Surprise Strassenmagazin 271/12

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Musikbusiness Gratis hören, teuer sehen Weil Aufnahmen kaum noch Einnahmen bringen, verlangen Bands immer mehr Geld für Konzerte. Beim Branchentreff m4music diskutieren Veranstalter wie Daniel «Duex» Fontana die Folgen – bevor abends die angesagtesten Bands der Saison aufspielen.

Die Jagd nach Billigprodukten ist eigentlich nicht des Schweizers Ding. Zumindest nicht, wenn es darum geht, was auf den Tisch kommt. Der Konsument isst mit dem Bewusstsein: Qualität hat seinen Preis, heimische Kost sowieso. Beim Ohrenschmaus funktioniert das Denken jedoch andersrum. «Ich bin doch nicht blöd!», ruft der Konsument und zieht sich aus dem Internet gratis runter, was geht (ob es gefällt, kann man ja später entscheiden). Was in anderen Ländern verboten ist, darf man in der Schweiz ungesühnt. Wem Gewissensbisse den Genuss verderben, nutzt neuerdings sogenannte Streamingdienste wie Spotify, die im Internet Millionen von Songs zum Anhören anbieten. Der schwedische Stream-Discounter Spotify verspricht zwar, die Musiker mit Abgaben pro Stream zu entschädigen, doch bezahlt Ikea Chinas SweatShop-Arbeitern bestimmt bessere Löhne. Die Künstler bekommen pro Song-Stream den Bruchteil eines Rappens. Was genau, veröffentlicht Spotify nicht und ist Verhandlungssache der Labels. Die Kleinen bekommen dabei schlechtere Konditionen geboten. Doch selbst Lady Gaga vom Label-Giganten Universal bekam für eine Million Streams von «Poker Face» gemäss Presse nur 167 Dollar ausbezahlt. Schlecht gepokert oder ziemlich gaga, das System. Wäre Spotify ein Feigenblatt, den Scham-String hätte nicht mal Erotikmodel Micaela Schäfer im Dschungelcamp getragen. Die Panel-Diskussion über Schande und Chancen von Musikstreamdiensten ist nur eine von vielen während des m4music Festivals. Bei «Clubsterben oder alles Schall und Rauch?» geht es um Dezibellimit, Zigarettenbann und andere Gesetzvorlagen, die der Schweizer Clublandschaft drohen, den Garaus zu machen. «Festivals unter Druck» handelt davon, dass nicht nur die Dichte der Schweizer Festivals zunimmt, sondern auch die Gagenforderungen der Bands exorbitant steigen. Irgendwo müssen sie die fehlenden Tonträgereinnahmen ja kompensieren. «Angesagte Dubstep-Acts verlangen locker 50 000 Franken, obwohl sie hierzulande nur eine Randgruppe von 300 Freaks anziehen», beschreibt Daniel «Duex» Fontana die Situation. Der Organisator der legendären Bad Bonn Kilbi überrascht immer wieder mit einem exklusivem Line-up für das mit 2000 Besuchern doch recht intime Festival. So spielten 2009 Sonic Youth und letztes Jahr die Queens Of The Stone Age in der Freiburger Provinz. «Das waren Glücksfälle», meint Fontana dazu. Die Bands haben zugesagt, da sie die Kilbi bereits bespielten, als sie noch nicht Szene-Götter waren. «Doch wenn ein Festival für das Wochenende darauf die fünffache Gage bietet, ist der Sympathie-Bonus weg», so Fontana. Schwarze Wolken über dem Festivalhimmel prognostiziert auch Michael Eavis, Gründer des legendären Glastonbury Festivals. Seit 42 Jahren im Business ist Eavis neben «Ringtone Vater» Ralph Simon oder MoSURPRISE 271/12

BILD: ZVG

VON OLIVIER JOLIAT

Ein Herz für Livemusik: Jesse Hughes von Boots Electric.

tor-Music-Geschäftsführer Tim Renner eine weitere Szenekoryphäe, die am m4music aus dem Nähkästchen plaudern werden. Das «Conference»-Programm über Zustand und Zukunft des Musikbusiness ist, obwohl qualitativ hochwertig, gratis. Wer den Kopf abends mit Live-Musik lüften will, muss aber, wie nachmittags gelernt, zahlen. ■

Schweiz das neue Schweden? Die hohe Dichte an Schweizer Bands am 15. m4music erklärt sich nicht nur mit dem Kulturauftrag des Festivals. Bands wie die Pop-Künstler The Bianca Story oder das säuselnde Frauenduo Boy werden im Ausland als die Überraschung der Saison gefeiert. Die internationale Fachpresse kürte die Schweiz schon zum neuen Schweden, das nach den USA und England drittgrösste Musikexportnation ist. Bei den internationalen Künstlern ragen zwei Charakterköpfe raus, die beide schon mit Wüstenrocker Josh Homme musizierten, doch so unterschiedlich sind wie Heroin und Amphetamine. Da wäre Mark Lanegan, die abgrundtiefe Stimme der Düsternis und Verdammnis. Nach Kollaborationen mit den Queens Of The Stone Age, Isobel Campbell oder Soulsavers ist er endlich wieder mit eigener Band und dem neuem Album «Blues Funeral» unterwegs. Als Gegensatz dazu hüpft Jesse Hughes (Bild) erstmals mit seinem Soloprojekt Boots Electric auf einer Schweizer Bühne. Mal sehen, ob der Obermacker der Pornorocker Eagles of Death Metal auch als Sequenzer-Popper überzeugt. Spass macht das bestimmt.

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