich heute das alltägliche kommunizierende Miteinander als eine durch Medientechnologien und ihre Telefunktion geprägte, mediatisierte Sozialität darstellt, in der die Interaktion anwesender Körper allmählich zum „Sonderfall“ werde (Dickel 2020, 85). Längst wird auch im Theater – und insbesondere mit szenografischen Mitteln – untersucht, wie elektronische Medien auch andere Formen der Begegnung, Zusammenkunft und Organisation von Gemeinschaft erlauben (vgl. Dixon, „How does Theatre think through incorporating Media?“, 2019, u. a.), etwa in Arbeiten von Philip Bußmann, Sebastian Hannak oder Rimini Protokoll (Kap. II.2.). Mit weiteren Argumenten (teils damit verbunden) wurde angeregt, Gemeinschaftlichkeit von post-anthropozentrischer Perspektive her als Mit-Sein koexistierender Entitäten zu denken – mit der Frage, inwieweit die Kollektivität der Theatersituation den Raum und die szenografischen Dinge (in ihrer Stofflichkeit bzw. Technizität) in einer nahen oder auch fernen Umgebung als nicht-menschliche ‚Akteure‘ (Latour/Aït-Touati 2019, Lavery 2016, 2019, Pearson 2019) miteinschließt.

Um ausgehend von diesen Überlegungen zu eruieren, wie Szenografie auf gegenwärtige Krisendiagnosen und gesellschaftliche TransformatiShared Spaces

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onsdynamiken künstlerisch reagiert und im Theaterdispositiv Aspekte von Gemeinschaft/Kollektivität reflektiert, seien zwei weitere (konzeptionell unterschiedliche) Beispiele angeführt: zum einen eine immersive, begehbare Theaterinstallation und ‚durational performance‘ von Vegard Vinge und Ida Müller (Nationaltheater Reinickendorf, Berliner Festspiele, im Rahmen des Programms Immersion, 2017) sowie, zum anderen, eine der temporären Architekturen und Stadtraumprojekte von raumlaborberlin (SOMMERBAU, Koproduktion Künstlerhaus Mousonturm/Frankfurt LAB, 2021), die die Mitglieder des Kollektivs als „radical social design“ (Foerster-Baldenius 2021, 151) beschreiben.

Das Nationaltheater Reinickendorf, ein Theaterkosmos, der in dem sonst eher kulturarmen, farblosen Viertel Berlin-Reinickendorf in einer leeren, umgestalteten Fabrikhalle von dem deutsch-norwegischen Künstlerduo Vinge/Müller 2017 für nur wenige Wochen als äußerst eigenwilliges Heterotop kreiert wurde, war in neun überlangen Aufführungen zu erleben, die bis zu zwölf Stunden dauern konnten.2 Wie jede der bisherigen Arbeiten des Duos basierte auch dieses schrill-bunte, gesamtkunstwerklich angelegte Projekt auf Stücken Henrik Ibsens, die variabel und bei jeder Aufführung anders mit Elementen aus weiteren kanonischen Theaterstücken (wie Shakespeares Hamlet) und Opern (Wagners, Verdis oder Giacomo Puccinis), Pop Musik, Film sowie mit (vor- oder in Echtzeit produziertem) Videomaterial und energetischer Live-Performance kombiniert wurden. Augenfällig waren auch Meta-Kommentare auf den aktuellen Theaterbetrieb, versinnbildlicht in einem Intendanzbüro, diversen Reminiszenzen an den Bühnenbildner Bert Neumann und einem ‚Dramaturgie-Tunnel‘, der, sozusagen als Raum für Bonusmaterial, in einem Kellerraum besucht werden konnte. Merkmal aller Arbeiten von Vinge und Müller sind stets großflächige, rundherum angebrachte Pappdekorationen, die mit dicken, pastosen Pinselstrichen in einer an Comics oder Graphic Novels erinnernden Bildersprache bemalt werden und oftmals im (mal mehr, mal weniger spektakulären) Spielverlauf zusammenbrechen, zerstört oder am Ende an Interessierte aus dem Publikum verschenkt werden. Alle Performer:innen, die inmitten dieser Trash-Umgebung wie Zombie-Puppen oder Avatare erscheinen, sind maskiert, kostümiert und ihre Stimmen kommen vom Band, was den Eindruck höchster Künstlichkeit, die mit exzessiven Materialgebrauch (u. a. von großen Farbmengen, (Kunst-)Blut oder auch Exkrementen) einhergeht, noch mehr verstärkt.

Eine spezifische Sozialität und in ihnen angelegte Qualität des Zusammenkommens und der geteilten Erfahrung gewinnen Vinge/Müllers 268

Perspektiven der Theaterszenografie: Ausblick

77–78 Szenen aus einer der Ibsen-Produktionen von Vegard Vinge und Ida Müller aus den Nuller Jahren: Vildanden (Die Wildente), Bergen International Festival, 2009. Fotos: Magnus Skrede

expressive Welten im Verhältnis zum Publikum darüber, dass Raumstruktur und auch der Zeitrahmen des Aufführungsgeschehens fluide gehalten werden (vgl. Irmer 2021, 98f.). Der weitmöglich lose Rahmen erlaubte, dass sich die Besucher:innen sehr frei bewegen oder aber den Spielort verlassen, zurückkommen, wieder eintauchen und jederzeit hinein- und hinausgehen können. Das Verbindende zwischen den Beteiligten (ein gemeinsamer Theaterabend) wurde somit aus dem ‚Hier und Jetzt‘ des unmittelbaren Geschehens herausgelöst und in einen sehr viel weiteren Shared Spaces

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79 SOMMERBAU, temporäre Architektur/ Freilicht-Logentheater von raumlaborberlin (Benjamin FoersterBaldenius, Florian Stirnemann), in Ko­­­­­operation mit haber turri Architekten BDA, Zeichnung © raumlaborberlin

80 SOMMERBAU, Kaiserleiviertel (Frankfurt a. M. und Offen­bach), 07-10/2021, Frankfurt LAB/Künstler:innenhaus Mousonturm. Foto: Jörg Baumann

Radius gefasst. Hinzu kommt noch ein weiterer Aspekt, den die Theaterkritikerin Christine Wahl mit Blick auf diese und andere Arbeiten Vinge/ Müllers als besonderes (ästhetisches und quasi-epistemisches) Referenzverfahren beschreibt (dies. 2020): Ihrer Beobachtung nach werden die Bildsprache und szenografischen Mittel, voller Zitate aus der jüngeren (europäischen) Theatergeschichte, von Ida Müller in einer „absichtsvoll schrägen, nur vermeintlich naiven künstlerischen Übermalung“ hochartifiziell überformt und in den diversen Teilen dieser ‚Ibsen-Saga‘ seriell ständig weiterbearbeitet (ebd., o. S.) (vgl. Abb. 77 und 78). Indem es mit diesen Arbeiten gelinge, theateraffine ebenso wie wenig kunstinteressierte Besucher:innen anzuziehen und sich bei einem solchen Publikum, das 270

Perspektiven der Theaterszenografie: Ausblick

mehrere Aufführungen (in Berlin, Oslo, Bergen oder anderswo) besucht, über die wiedererkennbaren szenografischen Formulierungen und Figuren „ähnlich wie bei einer Netflix-Serie“ mithin geradezu ein „Suchteffekt“ einstelle, bilde dieser spezielle Theaterkosmos – auch über die unmittelbare Aufführungssituation hinaus – „eine Art Soziotop“ (ebd.).

Das zweite Beispiel, das mit diesen Überlegungen zur Sozialität szenografierter Räume in aller Kürze besprochen werden soll: Der SOMMERBAU (Frankfurt M., 2021) und das Vorläuferprojekt Der Bau (2020) des Kunstund Architekturkollektivs raumlaborberlin führt zurück an einen Ausgangspunkt dieses Buch, die Zäsur der Covid-19-Pandemie. Diese brachte bekanntlich die Erfahrung mit sich, dass im Frühjahr 2020 alle Schauspiel-, Opern- und Konzerthäuser geschlossen blieben und Theater unter gewohnten Bedingungen bis auf Weiteres nicht mehr möglich war. Der pandemiebedingte, die Gesamtgesellschaft in allen Sektoren betreffende Notstand sowie die Gegenmaßnahmen – mit staatlich verfügtem Lockdown, Distanzgebot und Verpflichtung zum Tragen (medizinischer) Masken – trafen gerade auch die unter Live-Bedingungen aufführenden Künste existenziell. Diskussionen um die ‚gesellschaftliche Systemrelevanz‘ von Kultur und Theater wurden alsbald geführt und, über jene akute Krisensituation hinaus, Bestandsaufnahmen länger schon virulenter sowie zukünftiger Herausforderungen gesellschaftlicher Transformation unternommen. Einige grundsätzliche Fragen wurden in dem Band #Corona Theater (Wihstutz/Vecchiato/Kreuser 2022) wie folgt formuliert: Obwohl die Kultur- und Veranstaltungsorte längst wieder ihren Regelbetrieb aufgenommen haben, ist Theater als Dispositiv insgesamt schwer getroffen worden. (…) Welchen Wert hat in unserer Gesellschaft das Theater? Ist Kultur, wenn schon nicht system-, so doch (…) gesellschafts- und demokratierelevant? Wie kann Theater (…) zugänglicher und niedrigschwelliger gestaltet werden, und inwiefern sind Live-Ereignisse dabei unverzichtbar? Zudem stellt sich (…) die Frage nach der Zukunft von Arbeitsweisen und Infrastrukturen sowie nach der (ökologischen) Nachhaltigkeit des Theaters. (…) (ebd., 8 und 10)

Dass Szenografie mit jenen Fragen künstlerisch umgeht und zur Aus­­ handlung und Gestaltung von Transformationsprozessen, die im Theaterdispositiv demnach anstehen, kreativ beiträgt, wurde unter Pandemie­­­­­­­bedingungen – mit einer großen Bandbreite experimenteller Formate und Raumlösungen: von ‚digitalen Bühnen‘ (auf Zoom, Skype oder Jitsi), TeleShared Spaces

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fontheater oder serieller Online-Videokunst über intermediale Konstellationen, Drive-in-Theater, Audiowalks sowie performative Installationen, bis hin zu großräumig angelegten Theaterparcours im urbanen Raum) – besonders deutlich.

Zu den Strategien dieser (auf Flexibilität und Co-Kreativität angelegten) Raumpraktiken und Gestaltungsansätze gehören auch szenografische ­Interventionen in die Gegebenheiten traditioneller Theaterbauten sowie temporäre Architekturen und mobile Bühnen, die schon seit den Nuller Jahren – z. B. mit Bert Neumanns Neustadt (Volksbühne Berlin, 2002/03), der ­Rollenden Road Schau (2000–07) sowie seinen jahrelang zu Gastspielen und internationalen Festivals reisenden Container- und Zeltbühnen (Abb. 9– 10) – über angestammte Publikumskreise hinaus öffentliche Aufmerksamkeit erregten. Solche Ansätze verbinden Architektur (die sich nicht primär als Bauaufgabe, sondern als ästhetische, epistemische und vor allem als soziale Praxis versteht) mit szenografischen Praktiken, die die gemeinschaftsstiftende Dimension inszenierter Räume und das Prozesshafte, Ereignishafte des Räumlichen betonen. Ganz in dem Sinne steht auch das Kunst- und Architekturkollektiv raumlaborberlin für eine Raumpraxis, die von einer (Neu-)Definition der Szenografie als „Intervention“, „radical social design“ und partizipativer Praxis ausgeht (vgl. Foerster-Baldenius, in: Wiens 2021, 153–166). Im Projektportfolio des 1999 gegründeten Kollektivs, das aus neun Mitgliedern und wechselnden Kooperationspartner:innen besteht, finden sich zahlreiche Projekte, die in Zusammenarbeit mit Theatern entstanden, darunter die Eichbaumoper (2008/ 09), mit der eine an der Peripherie von Mühlheim a. d. Ruhr gelegene, verwahrloste U-Bahnhaltestelle vorübergehend in einen Spielort für Musiktheater verwandelt wurde (vgl. ebd., 156f.). Als Experiment kollektiven, partizipatorischen Entwerfens angelegt waren das Projekt Shabbyshabby Apartments (Münchner Kammerspiele, 2015) und, ein Jahr zuvor, Hotel Shabbyshabby (Mannheim, Festival Theater der Welt): Am Beginn stand jeweils eine öffentliche Ausschreibung, die Interessierte dazu einlud, ihrerseits phantasievolle Minibehausungen zu entwerfen, die dann in den Theaterwerkstätten (kostengünstig, mit schon vorhandenem Material) realisiert, im Stadtraum temporär aufgestellt und von Theater- und Festivalbesucher:innen als außergewöhnliche Übernachtungsorte gebucht werden konnten (ebd., 157ff.). Referenzpunkte der Konzepte von raumlaborberlin sind Architekturvisionen der 1960/70er Jahre (Cedric Price, Archigram, u. a.) sowie die stadtsoziologischen Thesen Henri Lefebvres (Die P ­ roduktion des Raums, orig. 1974), auf die man sich 272

Perspektiven der Theaterszenografie: Ausblick

81 Der Bau, raumlaborberlin / Benjamin Foerster-Baldenius und Florian Stirnemann, in Kooperation mit Barbara Ehnes, Mousonturm Frankfurt M., 2020/2021, Szene aus Gob Squad: Show Me a Good Time, unter der Bärenmaske: Sean Patten. Foto: Christian Schuller

nach wie vor bezieht, um auch von heute aus unablässig zu fragen, inwiefern sich utopistische Ansätze mit konkreten Manifestationen von Dispositiven (hier: des Theaters) in spielerische Kollision bringen oder sich Räume – mit künstlerischen Interventionen in aktuell vorherrschende Raumauffassungen und ‚kulturelle Skripts‘ – vielleicht sogar langfristig verändern lassen (Foerster-Baldenius, a. a. O., 165).

Dieser auf Flexibilität und Variabilität angelegte Gestaltungsansatz erlaubte gerade auch unter Pandemiebedingungen, Raumstrukturen des Theaters zu überdenken und rasch alternative (in dem Fall an Abstandgebot und Hygieneauflagen adaptierbare) Konzepte zu entwerfen. In Gesprächen mit der Bühnenbildnerin Barbara Ehnes entstand die Idee, im Großen Saal des Frankfurter Mousonturm ein Logentheater mit wabenartigen Einzelkabinen für ein (rund 40-köpfiges) Publikum zu errichten, das in Zweiergruppen hinter Wänden mit kreisrunden Öffnungen Platz finden konnte (vgl.

Abb. 81). Raummittig bildete sich mit diesem Rundbau eine Spielfläche wie in einer Arenabühne – umfasst von Wänden, die, aus recyclebarem Material (Holz, Schilfrohrmatten) gefertigt und mit Lehmfarbe bestrichenen, trotz allem „Intimität und materielle Wärme“ vermitteln sollten“.3 Shared Spaces

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Nicht nur sollte dem Publikum so „eine besondere Theatererfahrung in besonderen Zeiten“ ermöglicht, sondern es auch dazu angeregt werden, „über die Konventionen von Theaterräumen und über vermeintlich neutrale Raumdispositive wie die Blackbox nachzudenken“ (ebd.). Ein Jahr später entwickelten Foerster-Baldenius/Stirnemann in Kooperation mit einem Frankfurter Architekturbüro den SOMMERBAU (vgl. Abb. 79–80), ein weiteres, auf Pandemiebedingungen abgestimmtes Gestaltungskonzept, das nun aber – an Shakespeares Globe Theatre erinnernd – als Freilicht-Theater angelegt war und im Sommer 2021 mit einem breiten Programm aus Schauspiel, Tanz, Performance und Konzerten bespielt wurde.

Als ‚Architektur auf Zeit‘ aus wiederverwendbaren Baugerüsten in Form eines Hexagons errichtet, bot es Plätze für bis zu 350 Besucher:innen, die – in Logen oder im Parkett im notwenigen Abstand voneinander sitzend – dort versammelt sein konnten.

Wie diese Beispiele zeigen, können Szenografie und performative, ‚eingreifende‘ Architektur als intervenierende Kunst- und Gestaltungspraxis und nachgerade auch als soziokulturelle Praxisform ausgesprochen wirkmächtige Strategien entwickeln, um Bedingungen für Gemeinschaft/ Kollektivität (neu) zu gestalten und die Sozialität des Theaters zu reflektieren und zu (re-)organisieren. Obwohl per Definition temporär, gelingt es – um Benjamin Foerster-Baldenius nochmals zu zitieren – mit einigen solcher Projekte nicht nur, bestehende Dispositive und ihre „Komfortzonen“ temporär zu überschreiten, sondern sogar transformatorisch „nachhaltige Wirkungen zu erzielen (…), die über ein Projekt und dessen eigentliche Dauer hinausgehen“; hier liege „ein großes Potenzial der Szenografie, jetzt und in der Zukunft“ (ders., a. a. O.).

Szenografie und Digitalität

Alljährlich erstellt der Deutsche Bühnenverein für die Theater in Deutschland, Österreich und der Schweiz eine Werkstatistik für Musiktheater, Schauspiel, Tanz, Figuren-/Objekttheater und Performance, die in der Ausgabe zur Spielzeit 2019/2020 erstmals die Rubrik „digitales Theater“ umfasste. Hierunter fällt, wie schon angedeutet, eine breite Formatvielfalt – angefangen von gestreamten, vorproduzierten Theatervideos oder auch Live-Streams (z. B. von Lesungen, Einpersonenstücken) über interaktive Live-Performances auf digitalen Konferenzplattformen (wie Zoom, u. a.) bis hin zu immersiven Konstellationen (VR/AR), Smartphone Theater oder Audiowalks im öffentlichen Raum. Weil unter den Ausnahmebe274

Perspektiven der Theaterszenografie: Ausblick

dingungen der Pandemie alsbald nicht nur Aufgezeichnetes aus Archivbeständen gezeigt, sondern bereits 2019/20 überraschend viele (in Deutschland 15 Prozent von allen rund 600 gestreamten) Produktionen „eigens für den digitalen Raum entwickelt“ wurden, wertete man all dies nicht nur als temporären Ersatz für Theater in seiner bis dato etablierten Form, sondern als „Zeichen für neue künstlerische Entwicklungen“.4 Nachdem sich kostenpflichtige Digitalangebote in der Theaterstatistik 2020/21 erstmals aufgeführt fanden, wurde ein weiteres Jahr später gleichwohl konstatiert, dass „die Zahl der digitalen Angebote (…) deutlich zurückging“.5 In Abkehr vom bloßen ‚Streaming‘, das „primär zum Ziel hatte, mit dem Publikum (…) in Kontakt zu bleiben“, sei aber auch nach der Pandemie zu beobachten, dass die Theater und Orchester weiter auf Live-Veranstaltungen setzten, „in denen Digitalität als künstlerisches Mittel dient“ (ebd.). Weiterreichende Fragen, was sich im Theaterdispositiv infolgedessen möglicherweise langfristig verändert (z. B. Stückauswahl und Erzählformen; Bühnenformen, Materialität, Technizität und Infrastrukturen; Produktionsabläufe; künstlerische Kollaboration, ästhetische Praktiken und Publikumsresonanz) und welchen Beitrag die Szenografie beim Erkunden, Bespielen und Gestalten ‚digitaler Räume‘ leistet, lassen solche Erhebungen freilich offen.

Um über Prozesse digitaler Transformation im Theaterfeld und den infolge der Pandemie vermuteten ‚Digitalisierungsschub‘ (vgl. Lobbes/Zellner/ Zipf 2021) präzisere Erkenntnisse zu erlangen, gab die European Theatre Convention, ein europaweites Netzwerk öffentlich geförderter Theater,6 zusammen mit der Akademie für Theater und Digitalität, die seit 2019 am Schauspielhaus Dortmund als eigene Sparte, Stipendienprogramm und Forschungseinrichtung besteht (https://theater.digital/), eine Studie in Auftrag (Digital Theatre, 2023, Durchführung: Katie Hawthorne, Edinburgh, Schottland, UK).7 Mithilfe eines auf drei Jahre (2019–2022) bezogenen, an alle Netzwerkmitglieder ausgesendeten Fragebogens, der (anonymisiert) von insgesamt 19 Theatern in 17 Ländern beantwortet wurde, sollte es – verbunden mit der Erhebung von quantitativen Daten sowie qualitativen Auskünften zur technischen Implementierung, kreativem Potenzial und zu Erfolgen oder Widerständen – auch um begriffliche Präzisierungen und die „Entwicklung eines gemeinsamen Vokabulars“ gehen (ebd., 20). Den titelgebenden Begriff der Studie verwendet die Autorin als Sammelbegriff, der verschiedene Formen und Spielarten digitalen Theaters umfasst und für den Versuch steht, zu beschreiben, wie (analoge) Theatermittel mit DigitaltechSzenografie und Digitalität

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nologien und Verfahren technischer Aufzeichnung (re/mediatization) oder Distribution (broadcasting/networking) verschränkt werden können und wie sie potenziell zusammenwirken.

Digitally distributed theatre / Digital distribuiertes Theater – Aufzeichnung und Übertragung Theater, das vom Spielort aus an ein entferntes Publikum übertragen wird; d. h. eine Aufführung, die z. B. auf einer Theaterbühne stattfindet, wird an ein internationales Publikum ausgestrahlt, das im Kino oder am Monitor zu Hause zuschaut. Optionen sind sowohl Live-Streams (ggf. auch mit ‚vor Ort‘-Publikum) als auch die Übertragung vorher aufgezeichneter Aufführungen.

Digitally mediated theatre / Medientheater – intermediale & hybride Bühnen Der Einsatz digitaler Technologien im Rahmen der Dramaturgie (bzw. Szenografie) einer Aufführung, um (auch im ‚erweiterten Ko-Präsenzraum‘) zwischen Publikum und Spieler:innen Effekte von ‚Unmittelbarkeit‘ zu evozieren; erfolgen kann dies z. B. in Verwendung eines Smartphones, Tablets sowie einer App. Ebenso in diese Kategorie fallen hybride Theaterformen, die Live-Performance mit VR- oder AR-Elementen verbinden.

Digitally located theatre / Digitale Bühnen Theater, das für die digitale Bühne konzipiert wurde und nur digital stattfindet, z. B. Produktionen, die speziell für Zoom entwickelt wurden oder auf einer digitalen Plattform vollständig als Aufführung stattfinden. Darunter fallen auch solche, die ausschließlich als Virtual-RealityUmgebungen kreiert wurden (und nur in VR, z. B. vermittels einer Datenbrille, erlebbar sind).

82 „Digital Theatre: Key Terms“, nach Katie Hawthorne: Digital Theatre – Strategies and Business Models in European Theatre. A Study (2023), 20f. Grafikdesign: Viktor Nübel, European Theatre Convention. Übersetzung (und Ergänzungen in Klammern): B. Wiens

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Perspektiven der Theaterszenografie: Ausblick

Drei Grundvarianten sind demnach zu unterscheiden: (1.) Digital distribuiertes Theater, Aufzeichnung und Übertragung (Digitally distributed theatre), d. h. entweder Ausspielung von Aufzeichnungen vergangener Aufführungen (die im Fall von Archivmaterial ggf. vom Analogen ins Digitale remediatisiert wurden) oder von Live-Streams und Simultanübertragungen, die an ein ortsverteiltes Publikum übertragen werden; (2.) Medientheater, intermediale & hybride Bühnen (Digitally mediated theatre): Merkmal dieser Variante sei die künstlerisch-konzeptionelle, dramaturgische (und, wie zu ergänzen wäre, die szenografische) Integration digitaler Medien in Inszenierung/Aufführung, z. B. bei Audiotouren die Verwendung von Smartphones oder Tablets; (3.) Digitales Theater (Digitally located theatre): in diesem, engeren Sinne bezeichnet ‚digitales Theater‘ ein Spielgeschehen, das allein auf einer ‚digitalen Bühne‘ stattfindet, also z. B. Aufführungen, die speziell für das Erleben auf Zoom, Skype oder in Virtual-Reality-Umgebungen entwickelt wurden (vgl. Fig. 82). Auf welchen Bühnen, in welchen Räumen findet ‚digitales Theater‘ also statt?

Obwohl die Autorin der Studie auf Raumfragen und szenografische Aspekte nicht explizit eingeht, fällt auf, dass diese vorgeschlagene Typologie digitalen Theaters im Grunde v. a. von räumlichen Konstellationen und Bühnenformen handelt. Alle beschriebenen Varianten digitaler bzw. digital vernetzter Bühnen beziehen sich auf die theatrale Grundsituation – die Verabredung von Spieler:innen und Publikum zu einer gegebenen Zeit, an einem bestimmten Ort (und sei es ein Zoom-Link) –, und verfahren dabei aber so, dass sie keine Ko-Präsenz anwesender Körper verlangen oder sich primär darüber definieren würden. Theaterhistorisch und formierungsgeschichtlich gesehen, wäre demnach eine wesentliche Innovation des digitalen Theaters und seiner Bühnen, dass es über das unmittelbare Hier und Jetzt und auch über den Umraum (den z. B. Environmental Theatre und Stadtraumprojekte bespielen) ausgreift, um sich (im ‚medial erweiterten Ko-Präsenzraum‘) mit Telekommunikationsräumen, die globale Reichweiten und fernräumliche Dimensionen eröffnen, zu verschalten (vgl. Fig. 82).

Dass als Alternative zur leiblichen Kopräsenz – die übrigens nicht nur Nähe, sondern auch Distanz/Physical Distancing bedeuten kann – länger schon Formen medienvermittelter Kommunikation, Digital Liveness 8 und Gemeinschaftlichkeit (Distant Socializing) auftreten, wird (allgemein, nicht theaterbezogen) auch in der Soziologie diskutiert (vgl. Dickel 2020). Wenn Mediatisierung und mediatisierte Sozialität (seit der Erfindung des Buchdrucks über die Verbreitung von Telefon, Rundfunk, TV bis hin zu E-Mail, Video-Chat, Podcast und sozialen Medien) sich demnach als „Makrotrend Szenografie und Digitalität

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gesellschaftlicher ­ Entwicklungen“ abzeichnen (ebd., 81), dann wäre ‚­Digitales Theater‘ nicht nur Experiment oder Ersatz während einer vorübergehenden Krise (Covid-19-Pandemie), sondern Ausdruck langfristiger Transformationen. Theaterkunst insgesamt findet sich, so gesehen, im Spannungsfeld von Entwicklungen wieder, mit denen Gesellschaft sich nicht primär als „Anwesenheitsgesellschaft“, sondern vielmehr als „mediale, (…) hochgradig technisierte Sozialität“ zeigt, in der „die Interaktion anwesender Körper“ zum „Sonderfall“ von Zusammenkunft und Kommunikation geworden sei, „reserviert für sehr spezielle Anlässe“ (ebd., 85).

Der erwähnten Studie (ETC/Hawthorne 2023) zufolge ist noch nicht ausgemacht, welcher Stellenwert dem digitalen Theater im Theaterdispositiv insgesamt seither und zukünftig zukommt („Digital theatre in Europe is at a cross­roads“, ebd., 55). Auf ihren Fragebögen zu Erfahrungen (bezüglich der Einbindung in vorhandene Bühnentechnik und Abläufe), zu künstlerischen Potenzialen (in Regie/Dramaturgie/­ Szenografie/­ Performance), neuen Berufsprofilen (wie Creative Coder:in oder Digital Stage Creator:in), zu ‚Digital Rights‘ (d. h. zu noch offenen Fragen zu Urheberrecht und Copyright für erstellte Software, u. a.) sowie zu Akzeptanz (intern/extern), Marketingpotenzial, Outreach und Publikumsadressierung und zu Fragen der Verstetigung (im Rahmen von Förder- und Finanzierungstrukturen, die oft nur befristete Projekte abdecken), waren die Rückmeldungen „kontrovers“ (ebd., 14 und 55–57). Ähnlich wurde beim Deutschen Bühnenverein anhand von Spielplanauswertungen und Statistiken konstatiert, dass einerseits künstlerische Auseinandersetzungen mit Digitalität auf der (physischen) Bühne (d. h. in inter- oder transmedialen Theaterformaten) nach der Pandemie in der Breite zu verzeichnen sind (vgl. Anm. 5). Im Zuge dessen gründete sich 2021 ein Netzwerk „­digitalaffiner Theater“ (https://theaternetzwerk.digital), und einige Häuser, z. B. in Dortmund, Augsburg oder Karlsruhe, haben sogar eigene Digitalsparten oder, wie in Magdeburg, ein theatereigenes Institut für Künstliche Intelligenz und Bühne eingerichtet. Andererseits, so Claudia Schmitz vom Bühnenverein, sei allerdings auch zu beobachten, dass „die Begegnung (in den Theatern vor Ort, BW) und das gemeinschaftliche Erleben (…)“ sogar „an Bedeutung gewonnen haben“ (dies. 2024, 3).

Als diejenige Disziplin, die mit ihren Bühnenentwürfen, temporären Architekturen, Figuren und Objekten, Kostümen und Masken sowie mit Video-, Licht- und Sounddesign Theaterspielräume konzipiert und gestaltet, sieht sich die Szenografie von diesen dispositivischen Dynamiken 278

Perspektiven der Theaterszenografie: Ausblick

83 Manifest (2021), www.szenografie-bund.de

unmittelbar berührt, mit Grundsatzfragen konfrontiert (Welche Bühne, welcher Raum? Für welches Publikum?) und kreativ herausgefordert. Zumal Szenograf:innen im Theaterdispositiv diejenige Berufsgruppe sind, die als Teil des Regieteams Raumnarrationen und visuelle Erzählformen entwickelt und zugleich stets aufs Engste mit den Gewerken und Theatertechnikabteilungen zusammenarbeitet, übernehmen sie mit ihren explorativen Anwendungen digitaler Werkzeuge und mit ihren Reflexionen über Digitalität in diesem Transformationsprozess in der Tat eine Schlüsselrolle.

Ebenso liegt auf der Hand, dass die Auseinandersetzung mit digitalen Technologien in den darstellenden Künsten wie auch in der SzenoSzenografie und Digitalität

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grafie und in der Theaterforschung seit deren Aufkommen bereits eine jahrzehntelange Geschichte hat. Exemplarisch erwähnt sei Steve Dixons in den Nuller Jahren vorgelegter Versuch einer ersten, theoriebasierten, rund 800 Seiten starken Bestandsaufnahme (Digital Performance. A History of New Media in Theater, Dance, Performance Art and Installation, MIT Press 2007). Ähnliches, explizit mit Szenografie-Schwerpunkt und teils bereits rückblickend, unternahm unlängst Néill O’Dwyer, Theater- und Medienwissenschaftler aus Dublin, mit seiner Studie Digital Scenography: 30 Years of Experimentation and Innovation in Performance and Interactive Media (2021). Mit der These, dass Digital Keywords und allgemein gebräuchlich gewordene Neologismen (wie z. B. Algorithmus/Algorithmierung, Digital Prototyping, Gaming, Sharing, Cloud Computing, Online-Community, u. a. m.) das Beobachten, Forschen, Gestalten und sogar unser Denken beeinflussen, plädiert die Studie für eine kritische Reflexion des Vokabulars und, jenseits naiver Neuigkeitsversprechen, für eine diskurshistorische Betrachtung des Gegenstands (vgl. ebd., 9–24 und 196). Davon ausgehend, untersucht O’Dwyer unterschiedliche künstlerische Ansätze (anhand exemplarischer Arbeiten von Troika Ranch, Stelarc, Klaus Obermaier, Chunky Moves, Onion Lab, Blast Theory, u. a.), um entlang einer Reihe tentativer Arbeitsbegriffe (Early Digital Scenography, Scenography of the Cyborg, Motion Tracking, Responsive Environments, Architectural Projection Mapping sowie Ubiquitous Computing, Behavioural Profiling, Big Data, Machine Learning und KI) Strategien und Merkmale ‚digitaler Szenografie‘ aufzuzeigen. Grundsätzlich gestellt wird dabei die (bis auf Weiteres offene) Frage, wie sich mit digitalen Technologien überhaupt ästhetisch agieren lässt, oder mit seinen Worten: die Frage nach Differenzpraktiken, die Szenografie künstlerisch im Umgang einerseits mit den technischen und gestalterischen Potenzialen von Digitalität, zum anderen aber auch mit ihren kritischen Aspekten (Stichwort: Digitaler Kapitalismus, Hyperperformativität, „algorithmic governmentality“, ebd. 159) zu entfalten vermag, um in einem Spielvorgang auf/jenseits von digitalen Bühnen Momente von Störung, Widerstand und ‚noetischer Reflexion‘ anzuregen (ebd., 176). Eine weitere Frage, der O’Dwyer mit seinen Untersuchungen nachging, ist die nach den Produktions- und Rezeptionskontexten digitaler Szenografie und experimenteller Performance, die er mit seinen Projektbeispielen überwiegend in Zusammenhängen international vernetzter Medienkunstzentren (ZKM Karlsruhe, IRCAM Paris, u. a.) oder transdisziplinärer Festivals (Ars Electronica Linz, u. a.) verortet (Contextualization of Digital Scenography, ebd., 9–17 und 169).

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Perspektiven der Theaterszenografie: Ausblick

84–85 Teilnehmende des Labors AR-Loopmachine, Leitung: Oliver Proske (Nico and the Navigators), Yui Kawaguchi und Christoph Seeligmüller, Dresden, November 2022, im Rahmen der Labore für Digitale Szenografie (07–12/2022), temporäre Labore bundesweit in 6 Städten und online, Konzeption und Durchführung: Szenografie-Bund, AG Digitaler Raum, in Kooperation mit der Akademie für Theater und Digitalität Dortmund und weiteren Einrichtungen. Gefördert durch den Fonds Darstellende Künste.

Fotos: Ronja Lena Dörr / Szenografie-Bund

Szenografie und Digitalität

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Digitale Szenografie als künstlerische Praxis war im Theaterdispositiv in der Tat bis vor Kurzem nicht in der Breite verankert, sondern blieb, wie auch die vorliegende Studie zeigt, mit experimentellen Arbeitsweisen einzelner, freier Szenograf:innen (wie z. B. Philip Bußmann) hierzulande lange punktuell (vgl. Kap. II.2.). Einiges spricht aber dafür, dass sich dies allmählich ändert, zunächst insbesondere infolge der Pandemie, die im Sinne einer verstärkten Etablierung digitaler Szenografie eine signifikante Katalysatorwirkung zeitigte. Zu beobachten waren ab den Jahren 2020/2021 zum einen Aktivitäten und neue Initiativen von Berufsverbänden und Interessengruppen. Besonders augenfällig bezeugt dies ein vom Szenografie-Bund im Frühjahr 2021 zweisprachig (deutsch und englisch) veröffentlichtes Manifest (Manifest für Neue Szenografie 2D, 3D, ∞D), das – an die Tradition der Künstler:innen-Manifeste der historischen Avantgarden und der 1960er Jahre anknüpfend und über die Website des Verbands an die Öffentlichkeit gerichtet – programmatisch auf das Innovationspotenzial dieser Disziplin, ihre Relevanz als „Gesellschaftslabor“ und ihre so beanspruchte, über Theater hinausreichende Bedeutung aufmerksam machen sollte (Fig. 83). Der intensive Austausch von Information, Digitalkompetenz sowie Theorie- und Praxiswissen, der, initiiert von verschiedenen Seiten (Theatern, Hochschulen, Verbänden, Einzelpersonen), auf einer Vielzahl von Online-Plattform und -Foren zu dieser Zeit in Gang kam, war im Hinblick auch auf mögliche Neuorientierungen in der Szenografie sicherlich ein treibender Faktor. Exemplarisch genannt sei das Theatre Design and Scenography Symposium STAGING THE FUTURE (Wimbledon College of Arts, London), das 2021 online mit internationalen Referent:innen stattfand.9 Als ortsverteilte, über den Szenografie-Bund deutschlandweit vernetzte Arbeitsgruppe besteht seit Sommer 2020 die AG Digitaler Raum, die sich regelmäßig zu gemeinsamen Gesprächs- und Präsentationsterminen via Zoom trifft, insgesamt rund 50 Mitglieder zählt, mit Einrichtungen wie der Akademie für Theater und Digitalität Dortmund und der digital.DTHG kooperiert und über ein stetig anwachsendes Projektarchiv verfügt, in dem relevante Literatur, Protokolle, u. a. m. gesammelt werden. Zu diesen ambitionierten Initiativen gehört auch die Planung einer sechsmonatigen Art-as-Research-Reihe, Labore für Digitale Szenografie, die, gefördert durch den Fonds Darstellende Künste, 2022 in Berlin, Hamburg, Frankfurt, München, Dresden, Dortmund und online durchgeführt wurde. Die Schwerpunkte der Workshops (Digitale Masken und Interaktivität; E-Costumes und Augmented Costumes; Motion Tracking: Körper und Bewegung auf der Bühne; Virtuelle Produktions- und Beleuch282

Perspektiven der Theaterszenografie: Ausblick

86 Raumbühne PANDAEMONIUM, Staatstheater Kassel, Einblicke in die Proben zu Wozzeck mit der AR-App Theater@Home (App-Entwicklung: Christian Ziegler / ­Sebastian Hannak) 2021.

Foto: S. Hannak

tungsplanung: Szenische Räume in VR und Cross-Reality; AR-Loopmachine: Bühne und Augmented Reality; Das ‚Metaversum‘ als Bühnenlabor) waren so gelegt, dass alle Aufgabenbereiche des Szenografischen damit berührt wurden. Die Einsichten und gemachten Erfahrungen wurden in einer Projektmediathek dokumentiert.10 Festzuhalten ist (ohne an dieser Stelle näher auf die Details der Reihe einzugehen), dass inzwischen – nach durch das Neustart Kultur-Programm der Bundesregierung und ähnliche Förderinstrumente ermöglichten Unternehmungen, durch seither an ‚digital-affinen‘ Häusern verstärkte technische Infrastrukturen, eingerichtete Digitalsparten sowie durch Einrichtungen wie der Dortmunder Akademie für Theater und Digitalität – Entwicklungen in Gang kamen, mit denen die digitale Szenografie (aus ihren zuvor ‚nerdigen‘ Zusammenhängen heraus) allmählich auch in der Breite an die Theater gelangt.

Damit ist aber keineswegs bereits ausgemacht (wie Rückmeldungen teilnehmender Bühnen- und Kostümbildner:innen nach den „Laboren“ zeigten),11 welche künstlerischen Ansätze, Positionen und Praktiken sich möglicherweise verstetigen oder im Theaterdispositiv sogar auf lange Sicht Szenografie und Digitalität

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verändernd wirken: Welche Ebenen für räumliche Narration wären beispielsweise gewonnen, wenn Szenograf:innen VR-Umgebungen und -Objekte (mithilfe von 3D-Grafiksoftware wie Blender oder Unreal Engine) gestalten, die, im Theater um physisch anwesende Schauspieler:innen herum auf Green Screens projiziert, eine hybride Bühne entstehen lassen? Und welche Optionen der Interaktion ergeben sich für Spieler:innen und Publikum in einer AR-Umgebung, wenn Kostüme mit leitfähigem Garn, integrierten Sensoren oder Chips versehen werden, sodass die Spieler:innen in Echtzeit quasi steuerbar werden und ihrerseits an die Zuschauer:innen, über eine App an deren Mobiltelefone, digitale Impulse aussenden können? Oder was heißt es, szenografisch mit Face- und Body-Tracking zu arbeiten und menschliche Mimik und Bewegungen auf virtuelle Avatare zu übertragen, um diese, ähnlich wie in einem Computerspiel, auf digitalen Bühnen auftreten zu lassen? Und schließlich: Welche kritische Praxis und welche Einsichten erlaubt der Theaterrahmen im Umgang mit Künstlicher Intelligenz? – In zuweilen gewollt verspielter Annäherung an diese Themen kommen mit Ansätzen von Szenograf:innen, die per Ausbildung und Werdegang oft nicht primär den Disziplinen Bühnen-/Kostümbild angehören, sondern auch in Bereichen wie 3D-Animation, Graffiti, Film oder Musikvideo tätig sind (z. B. Luis August Krawen, Susanne Steinmassl, Berfîn Karakurt, Mehmet & Kazim, u. a.), diverse Perspektiven hinzu.

Grundsätzliche Fragen, die sich gleichwohl für alle stellen, formulierte Andrea Riedel, Berliner Kostüm- und Bühnenbildnerin und Teilnehmerin der Labore für Digitale Szenografie, folgendermaßen: „Wie und warum möchte ich digitale Mittel szenografisch einsetzen? (…) Was möchte ich über die Anwendung dieser Technologien erzählen? Verliert eine Theateraufführung, die mit digitalen Mitteln gekreuzt und erweitert wird (…), ihr gemeinschaftliches, unmittelbares und lebendiges Erlebnispotenzial?“, und schließlich: „Können wir die Transformation der Gesellschaft, die mit digitalen Technologien perpetuiert wird, im Theater und auf der Bühne künstlerisch widerspiegeln?“12 Auch Sebastian Hannak, der mit seiner forschenden künstlerischen Auseinandersetzung mit Digitalität in der Szenografie in Kap. II.2. und III.2. bereits vorgestellt wurde, befasst sich mit diesen und ähnlichen Fragen.

Wie besonders am Beispiel seiner gestalterisch und technologisch komplexen Raumbühnen (wie der Raumbühne HETEROTOPIA, 2016/17, ­PANDAEMONIUM, 2021/22 oder ANTIPOLIS, 2023/24, vgl. Abb. 36 und 37) deutlich wurde, verstehen sich seine Arbeiten – mit ihren Erkun284

Perspektiven der Theaterszenografie: Ausblick

dungen von Bühne, Digitalität und (medial erweiterten) Relationen zwischen Bühne/Publikum sowie ihren Explorationen digitaler Verfahren der Produktionsplanung – als eine (über die einzelnen Inszenierungen hinausweisende) Arbeit am Dispositiv des Theaters. Offenbar geht es dabei auch um die übergeordnete Frage nach einer Digitalstrategie (organisatorisch, kollaborativ, administrativ, rechtlich etc.), d. h. um die (unter dem Eindruck der Pandemie von verschiedener Seite dringlich gestellte) Frage, „wie genau wir die Digitalisierung unserer Branche und unserer Kunst eigentlich umsetzen wollen“ (Lorenz 2021, 31). Einer der Faktoren, der in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist und die künstlerische Praxis der Szenografie direkt betrifft, ist die Entwicklung virtueller Verfahren des Entwerfens und der Theaterproduktionsplanung, wie einschlägig mit dem Modellprojekt Virtuelle Bauprobe der Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft, das 2019 erstmals präsentiert wurde (https://digital.dthg.de/ virtuelle-bauprobe). Erarbeitet im Rahmen angewandter, zwischen Kultur und Technologie angesiedelter Forschungen (Im/material Theatre Spaces: Virtual and Augmented Reality for Theatre, 2019-2021, gefördert aus Bundesmitteln), steht der Name Virtuelle Bauprobe nicht für ein Programm oder eine bestimmte Software, sondern für ein Konzept, das Szenograf:innen und bühnentechnische Abteilungen befähigen soll, die Überprüfung der Umsetzbarkeit eines Entwurfs (im Theater die physische ‚Bauprobe‘) digital durchzuführen. Das Konzept (drei exemplarische „Workflows“), das in Beratungsangeboten vermittelt wird, umfasst Informationen zu empfohlener Software (Sketchfab, Mozilla Hubs, SketchUp), Hardware, Kosten, Arbeitsprozessen sowie beispielhafte, an jeweilige Gegebenheiten und künstlerische Bedürfnisse adaptierbare Szenarien (vgl. digital.DTHG/ Eckart/Dornhege/Ritter/Kaufmann 2022, 88–103). Hannaks Raumbühne PANDAEMONIUM, als Logen-Totaltheater, das im Staatstheater Kassel über drei Geschosse und von der Hinter- und den Seitenbühnen bis in den Publikumsraum ragte, wurde, ebenso wie später ähnliche seiner Raumbühnen, digital auf einer Open-Source-Plattform (Mozilla Hubs) entworfen (vgl. Abb. 59). Im Vergleich zum konventionellen Modellbau erlaubt dieses Verfahren bereits im Entwurf eine höhere Komplexität; ein weiterer Vorteil ‚virtueller Bauproben‘ ist, dass damit Anreisen von Produktionsbeteiligten zu Konzeptionsgesprächen und Bauproben vor Ort entfallen oder erheblich reduziert werden können. Dies lässt vermuten, dass solche digitalisierten, in den Theaterproduktionsprozess integrierten Arbeitsabläufe ökologisch nachhaltiger sind; andererseits geht mit dem Digitalen ein enormer Verbrauch von Energie, Edelmetallen und seltenen Erden Szenografie und Digitalität

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einher. Weltweit fallen jährlich aktuell mehr als 60 Millionen Tonnen Elektroschrott an.13 Welches Verfahren ressourcensparender und nachhaltiger ist, lässt sich nicht allgemein sagen, sondern hängt von verschiedenen Faktoren ab, die von Fall zu Fall eruiert werden müssen.14 Zugleich gilt, dass Bauproben in den Theatern nicht generell durch virtuelle Bauproben ersetzt werden können, da nicht alle Aspekte einer Szenografie im virtuellen Raum überprüft werden können. Möglicherweise trägt die Anwendung solcher Verfahren an den Häusern, kombiniert mit bisher konventionellen Arbeitsweisen, langfristig insgesamt aber zur verstärkten Implementierung von Digitalität und Digitalkultur im Theaterdispositiv bei. Einen Versuch, eine im Zuge der virtuellen Produktionsplanung erstellte Bühne künstlerisch noch einmal anders zu denken und sie digital auch für Publikum zugänglich zu machen, unternahm 2021 Sebastian Hannak. Gewissermaßen als Teil der Eröffnungsinszenierung der Raumbühne PANDAEMONIUM (Wozzeck, Regie: Florian Lutz) entwickelte er, gemeinsam mit dem Medienkünstler Christian Ziegler, eine AR-App: „Vor der Premiere im Opernhaus“, so Ziegler, „haben wir die Sänger:innen der Produktion in 3D aufgenommen (mit dem Motion Capture-Programm IPI-Soft) und die Avatare anschließend mit dem Raum und dem von uns ebenfalls digital aufgezeichneten Gesang verknüpft“.15 Gedacht war das Projekt als „theatraler Gruß“ und als Einladung an das Publikum, „zu Hause, vor den iPhones oder iPads, eine Oper (oder Exzerpte davon) quasi auf dem Küchentisch zu erleben. (…) Man kann darin auch eine Erweiterung von Theater sehen, mit digital-szenografischen Mitteln. Formal gesehen wäre dies (…) durchaus ausbaufähig“ (ebd.) (vgl. Abb. 86). Inwieweit solche Ansätze zukünftig weitergeführt werden und ob sie sich durchsetzen, muss sich noch zeigen.

Theater, Szenografie und Ökologie

Die Problematik der globalen Erderwärmung und der längst unübersehbaren anthropogenen Veränderungen sämtlicher Ökosysteme sowie die Herausforderung, Nachhaltigkeitsziele, die schon seit den 1970/80er Jahren international verabredet wurden,16 umzusetzen, blieben auch im Kulturbereich und an den Theatern nicht unbemerkt oder unbeantwortet.17 Und auch in der Theaterforschung und in den Szenografie & Performance Design Studies wird, länger schon, nach der ‚Ökologie des Theaters‘ gefragt (Marranca 1996, Kershaw 2007, u. a.) und ebenso nach der ökologischen Dimension szenografischen Gestaltens und nach ‚ecokritischen‘ Perspektiven 286

Perspektiven der Theaterszenografie: Ausblick

auf Bühnen, Raumkonstellationen und Aufführungen (vgl. Lavery 2016, 2019; Beer 2021, u. a.). Im Zuge grundlegender Neuausrichtungen, deren Herausforderungen nicht allein im ‚Hier und Jetzt‘ und einer unmittelbaren Umwelt, sondern vielmehr im Spannungsfeld zwischen lokal/global und dem Planetarischen liegen, gilt es – angesichts der Nicht-Erzählbarkeit, Nicht-Darstellbarkeit so komplexer Phänomene wie Klimawandel, Artensterben, Vermüllung der Weltmeere u. v. a. (vgl. Garrard 2023) – neue Stücke, Bilder und Inszenierungsformen zu erfinden. Es stellt sich die Frage, wie die darstellenden Künste und ihre Einrichtungen auf diese Herausforderungen reagieren: ob künstlerisch-ästhetisch, diskursiv oder vor allem auf der betrieblichen, organisatorisch-administrativen Ebene (vgl.

Lavery 2019, Taxopoulou 2023).

Gemäß Foucault liegt das Potenzial oder sogar die Hauptfunktion von Dispositiven darin, auf Erfordernisse oder einen Notstand (urgence) zu antworten (1978, 120). Das bedeutet nicht zuletzt für das Theater als Dispositiv, dass es sich unter mehreren Aspekten mit Transformationsfragen zu befassen hat und dabei verschiedene, teils miteinander verschränkte Strategien entwickelt. Doch welche Rolle übernimmt unter den Bedingungen des Ecological turn die Szenografie? – In dem Beitrag „Performance and Ecology – what can theatre do?“ (2016) des britischen Theaterwissenschaftlers Carl Lavery findet sich folgende These: „(…) if theatre is to contribute to a more progressive environmental future, then it is incumbent on practitioners and scholars to reflect, rigorously, on how theatre works as a medium, while at the same time remaining vigilant to its supposed efficacy“, und weiter: „Theatre’s ecological contribution is not to be found in any explicit ecological message it may purport to communicate, but rather resides in the more oblique possibilities inherent to the medium itself …“ (ebd., 226). Theater, das sich als ‚ökologisch‘ (und als nachhaltig) versteht, transportiert demnach nicht notwendig ‚grüne‘ Botschaften, sondern denkt basal über Konzepte und Begrifflichkeiten von ‚Natur‘/ ‚Kultur‘ und von ‚Umwelt‘ (lokal/global/terrestrisch) nach. Unter eco-kritischen Vorzeichen18 ließe sich über Phantasmen von ‚Natur‘, über Theaterpraktiken (und den jeder Bühne inhärenten Anthropozentrismus) reflektieren sowie über die Materialität und Performativität von Bühnen (mit ihren Verkoppelungen und Feedbackschleifen zwischen Menschen/Dingen/Technologien/Umgebungen). Indem Lavery, im Rekurs auf Kershaw (2007), auch Organisation, Logistik und Infrastrukturen berücksichtigt, thematisiert sein Ansatz Theater nicht nur als Medium, sondern als Oikos. Dieser mit materiellen, technischen und mit anderen Infrastrukturen und NetzwerTheater, Szenografie und Ökologie

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ken verwobene ‚Oikos‘ wäre jedoch nicht als ‚Haus‘ oder ‚Haushalt‘ zu denken, sondern als ‚Mesh‘, „infinite and beyond concept – unthinkable as such“ (vgl. Morton 2011). Menschliches Sein und Tun wäre in dieser Verwobenheit immer schon ‚more than human‘, und das eco-kritische Potenzial des Theaters zeigte sich darin, in welcher Weise es vermag, menschliche Akteur:innen – tentativ, für die Dauer einer Aufführung – aus der Bühnenmitte herauszurücken und neu zu verorten: „in an agential landscape of flows, systems and networks“ (Lavery 2016, 231; ders. 2019).

In diesen Diskussionszusammenhängen ist auch die zwischen Designtheorie, Theaterforschung und künstlerischer Praxis angesiedelte Arbeit der australischen Szenografin Tanja Beer zu sehen: Mit dem von ihr geprägten Begriff „Ecoscenography“ trägt sie seit Mitte der 2010er Jahre engagiert dazu bei, ökologisches Denken paradigmatisch in den Szenografie-Diskurs einzubringen (vgl. dies. Ecoscenography. An Introduction to Ecological Design for Performance, 2021). Auch sie plädiert – sowohl im Hinblick auf Rezeptionsverhältnisse als auch auf Produktionsprozesse – für eine Gesamtrevision des Theaterdispositivs, um Veränderungen auf den Weg zu bringen, die über partielle Maßnahmen wie Müllreduktion, Umstellung auf Ökostrom und dergleichen hinausgehen.19 Grundlegend sei daher eine Fokusverschiebung (oder in ihren Worten: „to shift performance design to an increased awareness of broader ecologies and global issues“): Ecoscenography builds on contemporary reconsiderations of performance design, where creative and environmentally conscious processes align to become a fundamental part of the scenographer’s ideas, practices and aesthetics. Being ‚ecological‘ means integrating an awareness that no decision stands on its own: every design choice is intertwined with social, environmental, economic and political consequences that are far reaching and capable of having long-term effects (…) (ebd., 18)

Bezugnehmend auf verwandte Gestaltungsfelder wie Architektur, Mode oder Gebrauchsdesign, in denen schon länger Strategien, Methoden und Parameter für ökologisch nachhaltiges Design entwickelt und alternative Werkstoffe erprobt werden, und mit Hinweisen auf rezente Diskussionen über materielle Kultur, mit denen Dinge und Materialien nicht mehr nur rein instrumentell, sondern ihrerseits als physische und symbolische Akteure aufgefasst werden, sucht Beer in ihrer Studie (2021), Perspektiven und Ansätze ‚ecoszenografischer‘ Praxis beispielgebend darzulegen. Zwei Punkte sind demnach wesentlich: (1.) Die Kritik und Abkehr von bisheri288

Perspektiven der Theaterszenografie: Ausblick

gen Verbrauchs- und Wegwerfgewohnheiten zugunsten von Kreislaufdenken und zirkulärem Design, wobei die drei sonst gängigen Komponenten Reduzieren/Wiederverwenden/Recyceln um zusätzliche Praktiken erweitert werden (reduce, refuse, reuse, rethink, recycle, recover, repurpose, repair, reimagine, ebd. 78). (2.) Das Erproben ecokritischer Praktiken und Ästhetiken in partizipativen Formaten und temporären urbanen Laboren sowie die Redefinition von Theatersituation bzw. Aufführungsgeschehen als Eco­ theater, in dem alle involvierten Akteur:innen und Faktoren in einen ökologisch nachhaltigen Kreislauf eintreten (Co-Creation/Celebration/Circulation, ebd., 101–127).

Zirkuläres Design in der Szenografie verlangt demzufolge, dass bei Theaterproduktionen von Anfang an sowohl über Umgang, Gebrauch als auch über die potenzielle Weiterverwendbarkeit der ins Spiel gebrachten Dinge und Materialien reflektiert wird. Ecoszenografie wird als gestalterische Praxis verstanden, die (mit Bennett 2010, u. a.) auch die in ein Theatergeschehen involvierten Dinge und Materialien als (nicht-menschliche) Akteure und aktive, co-kreative Faktoren auffasst. Zu den gegenwärtig wichtigsten Designstrategien gehören der Cradle-to-Cradle-Ansatz, d. h. das ökologisch nachhaltige Produzieren und Gestalten von Artefakten, verbunden mit dem Anspruch, in Akten des Instandhaltens, Reparierens und sorgsamen Umgangs ihre Lebensdauer maximal zu verlängern (Eco-effectiveness), sowie regenerative Praktiken.20 Weitere Strategien sind biophiles Design und Biomimikry, wie etwa die biomorphen, multisensorisch erfahrbaren Umgebungen des dänisch-britischen Duos Amanda Baum und Rose Leahy oder die hyperbolischen, aus Wolle, Stoffstreifen, Plastikfolie u. a. m. gehäkelten, geflochtenen und gewobenen Korallenriffs, basierend auf einer Idee von Christine und Margaret Wertheim (Institute of Figuring, Los Angeles, www.theiff.org). Diese entstanden in einem jahrelangen kollaborativen Prozess unzähliger Beteiligter weltweit (v. a. Frauen), um vermittels jener ‚weiblichen‘ Handwerkstechniken die zunehmende Bedrohung maritimer Ökosysteme zu vergegenwärtigen (Croched Coral Reef, Biennale Venedig, 2019, u. a.).21 Biointegrated Design, als dritte Strategie, geht noch einen Schritt weiter, indem lebende Organismen (Mikroben wie etwa Bakterien, Pilze, Algen) so in künstlerische Prozesse involviert werden, dass sie zu ‚Co-Produzenten‘ werden. Beispiele sind etwa die „BioCostumes“ der norwegischen Szenografin Ingvill Fossheim (vgl. dies./Pantouvaki/Suurla 2021) oder die Bühnenbildelemente in Barbara Ehnes‘ Raum für die Produktion Solastalgia (Frankfurt/Weimar 2022, Abb. 31), die sich, in den Theater, Szenografie und Ökologie

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Werkstätten geformt aus Myzelkomposit, dem Wachstum und der Bioaktivität eines Pilzes, Ganoderma lucidum, verdanken (vgl. Kap. II.2.).

Indem alle diese Ansätze neue (und in vielerlei Hinsicht co-kreative) Optionen ökologisch nachhaltigen Gestaltens erkunden, werden, vor allem mit dem hier drittgenannten, ‚biointegrativen‘ Ansatz, zugleich Fragen aufgeworfen: „Are we really cocreating, or are we manipulating? How do these human manipulations affect habitats for species, as well as disturbing the plant’s function? Does the main objective become one of using smaller living beings in order to supply our needs in the future?“ (Beer, a. a. O., 81). In der Tat gilt es abzuwägen. So betonen Szenograf:innen, wie etwa Barbara Ehnes, dass durch biobasierte, problemlos kompostierbare Materialien wie Myzelkomposite andere, in Bühnenwerkstätten viel verwendete, billige, aber unter Umweltschutzaspekten bedenkliche, sogar toxische Werkstoffe (wie Styropor oder Styrofoam) ersetzt werden können (vgl. dies. 2022). Dass sich die Perspektiven überdies grundsätzlich verschieben bzw. öffnen, wenn Bühnen- und Kostümbildner:innen darüber reflektieren, dass „nicht nur wir (…) die Materialien manipulieren, sondern auch das Material während des Entwurfs- und Realisierungsprozesses gewissermaßen uns manipuliert und mit uns interagiert“, konstatiert die Schweizer Szenografin Nadia Fistarol (dies./Ehnes/Wiens 2024, o. S.).

Dass z. B. ein Pilzmyzel, das sich in seiner bioaktiven Eigenwilligkeit „nicht kontrollieren“ lässt, potenziell aber in jede erdenkliche Form wächst, eine performative, künstlerisch erst noch auszulotende Dimension entfaltet, berichtet Ehnes aus ihren Erfahrungen: „Wir sehen großes Potenzial in der Allianz mit Ganoderma lucidum und werden zukünftig die ästhetischen Möglichkeiten, die er bietet (...) weiter erforschen“ (dies.

2022, 11). Anzunehmen ist zudem, dass bioaktive Materialien auch aufseiten des Publikums potenziell ecokritische Reflexionen in Gang setzen, oder um nochmals Lavery zu zitieren: „(…) it is incumbent (…) to investigate further and in some detail the specific ways in which the theatrical medium conveys and produces ecological experience in and by itself“ (2019, 258). Im Spannungsfeld zwischen dem Theaterbetrieb mit seinen Pfadabhängigkeiten und In/Flexibilitäten und den künstlerischen, ecoszenografischen Ansätzen, zwischen Produktionsdruck, Kosteneffizienz und Eco-effectiveness stellen sich unter ethischen, ästhetischen und epistemischen Gesichtspunkten (Natur/Kultur-Verhältnis) vielerlei Fragen, die es noch auszuhandeln gilt.

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Perspektiven der Theaterszenografie: Ausblick

87 Grüne Bühne: Nachhaltiges Entwerfen für Bühne und Kostüm (2022f.), QR-Code, der auf die Website des Szenografie-Bunds und zum gleichnamigen Leitfaden führt © AG Ökologische Nachhaltigkeit / Szenografie-Bund

Weitere Aspekte kommen ins Spiel, wenn Beer, durchaus im Sinne theaterwissenschaftlicher Dispositivforschung, den Blick auf Materialien, das Vor-/ Nachleben szenografischer Artefakte und auf Infrastrukturen (Werkstätten/ Fundus/Archive, u. a.) lenkt, die jenseits von Inszenierung und Aufführung liegen. Damit ergibt sich folgender (zirkulär zu denkender) Dreischritt: • Co-creation: ortsbezogen, lokal, partizipativ, nachhaltige Nutzung von Ressourcen, Prozessoffenheit, Serendipität, More-than-human perspectives, • Celebration: Neudefinition von Bühne und Aufführung – von der Ästhetik des Performativen zur Eco-Ästhetik; Bühne als urbanes (bzw. rurales22) Labor für Reflexion über Nachhaltigkeit und ökologisches Handeln, und • Circulation: die Auseinandersetzung mit dem ‚Nachleben‘ des Materials sowie grundsätzlich mit szenografischen Konzepten von Bühnen und Kostümen wird stets Teil des Prozesses.

Ein anschauliches Beispiel für den Versuch einer Umsetzung der drei C’s ist Beers Stadtraumprojekt The Living Stage (2017/18), das 2013 in Aus­ tralien und Großbritannien mehrmals erprobt und vier Jahre später mit lokalen Partner:innen auch in New York auf den Weg gebracht wurde. Das Konzept gab den Anstoß, in der Lower East Side/Manhattan – in Auseinandersetzung mit dem urbanen Kontext, Infrastrukturen, ebenso mit Pflanzen, Tierpopulationen und unter reger Beteiligung der Anwohner:innen – ein Areal zu begrünen, zu beleben und in eine ‚Bühne‘ zu verwandeln, deren Elemente recycelbar, biologisch abbaubar oder sogar essbar waren. Durchaus als Modell gedacht, entstand in der Verbindung von Szenografie, Urban Gardening, Permakultur und sozialer Raumpraxis das Theater, Szenografie und Ökologie

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Heterotop eines nachhaltigen, sympoietischen ‚Ecotheaters‘.23 The Living Stage wurde 2019 auch auf der Prager Quadriennale präsentiert, deren letzte drei Editionen den Schwerpunkt verstärkt auf szenographische Ansätze legten, die Bühnen/Theaterräume im Verhältnis zu Urbanität, Natur und Umgebung oder auch in ihrer Relation zu Medienräumen und Digitalität reflektieren und diese Relationen (unter sozialen, ökologischen und/oder technischen Aspekten) vielgestaltig ausleuchten (vgl. Filmer: „Theatres are evolving to reconnect us to each other and the environment“, 2019, ders. „Unsettled Assemblies“, 2024). Im Gegenwartstheater, so eine These Carl Laverys, seien es v. a. die erweiterten Formen und Formate („site-based performance, devised work, immersive installations, artistic interventions, open-ended scores, durational pieces, and large-scale community events“), über die sich sein eco-kritisches Potenzial zeige (vgl. ders. 2016, 230). Schritte hin zu mehr ökologischer Nachhaltigkeit zeichnen sich v. a. in den internationalen Produktionshäusern, Festivals und der Freien Szene ab, die diese Formatvielfalt begünstigen. Aber auch im Stadtund Staatstheaterkontext lassen sich auf den Ebenen von Betriebsökologie, Steuerung und Nachhaltigkeitsmanagement sowie auch in der künstlerischen Praxis Veränderungen erkennen – und überall ist es die Szenografie, die dazu Grundlegendes beiträgt.

Mit der Studie Sustainable Theatre: Theory, Context, Practices, verfasst von Iphigenia Taxopoulou, erschien 2023 ein erster, umfassender Überblick über europaweit und international vonseiten der Politik formulierte Nachhaltigkeitsziele und kulturpolitische Steuerung, ebenso wie über exemplarische Initiativen im Theaterfeld und über Leitfäden, ‚Best practices‘ und Werkzeuge für ökologisch nachhaltiges Produzieren sowie für Pub­ likumsadressierung im Sinne der ökologischen Transformation. Vorgestellt und diskutiert werden Programme (European Green Deal 2019–2024, Creative Europe 2025, u. a.), NGOs (https://juliesbicycle.com), professionelle Netzwerke (z. B. ecostage.online, sustainablestages.eu), von Theaterpraktiker:innen erstellte und in internationaler Kooperation kontinuierlich aktualisierte Leitfäden (vgl. v. a. The Theatre Greenbook, theatregreenbook.com) sowie Dynamiken des Austauschs von Nachhaltigkeitswissen (z. B. in Hochschulprojekten). Die Studie kartiert diese Faktoren und Dynamiken; dabei zeigt sich, dass sich Transformationsprozesse in verschiedenen Theaterkulturen unterschiedlich ausprägen. Vergleicht man Entwicklungen in Deutschland etwa mit denen Großbritanniens, das diesbezüglich in vielerlei Hinsicht als Vorreiter gilt, so trug die föderale Struktur hier292

Perspektiven der Theaterszenografie: Ausblick

zulande offenbar dazu bei, dass ‚grüne‘ Ansätze lange Zeit eher verstreut blieben,24 bevor 2020, gefördert aus Bundesmitteln, das Aktionsnetzwerk Nachhaltigkeit und, drei Jahre später, Green Culture als Anlaufstellen für betriebsökologische Beratung ihre Arbeit aufnahmen (vgl. greenculture. info). Mit all diesen eco-gouvernementalen Weichenstellungen und Impulsen auf verschiedenen Ebenen verändern sich auch die Rahmenbedingungen für die Szenografie.

Die Berufsgruppe der Szenograf:innen sieht sich ihrerseits gefordert, diese Transformation – kreativ und im Sinne ihrer Kunst – mitzugestalten.

2022 publizierten Bühnen- und Kostümbildner:innen beim SzenografieBund den Leitfaden Grüne Bühne (vgl. QR-Code, Fig. 87). Der Leitfaden eruiert, wie nachhaltiges Produzieren in alle Phasen der Theaterarbeit – von der ersten Idee zur Bauprobe über die Umsetzung in Werkstätten bis hin zur Premiere und zum Abspielbescheid – implementiert werden kann.

Als wichtige Werkzeuge für bewusstere Nutzungen vorhandener Ressourcen werden u. a. digitalisierte, regelmäßig aktualisierte Funduskataloge genannt (Zeger et al. 2022, 22). Der ressourcenschonende Umgang mit den in der Szenografie verwendeten Materialien sei entscheidender Teil ökologischer Achtsamkeit, oder wie Nadia Fistarol formuliert: Weg von Konsumlogik, Gebrauchen und Wegwerfen sollten Szenograf:innen zu „Hüter:innen der Dinge und des Materials werden“ (dies./Ehnes/Wiens 2024, o. S., Hervorh. BW). In Kooperation mit Barbara Ehnes betreibt sie seit 2023 die Online-Plattform StuFF – Neue Materialzyklen für Theater (stuffincycles.com), die sich – angelegt als Hub für die Bündelung und den anhaltenden Austausch von Praxiswissen und mit einem Open-SourceKatalog für umweltfreundliche Materialien – entschieden als künstlerische Initiative versteht. Ähnlich, wenngleich nicht primär theaterbezogen, operiert etwa auch die niederländische Initiative Future Materials Bank (futurematerialsbank.com). Ein weiterer, von Ehnes/Fistarol vorgeschlagener Ansatz ist das „Stage Design Mining“, mit dem, analog zum „Urban Mining“ in der Architektur, Optionen der Demontage und Wiederverwendbarkeit von (vorzugsweise modularen) Bühnenelementen exploriert werden. Die Website MINING MAP, verankert an der Zürcher Hochschule der Künste, verzeichnet auf einer digitalen Karte Informationen und Adressen von Institutionen in Zürich, bei denen übriggebliebene oder bereits verwendete Materialen kostenlos abgeholt werden können. Zudem steht die digitale Struktur der Website auch anderen Hochschulen oder Kultureinrichtungen, die das Konzept in ihrer Stadt adaptieren wollen, zur Verfügung (zuerich.mining-map.net). Im Hinblick auf die ökologische Theater, Szenografie und Ökologie

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Transformation an den Häusern plädiert Barbara Ehnes dafür, szenografisches Entwurfswissen, künstlerische Erfindungsgabe und das Know-How der Gewerke für gemeinsame Forschungen über Materialien, Techniken und nachhaltige Praktiken zu nutzen und Theater in dem Sinne als „­Circularity Think Tanks“ zu verstehen (dies. 20222, 49). Aufgefasst als ‚Nachhaltigkeitslabor‘, sei Theater geradezu prädestiniert, neue Dinge auszuprobieren (ebd.). Zugleich vermag künstlerisch forschende Szenografie auch die Theaterpublika zu involvieren, indem sie Räume eröffnet für Reflexion und co-kreatives Gestalten anstehender Transformationsprozesse (Stichwort: Creative Citizenship).

★★★ Aufgabe und Arbeitsfeld der Szenografie-Forschung ist die Auseinandersetzung mit ästhetischen Praktiken und szenografischen Gestaltungsprozessen im Spannungsfeld zwischen Entwurf, Produktion sowie Aufführungsereignis, Rezeption und Publikumserleben. Auf übergeordneter Ebene stellen sich zudem Fragen nach szenografischem Wissen und der kulturstiftenden Dimension des Szenografischen. Wie eingangs dargelegt wurde, ist Szenografie eine Kunst und Gestaltungspraxis, die inter- bzw. transdisziplinär auf verschiedenen Kunst- und Kulturfeldern operiert. Anders als in dem von mir 2019 publizierten Band Contemporary Scenography: Practices and Aesthetics in German Theatre, Arts and Design25 steht in der vorliegenden Studie und den darin vorgenommenen Untersuchungen die Frage nach der Theaterszenografie im Zentrum. Als die ‚bildende Kunst in der darstellenden Kunst‘, die ihrerseits gesellschaftliche Herausforderungen und Veränderungen reflektiert, tritt sie im Dispositiv des Theaters als kreativer und potenziell eingreifender Faktor auf, der das Dispositiv mitprägt und unter den Bedingungen gegenwärtiger gesellschaftlicher Veränderungen mitgestaltet. Dabei spielt sie, wie deutlich wurde, mithin sogar eine Schlüsselrolle. Transformation künstlerisch zu denken: Nicht zuletzt darin liegt ihre Relevanz. Die Studie schließt an dieser Stelle mit dem Wunsch, dass die Szenografie in ihrer Relevanz als Disziplin tatsächlich gesehen und anerkannt wird. Ein zweites Desiderat ist, dass Szenografie- und Performance Design-Forschung im Kontext der Theaterwissenschaft den angemessenen Platz und die ihr gebührende Aufmerksamkeit erhält.

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Perspektiven der Theaterszenografie: Ausblick

Endnoten Einleitung 1 Markéta Fantová/Barbora Příhodová/Pavel Drábek: „How do we see performance design/ scenography?“, in: About PQ (2023), (https://pq.cz/, Zugriff am 13.06.2024).

2 Der Begriff, als Bezeichnung für eine Praxis des Bemalens, Gestaltens der ‚skene’, findet sich erstmals bei Aristoteles um 335 v. Chr., vgl. Fuhrmann 1994, 14.

3 Die erste Prager Quadriennale (1967), die anfangs in Kooperation mit der Biennale São Paulo durchgeführt wurde, ging von folgenden Leitgedanken aus: „As compared to the Biennial in São Paulo, where (…) this particular section (Stage Design) was only subsequently included within the context of the Biennial of Visual Arts – the Prague Quadrennial is led in an effort to capture the specificity of stage design, the inseparability of scenography from the direction and all other components of a dramatic work, and the synthetic nature of this field.“, zit. nach 50 Years of PQ, hg. Arts and Theatre Institute Prague 2017, 8.

4 Die Konferenz The Art of Scenography: Practices and Aesthetics (Konzeption/Organisation: Birgit Wiens, Veranstalter: LMU München, in Kooperation mit der Akademie der Bildenden Künste, Bühnen- und Kostümbildklasse, Katrin Brack) fand 17./18.11.2016 in München statt, als Teilprojekt des von mir geleiteten Forschungsprojekts „Szenographie“, gefördert im DFG Heisenberg-Programm (2015–2020).

5 Vgl. die schriftliche Fassung des Vortrags in: Wiens (2019) 2021 (Konferenzpublikation), xv–xix.

6 Vgl. den Eintrag „Scenography“, in: Oxford English Dictionary (1993), zit. nach Hann 2019, 41.

7 Szenografie-Forschung, als ‚Scenography Studies‘, ging seit den Nuller Jahren aus verschiedenen Disziplinen (Theatre & Performance Studies, Kunst- und Designwissenschaft, Architekturtheorie, u. a.) hervor. Hatte Aronson gefordert: „It is perhaps time that ‚scenographic studies‘ emerge as a fully developed discipline to stand beside performance studies“ (2018, 4), bilden sie jedoch keine eigene Disziplin, sondern eine fachübergreifende wissenschaftliche Forschung, die sich mit dieser Kunst und transversalen, auf vielerlei Feldern operierenden Gestaltungspraxis befasst.

8 Die IFTR Working Group „Scenography“ besteht seit 1994, (https://iftr.org/workinggroups/scenography). Die Plattform Laboratoire International de Recherche sur l’image at la Scénographie / International Image and Scenography Research Laboratory (LIRIS), die den Akzent besonders auf transkulturelle und kulturvergleichende Perspektiven legt, ist seit 2023 an der Sorbonne Nouvelle Paris 3 verankert, Leitung: Romain Fohr, (https://iret. fr/fr/espace-et-scenographie-liris).

9 Mein DFG-Projekt Szenografie: Episteme und ästhetische Produktivität in den Künsten der Gegenwart (2015-2020) umfasste die Konferenz The Art of Scenography (ABK München, vgl. Anm. 4) und die Tagung Szenografisches Wissen und das Archiv (Berliner Volksbühne, 01/2020); daraus hervor gingen der Konferenzband Contemporary Scenography: Practices and Aesthetics in German Theatre, Arts and Design (2019) 2021 und zahlreiche Beiträge (deutsch und englischsprachig) in wissenschaftlichen Sammelbänden und Fachzeitschriften (siehe Angaben im Anhang).

10 Vgl. die Selbstdarstellung des Studiengangs auf der Website der Hochschule, www.moz. ac.at/de/szenografie.

11 Vgl. „Editorial“, Bd. 7 der Reihe Szenografie & Szenologie, hg. v. Ralf Bohn und Heiner Wilharm.

12 Meinem Forschungsprojekt zu Ästhetiken und Epistemen der Szenografie (vgl. Anm. 8) ging ein weiteres Projekt, Intermediale Szenografie, voraus (Publikation der gleichnamigen Studie 2014 beim Fink Verlag, Paderborn).

13 „The hyphen (in com-position) does not only alienate the word, but demonstrates its own ‚com-position‘ out of the two particles ‚com‘ (…) and ‚position‘, the act of setting, of positing something. ‚Composition‘ as the so-called language of art thus means – in contrast to verbal language – to pose things, materials or actions by tying them together, joining them, not necessarily into one unit but to a certain interrelation or cohesion, which unfolds its own strength and power“, Mersch 2019/2021, 172.

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Kapitel 1 1 Der Ball, von dem hier die Rede ist, mag auch zu verstehen sein als Referenz an Begrifflichkeit und Denkfigur der „Quasi-Objekte“ nach Michel Serres, die einen epistemischen Wechsel im Blick auf die Relation von Menschen und Dingen anzeigt, wie ihn v. a. Bruno Latour (1996) postulierte. „Die Ungeschickten spielen mit dem Ball wie mit einem Objekt, während die Geschickteren ihm dienen, als spielte er mit ihnen; (…) Folgt man seiner Bahn, so entsteht damit ihre Mannschaft, (…). Ja, hier spielt der Ball: aktiv.“ (Serres 1995, zit. nach Krajewski 2011, 157).

2 Vgl. Fischer-Lichte 2004, 61f., 2005/14, dies.: „Zur Flüchtigkeit von Aufführungen“, in: Gronau 2023, 15 f.

3 Die (auf Maturana/Varela 1984 rekurrierende) Annahme, dass Aufführungen aus ‚autopoietischen‘ Prozessen zwischen Darstellenden und Zuschauenden hervorgehen, müsste – sofern man dabei bleibt – im Sinne der Szenografie-Forschung revidiert werden, um auch andere Entitäten zu berücksichtigen; in Betracht kommen Begriff und Denkansatz der ‚Sympoiesis‘ (Dempster 2000; Auer 2021), auch in ihrer Verwandtschaft mit Donna Haraways Konzept der „Symbiogenese“ (dies. 2018, 85 ff.) sowie mit Hartmut Rosas Begriff der „Resonanzbeziehung“ (ders. 2019, 52 ff.).

4 Von mir bei früherer Gelegenheit formulierte Arbeitsdefinition, vgl. Wiens 2014, 65.

5 „Setting of a Drama“, Gespräch mit Bert Neumann, Theater der Zeit, 11/2010, 7–11: 9; s. a. Rois/Wiens (2019) 2021.

6 Zum Begriff „Phänomenotechniken“, vgl. Kap. II.2. (Abschnitt zu Barbara Ehnes).

7 Vgl. die Abschnitte Theater als Dispositiv: Ansätze der Dispositivforschung und Szenografie im/als Dispositiv in diesem Band.

8 Diese Unterscheidung traf Patrice Pavis (1986/2007), vgl. Balme (2005) 2014, 347.

9 Balme 2014, ebd.; genannt werden die Studien u. a. von Rischbieter/Storch 1968, Simhandl 1993; ergänzend sei hingewiesen auf Eckert 1998/2006, Brandstetter/Wiens 2010 und Wendel-Poray 2017.

10 Ders. 2014, 349. Zu Begriff und Genese der ‚Theaterinstallation‘ vgl. Gronau 2010. Zu ‚environmental theatre‘ und ‚environmental scenography‘ siehe die weiterreichenden Ausführungen in diesem Kapitel.

11 Zu Brechts „szenografischem Dialog“ mit seinen ‚Bühnenbauern‘ Caspar Neher, Teo Otto und Karl von Appen vgl. Baugh 2018, zu Brecht/Nehers ‚Modellinszenierungen‘ im Besonderen vgl. de Ponte 2006, zu deren Reflexion und Kritik im Gegenwartstheater (exemplarisch bei Pollesch) siehe Wiens 2018.

12 „,Szeno-graphieren‘ bedeutet, ein Spiel von Verbindungen und Proportionen zwischen Text- und Bühnenraum herzustellen, d. h. jedes System ,für sich‘ und in Zusammenhang mit dem anderen in einer Serie von Übereinstimmungen und Verschiebungen (…)“, Pavis 2007, 970.

13 Vgl. die Einträge „Scénographie“ und „Dispositif scénique“, in ders. (1987) 2019, 488–492 und 148 f.

14 Pavis 2007, 969, s. a. den Abschnitt „Épistemologie: Dispositif“, in: ders. 2019, 194 f.

15 Lehmann (1999) 2023, 159 und 401 ff.; s. a. Wiens 2014.

16 Vgl. die kritische Studie von Nebojsa Tabacki: Consuming Scenography. The Shopping Mall as a Theatrical Experience, London/New York 2020.

17 Vgl. theaterbezogen O’Dwyer 2021; zu Ausstellungsdesign und Digitalität: Kiedaisch/ Marinescu/Poesch 2021, 126 ff.

18 Zu Begriff und Begründung des scenographic turn siehe Jane Collin/Arnold Aronson, in: Theatre and Performance Design, 1 (1-2) 2015, 1–6; zur weiteren Diskussion und auch Kritik: McKinney/Palmer 2017, 3 f.

19 Nach Hann sind scenographics (vs. scenography) ‚ortsbezogene Interventionen‘, „formative to all manner of staged acts, whether the behaviours associated with gardening or interior design as well as the art practices of installation art and exhibition architecture“; als solche schaffen sie Bedingungen für Ereignisse, denen Performativität und Theatralität eignet, die aber nicht notwendig Theater sind. („Scenographics afford a framework of specifying the ‚stage-like‘ potentials of a situation that may otherwise be captured by notions of performativity and theatricality“), dies. 2019, 28.

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Endnoten

20 Schechners „6 Axioms“ wurden in The Drama Review und in seinem Buch Environmental Theater (New York 1973 und 1994) publiziert; ich beziehe mich auf die erstgenannte Fassung, TDR, 12.3 (1968), 41–64.

21 Schechner 1968, 45 f., 48, 56 f. und 59 f.

22 Vgl. Roberto Ohrt (Hg.): Situationistische Internationale. Beginn einer Epoche, Hamburg 2008.

23 Aronson 2018, „Introduction (Revised Edition)“, 1–5, „The Scenography of Environmental Performance“, ebd., 7–19.

24 Zu Entwicklungen in den D/A/CH-Ländern und im europäischen Vergleich vgl. auch Peter W. Marx‘ Darstellung in Remshardt/Mancewicz 2023 (Kap. „Germany“, ebd., 94–101) sowie Brigitte Marschall/Gabriele C. Pfeiffer: „Austria“ (ebd., 18–24) und Beate Hochholdinger-Reiterer: „Switzerland“ (ebd., 254–260).

25 Vgl. Fischer-Lichte: „Politiken der Raumaneignung“, in: dies./Wihstutz 2010, 133–150.

26 Zur Geschichte und künstlerischen Praxis des um 2000 in Gießen gegründeten Kollektivs vgl. Schipper 2021, Wahl 2021.

27 Vgl. „Szenografie: Aufgabenfeld und künstlerisches (Selbst-)Verständnis im Wandel?“, in: Wiens 2014, 273–279.

28 Wiens 2014, 86 f., der Abschnitt wurde für dieses Buch überarbeitet und ­aktualisiert.

29 Mit dieser seither oft wiederholten Formel beschrieb Sonja Kloevekorn (SzenografieBund, Berlin) die Aufgaben und das Profil der Berufsgruppe 2019 anlässlich einer Tagung in der Akademie der Künste Berlin; der Verband (zuvor Deutscher Szenografenverband, Berlin/Ost) vertritt seit 1990 bundesweit Bühnen-, Kostüm- und Maskenbildner:innen für Theater, Szenen- und Kostümbildner:innen für Film, TV und Video, Künstler:innen aus den Bereichen Figuren- und Objektgestaltung sowie Video- und Lichtdesigner:innen für Theater (www.szenografie-bund.de).

30 Vgl. Neumann 2013, ders. 2015 und Hurtzig 2001.

31 Vgl. Literaturverzeichnis, „Monografien, Interviews, Kritiken, sonstige Quellen“.

32 Sebastian Hannak: „,We built this City on Rock’n’Roll‘. Über die Entstehung der Raumbühne Heterotopia“, in: ders./Lutz 2018, 75–81, und ders. 2024.

33 Zit. nach Michel Foucault: Schriften in vier Bänden: Dits et Écrits, Bd. 4, Frankfurt M. 2005, 931–942, hier 935.

34 Yannick Butel: „Theater als Dispositiv: Eine Alternative zum ideologischen Vorhang?“, in: Aggermann/Döcker/ Siegmund 2017, 161–178, hier 161 und 175.

35 Ders. „Das Spiel des Michel Foucault“, Gespräch (1977), in: Schriften, Bd. 3 (2003), 391– 429, und ders. 1978.

36 Zu nennen sind besonders das von Gerald Siegmund, Lorenz Aggermann und Georg Döcker durchgeführte DFG-Projekt „Theater als Dispositiv. Ästhetik, Praxis und Episteme der darstellenden Künste“ (2014–2018) und daraus hervorgegangene Publikationen (dies.

2017, 2020).

37 Zu fachgeschichtlichen Aspekten siehe Kap. III.1.

38 Vgl. Aggermann: „Die Ordnung der darstellenden Kunst und ihre Materialisation“, in ders./ Döcker/Siegmund (Hg.) 2017, 7–23 und ebd. besonders die Beiträge von Ulrike Haß, Nikolaus Müller-Schöll und André Eiermann; zur anhaltenden Methodendiskussion im Fach vgl. Balme/Szymanski-Düll 2020 und Wihstutz/Hoesch 2020.

39 Zu Ausprägungen und Gebrauch dieser Begrifflichkeit in den Schriften Foucaults vgl.

Ruoff (2007) 2018, 118 f.

40 Für ausführliche Darstellungen dazu vgl. Aggermann/Döcker/Siegmund 2017; zum Kreativitätsdispositiv im weiteren Kontext der Dispositivforschung vgl. Sverre Raffnsøe: „­Dispositiv“, in: Beyes/Metelmann 2018, 83–87.

41 Vgl. die Ausführungen von Elke Bippus, Jörg Huber und Roberto Nigro zu „ästhetischen Dispositiven“ im Vorwort ihres Buchs Ästhetik x Dispositiv (2012), 7–12, und den Beitrag von Mirjam Schaub, ebd. 61–72. Für Perspektiven der Kunstwissenschaft (wenngleich dort zunächst zögerlich) s. a. Stemmrich (2007).

42 Ebd., 41; zum hier Referierten s. a. Nikolaus Müller-Schöll (wie Anm. 38), 67–86, bes. 70f.

43 Dieter Mersch: „Dispositiv, Medialität und singuläre Paradigmata“, in: Bippus/Huber/ Nigro 2012, 25–37.

44 Vgl. das Kap. „Ästhetisierung und Kreativitätsdispositiv“, in: Reckwitz: 2012, 20–53, hier 51.

Endnoten

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45 Dirk Baecker: „Die Performance in ihrem Element“, in: Aggermann/Döcker/Siegmund 2017, 33–44, hier 37.

46 Aus: Kursmaterial zum Workshop History and Theory of Scenography: An Introduction to Current Research, Leitung B. Wiens, Norwegian Theatre Academy/Østfold University ­College, Fredrikstad, NO (2023).

47 Der Passus § 10, Nr. 1: „Die Bühnenbild- und/oder Kostümentwürfe gehen in das Eigentum der Bühne über“ ist aktuell im Mustervertrag Bühnen-/Kostümbild gestrichen (vgl.

Fassung in: Bolwin/Sponer 2023, o. S.).

48 Zit. nach: Szene im Gespräch/Interview #14, 2020 (mit Sebastian Hannak), Pdf (www.szenografen-bund.de/, Zugriff am 10.05.2024).

49 Vgl. Behr (2013). Laut von ver.di, Bereich Kunst und Kultur, i.A. gegebener Erhebung lag die Einkommenslücke zwischen Männern und Frauen im Bereich Bühnen-, Szenen-, Kostüm-, Maskenbild, Lichtdesign (freiberuflich) im Jahr 2022 bei 33 % (vgl. „Gender Pay Gap 2022 in ausgewählten künstlerischen Berufen in Deutschland“, Pdf, kunst-kultur.verdi.de, 01/2023, Zugriff am 10.05.2024); laut einer Studie von Schulz/ Zimmermann (2024) ein Jahr später bei durchschnittlich 34 % (dies., 108).

50 Thea Hoffmann Axthelm/Robert Kraatz: „Scenography: Research, Education and Training in the German-Speaking Countries – some Observations“ (2019), in: Wiens 2021, 198– 225, hier 207.

51 „Manifest für neue Szenografie 2D, 3D, ∞D/Manifesto for New Scenography“, 2021 (vgl.

Fig. 83 / Abdruck der deutschen Fassung).

52 Vgl. exemplarisch Matt Cornish: „Worlds of German Design in the 21st Century“, in: ­Aronson 20181, 465–477.

Kapitel 2 1 Vgl. Szenografie-Bund/Universität Potsdam, Lehrstuhl Methoden der empirischen Sozialforschung: „Erhebung zur Arbeits- und Lebenssituation freiberuflich tätiger Bühnen- und Kostümbildner:innen“ (Stand: 2016). Laut einer internen, nicht-repräsentativen Umfrage („Stimmungsbild“, 2022) erwogen nach der Coronapandemie 40 Prozent (der rund 200 Teilnehmer:innen der Umfrage), den Beruf aufzugeben, (https://www.szenografen-bund. de/archiv/politik, Zugriff am 10.06.2024).

2 Vinge/Müller 2016, 8 (Übersetzung: BW).

3 Dazu ausführlich: „Architekturen auf Zeit. Szenografie als Spiel mit der Medialität von Bühnenformen: Bert Neumann“, in: Wiens 2014, 197–270.

4 „Wo bleibt (…) bei der Modellbenutzung das Schöpferische? (…) die moderne Arbeitsteilung (hat) auf vielen wichtigen Gebieten das Schöpferische umgeformt. Der Schöpfungsakt ist ein kollektiver Prozess geworden, (…) die isolierte ursprüngliche Erfindung (hat) an Bedeutung verloren …“, Bertolt Brecht/Caspar Neher: Antigonemodell 1948, Berlin 1949, 10f.

5 Zu René Polleschs und Bert Neumanns Reflexion über Brecht/Nehers Antigonemodell vgl. Wiens 2018.

6 Der Entwurf konnte auch als Zitat oder Variation einer Raumfindung Ehnes’ für eine Tanztheaterproduktion an der Volksbühne gesehen werden, vgl. Replacement, Choreografie: Meg Stuart (2006), Aurin/Hegemann/Witt 2018, o. S. 7 Ute Baumhackl: „Polleschs ‚Die Gewehre der Frau Kathrin Angerer‘“, Nachtkritik Festwochen, 06.06.2021, (https://www.kleinezeitung.at/kultur, Zugriff am 10.06.2024).

8 Autorisiertes Zitat aus einer E-Mail Nina von Mechows an die Autorin (vom 15.04.2024).

9 Maaike Bleeker: „What do Performances to Spectators?“, in: dies. et al. 2019, 33–46, hier 42 (Übersetzung BW).

10 Roland Barthes: ‚Ich habe das Theater immer sehr geliebt …‘. Schriften zum Theater, hg. v. Jean-Loup Rivière (Übers. Dieter Hornig), Berlin 2002, darin: „Die Krankheiten des Kostüms“, 278–291.

11 Diesen Begriff verdanke ich Dietmar Rübel und seiner Studie zu Plastizität und Materialästhetik in der Kunst, ders., Plastizität. Eine Kunstgeschichte des Veränderlichen (2012).

12 Frank M. Raddatz, Gespräch mit Katrin Brack: „Das serielle Bühnenbild“, in: L ­ ettre International, 03/2017, 74–78, hier 76.

13 In ihrer Behandlung der Materialität des Theaters werden Bracks Arbeiten offenbar als sehr valide Antwort auf ein aktuelles Erfordernis (urgence, im Sinne Foucaults) im Theater-

298

Endnoten

dispositiv gesehen; die Aufmerksamkeit, die sie – auch international – erfährt, ist groß (vgl.

Cornish 2018, u. a), zudem zahlreiche Preise, u. a. Hein-Heckroth-Preis 2019, ein Preis der PQ 2015 (für ihre Monografie, ed. Nioduschewski 2010), ein Goldener Löwe auf der Biennale Venedig 2017; 2009–2024 hatte sie die Bühnen-/Kostümbildprofessur an der Münchner Akademie der bildenden Künste inne.

14 Joslin McKinney: „Scenographic Materiality“, in: Wiens 2019/2021, 57–72.

15 Vgl. Jane Bennett, Kap. Neither Vitalism nor Mechanism: „(…) I am looking for a materialism in which matter is figured as a vitality at work both inside and outside of selves, and is a force to be reckoned with without being purposive in any strong sense“, in: dies. 2010, 62–81, hier 62.

16 Vgl. Böhmes Kapitel „Das Ding und seine Ekstasen“, in: ders. (1995) 2014, 225–246.

17 Vgl. Otto 2020, „Theater und Elektrizität“, XI. 18 Dazu sowie grundsätzlich zu Merkmalen, künstlerischen Verfahren und Rezeption der Arbeiten Schleefs als Regisseur, Bühnenbildner, Maler und Autor vgl. den Band von Orlowski (2019), der, neben dem Beitrag von Ulrike Haß (aus dem hier zitiert wurde, ebd.

190), u. a. ein Gespräch mit Ulrich Rasche enthält.

19 Vgl. Wiens (2002), Orlowski (2019) und die Monografie von Wolfgang Behrens (2004).

20 Zu Technikgeschichte, Typen und Funktionen der Drehbühne vgl. Unruh 1950, 49f.

21 Zur Geschichte der Drehbühne unter theaterhistoriografischen und szenografischen Gesichtspunkten vgl. Claudia Blank: „Die Metapher der Drehbühne und andere Raumkonzepte“, in: dies./DTM 2018, 83–134.

22 „Das Prinzip des rein zweckhaften Spielgerüsts dominierte, um das Spiel selbst zu unterstützen (…) und auszudrücken. Die Selbständigkeit des Gerüsts, das auf einer Drehscheibe eine eigene Welt in sich ist, hebt den Guckkasten der bürgerlichen Bühne auf. Es könnte auch im freien Raum stehen …“, Erwin Piscator (1925), in: Boeser/Vatkova 1986, 60–64, hier 63.

23 Zur Frage nach der „zuständlichen Veränderung“ von Gesellschaft durch Technik und der (auch für Theater / Theaterwissenschaft relevanten) Frage, wie sich diese nicht nur technikgeschichtlich, sondern auch kultur- und geisteswissenschaftlich fassen lässt vgl. Blumenberg (Hg. Schmitz/Stiegler 2009), bes. 49–85, hier 56.

24 Vgl. Bettina Hering: „Laudatio auf Ulrich Rasche“, Hein-Heckroth-Preis 2023 (www.heinheckroth-ges.de/2023, Zugriff am 10.06.2024).

25 Referenzen an die Lichtästhetik der historischen Avantgarde und an neuere Lichtkunst in der bildenden Kunst (Weibel 2006, Hemken/Gärtner/Schierz 2009) und der Behandlung von Licht als szenografischem Gestaltungsmittel in seinen Arbeiten (vgl. Ödipus, Berlin 2021) wäre ggf. weiter nachzugehen (Palmer 2013; ders./Graham/Zezulka 2023).

26 Vgl. dies. 2012; das (hier übersetzte) Zitat ist einem Text des Theaterwissenschaftlers David Roesner und des Szenografen Klaus Grünberg entnommen („Composed Scenography“, in dies.: Wiens 2021/2019, 73–101: 80.

27 Aischylos: Die Perser, deutsche Fassung von Durs Grünbein (2001), 17.

28 Kaum überraschend ähnelt diese Diskussion der um das Theater Einar Schleefs (Wiens 2002); vgl. exemplarisch die 2018 „offenen Briefe“ von Michael Wächter und Fabian Hinrichs, 21./23.05.2018, publiziert auf nachtkritik.de.

29 „Die Bühne ist ein völlig selbständiger Organismus mit den Gesetzen der Technik unserer Zeit. Und das, was uns die Verlebendigung der Bühnentechnik schenkt, ist die überindividuelle dynamische Raumgestaltung ...“, Friedrich Kiesler (um 1923), zit. nach Bogner/ Zillner 2017, 37.

30 Barbara Ehnes studierte Freie Kunst mit Schwerpunkt Bühnenbild und Performance an der Hochschule für bildende Kunst Hamburg. Werkmonografie: vgl. Carp 2015 und (www. barbaraehnes.com, Zugriff am 10.06.2024). Diverse Auszeichnungen, 2012 erhielt sie, gemeinsam mit dem Videokünstler Chris Kondek, den Theaterpreis Der Faust. Seit 2011 lehrt sie als Bühnenbildprofessorin an der HfBK Dresden.

31 Vgl. Borgdorff 2009, Biggs/Karlsson 2011, Peters 2013, Badura et al. 2015, Henke et al.

2020 und, mit Fokus auf die darstellenden Künste, Cairo et al. (2016).

32 Zit. nach Silke Graf, Doris Arztmann und Katharina Serles, dies.: „Die schwarze Botin. Ein eklektisches Barbara Ehnes-Lexikon“, Eintrag: „Abhängigkeiten, die“, in: Carp 2015, 56–61.

Endnoten

299

33 Bachelard (1949) 1972, 2f.; zur Entwicklung des Begriffs in dessen Schriften seit den 1930er Jahren vgl. Rheinberger (2006) 2019. S. a. seinen Hinweis auf die Textsammlung Bachelard, Epistémologie, ed. Dominique Lecourt, Paris 2001.

34 A. Matzke: „Proben“, in: Badura et al. 2015, 189–192, hier 191f.

35 Ders. 2005, 112; zu Modi des Performativen in Wissenschaft und Kunst: Brandstetter 2013. Zu ihrer Vergleichbarkeit im Einlassen auf das „Unvorwegnehmbare“, aber auch zu Unterschieden, vgl. Rheinberger 2016.

36 Ebd., 26; s. a. von Arx: „Staging the unknown. Scenography and its future potentials“, in: Wiens 2021, 213–225.

37 Vgl. Klarenbek/Dros Designers, (https://dotunusual.com, Zugriff am 10.06.2024), und Technische Hochschule München (TUM), Professur für Pilzbiotechnologie in der Holzwissenschaft, wissenschaftliche Mitarbeit Dr. Tanja Karl, (https://www.lse.ls.tum.de/fungbio/ startseite/, Zugriff am 10.06.2024).

38 Vgl. den Eintrag zu Georg Friedrich Händel: Alcina (1735), in: Fath 2002, 44–47, hier 46.

39 Mit Vermittlung durch Frieder Burda, Baden-Baden; es handelt sich um partizipative Projekte, in denen, mit der ‚weiblichen‘ Technik des Häkelns, biomorphe Formen – aus Garn und Wolle gehäkelte Korallenriffs – als hyperbolische, an Umweltzerstörung und Korallensterben gemahnende Kunstwerke entstehen, (www.museum-frieder-burda.de/pdf/ProjektSatelliteReef.pdf, Zugriff am 10.06.2024).

40 Henk Borgdorff: „Die Debatte über Forschung in der Kunst“, in: Baecker et al. 2009, 23–51, hier 33.

41 Ders.: „We built this City on Rock’n‘Roll. Über die Raumbühne HETEROTOPIA“, in: ders./ Lutz 2018, 75–80.

42 Zur „Hypermedialität“ der Oper s. a. Hartung 2019, 71–77; Szenografie-Fragen werden dort nicht behandelt.

43 Ders. 2018, 77. S. a. auch das Online-Archiv des Künstlers, der überdies regelmäßig Beiträge in Fachzeitschriften und zuweilen in wissenschaftlichen Sammelbänden publiziert (www.sebastianhannak.com).

44 Pavis beschrieb diese Übertragungen v. a. als semiologische Prozesse („Der Raum wird stilisiert, abstrahiert, zerlegt, mnemotechnisch mit dem Text und seiner Szenenabfolge verbunden (…) (als Raumpartitur, sous-partition)“, ders.: „Mise en scène/Mise en espace“, in: Pavis 2019, 332f.

45 Hugo von Hofmannsthal: „Angaben für die Gestaltung des Dekorativen in ­Ariadne“ (1916), zit. nach Fath 2002, 592.

46 Im Sinne von Ulrike Haß; dies. 2005, 17.

47 Vgl. das Kapitel „Scenographic architecture“, in: Hann 2019, 118–125.

48 Vgl. Benjamin Foerster-Baldenius: „The Art of parCITYpation. Scenographic Intervention as Social Design“ (2019), in: Wiens 2021, 153–166.

49 Zit. nach Foucault (1967/84) 2005, 935. Siehe dazu auch die Ausführungen in Kapitel I.2.

50 Zum Begriff ‚Kulturtechnik‘ und zu Kulturtechniken in der Szenografie vgl. Kap. III.2.

51 Vgl. Lotker/Gough (2013, 3), zit. nach McKinney/Palmer 2017 (Vorwort).

52 Vgl. Siegmund 2020, 213. Zur Interdependenz von Szeno- und Choreografie vgl. Brandstetter/Wiens 2010.

53 William Forsythe: „Statement“, in: Ballett International/Tanz Aktuell 8/9 (1997): Tanz&Technologie, 8.

54 Wie die meisten freischaffenden Szenograf:innen dokumentiert er seine Arbeiten online (vgl. www.philipbussmann.com). 55 Zu jenen Verschiebungen im Dispositiv, die im komplexen Zusammenspiel bzw. Widerstreit verschiedener Faktoren wie künstlerischer Erfolg (i. S. von Auslastung, öffentlicher Aufmerksamkeit, Theaterkritik, Publikumsreaktion), kulturpolitische Entscheidungen, Strategien der (Selbst-)Legitimierung, u. a. erfolgen s. a. Siegmund 2020, 24f.

56 Zit. nach Markus Wölfelschneider: „Warum New York, wenn’s auch in Frankfurt läuft? Der Bühnenbildner und Videokünstler Philip Bußmann“, in: Schirn Magazin, 17.06.2019 (www. schirn.de/magazin/, Zugriff am 10.06.2024).

57 Videokameras im Kontext intermedialen Theaters als ‚Quasi-Objekte‘ zu verstehen (im Anschluss an Michel Serres‘ La Légende des Anges, 1993, dt. 1995), ist ein Vorschlag des Theaterwissenschaftlers Ulf Otto (Vortrag „Intermedialität“, LMU München, 01.02.2020).

300

Endnoten

Nach Latour, der Serres‘ Terminus aufgriff, wäre gleichwohl zu fragen, wie diese in einem Gefüge ihrerseits je bestimmt und transformiert wird („If choosing words for the networktracing activity has to be done, quasi-objects (Serres) or tokens might be the best candidates so far. It is crucial for the definition of the term that what circulates and what makes the circulation be both co-determined and transformed“, ders. 1996, 379).

58 Vgl. Phaedra Bell: „Dialogic Media Production and Intermedia Exchange“, in: Journal of Dramatic Theory and Criticsm, 14 (2) 2000, 41–55, und Dixon 2019.

59 Scorzin 2009, 313; eine solche Szenografie bleibt zum Teil gewissermaßen ‚unsichtbar‘, weil sich ihre operativen Ebenen (Konzept, Notation, Programm) den Blicken des Publikums entziehen, vgl. Kirsten Maar: „On the Aesthetic Potentials and Epistemic Functions of Scenographic Scores“ (2019), in: Wiens 2021, 105–118.

60 Zum Vorschlag, diesen Begriff aus Wirtschaftswissenschaft und Makroökonomie zur Beschreibung der krisenhaften Zäsur der Coronapandemie im Theaterfeld und ihrer Folgen anzuwenden vgl. Balme/Fisher 2021, xii 61 Zu ihrem Potenzial als Transformationstreiber vgl. Theatre Design and Scenography Symposium: Staging the Future, International Online Conference, Wimbleton College of Arts, London, 30.03.2021, (www.youtube.com/@artslondonwimbledon, Zugriff am 10.06.2024).

62 Vgl. Fischer-Lichte (2005) 2014 sowie Siegmund zum Theater als ‚sozialer Situation‘, ders. 2020, 94–100.

63 Dazu zählen v. a. Theater- oder theaterverwandte Formate, die über reine Online-Angebote (Streaming) hinausgingen, vgl. Wiens 2021. Zum sogenannten ‚Coronatheater‘ siehe Wihstutz, Vecchiato, Keuser 2022. Ermöglichender Faktor hierzulande waren Förderprogramme, v. a. Neustart Kultur (2020/21), (www.kunstfonds.de/neustart-kultur/aufgaben, Zugriff am 10.06.2024).

64 Vgl. Heinz Schütz (Hg.): StadtKunst (2001) und, exemplarisch mit Blick auf München, meinen Beitrag: „Simulation – Performance – Dekonstruktion. Beispiele einer Münchner Kunst der 1990er Jahre“, ebd. 251–270.

65 Vgl. „Szenografie als Kartographie: Rimini Protokoll“, in: Wiens 2014, 271–335. Zu der von dem Soziologen Lucius Burckhardt entwickelten ästhetischen Methode der „Promenadologie“ vgl. ders. 2011, 257–300.

66 Stefan Kaegi (in einem Interview von Daniel Völzke, 2010), zit. nach Wiens 2014, 280. 67 S. a. die Projektbeschreibung (www.rimini-protokoll.de/website/en/project/the-walks, Zu­ griff am 10.06.2024).

68 Im Abschnitt „Wegstrecken und Karten“, de Certeau (1980) 1988, 220–226, hier 224.

69 Vgl. Wiens: „Verfahren künstlerischer Kartographie im Theater von Rimini Protokoll“, in: Elia-Bohrer 2013, 107–123.

70 Bei Remote X-Stationen z. B. in China, Iran, Türkei kam es zu Begrenzungen (bez. der Genehmigung von Bespielungen des öffentlichen Raums) und Eingriffen (Textzensur), den Umgang damit beschreibt Karrenbauer als „Gratwanderung“, vgl. ders. 2022 (www.swr. de/swrkultur/buehne/joerg-karrenbauer-ich-bin-gegen-den-boykott-von-gastspielen-inpolitisch-schwierigem-kontext-100.html, Zugriff am 10.06.2024, 45 min., hier 10–15 min.).

71 Zu deren Spektrum vgl. den Abschnitt „Vom Guckkasten zur Theatersituation? Szenografie postdramatisch und ‚expanded‘; Environmental Scenography; Szenografie als forschende Praxis“ im vorliegenden Band.

Kapitel 3 1 Vgl. „Spatial Turn“, in: Bachmann-Medick (2006) 2018, 284–328.

2 Vgl. das (kollektiv verfasste) „Manifest für neue Szenografie“ (2021), Fig. 83. Oliver Proske ist Bühnenbildner und Geschäftsführer des interdisziplinären, freien Ensembles Nico and the Navigators und Mitglied des Szenografie-Bunds.

3 Vgl. Wiens 20231 und das Gespräch mit Andy Besuch im vorliegenden Band. 4 An staatlich geförderten Theatern regelt der Werk- bzw. Mustervertrag Bühnen-/Kostümbild Schritte und Absprachen (v. a. mit der Regie): Modellbesprechung, Bauprobe, konzeptionelle Abnahme/Konzeptionsprobe, Abgabe der Entwürfe, Beleuchtungsproben/ technische Einrichtung/Endproben; abzugeben sind „aufführungsreife Entwürfe mit den (…) notwendigen Details (…)“; zudem Verpflichtung zur Begleitung der Umsetzung in den Werkstätten, zur Anwesenheit bei bestimmten Proben und bei der Premiere. Beansprucht wird, unter Beachtung des Urheberrechts der Szenograf:innen, das Nutzungsrecht (§ 1, 2

Endnoten

301

und 9). Passus § 10 Nr. 1 des alten Musterwerkvertrags („Die Bühnenbild- und/oder Kostümentwürfe gehen in das Eigentum der Bühne über“) wurde vor Kurzem gestrichen (vgl.

Bolwin/Sponer 2023, o. S.).

5 So der (v. a. auf Berlin bezogene) Befund der Projektinitiative „Was bleibt? Von der Schwierigkeit Theater zu archivieren“ (ITI Germany / Runder Tisch der Berliner Theaterarchive 2018), theaterarchive.de.

6 Performing the Archive: Archiv der Freien Darstellenden Künste (seit 2013/2018), (www. theaterarchiv.org/home).

7 Vgl. die monografischen Publikationen von Maack/Minks 2011 oder Schütz 2016, sowie Hurtzig/Neumann 2001/ 2015, Nioduschewski/Brack 2010, Carp/Ehnes 2015, MüllerTischler/Kurz 2017, Audick 2018, Neuffer, Wetzel/Simon 2021, Gerstenberg/Zehetgruber 2023 und weitere.

8 Vgl. exemplarisch die Websites von barbaraehnes.com, sebastianhannak.com oder andy-besuch.com.

9 Schweizerisches Architekturmuseum (Hg.): Anna Viebrock. Im Raum und aus der Zeit.

(Ausst.Katalog) Basel 2011.

10 S. a. Tanja Gnosas Kapitel „Dimensionen des Wissens“, in: dies. 2018, 43–69, bes. 61ff.

11 Zur Definition seines Archivbegriffs in seiner Archäologie siehe Foucault 1969/2022, bes.

186f. und 200.

12 Ders. (1968), zit. nach Günzel 2009, 155 (Hervorh. BW).

13 Primavesi 2020, 99, Hervorh. BW; zum Begriff „kulturelles Gedächtnis“ vgl. Assmann (1999) 2018.

14 Vgl. ders.: The Empty Space (1968), deutsch von W. Hasenclever, (1983) Berlin 2015.

15 Balme 2009, 185; für eine knappe Darstellung der Geschichte des Fachs Theaterwissenschaft in Deutschland vgl. ders. 2021, 17–23.

16 Vgl. Stefan Corssen: „Die Institutsgründung“, in: ders. 1998, 85–92. 1933 entzog man dem angesehenen jüdischen Wissenschaftler den Lehrstuhl; 1942 deportiert, kam er im KZ Theresienstadt zu Tode. Zu Rezeption und Bedeutung in der weiteren Fachentwicklung vgl. Münz 1974, Corssen 1998 und Dörschel/Warstat 2018.

17 Vgl. Max Herrmann: Forschungen zur deutschen Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissance, Berlin 1914, und seinen später besonders stark rezipierten Aufsatz „Das theatralische Raumerlebnis“ (1931), Wiederabdruck in: Dünne/Günzel (2006) 2021, 501– 513. Zum Curriculum vgl. Corssen, a. a. O. 18 Vgl. den Abschnitt „Szenographie“, in: Corssen 1998, 129–140.

19 Vgl. Corssens Kapitel „Theaterhistorische Sammlungen/Theaterhistorische Gesellschaften“, in ders. 1998, 60–64, und Harald Buhlan: Theatersammlung und Öffentlichkeit.

Frankfurt M. 1983.

20 „(D)as Ziel aller Untersuchungen (ist) im Wesentlichen die Herstellung verloren gegangener Leistungen, bis sie in der Anschaulichkeit eines unmittelbaren Abbildes vor uns stehen“, so Herrmann (1914, 7); das Postulat ‚lückenloser‘ Rekonstruktion war gleichwohl schon damals umstritten.

21 Vgl. „Erkenntniskritische Bemerkungen zum Quellenwert“, in: D. Steinbeck: Richard Wagners Tannhäuser-Szenarium (1968, 24f., vgl. Corssen 1998, 105); ders.: Probleme der Dokumentation von Theaterkunstwerken (1981).

22 Gemäß Selbstangabe; für ein Verzeichnis sammelnder Institutionen weltweit vgl. die Website von SIBMAS (International Network of Performing Arts Heritage, 1954 gegründet, Sitz: Paris), www.sibmas.org/ 23 Carl Niessen: „Aufgaben der Theaterwissenschaft“ (1926), zit. nach: ders./Seehaus 1971, 1–7, hier 7.

24 Vgl. Peter W. Marx: „Vom Verfertigen der Gedanken beim Sammeln“, in: ders. 2020, 8–41.

25 Carl Niessen: Handbuch der Theater-Wissenschaft, Bd. 1, Emsdetten 1949, xvi.

26 Ders. (1926) 1971, 2 und 7; zur Zielsetzung dieser Praxis („übernationale Gesamtanschauung“) vgl. ebd., 2.

27 Siehe Marx 2020, 9, und E. Annuß: „Wollt ihr die totale Theaterwissenschaft?“, in: Cairo et al. 2016, 635–647.

28 Niessen 1926, wie Anm. 23, 6.

29 Vgl. Ellrich 2009 sowie Balmes These von zwei um 1930 sich trennenden Theoriesträngen: der Definition des Theaters und seiner Elemente als Kunstwerk (in ‚eurozentrierter‘

302

Endnoten

Betrachtung) vs. der „unterbrochenen (heute im Fach z. T. wieder aufgenommenen) Traditionslinie“ kulturanthropologischer Betrachtung (ders. 2009, 185).

30 Niessen (1926) 1971, 2, und ders. 1949, 331 (zit. nach Marx 2020, 11).

31 Dass er sich andiente (als Vordenker des „Thingspiels“) und, Quellen zufolge, seine Beziehungen zum NS-Apparat indes „von schwankender, (…) auch spannungsreicher Natur“ (Marx 2020, 10f.) waren, wurde viel diskutiert; laut Probst ergibt sich „ein ambivalentes Bild von Niessen als einem völkischen, mitunter auch öffentlich antisemitisch auftretenden, bildungsbürgerlichen Wissenschaftler“, der seine „universell angelegte, ethnologisch und praxisbezogene Theaterforschung“ durch alle politischen Systeme hindurch oft opportunistisch verfolgte (dies. 2022, 5 und 222–260). Überdies agierte er als ‚armchair ethnographer‘ – im Unterschied freilich zur neueren Kulturanthropologie, mit ihren Feldforschungen und (selbst-)kritischen Reflexionen eurozentrischer Sichtweisen; Niessens Erbe bleibt problematisch.

32 Benjamin Buchloh: „Warburgs Vorbild?“, in: Ebeling/Günzel 2009, 233–252, hier 234.

33 Ein Exemplar des Bühnenbild-Atlas (1924-1927) befindet sich in der Theaterwissenschaftlichen Sammlung / Universität zu Köln; zum Bestand der Sammlung vgl. https:// tws.phil-fak.uni-koeln.de/sammlung.

34 Broschüre zum Bühnenbild-Atlas, zit. nach Probst 2022, 180.

35 Warburg verwendete Tafel 26: „Intermedien Florenz 1589“, vgl. Probst 2022, 183–186; Ohrt/Heil 2021, 50f.

36 Vgl. den Überblick bei Bachmann-Medick: „Iconic Turn“, in: dies. 2018, 329–380.

37 „Die Entwicklung des Bühnenbildes“ (1927/28), zit. nach Probst 2022, 182. Zur Raumfrage s. a. Annuß 2016.

38 Vgl. „Das Archiv des Erfinders der Drehbühne“ (1938), in: ders./Seehaus 1971, 99–102.

39 Zu dieser Einschränkung s. a. Balme (2009, 183); mit Blick auf den „Atlas“: Marx (2020), Probst (2022, 179ff.).

40 Vgl. auch den Versuch H.-C. von Herrmanns, Ansätze einer u. a. von Friedrich Kittlers Terminus „Aufschreibesysteme“ ausgehenden, wissens- und medienarchäologischen Theaterforschung vorzulegen (2005).

41 Zu – im Rahmen der 1. Konferenz der Gesellschaft für Theaterwissenschaft e.V., 1992, formulierten – Weichenstellungen vgl. Fischer-Lichte 1994, dies.: „Aufführung“, in: dies./ Kolesch/Warstat 2005/2014, 15–26.

42 Vgl. Doris Kolesch: „Bild“, in: dies./Fischer-Lichte/Warstat 2005/2014, 44–48, und Jackob 2020.

43 Niessen, „Das Daseinsrecht des jungen Fachs“ (1956), in: ders./Seehaus 1971, 12–19, hier 18.

44 Vgl. z. B. Gerald Köhlers Ausführungen: „Pop Up! ‚Das Schlafende muss erwachen!‘“, in: Marx 2020, 68–87.

45 Zum Umgang mit Quellenmaterial, allerdings ohne bildanalytische und objektkritische Perspektiven s. a. Fischer-Lichte 2010, 117f.

46 Vgl. Reichle/Siegel/Spelten 2008; Marx 2020; Wiens/Kraatz 2020.

47 Für diese in Gesprächen gemeinsam verfolgten Überlegungen danke ich Peter W. Marx.

48 Opéra Monde (Die Oper als Welt. Die Suche nach einem Gesamtkunstwerk: Oper und die bildenden Künste im 20. und 21. Jahrhundert, 2019/20), vgl. www.centrepompidou-metz. fr/, Zugriff am 26.10.2024, und den Katalog, Ed. Centre Pompidou-Metz/Roussel 2019.

49 Aby Warburg: „Grundlegende Bruchstücke zu einer monistischen Kunstpsychologie“, Nachlass, Warburg Institute, London, zit. nach Bredekamp 2015, 31; für Überlegungen zum ‚Eigenleben‘ von Bildern, der energeia von Pathosformel und dem erweiterten Bildbegriff Warburgs vgl. ders., bes. 30–32 und 297f.

50 Horst Bredekamp definierte den ‚Bildakt‘, reziprok zur Sprechakttheorie J. L. Austins, als Frage danach, „welche Kraft das Bild dazu befähigt, bei Betrachtung oder Berührung aus der Latenz in die Außenwirkung des Fühlens, Denkens und Handelns zu springen“, im Sinne einer „Wirkung auf das Empfinden, Denken und Handeln (…), die aus der Kraft des Bildes und der Wechselwirkung mit dem betrachtenden, berührenden und auch hörenden Gegenüber entsteht“. Dabei unterschied er drei Modi des Bildakts (schematisch/substitutiv/intrinsisch) (ders. 2015, 60); das Modell, als Bild/Blickobjekt mit seiner zwiespältigen Doppelgeste der Reduktion/Abstraktion und Veranschaulichung/Suggestion, sei ein Paradebeispiel des ‚intrinsischen Bildakts‘ (ebd., 288). Für

Endnoten

303

eine bildwissenschaftliche Theater- und Szenografie-Forschung bieten sich hier mögliche Anschlüsse.

51 Auf diese Tendenzen in der bildenden Kunst sei nur hingewiesen; unter den zahlreichen dazu vorgelegten Beiträgen vgl. Rebentisch (2013) 2021 und von Hantelmanns Band How to Do Things with Art (2007).

52 Vladimir Jindra, Resümee zur PQ 1971, zit. nach PQ/Arts and Theatre Institute Prague 2017, 16.

53 Sodja Lotker, Curatorial Statement zur PQ 2011, zit. nach ebd. (wie Anm. 52), 16.

54 Aus Anlass ihres 50. Jubiläums wurden die PQ-Kataloge 1967-2003 sowie weitere Textund Bilddokumente (rund 10.000 Fotos, Film- und sonstiges Bildmaterial) digitalisiert und, zusammen mit den Dokumentationen aus 2007-2015, im PQ Online-Archiv zugänglich gemacht (http://services.pq.cz/en/archive.html, Zugriff am 26.10.2024). Seither werden die Editionen (2019, 2023 und zukünftige) in Katalogen (print/e-book) und auf der Website ausführlich dokumentiert (vgl. https://pq.cz/).

55 Man war „als Panelist:innen, Workshopleiter:innen, als Besucher und mit einem Studierendenbeitrag der HfBK Dresden“ vertreten, aber „(e)inen deutschen Länderbeitrag gab es zum ersten Mal in der Historie der PQ nicht“, Newsletter Szenografie-Bund (06/2023).

Zur (vorläufigen) Absage 2019 vgl. die Meldung auf Nachtkritik.de, www.nachtkritik.de/ meldungen/prager-quadriennale-ohne-deutschen-beitrag. 2023 fiel die Teilnahme postCovid mit 51 Länderbeiträgen insgesamt gering aus. Auch wurden erstmals Länder ausgeschlossen (Russland und Belarus). Vgl. PQ-Rückblick 2023 (https://pq.cz/wp-content/ uploads/2024/08/PQ23_Zaverecna-zprava.pdf, Zugriff am 26.10.2024).

56 Der von mir hg. Band Contemporary Scenography: Practices and Aesthetics in German Theatre, Arts and Design (2019/2021) wurde in die Short List für den PQ 2023 „Best Publication Award“ (Sonderkategorie) aufgenommen.

57 Vgl. „Cyrus: Spectators of a Ghost City“, Projektbeschreibung (https://pq.cz/prague-quadrennial-2023, Zugriff am 26.10.2024).

58 Traditionell gelten Modellbau und technische Zeichnung als Aufgaben der Bühnenbildassistenz (Minks/Maack 2011, 67), als künstlerischer Vorgang gewinnt das Arbeiten mit Modellen im Theater aktuell veränderte Bedeutungen.

59 Vgl. dazu T. Dreissigacker: „Modellieren“, in: Badura et al. 2015, 181–184, hier 183.

60 Diese Fragen wären auch Gegenstand theaterwissenschaftlicher Probenforschung (vgl.

Matzke 2012, Roselt 2020), die die Szenografie, soweit ich sehe, bislang nur marginal und nicht systematisch berücksichtigt.

61 Zu Geschichte und Taxonomie von Architektur- bzw. Bühnenbildmodellen vgl. Brejzek/ Wallen 2018, 24ff.

62 Vgl. Hesse/Marx 2012, Marx 2020 sowie Ulrike Dembski: „Imaginieren – Interpretieren – Inszenieren: das Bühnenbildmodell“, in: dies. 2015, 17–61.

63 Laut Auskunft Barbara Ehnes‘ im Zoom-Gespräch mit der Autorin (20.11.2023, Transkription, unveröffentlicht).

64 Zit. nach Gespräch der Autorin mit Katrin Brack (Berlin, 24.04.2024, Transkription, unveröffentlicht).

65 Zit. nach Zoom-Gespräch mit Ulrich Rasche, 25.06.2024, Transkription, unveröffentlicht.

66 Laut Claudia Blank entwarf schon Alfred Roller seine Bühne für Max Reinhardts Faust I (Deutsches Theater Berlin, 1909) in einer Art ‚Storyboard‘, das eher als Arbeitsmittel aus dem Film bekannt ist, dies., „Die Metapher der Drehbühne und andere Raumkonzepte“, in: dies./DTM München 2018, 83–134, bes. 103.

67 Vgl. das Pilotprojekt „Digitale Bauprobe“ mit Workshop- und Vermittlungsprogramm der Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft (DTHG), (https://digital.dthg.de/bauprobe/, Zugriff am 26.10.2024).

68 „From the model to the stage“ – A conversation between Aleksandar Denić and Birgit Wiens, in: Wiens 2019/2021, 33–45, 41 (Übersetzung ins Deutsche: BW).

69 Vgl. das BMBF-Projekt „(Re-)Collecting Theatre History“ (Universität zu Köln/FU Berlin 2017-2020) und mit Szenografie-Fokus: „Im/material Theatre Spaces – Augmented and Virtual Reality for Theatre“ (Teilprojekt Großes Schauspielhaus Berlin/VR-Rekonstruktion der Architektur Hans Poelzigs), digital.DTHG, 2019-2022, gefördert durch die Beauftragte für Kultur und Medien; für weitere Beispiele international vgl. Brejzek/Wallen 2021.

304

Endnoten

70 Vgl. Angela Lammert: „Von der Bildlichkeit der Notation“, in: von Amelunxen/Appelt/­ Weibel 2008, 39–54.

71 Zu Michel Serres‘ Begriff vgl. Kap. I, Anmerkung 1.

72 Diese Formulierung borge ich bei Siegmund/Aggermann 2020, 138.

73 Vgl. exemplarisch die Ansätze von Luise Ehrenwerth oder Yvonne Dicketmüller, Labore für Digitale Szenografie (2022), (http://labore-fuer-digitale-szenografie.de/mediathek/, Zugriff am 26.10.2024).

74 Burde bezieht sich teils auf die Studie des Max-Herrmann-Schülers Winfried Klara: Schauspielkostüm und Schauspielerdarstellung. Entwicklungsfragen des deutschen ­Theaters im 18. Jahrhundert. Berlin 1931; zu Maske/Kostüm als Forschungsgegenstand in den Anfängen der Theaterwissenschaft vgl. Corssen 1998, 134–140.

75 Zit. nach: Die deutsche Bühne 2, 2003, 42. Aktuell lautet der Passus im NV Bühne unter §25 „Bekleidung“ wie folgt: „Der Arbeitgeber hat dem Mitglied die zur Aufführung eines Bühnenwerks erforderlichen Kleidungsstücke, Ausrüstungs- und Schmuckstücke sowie Perücke und Ballettschuhe zur Verfügung zu stellen. Ausgenommen (…) sind Proben- und Trainingskleidung, ferner (für Männer und Frauen) ein Straßenanzug, ein Straßenkleid, das zu Anzug und Kleid jeweils gehörende Schuhwerk sowie Kopf- und Handbekleidung.“ (Deutscher Bühnenverein, Stand 01.09.2023).

76 Zu Ansätzen in der (anglophonen) Szenografie-Forschung vgl. M. L. Carringer: „­Costume“, in: Aronson 20181, 42–47, Hann 2019, 46–49, und Donatella Barbieris Band Costume in Performance (2019).

77 S. a. „Kostümbildnerinnen und Kostümbildner im Gespräch“ (mit Beiträgen von Moidele Bickel, Barbara Braun, Johannes Schütz, Anna Viebrock, Victoria Behr, u. a.), in: von Gerkan/Gronemeyer 2016, 190–311.

78 Eine deutschlandweite Erhebung von Szenografie-Bund / Universität Potsdam, Lehrstuhl „Methoden der empirischen Sozialforschung“ (2016) ergab, dass 72 Prozent der befragten Bühnen- und Kostümbildner:innen am Theater (von denen 89 Prozent soloselbständig tätig waren) einen akademischen Abschluss haben (www.szenografen-bund.de/archiv/ politik, Zugriff am 26.10.2024).

79 Der o. gen. Studie zufolge verdienten Kostümbildner:innen im Untersuchungszeitraum ca.

26 Prozent weniger als Bühnenbildner:innen. Für Erhebungen zum Gender Pay Gap vgl.

Kap. I, Anm. 49 und Adam/Sturm 2024.

80 Zu Pro-/Contra-Argumenten für das Sammeln und Archivieren von Theaterkostümen sowie zu möglichen Kriterien vgl. Dembski: „Die Aura des Originals“, in: dies. 2010, 15–43, hier 19.

81 Vgl. die Website des Künstlers (*1983), auf der seine Arbeiten für Theater, Film- und Werbeproduktionen seit Ende der Nullerjahre dokumentiert sind (www.andy-besuch.com).

Schlusskapitel/Ausblick 1 Die von der Forschungseinrichtung LIRIS (Laboratoire International de Recherche sur les Images et la Scénographie, Sorbonne Nouvelle, Paris 3) seit 2023 etablierte Reihe, in der Online-Konferenzen mit Fokus bisher auf Europa, Nordafrika, dem Mittleren Osten und Südamerika durchgeführt wurden, will dazu anregen, Szenografie in Theaterkulturen komparatistisch und mit dezidiert pluriperspektivischem Ansatz zu untersuchen; seit Herbst 2024 stellt die Sorbonne ein Simultanübersetzungsprogramm (Google Translator) bereit, mit dem sich die auf Französisch oder Englisch durchgeführten Vorträge auf Deutsch, Italienisch, Arabisch, Chinesisch, Japanisch, Koreanisch, Maori, Russisch und Spanisch verfolgen lassen; (https://iret.fr/fr/espace-et-scenographie-liris/, Zugriff am 22.12.2024).

2 Die Beschreibungen des Vinge/Müller-Abends in Berlin 2017 (den ich leider selbst nicht erleben konnte) basieren zu großen Teilen auf Thomas Irmers Ausführungen in seinem Kapitel „Immersion experiences created through stage design: Vegard Vinge/Ida Müller“ (in: Wiens 2021, 98f.) sowie auf Christine Wahls Vortrag: „Bühnenräume als Gegenwelten. Das Theater von Vinge/Müller“, gehalten im Rahmen der Tagung: Szenografisches Wissen und das Archiv, Konzeption und Leitung: Birgit Wiens, Volksbühne Berlin, 25.01.2020.

3 Pressetext Mousonturm Frankfurt, 2020 (zit. nach: https://raumlabor.net/der-bau/, Zugriff am 22.12.2024).

Endnoten

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4 Deutscher Bühnenverein – Bundesverband der Theater und Orchester: Wer spielte was?

2019/20 Werkstatistik (Deutschland/Österreich/Schweiz). Köln 2022, Marc Grandmontaigne: „Vorwort“, ebd. 4.

5 Deutscher Bühnenverein (Hg.): Theaterstatistik. Die wichtigsten Wirtschaftsdaten der ­Theater, Orchester und Festspiele (D/A/CH) 2021/22, Köln 2024, darin Claudia Schmitz: „Vorwort“, ebd., 3; s. a. Theaterstatistik 2020/21 (2023), 5.

6 Darunter u. a. Norwegen, Schweden, Großbritannien, Frankreich, Italien, Spanien, Griechenland, Portugal, Tschechien und die Ukraine; aus dem deutschsprachigen Raum sind in dem Netzwerk aktuell 14 Theater vertreten: fünf aus Österreich (z. B. Volkstheater Wien), eines aus der Schweiz (Schauspielhaus Zürich), acht aus Deutschland (Deutsches Theater Berlin, Schauspielhaus Dresden, Theater Dortmund, u. a.), (www.europeantheatre.eu, Zugriff am 22.12.2024).

7 Zu Forschungsdesign (2022) und den Ergebnissen der i. A. der European Theatre Convention durchgeführten Studie, vgl. ETC/Hawthorne: Digital Theatre – Digital Strategies and Business Models in European Theatres (2023), (www.europeantheatre.eu/news/etcstudy-digital-theatre-digital-business-models, Zugriff am 22.12.2024).

8 Auch in der Theaterwissenschaft ist die Diskussion um „Liveness“ und v. a. um Philip Auslanders viel beachtetes Buch (1999/2008) und seine Vorträge („Digital Liveness“, Transmediale Berlin, 2011, u. a.) bereits ein ‚alter Hut‘; darüber, dass ‚Liveness‘ ein kontigentes Phänomen und insofern eine Kategorie der ästhetischen Erfahrung darstellt, besteht weitgehend Einigkeit (vgl. Wiens 2014, 107–109).

9 Das Symposium STAGING THE FUTURE (J. Collins/E. Hogan/S. Jump, Wimbledon ­College of Arts, London), 30.03.2021, mit Arnold Aronson, Thea Brejzek, Andrew Filmer, Paul Handley, u. a. ist online abrufbar, (www.youtube.com/playlist?list=PLiDPBStdjAJJWJL9McdmLywr83CbX7sDm, Zugriff am 22.12.2024).

10 (http://labore-fuer-digitale-szenografie.de/mediathek, Zugriff am 22.12.2024); zu künstlerischen Perspektiven und verwendeter Hard- und Software vgl. die (von mir mit den involvierten Szenograf:innen geführten) „Laborgespräche“ (2022), ebd.

11 Internen Umfragen zufolge; s. a. Juliane Grebin: „Looping Experiment und Wissen“ (2022), Labore (Mediathek).

12 Vgl. Andrea Riedel, Gastbeitrag, in: Labore für Digitale Szenografie (Mediathek), a. a. O. 13 Dem E-Waste-Monitor 2024 des UN / Sustainable Cycles Programms (SYCLE) zufolge fielen im Jahr 2022 weltweit rund 62 Millionen Tonnen Elektroschrott an; nur 22,3 Prozent davon wurden nachweislich recycelt, (https://ewastemonitor.info/the-global-e-wastemonitor-2024/, Zugriff am 22.12.2024).

14 Als Basis für die Abwägung lassen sich laut Vincent Kaufmann (digital.DTHG) kaum belastbare Zahlen ermitteln: „Bei virtuellen Bauproben entfallen Anreisen; doch es braucht Ressourcen, die die CO2-Bilanz verschlechtern (Energie, Serverkapazitäten, Hardware).

Die Idee von Bauproben ist, ein Bühnenbild (…) zu markieren; konventionell zumeist (…) mit Normmaterialien und vorhandenen Dekorationselementen (…), sie müssen daher nicht klimaschädlich sein; Anreisen können z. B. mit der Bahn erfolgen. Zeit- und Kostenaufwände virtueller Bauproben (Visualisierung, Animation) können im Vergleich sogar höher ausfallen. Positiv wirkt sich aus, wenn digitale Tools und Server mit erneuerbarer Energie betrieben werden. (Zudem gibt es) von Fall zu Fall Unterschiede (lokale/internationale Teams, Komplexität des szenografischen Entwurfs, Arbeitsweisen, etc.)“, ders., Gespräch mit der Autorin, 09/2022.

15 Ders.: „‚Ich arbeite medienkünstlerisch auf der Bühne‘. Chris Ziegler über die Herausforderung, Bühnen zwischen materiellen, theatralen und virtuellen Räumen zu gestalten“ (2022), Labore (Mediathek).

16 Vgl. 2030 Agenda for Sustainable Development, UN 2015; European Green Deal, 2019, im von den UN i. A. gegebenen Brundtland Report (1987, Leitung: Gro Harlem Brundtland) wurde „Nachhaltigkeit“ wie folgt definiert: „Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zur Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse zu beeinträchtigen“ (zit. nach: Lexikon der Nachhaltigkeit. hg. v. S ­ tiftung K. Beys, Aachen 2015, o. S. 17 Für eine Erhebung zu nachhaltiger Theaterpraxis im internationalen Vergleich (in Case Studies, u. a. National Theatre London, Sydney Theatre Company, Göteborg Opera,

306

Endnoten

­ merican Repertory Theater), Leitfäden sowie der Formierung eco-gouvernementaler A Rahmenwerke in der Kulturpolitik seit den 1970/80er Jahren vgl. Taxopoulou 2023.

18 Vgl. C. Lousley: „Ecocriticsm describes and confronts the socially uneven encounters and entanglements of earthly living (…) Ranging … across historical periods, cultural texts, and cultural formations, (it) focuses on the aesthetic modes, social meanings, contexts, genealogies, and counterpoints of cultural practice that contribute to ecological ruination and resilience. A core premise is that environmental crises have social, cultural, affective, imaginative and material dimensions“, dies. (2020), zit. nach Garrard 2023, 4.

19 Beer 2021, 17; dies.: Ecoscenography: Adventures in a New Paradigm for Performance Thinking (Website und Blog), „What is Ecoscenography?“ (o. J.), (https://ecoscenography. com, Zugriff am 22.12.2024).

20 Vgl. ‚One Big Green Thought‘. Repair, Regeneration and Rewildering as Artistic Practices in Damaged Environments, Promotionsprojekt von Rahel Kesselring, Szenografin, DFGCluster Matters of Activity, Humboldt-Universität zu Berlin 2019–2025.

21 Vgl. Amanda Baum/Rose Leahy, (www.baumleahy.com), sowie die Website zum CrochetCoral-Reef-Projekt von C. und M. Wertheim (https://crochetcoralreef.org), Zugriff am 22.12.2024; einige dieser Häkelkorallen wurden, auf Vermittlung des Museum Frieder Burda, Teil eines Bühnenbilds von Barbara Ehnes (Alcina, 2023, siehe Kap. II. 2.).

22 Vgl. Louise Ann Wilson: Sites of Transformation. Applied and Socially Engaged Scenography in Rural Landscapes (2023).

23 ‚Sympoiesis‘, nach Haraway, ist ein „Begriff für komplexe, dynamische, responsive Systeme“; „Nichts macht sich selbst, nichts ist wirklich autopoietisch (...). Sympoiesis umfasst Autopoiesis, erlaubt ihre Entfaltung und erweitert sie“, dies. 2018, 85.

24 Vgl. u. a. den (nicht theaterspezifischen) Leitfaden Über Lebenskunst (2012), (www.kulturstiftung-des-bundes.de, Zugriff am 22.12.2024).

25 Dieser Konferenzband mit inter- und transdisziplinären Perspektiven auf den Gegenstand entstand im Rahmen meines DFG-Projekts „Szenografie: Episteme und ästhetische Produktivität in den Künsten der Gegenwart“ (2015-2020), vgl. Wiens (2019/2021).

★

Endnoten

307

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Birgit Wiens, Dr. phil. habil., Theater- und Kunstwissenschaftlerin, z. Zt. Privatdozentin an der LMU München, Lehre an Universitäten und Kunsthochschulen im In- und Ausland (Norwegen, Schweiz), Tätigkeit als Kuratorin und Dramaturgin (u. a. für Labore für Digitale Szenografie, Szenografie-Bund 2022, realisiert mit Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien). 2015–2020 Leitung des interdisziplinären Forschungsprojekts „Szenografie: Episteme und ästhetische Produktivität in den Künsten der Gegenwart“ (im DFG Heisenberg-Programm). Zahlreiche Veröffentlichungen, Buchpublikation zuletzt (Ed.): Contemporary Scenography: Practices and Aesthetics in German Theatre, Arts and Design. London, New York (2019) 2021.

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Szenografie ist Teil jeder Theaterinszenierung und -aufführung: als Doing Scenography (Entwerfen von Bühne, Kostüm, Maske, Licht, Video) und als Scenography in Performance. Auch jenseits gebauter Bühnen tritt sie heute vielgestaltig auf: das Spektrum reicht von Environmental Scenography und urbaner Intervention über inszenierte Räume in Ausstellungen/Museen bis hin zu Szenografien medialer Räume. Inwiefern sie – dergestalt ‚extended‘ und mit ‚weltentwerfendem‘ Potenzial – je als Teildisziplin oder eigenständige Kunst aufzufassen ist, diskutieren die Scenography & Performance Design Studies. In der deutschsprachigen Theaterwissenschaft blieb Szenografie-Forschung bisher eher außen vor.

Das Buch schafft wichtige Anschlüsse: gefragt wird nach Epistemologien ästhetischer Praktiken, weitere Aspekte sind Digitalität, Eco-Design und die soziale Dimension szenografischen Gestaltens.