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Die Jungen verlassen das Land. Nur wenige sehen noch Perspektiven.

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Strassenmagazin Nr. 572 5. bis 18. April 2024 Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass davon gehen CHF 4.–an die Verkäufer*innen CHF 8.–
Raus
Marokko

Der Verkauf des Strassenmagazins Surprise ist eine sehr niederschwellige Möglichkeit, einer Arbeit nachzugehen und den sozialen Anschluss wiederzufinden.

Ein Strassenmagazin kostet Franken. Die Hälfte davon geht an den*die Verkäufer*in, die andere Hälfte an den Verein Surprise.

Das Heft erscheint alle 2 Wochen. Ältere Ausgaben werden nicht verkauft .

Alle

Verkäufer*innen tragen gut sichtbar einen Verkaufspass mit einer persönlichen Verkaufsnummer. Diese ist identisch mit der Nummer auf dem Magazin.

info@surprise.ngo

Bleiben oder gehen

Sie lesen im Surprise immer wieder Fluchtgeschichten. Sie sind uns wichtig, nicht zuletzt, weil viele unserer Verkäufer*innen von solchen Erfahrungen geprägt sind und weil viele Geflüchtete auch an ihrem Zielort in prekären Verhältnissen landen.

Diesmal soll es aber zunächst um diejenigen gehen, die bleiben: in Marokko, einem Land, das im Schnitt jährlich 20 000 Menschen verlassen. Es geht um ihre Gründe, die sie zum Bleiben bewegen, und darum, was sie sich im Gegensatz zu vielen anderen an Hoffnungen und Wünschen aufrechterhalten können. Nach der Lektüre dieser Porträts kann man vielleicht die Situation des 23-jährigen Idir umso besser nachvollziehen, der sich stattdessen für die Flucht entschied. Es geht um Fragen der Lebensperspektive. Ab Seite 8.

«Es ist anmassend, über Dinge zu urteilen, über die man eigentlich zu wenig weiss», hat mir der Schweizer Filmregisseur Peter Luisi im kurzen Gespräch über Stereotype und Vorurteile in

4Aufgelesen

5Na? Gut! Meilenstein der Aufarbeitung

5Fokus Surprise Fokus aufs Positive

6Verkäufer*innenkolumne 10%

7Die Sozialzahl Neue alte Schichtarbeit

8Marokko Wer bleibt noch hier

13 Wer die Flucht wählt

14 Wenig Perspektiven

16Stereotype Sucht authentisch darstellen

Zusammenhang mit Suchterkrankungen gesagt. Die norwegische Strassenzeitung =Oslo erzählt, wie ein ehemals Süchtiger als Berater für ein Theaterstück hinzugezogen wurde. Er teilte mit den Schauspieler*innen sein Erfahrungswissen, wie das oft genannt wird. Ein Konzept, das immer stärker Fuss fasst, in der sozialen Arbeit, in den Wissenschaften und auch in politischen Entscheidungsfindungen. Ab Seite 16.

Und: Wir begrüssen herzlich den Schriftsteller Ralf Schlatter, der mit uns zusammen unsere Textwerkstatt betreuen wird. Hier erarbeiten wir mit unseren Verkäufer*innen die Texte der Kolumne auf Seite 6. Stephan Pörtner, der das Angebot bis anhin begleitet und mitaufgebaut hat, bleibt uns als Kolumnist der Tour de Suisse erhalten.

Wir bedanken uns bei beiden herzlich für die vergangene und zukünftige Zusammenarbeit!

22Filmfestival Chronist des Wandels

24Kino Endgültig Schicht im Schacht

26Veranstaltungen

27Tour de Suisse Pörtner in Egerkingen

28SurPlus Positive Firmen

29Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

30Surprise-Porträt «Der Mensch muss arbeiten»

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Editorial
TITELBILD: BODARA

Aufgelesen

News aus den über 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Gemeinschaftliches Leben in Madrid

Sogar Big Issue in Australien berichtet über dieses Wohnprojekt in Spanien: Die Genossenschaft Las Carolinas hat 17 Wohnungen in Madrids Arbeitervorstadt gebaut, die auf Nachhaltigkeit und Energieeffizienz ausgerichtet und vergleichsweise günstig sind. Es ist, wie Icaki Alonso, einer der Projektleiter von Las Carolinas, es ausdrückt: «Eine Architektur, die dem Menschen dient.»

1 Geburtstagsparty auf dem gemeinschaftlich genutzten Dach.

2 Blick auf die Genossenschaft im Süden von Madrid.

3 Gemeinsam wohnen und spielen, so halten es die Kinder der Wohnkooperative Entrepatios.

Belästigte Frauen

Gratis Ausweise

71 Prozent der Frauen in Grossbritannien erfahren sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum, 86 Prozent davon sind zwischen 18 und 24 Jahre alt.

Obdachlose Personen verfügen oft nicht über einen Ausweis (Identitätskarte), sie haben ihn verloren oder er wurde ihnen gestohlen. In Deutschland werden diesen Personen umsonst Ausweise ausgestellt, allein in Hamburg waren es im vergangenen Jahr 2031 solcher Dokumente. Allerdings kommt in diesen Genuss nur, wer nachweisen kann, dass er oder sie die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt.

Teure Armut

Betteln ist in den meisten deutschen Städten seit 1974 grundsätzlich erlaubt. Nicht so in Dortmund, dort verhängt das Ordnungsamt regelmässig Bussen an bettelnde Menschen. Jährlich sind das knapp 4500 Euro. Wer nicht zahlen kann, dem droht schlimmstenfalls Gefängnis.

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THE BIG ISSUE, GLASGOW BODO, BOCHUM/DORTMUND 3 2
1 HINZ & KUNZT, HAMBURG BIG
ISSUE AUSTRALIA, MELBOURNE

Meilenstein der Aufarbeitung

Die Dinge zu benennen und darüber zu sprechen, ist immer eine Voraussetzung für Sensibilisierung. Eine Enzyklopädie kann so ein Schritt auf dem Weg der Aufarbeitung sein und Diskriminierung bekämpfen. Von A wie Antiziganismus über H wie Holocaust, M wie Muslimische Rom*nja, S wie Schweizer Zigeuner-Mission bis Z wie Zwangssterilisation – die neue «Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa» vereint über 700 Stichworte zu der Geschichte der Sinti*zze und Rom*nja. Seit Jahrhunderten wurden die Minderheiten in Europa verfolgt und ermordet (siehe Surprise 568/24 und 569/24). Die Enzyklopädie ist der erste umfassende Überblick über das vorhandene Wissen dazu. Einen «Meilenstein für die Forschung und Bildungsarbeit» nennt der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma die Enzyklopädie.

Initiiert hat das Projekt die Historikerin Karola Fings von der Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg. Im Editorial schreibt Fings: «Die Verfolgung und Ermordung von Sinti*zze und Rom*nja während der Zeit des Nationalsozialismus erfuhr über Jahrzehnte keine Aufmerksamkeit und die begangenen Verbrechen wurden (…) allzu spät als Völkermord anerkannt.» Das Projekt verfolgt einen antirassistischen Ansatz. Das vorhandene Wissen müsse laut Fings kritisch geprüft werden; insbesondere deshalb, weil die zur Verfügung stehenden Quellen zu einem grossen Teil aus der Perspektive der Täter*innen verfasst seien.

Noch sind viele der Stichworte in Arbeit. Über 90 Wissenschaftler*innen aus 25 Ländern arbeiten an dem Nachschlagewerk. Bis Ende 2025 soll sie von heute gut 700 auf etwa 1000 Stichworte anwachsen. LEA

«Wir haben auch positive Nachrichten zu vermelden»: Jannice Vierkötter.

Fokus

Fokus aufs Positive

Letzten Herbst hat unser Co-Redaktionsleiter Klaus Petrus einen Text mit dem wirkungsvollen Titel «Apocalypse Now?» veröffentlicht (Surprise 559/23). Darin schreibt er, dass es aktuell zweifellos viele gravierende globale und lokale Krisen gibt, dass aber auch unser Eindruck negativ verzerrt wird. Der Grund dafür ist, dass sich Meldungen über Krieg, Armut und Klimakollaps in den Medien besser verkaufen – und wir dadurch übermässig häufig mit Katastrophenmeldungen konfrontiert sind.

Das hat uns nachdenklich gemacht, da auch der «Fokus Surprise», in dem wir regelmässig einen Blick hinter die Kulissen des Vereins gewähren, oft schwerwiegende Themen aufgreift. Diese beschäftigen uns nun mal häufig: Viele der Menschen bei uns sind in schwierigen Lebenssituationen, und wir als Non-Profit-Organisation müssen mit knappen Ressourcen funktionieren.

in der Kälte stehen müssen. Unsere Stadtführer*innen freuen sich über vermehrte Buchungen ihrer Touren, und unsere Strassenfussball-Teams treffen gerade die letzten Vorbereitungen für den Saison-Anpfiff am Sonntag, 7. April in Zürich (surprise.ngo/strassenfussball).

Positive Nachrichten gibt es auch, was unsere Vereinsstrukturen betrifft. In den letzten Monaten konnten wir tolle neue Kolleg*innen für mehrere schwer zu besetzende Vakanzen finden. Bald werden wir an unserem Heftausgabe-Standort in Aarau eine Beratung anbieten, um die Verkäufer*innen noch besser zu unterstützen. Und wir sind gerade dabei, neue Standorte in der Deutschschweiz zu erschliessen, damit noch mehr Menschen die Möglichkeit erhalten, als Surprise-Verkäufer*innen Geld zu verdienen.

encyclopaedia-gsr.eu

An dieser Stelle berichten wir alle zwei Wochen über positive Ereignisse und Entwicklungen.

Trotzdem wollen wir Ihnen heute von den schönen Momenten bei Surprise erzählen. Denn die gibt es ebenso: Aktuell spüren wir beispielsweise auch bei uns den Frühling. Es ist für unsere Verkäufer*innen eine grosse Erleichterung, wenn sie nicht mehr stundenlang

Sie sehen also, dass wir auch bei Surprise «Good News» zu berichten haben – auch dank Ihrer grosszügigen Unterstützung. Setzen wir uns weiterhin gemeinsam gegen Armut und Ausgrenzung in der Schweiz ein.

JANNICE VIERKÖTTER

Co-Geschäftsleiterin Verein Surprise

Surprise 572/24 5 Na? Gut!
FOTO: RUBEN HOLLINGER

Verkäufer*innenkolumne 10%

Ich habe gelesen: Der Durchschnittsmensch, das bin also ich, braucht nur 10% seines Hirns. 10%, das ist nicht viel. Der grosse Rest von 90% liegt also einfach nur so rum. Eine öde Brache. Wüst und leer. Man könnte mein Hirn also ohne weiteres um 90% auf 10% runterschrumpfen, ich meine, wenn ich es sowieso nicht brauche, und ich wäre immer noch derselbe wie vorher. Kein Mensch würde merken, dass ich mit einem Mini-Hirn rumlaufe. Aber schade wär’s allemal drum. Wenn ich mir das nochmal genauer überlege: Auf 30% runterschrumpfen würde eigentlich auch reichen. Dann hätte ich immerhin eine Reserve, falls ich doch noch mal froh drum wäre.

Was hätte nicht alles aus mir werden können, wenn ich von meinem ersten Schultag an mein ganzes Hirn gebraucht hätte. Ein Genie! In der Primarschule als Streber verpönt und geächtet. Aber später hätte ich studieren können, was ich wollte, Wissenschaften jeder Sparte, und Sprachen. Ich hätte machen

können, was ich wollte, mit meinem 100%-Hirn. Ich hätte Doktor, Professor, Wissenschaftler oder auch Politiker werden können. Oder gar Präsident. Ich hätte mindestens sieben Sprachen fliessend gesprochen. Die ganze Welt hätte mir gehört.

Aber was soll ich mit der ganzen Welt? Sie ist so weit und rund und gross.

Ich habe doch an mir und an der kleinen Welt, in der ich lebe, schon genug. Mit dieser meiner kleinen Welt bin ich mehr als zufrieden und ausgelastet, und sie gibt mir immer wieder Neues, nebst dem Alltäglichen, der Routine, die auch ihren Wert hat. Obwohl ich nicht alle Götter der griechischen Antike aus dem Stegreif hersagen kann, ist meine kleine Welt eine spannende Welt, in der meine Arbeit als Surprise-Verkäufer in der Bahnhofunterführung zu Rapperswil seit Jahren eine wichtige Rolle spielt. Leben und Wirken in meiner kleinen Welt, in der ich aber auch nicht nur SurpriseVerkäufer bin. Selbst während meiner Arbeit bin ich weit mehr als nur das: Information, Gepäckaufbewahrung, Zuhörer, Gesprächspartner, Ratgeber, Aufmunterer, Erheiterer, Freund, auch Seelsorger.

Und dann, wenn ich so stehe und meine Hefte verkaufe, begegnen mir Menschen, Menschen mit Herz und Wärme, denen, wie mir, auch nicht die ganze Welt gehört, die aber mit ihrer kleinen Welt, die sie haben und in der sie leben und wirken, auch zufrieden sind, so wie ich.

Da war kürzlich eine Umfrage. Gefragt wurde nach dem Sinn des Lebens. Jemand hat mit grösster Selbstverständlichkeit geantwortet: Gutes tun, was denn sonst?

Und ich füge bei: Jeder und jede ist genau dort wichtig, wo er oder sie im Moment steht.

URS HABEGGER, 68, steht (unter anderem) seit 16 Jahren in der Bahnhofunterführung in Rapperswil und verkauft dort Surprise.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und dem Autoren Ralf Schlatter erarbeitet. Die Illustration entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

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ILLUSTRATION: HELENA HUNZIKER

Neue alte Schichtarbeit

In der Schweiz arbeiteten 2022 laut der statistischen Arbeitskräfteerhebung (SAKE) 593 000 Personen im Schichtbetrieb. 272 000 Erwerbstätige arbeiteten immer im gleichen Zeitfenster, untertags, am Abend oder in der Nacht. 321 000 Arbeitskräfte leisteten rotierende Schichtarbeit, arbeiteten also im Wechsel am Tag, am Abend oder in der Nacht.

Schichtarbeit gilt als aufreibend, mag aber auch Vorteile haben. Die gesundheitlichen Belastungen sind hoch, die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Freizeit schwierig. Dafür gibt es oft einen etwas höheren Lohn dank entsprechenden Zulagen und längere Freizeiten bei Schichtwechseln.

Schichtarbeit war früher vor allem in der industriellen Produktion anzutreffen. Die Maschinen, aber auch die chemischen Produktionsprozesse liefen rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. Diese Schichtarbeit ist in der Schweiz eher selten geworden. Längst wurde solche Arbeit automatisiert oder ins billigere Ausland verlagert. Schichtarbeit findet sich darum heute besonders oft in Dienstleistungsbranchen. Mehr als ein Fünftel der Erwerbstätigen in Branchen wie «Verkehr und Lagerei», Gastgewerbe und im Gesundheits- und Sozialwesen arbeiten in Schichtbetrieben. Dabei ist der Anteil der Nachtarbeit unterschiedlich hoch.

In Branchen wie dem Gastgewerbe oder Gesundheitswesen liegt Schichtarbeit in der Natur der Sache. Diese Dienstleistungen werden über weite Zeitbögen im Tag nachgefragt, ein

Spital muss immer offen sein. Zugleich erwarten wir am Morgen offene Läden mit einem vollständigen Sortiment, das in der Nacht angeliefert wird.

So betrachtet, ist die neue Schichtarbeit auch Ausdruck von Wohlstand und einer Anspruchshaltung, die nach stetig verfügbaren Gütern und Dienstleistungen verlangt. Es erstaunt daher nicht, dass Führungskräfte, aber auch qualifizierte Büroangestellte eher selten Schichtarbeit leisten, dafür umso mehr Personen mit eher tieferem Ausbildungsniveau. Zugleich klagen diese Branchen über einen Mangel an ausgebildeten Arbeitskräften. Zu wenig wird bis heute in diesen Dienstleistungszweigen in verbesserte Arbeitsbedingungen investiert.

Erstaunlicherweise lassen sich nach eigenen Angaben trotzdem kaum gesundheitliche Unterschiede zwischen Erwerbstätigen mit und ohne Schichtarbeit finden, obwohl allgemein zu erwarten wäre, dass insbesondere rotierende Schichtarbeit ein grosses Krankheitsrisiko darstellt. In der Literatur ist darum von einem «healthy worker effect» die Rede: Schichtarbeit leisten nur Menschen mit einer robusten Gesundheit, während Menschen mit angeschlagener Gesundheit diese belastenden und gesundheitsgefährdenden Jobs längst verlassen haben. Sie verursachen Krankheitskosten, die in keiner Statistik zur Schichtarbeit auftauchen. So bleibt die Schichtarbeit für das Gesundheitswesen eine teure Sache.

Anteil Schichtarbeitende mit wechselnden Arbeitszeiten nach ausgewählten Branchen

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Surprise 572/24 7 Verkehr und LagereiGastgewerbeGesundheits- und SozialwesenVerarbeitendes Gewerbe / Energieversorgung 16,2 % 3,0 % 19,4 % 11,1 % 4,3 % 2,9 % 11,1 % 7,2 %
INFOGRAFIK: BODARA QUELLE: BUNDESAMT FÜR STATISTIK (2024) . SCHICHTARBEITENDE IN DER SCHWEIZ 2002-2022. NEUCHÂTEL.
Sozialzahl
Schichtarbeit mit Nachtarbeit Schichtarbeit ohne Nachtarbeit
Die
«Manche Leute aus Frankreich haben noch nicht gemerkt, dass der Kolonialismus vorbei ist.»
HAFFSA H’ROUCHE

Marokko Viele junge Marokkaner*innen verlassen ihr Land, weil sie anderswo auf mehr Perspektiven hoffen.

Andere bleiben. Was bewegt die Jugend des Maghreb-Staates?

Träumen von der weiten Welt

Drei junge Marokkaner*innen erzählen, warum für sie eine Flucht aus der Heimat nicht in Frage kommt. Kritik haben sie trotzdem – und auch nicht immer die besten Aussichten.

Haffsa H’rouche betritt das Café zielstrebig, sie trägt Blazer und Stoffhosen, obwohl Sonntagnachmittag ist. Einen Hijab, das Kopftuch, trägt die 22-Jährige nicht. Das ist ihr zu konservativ. Das Café, das sie vorgeschlagen hat, ist hell und modern eingerichtet. An den Holztischen sitzen Expats und Marokkaner*innen, die sich auf Englisch oder Französisch unterhalten, sie trinken Iced Latte oder Zitronen-IngwerSaft, essen Bananenbrot dazu. Das Café könnte überall sein, in Barcelona, Berlin, Zürich oder New York.

H’rouche träumt vom Fliegen. Sie will nach Kanada, in die Türkei, nach China. Dass sie solche Ideen verfolgen kann, verdankt sie ihren Eltern, die noch kleinere Perspektiven hatten. Sie stammen beide aus einem kleinen Dorf im Atlasgebirge, einer Gegend, wo vor allem Amazigh wohnen, marokkanische Berber*innen. Für den Tourismus ist Ouarzazate das Tor zur Wüste, einige Kilometer dahinter liegen Zagora und Merzouga, die beiden bekann-

testen Wüstenstädte Marokkos. Deshalb trifft sich hier die ganze Welt, Leute aus Frankreich, Spanien und China kommen hierher, auf der Suche nach Dünen, Kamelen und Sternenhimmeln. Für die Menschen aber, die hier wohnen, ist ihr Dorf die ganze Welt. Ins Ausland reisen können nur wenige. Allein um ein Visum zu bekommen, muss man stundenlang Dokumente ausfüllen und sehr, sehr viel Geld mitbringen.

Jene, die von weit entfernten Orten träumen, so wie H’rouche, holen diese Orte deshalb zu sich. Sie arbeiten mit Tourist*innen, bringen Expats Arabisch bei, sie pinnen mit Magneten fremde Geldnoten an ihre Kühlschränke und bewahren Postkarten wie Schätze auf, die sie von Gästen aus Deutschland, Frankreich oder den USA zugeschickt bekommen.

Auch H’rouche möchte auf diese Weise der Welt näherkommen, solange sie sich das Reisen noch nicht leisten kann. Deshalb arbeitet sie Teilzeit als Touristguide

in Rabat, zeigt Fremden die Stadt, erklärt, wie Marokko funktioniert, und beantwortet Fragen wie: «Gibt es bei euch Eiscreme?» oder «Habt ihr Sex vor der Ehe?». Trotzdem nervt sie der Blick mancher Tourist*innen auf das Königreich. «Manche aus Amerika kommen hierher und wissen nicht einmal, dass Marokko in Afrika ist», regt sich H’rouche auf. «Und Leute aus Frankreich schauen immer noch auf uns herab. Viele von ihnen sind rassistisch, manche haben offenbar noch nicht gemerkt, dass der Kolonialismus vorbei ist. Wirklich, ich hasse Frankreich einfach!», sagt H’rouche und spricht damit vielen jungen Marokkaner*innen aus der Seele.

Derzeit werden antifranzösische Haltungen im Land immer stärker. Kurz nach dem Erdbeben, das Marokko im September 2023 erschütterte und tausende Menschen tötete, machte nach einer Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron der Hashtag #Macronexplosion die Runde. Das Königreich hat ein kompliziertes Ver-

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MAROKKO
«Es reichte immer, aber im Vergleich mit reichen Menschen waren wir schon arm.»
AZIZ SLAOUI

hältnis zu seiner ehemaligen Kolonialmacht. Denn bei aller Ablehnung ist Marokko wirtschaftlich noch immer stark von Frankreich abhängig, viele staatliche Institutionen wurden nach französischem Vorbild geplant und funktionieren nach wie vor. Wer gut Französisch spricht, kann sich der Bewunderung anderer sicher sein. Deshalb gilt noch immer: Wer es schaffen will, geht, trotz allem, nach Frankreich.

H’rouche aber möchte es in Marokko schaffen. «Ich kann mir kein Land vorstellen, in dem ich lieber leben würde. Die Gastfreundschaft, das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein, das würde mir im Ausland fehlen.» Um Tourist*innen ein differenzierteres Bild ihres Landes zu vermitteln, möchte sie eines Tages Reisen durch das ganze Land anbieten. Dabei wären dann nicht nur Marrakesch und Casablanca, sondern eben auch die Berge im Norden des Landes oder die Dörfer abseits der vielbeschrittenen Pfade in der Wüste –wie jenes, aus dem ihr Vater stammt. H’rouche macht sich damit zunutze, wie stark sich Marokko in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat. Unter dem gegenwärtigen König, Mohammed VI, hat sich das Land modernisiert und nach aussen geöffnet. Die Zahl der Tourist*innen, die Marokko besuchen, steigt Jahr für Jahr und schafft so neue Jobs – für Menschen wie H’rouche, die dank dem sozialen Aufstieg ihrer Eltern das Leben einer modernen, mittelständischen jungen Frau führt –und die von der Welt träumt, welche sie einst selber bereisen möchte.

Teures Leben

Auch Aziz Slaoui träumt vom Reisen. Er war bereits einmal im Ausland, machte Ferien in der Türkei. Die Reise war für ihn ein Highlight, von dem er noch Monate später erzählt. Allzu oft kann sich Aziz solche Reisen aber nicht leisten. Und das, obwohl er sich sogar eine Festanstellung «erkämpft» hat. Das klingt dramatisch, ist aber das richtige Wort angesichts der hohen Jugendarbeitslosigkeit im Land (siehe Seite 14). Und angesichts der Tatsache, dass alles gegen Slaoui sprach, als er auf die Welt kam.

Slaoui wuchs in Fès auf, das drei Stunden von Rabat entfernt liegt. Endlose rotbraune Erdlandschaften säumen die Strecke, ab und zu tauchen Kamele und Esel

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vor dem Zugfenster auf, manchmal mit einem Bauern, der aufpasst, manchmal allein. Fès ist bekannt für seine Altstadt, die Medina. Sie liegt hinter einem riesigen Tor, das mit winzigen Mosaiksteinen dekoriert ist. In den engen Gassen dahinter bieten Marktschreier Ledertaschen, handgewobene Decken oder Körbe an. Oft stapelt sich die Ware so, dass kaum ein Durchkommen ist. Diebstähle, Drogendelikte und Übergriffe sind hier häufig.

Das war auch in Slaouis Viertel so. Viele Menschen waren arm, auch Aziz’ Familie, obwohl er zögert, sie als dieses zu bezeichnen. «Wir wohnten in einem Haus, wir hatten zwei Zimmer, eines für die Frauen, das andere für die Männer», sagt Slaoui. «Das Geld reichte für Essen oder Kleidung. Aber ja, im Vergleich mit reichen Menschen waren wir schon arm.» Slaoui entschloss sich, wegzuziehen. Mehrere Jahre zog er durchs Land, von Fès nach Casablanca, nach Meknes und Salé, schliesslich kam er in die Hauptstadt Rabat. Er tat damit, was viele junge, arme Marokkaner*innen machen: Er zog in die reicheren Städte, auf der Suche nach einem besseren Leben. Viele haben kein Glück. Sie landen in einem der Slums, die an Rabats Stadträndern aufragen, und halten sich mit Betteln, Stehlen oder Dealen über Wasser. Slaoui aber hatte Glück. Er machte eine Ausbildung zum Koch und fand gleich darauf eine Festanstellung. Er kann sich deshalb die Miete für seine Wohnung leisten, die in einem Wohnblock gleich bei der Medina von Rabat liegt, und ab und zu geht er aus.

Ein Donnerstagmittag, es ist Slaouis freier Tag. Er hat ein Ritual für diesen Tag, am Morgen geht er ins Fitnessstudio, zu Mittag isst er Fisch. An diesem Donnerstag soll es Thunfisch sein. Also Spaziergang zur Medina, vor deren Eingang in einem flachen Gebäude ein Lebensmittelmarkt untergebracht ist. Ein grosses grünes Schild prangt über dem Eingang, «Marché Central» steht da, auf Französisch. Hinter dem Tor, auf der linken Seite, befindet sich der Fischmarkt. Auf Eiswürfeln ausgebreitet liegen auf meterlangen Tischen Aale, Oktopusse und Garnelen. Auf dem Boden stehen Bottiche mit lebenden Muscheln, alle paar Sekunden atmet eine, dann spritzt Wasser aus dem Bottich. Menschen kommen und gehen, manche fragen nach dem

«Alle haben eine Ausbildung, aber im eigenen Feld arbeiten, das kann fast niemand.»
YASSINE CHAKIRI
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Preis von diesem oder jenem Fisch, ältere Frauen lassen sich Sardinen oder Garnelen abwägen und gehen weiter.

Slaoui bleibt länger, er fragt an jedem Stand nach, wie teuer das Thunfischfilet gerade ist. 90 Dirham für zwei Stück an einem Stand, 110 Dirham am nächsten, das sind umgerechnet etwa 26 Franken. «Puh, vor ein paar Monaten kostete das noch 70 Dirham», sagt Slaoui. Es gehe nicht darum, dass er sich den Fisch so nicht mehr leisten könnte, schiebt er noch nach. Aber er wirkt angespannt. «Alles wird teurer, und das schnell.» Die Inflation belastet viele in Marokko, auch im wohlhabenden Rabat. Kaum eine Party vergeht, ohne dass die Lebensmittelpreise Thema werden. Die Inflation betrifft vor allem Lebensmittel. Über zehn Prozent teurer als noch letztes Jahr um diese Zeit sind sie inzwischen, und eine Trendumkehr ist nicht in Sicht.

Im Moment kann sich Slaoui noch durchschlagen. Er plant sogar, eine weitere Ausbildung zu machen und währenddessen nur noch Teilzeit zu arbeiten. Wie das gehen soll, finanziell? Das wisse er noch nicht, aber er werde bestimmt eine Lösung finden – entweder hier in Rabat oder wenn es sein müsse halt woanders. In Tanger zum Beispiel, da sei es auch schön, sagt Slaoui.

Bleiben trotz Resignation

Yassine Chakiri sitzt in einer Ecke seines Lieblingscafés, vor ihm stehen eine halbleere Tasse längst kalten Espressos und ein Teller mit den Hülsen gegessener Sonnenblumenkerne. Ganze Tage verbringt Yassine hier, sein Job bei einem Webshop für E-Zigaretten nimmt nicht allzu viel Zeit in Anspruch. Ab und zu scrollt er auf dem Handy, schaut aus dem Fenster, nimmt einen Schluck Kaffee. Immer wieder kommen Freunde vorbei, Handschlag, Umarmung, «Wie geht’s?», «Alles gut, hamdullilah, Gott sei Dank», antwortet Chakiri.

Während er im Café sitzt, schreibt Yassine auf dem Handy Nachrichten an seine Freundin. Chakiri ist zwar gläubiger Muslim, doch er hält sich nicht allzu streng an religiöse Regeln. Halal zu leben, das würde strenggenommen bedeuten: kein Sex vor der Ehe, kein Alkohol, keine Drogen. Der 26-Jährige findet, er sei noch jung. Zu jung, um die Verantwortung für eine Ehe zu

übernehmen, für Kinder sowieso. Auch zu jung, um Partys und Alkohol hinter sich zu lassen. Irgendwann, sagt er, möchte er schon heiraten. Aber noch nicht jetzt. Denn sobald er verheiratet ist, möchte er ein ruhigeres Leben führen. «Dann will ich mich an all diese Regeln halten, keine Drogen, kein Alkohol, häufiger beten», sagt Yassine. «Doch jetzt bin ich noch nicht bereit dazu.» Was seine Familie davon hält? «Einfach nicht allzu viel erwähnen», sagt Yassine und grinst. Seine Eltern seien sehr gläubig, seinen Lebensstil würden sie kaum unterstützen. Solange er aber einen beständigen Job habe und beschäftigt sei, würden sie sich damit zufriedengeben und bei allem anderen wegschauen. Damit kann sich Chakiri arrangieren.

Das grosse Glück, das ist Yassines Leben für ihn gerade nicht. Seinen Job mag er nicht besonders, sein Lohn reicht für das Leben von Tag zu Tag, mehr nicht. Er schlägt sich auch durch, indem er sich damit zufriedengibt, wo er steht – mehr oder weniger. Denn eigentlich würde Chakiri lieber als Webdesigner arbeiten, schliesslich ist er ausgebildeter Grafiker. Er hat Freude daran, kreativ zu sein, Dinge zu gestalten. T-Shirts würde er gerne designen, sagt Chakiri, ein Modelabel gründen. Aber um sich selbständig zu machen, fehle ihm die Disziplin, meint er lapidar. Und Jobs gebe es nicht viel in seinem Arbeitsgebiet. «Alle haben eine Ausbildung, eine gute sogar, aber im eigenen Feld arbeiten, das kann fast niemand.» So sei das halt, sagt Chakiri mit einem Schulterzucken, und in seiner Stimme liegt eine Resignation, die in Marokko allgegenwärtig ist.

Und doch will Yassine Chakiri, wie auch Haffsa H’rouche und Aziz Slaoui, bleiben. Es ist schwer zu sagen, weshalb genau sie nicht zu jenen gehören, die sich verzweifelt in eines der Gummiboote nach Europa wagen oder es über den Landweg versuchen. Ist es Glück, Durchhaltewillen, Privileg, persönliche Bindungen, Kreativität? Wahrscheinlich von allem ein bisschen.

Hintergründe im Podcast: Hören

Sie mehr aus Marokko von Andrea Marti im Gespräch mit Podcaster

Simon Berginz: surprise.ngo/talk

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Nirgends willkommen

TEXT UND FOTO KLAUS PETRUS

Es ist Januar, kalt und matschig in Bihać im Nordwesten von Bosnien nahe der kroatischen Grenze. Seit gut drei Monaten lebt Idir G.*, 23, zusammen mit drei anderen Marokkanern hier, in einem verfallenen Kohleturm inmitten der Stadt, ohne Strom und Wasser. Sie wollen über die Grenze nach Kroatien und von dort weiter über Italien nach Frankreich oder, wenn sie keine Arbeit finden, bis in den Süden von Spanien – keine 500 Kilometer Luftlinie von Ouarzazate entfernt, wo Idir G. aufgewachsen ist.

Er ist einer von Tausenden, die jedes Jahr Marokko verlassen. Immer mehr nehmen nicht den Weg übers Mittelmeer nach Italien oder via Kanarische Inseln nach Spanien, sondern fliegen in die Türkei nach Istanbul und durchqueren dann, meist zu Fuss, den Balkan. «Zu gefährlich», sagt Idir G. über die Mittelmeerroute, «und zu teuer.» Die Preise für die Schlepper, so berichten die jungen Männer, die sich im obersten Stockwerk des Kohleturms ein Lager eingerichtet haben, seien wieder einmal in die Höhe geschnellt, 6000 Euro pro Überfahrt und Person.

Jetzt sitzen sie in Bosnien fest. Spätestens 2018 hat sich die sogenannte Balkanroute hierher verschoben, als infolge der migrationspolitischen Massnahmen des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán an der serbisch-ungarischen Grenze für die Flüchtenden kein Durchkommen mehr war. Aber auch hier, im Nordwesten Bosniens, wird es für sie zunehmend schwieriger, die Grenze zu überqueren. In den vergangenen Jahren wurden bis zu 6000 kroatische Grenzpolizisten damit beauftragt, Flüchtende am Grenzübertritt zu hindern oder sie nach Bosnien zurückzuschaffen. Diese Pushbacks, das ist inzwischen durch internationale Menschenrechtsorganisationen vielfach belegt, sind oft mit Gewalt an den Flüchtenden verbunden (siehe Surprise 471/20); allein zwischen 2020 und 2023 wurden an der bosnisch-kroatischen Grenze 35 000 solche Pushbacks registriert. Auch Idir G. hat eine Verletzung am Finger. Im Gespräch winkt Idir G. zuerst ab, später wird er per Whatsapp schreiben, sie hätten es in diesen drei Monaten ein halbes Dutzend Mal über die Grenze versucht, seien aber von der Polizei aufgegriffen und zusammengeschlagen worden – ihm hätten sie den Finger gebrochen.

Keine gutbezahlten Jobs

Idir G. stammt aus dem Süden Marokkos, aus der Provinz Ouarzazate, die mehrheitlich von Berber*innen bewohnt wird oder, wie sie sich selber nennen, von Amazigh, was «freie Menschen» bedeutet. Obschon sie die Mehrheit im Land ausmachen, würden sie diskriminiert, so Idir G. «Wir zählen kaum halb so viel wie die anderen Araber», wie er die übrigen Marokkaner*innen nennt. «Weil wir anders reden, einen anderen Glauben haben und womöglich noch anders aussehen, haben wir keine Chance. Wir werden in Armut geboren und sterben arm.» In den grossen Städten wie Casablanca, Marrakesch, Rabat oder Fès würden sie kaum Arbeit finden, jedenfalls keine gutbezahlten Jobs. Der marokkanische König Mohammed VI, dessen Privatvermögen auf 5,7 Mil-

«Weil wir anders reden, einen anderen Glauben haben und womöglich anders aussehen, haben wir keine Chance.»

IDIR G.

liarden US-Dollar geschätzt wird, hat schon in den 1990er-Jahren den Erhalt der Kultur und Sprache der Amazigh in der Verfassung verankert, doch Idir G. lässt das nicht gelten. «Ein Lippenbekenntnis», sagt er dazu. «Unsere Sprache und Teppiche sind gut für die Tourismusbranche, wir selber aber haben kaum etwas davon», und schickt mir über Whatsapp einen Link auf einen Artikel über die neue Yacht des Königs, die 109 Millionen gekostet hat.

Dass die wohlhabende Jugend in Marrakesch oder Rabat sich gerne in noblen Restaurants, teuren Autos und Markenkleidern zeigt, ist für den 23-Jährigen, der bisher nur als Tagelöhner gearbeitet hat, eine Beleidigung. «Bei so viel Luxus würde ich auch in Marokko bleiben», sagt Idir G. Er hat Freunde im Norden des Landes, ebenfalls Amazigh, die es trotz allem in Marokko versuchen wollen. «Sie gehen auf die Strassen, protestieren für mehr Arbeit – und werden von der Polizei schikaniert. Dann lieber abhauen.» Idir G. weiss, dass er derzeit nirgendwo Asyl bekommen wird. Was ihn aber nicht bekümmert. Zwei seiner vier Brüder leben bereits in Europa, einer in Marseille, der andere in der Nähe von Madrid, beide kämen gut über die Runden, sagt Idir G., obschon sie weder eine Aufenthalts- noch eine Arbeitsbewilligung hätten. «Bei ihnen werde ich unterkommen. Aber erst muss ich es hier über die Grenze schaffen. Dann schauen wir weiter.»

* Name geändert.

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Unsichere Zukunft

Wie in Tunesien oder Ägypten gingen auch in Marokko im Arabischen Frühling 2011 Abertausende auf die Strasse und forderten Reformen und politisches Mitspracherecht, darunter waren viele junge Menschen. Anders als etwa in Tunesien, wo daraufhin die Regierung gestützt wurde, hielt sich in Marokko die politische Elite unter dem seit 1999 regierenden König Mohammed VI. Sie reagierte mit Verfassungsänderungen und weitreichenden Versprechen an die Jugend, was Bildung und Arbeit betraf. Zudem sollte Marokko, ein Land mit ca. 37 Millionen Einwohner*innen, zu einer exportorientierten Marktwirtschaft ausgebaut werden.

Was ist von diesen Versprechungen übriggeblieben? Bis heute sind Marokkos Importe doppelt so hoch wie die Exporte; die heimischen Unternehmen werden nach wie vor zu 70 Prozent vom Staat unterstützt, und das oft ungenügend. Private Investor*innen, auch aus dem Ausland, bleiben grösstenteils aus. Entsprechend hoch ist die Arbeitslosigkeit, speziell unter Jugendlichen. Laut Zahlen des marokkanischen Ministeriums von 2022 sind vier von zehn Jugendlichen, die in Marokkos Grossstädten wohnen, ohne Job; die Weltbank beziffert die Jugendarbeitslosigkeit auf 30 Prozent, im ganzen Land beträgt sie 11,8 Prozent (2022).

Viele Marokkaner*innen überlegen sich infolgedessen, ihr Land zu verlassen – meist in Richtung EU (siehe Karte). Dem Umfrageinstitut Arab Barometer zufolge sind das fast 70 Prozent der Leute unter 30 Jahren. Auch gibt es immer wieder Strassenproteste und Demonstrationen gegen die Regierung und das Königshaus, die oft mit massivem Polizeiaufgebot niedergeschlagen werden. Infolge dieser Unruhen entliess König Mohammed VI vor einigen Jahren etliche Minister und verkündete öffentlich: «Wir dürfen nicht mehr zulassen, dass unser Bildungssystem Legionen von Arbeitslosen fabriziert.»

Eine Massnahme wurde 2019 getroffen, indem der 2006 abgeschaffte obligatorische Militärdienst von zwölf Monaten wieder eingeführt wurde. Dabei geht es weniger darum, die marokkanischen Streitkräfte zu stärken. König Mohammed VI, Staatschef und religiöses Oberhaupt in einem, sieht darin eher eine erzieherische Massnahme namentlich für junge, arbeitslose Männer; sie sollen so «von der Kriminalität ferngehalten und ins berufliche und soziale Leben integriert werden», wie es von offizieller Seite heisst. Ob die marokkanische Armee über die nötigen Strukturen verfügt, um den Jugendlichen während eines Jahres eine Ausbildung zu garantieren oder nur schon die Voraussetzungen dafür, bezweifeln in Marokko jedoch nicht wenige. KP

Wenig Arbeit, kaum Perspektiven: 20 000 Menschen aus Marokko verlassen pro Jahr ihr Land, die meisten wollen nach Europa. Hoffnung auf Asyl haben sie kaum.

Schweiz

Im Jahr 2023 haben rund 3500 Personen aus den Maghreb-Staaten (Algerien, Tunesien, Marokko, Westsahara) in der Schweiz Asyl beantragt. Das sind 13 Prozent aller Asylgesuche. Aus Marokko stammen 1606 Asylanträge. In den vergangenen Jahren wurden weniger als 2 Prozent bewilligt. In der Schweiz leben ca. 20 000 Marokkaner*innen, die meisten sind während der Kriege im Maghreb in den 1990er-Jahren hierhergeflüchtet.

QUELLE: BUNDESAMT FÜR STATISTIK (BFS)

Marokko

Vier Millionen Marokkaner*innen leben heute im Ausland, was 12 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht. Etwa ein Drittel lebt in Frankreich, weitere 18 Prozent in Spanien und 12 Prozent in Italien, der Rest ist in die übrigen europäischen Länder sowie nach England und Kanada ausgewandert. In den vergangenen fünfzehn Jahren haben im Schnitt jährlich 20 000 Marokkaner*innen ihr Land verlassen. Die meisten derzeitigen Asylgesuche von Menschen aus Marokko werden in der EU sowie der Schweiz abgelehnt (97 Prozent).

QUELLE: BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG (BPB), BUNDESAMT FÜR STATISTIK (BFS)

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Mittelmeerroute

Zwischen 2014 und 2021 kamen auf den Mittelmeerrouten nach Europa sowie auf den Routen innerhalb Europas mehr als

17000 Menschen

ums Leben. Angaben zum Herkunftsland fehlen häufig oder lassen sich nur lückenhaft herstellen. Wo die Identität geklärt ist, liegt Marokko auf der Liste der meisten Toten mit 695 nach Syrien auf Platz zwei, gefolgt von Algerien und Tunesien.

QUELLE: IOM, UNHCR

Balkanroute

Über die westliche Balkanroute sind bis September 2022 fast dreimal so viele Menschen in die EU geflüchtet als noch im Vorjahr. Insgesamt wurden

86000 Grenzübertritte

registriert. Das sind zehn Mal so viele wie 2019. Infolge der Gefahren der Mittelmeerroute weichen immer mehr Flüchtende auch aus dem Maghreb auf die Balkanroute aus und versuchen so zum Beispiel Frankreich oder Spanien zu erreichen.

QUELLE: BUNDESAMT FÜR STATISTIK (BFS)

Subsahara-Afrika

In der öffentlichen Wahrnehmung sind es vor allem Menschen aus Subsahara-Afrika, welche nach Europa migrieren. Die Zahlen ergeben ein anderes Bild: Gemäss den Vereinten Nationen suchen weltweit 86 Prozent der Flüchtenden sowie Migrant*innen in sogenannten Entwicklungsländern oder in anderen Regionen ihres Landes Schutz (Binnenflüchtlinge). In der Subsahara sind von 58 Millionen Betroffenen 27 Mio. Binnenflüchtlinge, 0,7 Mio. flüchten in Richtung Europa (für 2021).

QUELLE: UNO-FLÜCHTLINGSHILFE.DE

Die Kunst, berauscht zu sein

Stereotype Bühne und Film prägen gesellschaftliche Bilder, auch von sogenannten Randgruppen wie Süchtigen. Regisseure und Darsteller*innen machen sich Gedanken: ein Beispiel aus Norwegen – und ein Seitenblick auf drei Schweizer Filme.

«Die vielleicht wichtigste Veränderung in der Darstellung von Drogen und Sucht in Theater und Film in den letzten Jahren ist nicht etwa, dass man versucht, noch realistischer zu werden, sondern dass man mit möglichst viel Respekt an das Thema herangeht.» Richard Prøsch sitzt im Osloer =Kaffe und hört sich an, als würde er eher laut nachdenken als sprechen. Seit der Eröffnung des Cafés im Jahr 2017 arbeitet Prøsch hier, kürzlich führte seine Erfahrung als Süchtiger ihn allerdings in einen ganz anderen Job. (Anm. d. Red.: Das Café wurde von der Osloer Strassenzeitung =Oslo betrieben, musste diesen Januar allerdings schliessen.)

Im Frühjahr 2023 sollte das norwegische Nationaltheater in einem geschlossenen Einkaufszentrum im Osloer Industrieviertel Økern eine Musicalversion von Ingvar Ambjørnsens Jugendkrimi «Døden på Oslo S» (übers. «Tod am Hauptbahnhof Oslo») aus dem Jahr 1988 aufführen. Das Buch erzählt vom Grossstadtleben, von Drogenkonsum und Prostitution, auf Deutsch ist es unter dem Titel «Endstation Hauptbahnhof» erschienen. Autor Ambjørnsen interessiert sich in seinen Werken grundsätzlich für Aussenseiterfiguren, für die Ränder der Gesellschaft – er selbst war in jüngeren Jahren Teil der Hippie-, Aussteiger- und Hausbesetzungsszene. Nach ei-

nigen Monaten Proben für das Musical wurde sowohl den Schauspieler*innen als auch dem Regisseur Simen Formo Hay jedoch klar, dass sie Hilfe benötigten – wenn sie die Szenen, die mit Drogen und Alkohol zu tun haben, so authentisch wie möglich umsetzen wollten. Also suchten sie nach Menschen mit persönlichen Erfahrungen. Über die Strassenzeitung =Oslo kamen sie in Kontakt mit Richard Prøsch. Der ehemalige Strassenzeitungsverkäufer, der später als Barista im =Kaffe arbeitete, war lange Jahre seines Erwachsenenlebens heroinabhängig und hat es geschafft, von seiner Sucht loszukommen. «Die Auseinandersetzung der Produktion ‹Døden på Oslo S› mit dem Thema Sucht spiegelt die grossen Veränderungen wider, die in Norwegen gesamtgesellschaftlich stattgefunden haben. Immer häufiger werden Menschen mit Drogenerfahrung als Berater*innen angefragt. «Das Nationaltheater nutzte mein Erfahrungswissen genau in dem Sinne», sagt Prøsch.

Während der Arbeit mit den Schauspieler*innen schaute sich Prøsch die Verfilmung von «Døden på Oslo S» aus dem Jahr 1990 (Regie: Eva Isaksen) nochmals an. Wahrscheinlich sei es die Absicht des Films gewesen, die Drogensüchtigen vom «Plata» – bis ins Jahr 2004 der Brennpunkt der offenen Drogenszene in Oslo – auf mög-

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TEXT EVEN SKYRUD

«PLATZSPITZBABY»

Sie verkörperten die heroinsüchtige Sandrine.

Haben Sie sich dabei ethische Fragen gestellt?

lichst sympathische Weise zu zeigen, meint Prøsch, und doch reproduziere der Film letzten Endes jedoch nur Stereotype und das damalige gängige Bild von «Junkies».

Interessanterweise decken sich die Veränderungen in der Darstellung von Drogenkonsument*innen im Kulturschaffen mit den Veränderungen im gesamtgesellschaftlich-politischen Umgang mit Drogen, findet er. Es ist ein Wandel von Angst und Antipathie hin zu Verständnis und Empathie – oder konkret: von Strafe zu Hilfe. «Die Darstellung von Süchtigen in Film und Fernsehen von den 1970er-Jahren bis Ende der 1990er-Jahre gab die Menschen der Lächerlichkeit preis, auch explizit in Humorsendungen etwa», sagt Prøsch. «Es zeigt, wie die Gesellschaft auf diese Menschen schaute und wie sie sie behandelte. Auch die Drogenpolitik war lächerlich. Das Schlimme daran ist, dass viele Menschen, die mit ihrer Sucht zu kämpfen hatten, ich eingeschlossen, das Gefühl hatten, dass man über sie lachte.»

Die Angst vor der Parodie

Prøschs Eindruck ist auch, dass sich Schauspieler*innen tendenziell an vorhergehenden Darstellungen von Drogenabhängigen auf der Bühne, im Film oder in den Medien orientierten – und so in Dauerschlaufe immer dieselben

Sarah Spale, Schauspielerin: Ich denke, es ist wichtig, dass man Tabus bricht und darüber spricht. Film ist ein wunderbares Medium, um dies zu tun. Es geht nicht darum, einen voyeuristischen Blick zu bedienen, es geht darum, dass wir uns mit unseren Vorurteilen und Verurteilungen auseinandersetzten und im besten Fall eine mehrdimensionalere Sichtweise auf eine Situation gewinnen und zulassen. Unsere Gesellschaft gibt stark eine Norm vor, und diese ist eng abgesteckt. Mir ist wichtig, dass meine Meinung nicht dieses enge Raster bedient und ich weiterdenken darf. Die Bekanntschaft mit Sandrine und ihrer Geschichte hat meinen Horizont erweitert.

Eine Drogensucht darzustellen, bringt unschöne Bilder mit sich. Was darf man zeigen?

Pierre Monnard, Regie: In erster Linie haben wir uns an Michelle Halbheers Autobiografie orientiert. Das Buch ist sehr persönlich und sehr authentisch geschrieben. Das wollten wir unbedingt auch im Film zeigen. Und wie schon in Michelles Buch steht auch bei uns nicht die drogenabhängige Mutter im Mittelpunkt, sondern das Kind und dessen Erlebnisse, Gedanken und Gefühle.

C-FILMS AG, Regie: Pierre Monnard, CH 2020, 100 Min. Mit Sarah Spale, Luna Mwezi u. a. Der Film kann auf Netflix gestreamt werden.

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BILD: FILMSTILL AUS DEM FILM PLAT ZSPITZBABY 2020, C-FILMS AG

Bilder zeigten. Gerne mit Fokus auf den extremsten Erscheinungsformen des Drogenkonsums: Aggression, Gewalt und körperliche oder geistige Erkrankungen. In den Medien wiederum wurden Süchtige früher oft anonymisiert, oder Journalist*innen und Dokumentarfilmer*innen suchten oft diejenigen aus, die dem Bild, das die Öffentlichkeit bereits von den Menschen auf dem Plata hatte, am besten entsprachen. «Mit ‹Døden på Oslo S› gingen wir den entgegengesetzten Weg. Wir wollten den ganzen Menschen zeigen: Wir gingen all die Gründe durch, wieso jemand Drogen nimmt, wie man Drogen nimmt und was die Wirkung ist. Alle drei Aspekte sind wichtig, um die Figur, die man spielt, authentisch und respektvoll darzustellen», sagt Prøsch.

Eine dieser Figuren ist Nina. Die heroinabhängige Freundin der Hauptfigur Lena war im Buch und im Film eine Nebenfigur. In der Theaterfassung von 2023 rückt sie jedoch stärker in den Mittelpunkt. Die Schauspielerin Maria Kristine Hildonen interpretierte Nina so intensiv und überzeugend, dass sie mit dem Heddapreis – dem norwegischen Theaterpreis – als beste Nebendarstellerin ausgezeichnet wurde. «Ich kannte süchtige Menschen als Teil des Stadtbildes, wusste aber sonst nicht viel über das

Thema. Ich habe im Vorfeld viel über Drogen und ihre Auswirkungen recherchiert. Aber das war halt einfach, was du dir anlesen kannst», sagt Hildonen. «Ich hatte grosse Angst davor, eine Schwerstsüchtige zu spielen. Davor, dass die Rolle ins Parodistische kippen würde, wie man das schon oft gesehen hat. Die Knie knicken ein und die Stimme bricht. Aber andererseits ist das ja auch echt. Wenn man Heroinabhängige beobachtet, stehen sie manchmal so da. Deshalb war es für mich wichtig, zu wissen, woher dieses Einknicken kommt. Ich habe mich über die Gründe informiert, warum der Körper so reagiert, wie er reagiert. Das Physiologische. Sonst hätte ich einfach etwas kopiert, ohne es zu verstehen.» Die Rückversicherung bei Richard Prøsch habe ihr geholfen.

Die Protagonistin verstehen wollen

Zudem gibt es Jargons, Haltungen und Gesten, die ortsund zeitabhängig variieren. Es gibt Unterschiede zwischen den Drogenkonsument*innen in Sarpsborg (wo eine bekannte norwegische Fernsehserie spielt, «Kids in Crime», 2022) und Oslo. Etwas vom Ersten, was Hildonen tat war, Interviews mit und Artikel über die jungen Mädchen zu lesen, die in den 1980er-Jahren in der Stenersgata in Oslo

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«STRÄHL»

Ihr Film spielt in der Zürcher Langstrasse, von der man bereits Bilder im Kopf hat. Wie geht man damit um?

Manuel Flurin Hendry, Regie: Wir haben bei der Karikatur angefangen, wollten aber auf keinen Fall dort enden. Wir haben deshalb sehr ernsthaft recherchiert. Die Menschen an der Langstrasse sind sich auch selber bewusst, dass es Stereotype vom Milieu gibt, ihnen war wichtig, dass der Film keine Disneyland-Version wird. Ich finde das als Filmemacher eine ganz wichtige Haltung: dass man die Menschen ernst nimmt.

Der Anspruch war da, dem Milieu gerecht zu werden?

Mir ist das immer ein Anliegen. Wir wollten auf keinen Fall Sozialdrama-Kitsch machen. Mit so etwas stellt man sich über die Menschen, die man porträtiert. Man wird ihnen nicht gerecht. Wenn man anderen Welten begegnen will, muss man auch darauf achten, wie sich die Menschen selber betrachten. Ich war für meine Filme oft in prekären Milieus unterwegs, und was mir immer wieder auffällt, ist der Humor, den die Leute haben. Die Art, miteinander umzugehen. Das sehe ich als essenziellen Teil der Menschlichkeit.

Regie: Manuel Flurin Hendry, CH 2004, 80 Min., mit Roeland Wiesnekker, Johanna Bantzer u. a. Der Film kann auf movies.dvfilm.ch gestreamt werden.

Sex verkauften. Noch bevor die Proben begannen, war es für sie wichtiger als bei jeder anderen Rolle, die Figur zu verstehen, die sie darstellen sollte – um Nina, das Strassenmädchen, würdevoll zu verkörpern.

Es ist nicht leicht, Spuren von Nina in der 30-Jährigen mit grauem Kapuzenpulli und Jeans zu erkennen, die jetzt in der Garderobe im alten, ehrwürdigen Nationaltheater in Oslo sitzt. Hier debütierte sie gleich nach ihrem Abschluss an der Theaterakademie als Ophelia in Shakespeares «Hamlet». Seitdem hat sie eine Reihe von ikonografischen Rollen gespielt, aber keine davon hat sie so berührt wie Nina. «Ich wollte verstehen, was Nina widerfahren ist. Was sie dahin gebracht hat, wo sie jetzt ist. Es gab keine Hintergrundgeschichte, also hatte ich die Freiheit, selbst eine zu erfinden.»

Hildonen legte sich eine detaillierte Geschichte von Ninas Kindheit zurecht. Sie stellte sich vor, dass weder Mutter noch Vater präsent waren, sodass Nina und ihr Bruder Stein selbst aufeinander aufpassen mussten. Sie wurden zu zweien der vielen Strassenkinder in Oslo in den 1980er-Jahren. Durch die Begegnungen mit Polizei und Institutionen entwickelte Nina eine tiefe Verachtung für Autoritäten. Als Nina zwölf Jahre alt war, probierte sie

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BILDER: DSCHOINT VENTSCHR

zum ersten Mal Heroin. Sie hat sich den Schuss nicht selbst gesetzt, sagt Hildonen. «Es gibt viele kleine Dinge, über die ich intensiv nachgedacht habe, auch wenn sie mit der Handlung des Stücks an sich nichts zu tun hatten. Zum Beispiel, was Ninas Humor erklären könnte. Oder warum sie in ihren Monologen über Rolltreppen und die Stadt aus Glas spricht. Dann war da noch die Körperlichkeit. Der Körper, die Haut. Die Droge an sich kam aber erst zum Schluss. Eigentlich erst ziemlich spät im ganzen Prozess.»

Den Zustand verstehen

Als sie Nina während der Proben zum ersten Mal eine tödliche Überdosis verabreichen musste, sei sie ausgerastet, danach habe sie zwei Wochen lang kaum mehr schlafen können. «Ich, die Schauspielerin Maria, war es, die Nina, die ich so sehr liebte, umbrachte. Während der ersten fünfzehn Aufführungen sass ich jedes Mal, wenn ich die Spritze setzen wollte, da und zitterte. Ich war innerlich in tausend Stücke zersplittert. Als dann die Produktion abgespielt war, war ich völlig verzweifelt. Ich konnte nicht mehr zwischen mir und der Figur unterscheiden. Aber ich bin mir sicher, dass es genau das brauchte. Aus Respekt vor Nina und ihren Wegbegleiter*innen.» In den Proben kam der Aspekt des Drogenkonsums erst richtig zum Tragen, als Richard Prøsch als

«Drogenberater» engagiert wurde. Vorher hatten sie und der Regisseur Simen Formo Hay nicht im Detail darüber gesprochen, welche Substanzen Nina und Lena nehmen und warum.

«Das erste Mal, als ich Richard traf, sassen wir zusammen und sprachen über die positiven Aspekte von Drogen. Er sagte, es sei unmöglich, das Leben eines Süchtigen zu verstehen, ohne zu begreifen, warum Heroin fantastisch sei. Dass es ein grossartiges Erlebnis sei. Das ist eine sehr wichtige Perspektive, die oft unerwähnt bleibt.» Sie auch zu benennen, machte es ihr leichter zu verstehen, wie Nina zu Nina wurde. «Es hat mir sehr geholfen, dass Richard dabei war und die Proben verfolgt hat. Von ihm die Bestätigung zu bekommen, dass ich auf dem richtigen Weg war, war unglaublich wichtig», sagt Hildonen.

Zurück im =Kaffe unterstreicht auch Prøsch, wie wichtig das genaue Wissen der Wirkung von Drogen sei. «Wenn wir nur über die sogenannte Drogenhölle reden, lässt uns das den Hauptgrund für den Drogenkonsum vergessen: Es ist ein schönes Gefühl, high zu sein.»

Als Prøsch mit den Schauspieler*innen arbeitete, empfahl er ihnen Danny Boyles Film «Trainspotting» von 1996: «Es ist einer der wenigen Filme, die den Konsum und die Auswirkungen von Heroin realistisch darstellen.» Viel Zeit verbrachten Prøsch und die Darsteller*innen mit der

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«PRINZESSIN»

In Ihrem Film geht es um Alkohol- und Heroinsucht. Es stellen sich auch ethische Fragen: Wie zeigt man was?

Peter Luisi, Regie: Mir ging es darum, die Sucht nicht zu romantisieren. Dazu gehört auch, dass der schwer alkoholkranke Josef sich nicht mehr duscht. Ich wollte das nicht ausstellen, aber ehrlich sein in der Darstellung, sonst könnte man das eigentliche Thema des Films gar nicht nachvollziehen: die Ablehnung, die Josef durch andere erfährt. Die zentrale Frage der Geschichte ist: Kann ich einen Menschen so akzeptieren, wie er ist? Um diese Frage ehrlich beantworten zu können, muss auch das Unschöne sichtbar werden.

Wie haben Sie recherchiert?

Ich habe Gespräche mit drei Alkoholkranken geführt und mit einer Mitarbeiterin des Sunne-Egge in Zürich – einer Anlaufstelle für Heroinabhängige – und mit einem Arzt der Pfarrer Sieber Stiftung geredet. Ich habe wichtige Dinge erfahren und eingearbeitet. Zum Beispiel, dass Sucht als Krankheit eingestuft wird; ich glaube, das ist vielen Menschen nicht bewusst. Für mich ist es wesentlich, dass man auch in der Fiktion solchen Erkenntnissen gerecht zu werden versucht.

Regie: Peter Luisi, CH/UKR 2021, 101 Min., mit Fabian Krüger, Johanna Bantzer u. a. Der Film kann auf Play Suisse gestreamt werden.

Frage, wie bestimmte Substanzen mit bestimmten Situationen zusammenhängen. Zum Beispiel die Szene, in der die Teenagerin Lena Sex verkauft und Erpressungsfotos von ihr gemacht werden. Die Situation ist in mehrfacher Hinsicht traumatisch und belastend.

Richard hat ein Gespür dafür, wie die Figur versuchen könnte, damit umzugehen. «Ich vermute, sie würde in einem solchen Moment Benzos nehmen, um die eigene Hemmschwelle herabzusetzen», sagt er. Benzo ist die Abkürzung für Benzodiazepine, eine Gruppe von Wirkstoffen, die unter anderem zur Verringerung von Unruhe und Angst eingesetzt werden. «Wahrscheinlich würde sie auch Heroin nehmen, um sich wach zu halten. Aber nicht zu viel. Sie darf einfach nicht mitten im Geschehen einschlafen.» Stück für Stück hat sich das Team ihrem Zustand angenähert – zumindest der Darstellung des Körperlichen in dem Moment. Und doch stecken darin auch die Hintergründe ihrer ganzen Situation.

Aus dem Norwegischen übersetzt, bearbeitet und Filmtexte aufgezeichnet von DIANA FREI

Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von =OSLO / INSP.NGO

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BILDER:
CINEWORX

Eine Gesellschaft verstehen

Filmfestival Jia Zhang-Ke wird am Filmfestival Visions du Réel in Nyon zu Gast sein. Eine Gelegenheit, auch in die staatlichen Strukturen von Chinas Filmzensur zu blicken: Jia war eine Schlüsselfigur des unabhängigen chinesischen Filmschaffens.

Um Jia Zhang-Kes Werk und seine Themen zu verstehen, muss man den Rahmen des chinesischen Filmschaffens innerhalb des staatlichen Zensursystems einbe ziehen. Grundsätzlich bestimmt in der Volksrepublik China seit Jahrzehnten die regierende Kommunistische Partei, was produziert und gezeigt werden darf. Mal mehr, mal minder streng. 1989, angestossen von der Aufbruchstimmung in der Sowjetunion, entstand eine studentische Demokratiebewegung, ihre brutale Niederschlagung auf dem Tian’anmen-Platz durch das Militär ist (zumindest bei manchen) noch in Erinnerung. Die Demokratiebewegung erfasste nicht zuletzt auch die Absolvent*innen der Beijinger Filmhochschule. Zugleich kamen Digitalkameras auf den Markt, und technisch betrachtet konnte nun jede*r Filme produzieren. Es entstand ein unabhängiges chinesisches Filmschaffen, wobei «unabhängig» bedeutete, dass man seine Werke den Behörden auch nicht mehr zur Genehmigung vorlegte.

Allerdings gibt es ohne Auswertungslizenz des Staates in China keine Möglichkeit der Veröffentlichung. Keine Kinoauswertung, keine DVD, kein Streaming. Die Vorstellungen fanden also im Verborgenen statt, im universitären Kontext, in Bars und Privaträumen (ausführlich nachzulesen in der Filmzeitschrift «Filmbulletin», ChinaSchwerpunkt April/Mai 2021).

Inhaltlich wurden nun keine grossen Heldengeschichten mehr erzählt. Vielmehr wurde das Alltagsleben gezeigt, man dokumentierte Künstler*innenkreise, die eigenen Freund*innen, Homosexuellen-

Communitys, und im Fiktionalen wurden gewöhnliche Menschen zu Protagonist*innen. Auch Jia Zhang-Ke gehörte zu der Szene, sein Spielfilm «Pickpocket» («Xiao Wu») von 1997 wurde zu einem der prägendsten unabhängigen Filme. Er erzählt von Xiao Wu, der sich als Taschendieb über Wasser hält, während die meisten seiner Kumpane längst vorwärtsgekommen sind im Leben, mit unterdessen legalen oder wenigstens halblegalen Geschäften. Als Taschen- ebenso wie Tagedieb streift Xiao Wu durch den Alltag, gelangweilt wie ziellos und abgehängt von einem Leben, das sich sogar hier in der Provinz ein wenig gewandelt hat. Lustlos hängt er mit einer Karaoke-Sängerin aus einem Etablissement ab, wo wahrscheinlich nicht nur gesungen wird. Ein ehemaliger Freund heiratet und lädt Xiao Wu nicht ein, weil er seine kleinkriminelle Vergangenheit hinter sich lassen will. Anzeichen von sozialem Aufstieg werden allgemein aufmerksam beobachtet; festgemacht werden sie zum Beispiel an der Zigarettenmarke, die man sich leistet, wohlwissend, dass sie die entsprechenden Signale gegen aussen sendet.

Jia Zhang-Ke machte in «Pickpocket» seinen Heimatort Fengyang zum Mittelpunkt der Erzählung und thematisierte damit die Modernisierung sowie den damit einhergehenden Wandel in den Dörfern und Kleinstädten. Seine eigene Heimat, die Provinz Shanxi, spielt bei Jia Zhang-Ke oft eine prominente Rolle, gesprochen wird der lokale Dialekt. Der Regisseur bewegt sich indes schon lange nicht mehr ausserhalb des Systems, zu eingeschränkt wären

die Möglichkeiten. Unterdessen müssen Filmschaffende ihre Werke wieder den Behörden vorlegen, um sie im Land zeigen zu können (oder sie haben sich ins Ausland abgesetzt). Den unabhängigen chinesischen Film gibt es in dem Sinn nicht mehr. «The World» («Shijie», 2004) war Jia Zhang-Kes erster Film, der im chinesischen Kino lief. Der Spielfilm erzählt von jungen Menschen, die vom Land nach Beijing kommen, um in einem Themenpark zu arbeiten, und verhandelt so die Auswirkungen der Urbanisierung und Globalisierung auf die traditionelle Kultur.

Umsiedlung von Arbeiter*innen

In Jias Dokumentarfilmen ist es oft eine Vielzahl an Stimmen, die zusammen ein Bild von gesellschaftlichen Umwälzungen zeichnen. So sprechen in «I Wish I Knew» («Hai shang chuan qi», 2010) Filmschaffende, aber auch Ex-Soldaten und Angehörige von Bandenmitgliedern über ihre persönlichen Erinnerungen und spinnen so gemeinsam an einer Erzählung über die Geschichte Shanghais von den 1930er-Jahren bis ins 21. Jahrhundert – ganz im Sinn einer Oral History, durchzogen von atmosphärischen Streifzügen durch die Stadt mit der Schauspielerin Zhao Tao (mit der der Regisseur verheiratet ist).

Und manchmal mischt der Regisseur Dokumentar- und Spielfilm zu einer hybriden Form, wie etwa in «24 City» («Er shi si cheng ji») von 2008. Es ist die Geschichte von tausenden Arbeiter*innen, die 1958 aus dem Nordosten Chinas in den Südwesten umgesiedelt wurden – entsprechend

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dem Plan der Regierung, die wichtige industrielle und militärische Infrastruktur in weniger exponierte Landesteile zu verlegen. Fünf reale Arbeiter*innen erzählen von der Arbeit in der Fabrik, vier weitere Figuren werden von Schauspieler*innen verkörpert, die aber – das war Jia wichtig –als solche erkennbar sind, da sie in China sehr bekannt sind. Die Mischung, sagt er, sei eine Methode, um das Universelle der persönlichen Schicksale herauszuarbeiten und um die Erzählungen bündeln zu können. Immer wieder mit Gedichten durchzogen, ist «24 City» ein Film der Worte. Jia selber sagte in einem Interview: «Ich habe das Gefühl, dass die heutigen MainstreamFilme sich immer mehr auf Action verlassen. Aber die Menschen haben komplexe Gefühle, die sich oft besser und klarer durch Sprache ausdrücken lassen. Warum also nicht einen Film machen, der zu den Worten zurückkehrt?»

Jia Zhang-Ke ist ein Chronist des gesellschaftlichen Wandels.

Umso interessanter ist danach ein Blick auf «A Touch of Sin» («Tian zhu ding») von 2013. Dieser Spielfilm übersetzt die Brutalität der Gesellschaft ganz in Gegenteil in actionreiches Genre-Kino. Ein Minenarbeiter, der gegen die Korruption der Chefs vorgeht. Ein Wanderarbeiter, der sich durchs Leben schlägt – oder eben schiesst. Eine Sauna-Mitarbeiterin, die den männlichen Besuchern keine weiteren Dienste anbieten möchte, obwohl es explizit von ihr verlangt wird – und sich wehrt. Ein Rachedrama, in dem gesellschaftliche Ungerechtigkeiten auf handfeste Weise aus dem Weg geräumt werden – quasi der externalisierte Zustand einer Gesellschaft, die über Leichen geht.

So wechseln sich in Jia Zhang-Kes Werk die sehr leisen und sehr lauten Töne ab, der Kern bleibt aber immer der gleiche: Der Filmemacher ist seit seinen Anfängen ein Chronist des gesellschaftlichen Wandels in China. Am Visions du Réel wird er als Ehrengast eine Masterclass halten – mit Blick auf die Geschichte seines Landes und dessen Menschen.

«Visions du Réel», Filmfestival, 12. bis 21. Apr., Nyon. Masterclass Jia Zhang-Ke, Di, 16. Apr., 14 Uhr, Théâtre de Marens. visionsdureel.ch

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Endgültig Schicht im Schacht

Kino 2018 endete in Deutschland der Steinkohlebergbau. Der Dokumentarfilm «Wir waren Kumpel» begleitet fünf Bergleute auf ihren letzten Schichten und auf ihrem Weg in ein neues Leben.

Eine Kohlezeche im Ruhrpott im Jahr 2018. Dass die Förderräder bald endgültig stillstehen werden, erfüllt die Kumpel mit gemischten Gefühlen. Manche nehmen den Lauf der Zeit gelassen hin. So wie Marco Edelmann, von allen «Langer» genannt. «Man soll arbeiten wie ein Pferd, aber wird bezahlt wie ein Esel. Dementsprechend bin ich da etwas ruhiger.» Er sieht in der Abkehr von der Steinkohleförderung, die zeitlich mit dem Beginn der Fridays-for-Future-Bewegung zusammentrifft, durchaus auch Chancen. Einerseits für sich selbst, andererseits für die junge Generation, die auf ein Umdenken fürs Klima drängt – auch am eigenen Familientisch. Nach 30 Jahren im Bergbau stellt er sich rechtzeitig und pragmatisch der Frage, wie es mit ihm weitergehen soll, und entschliesst sich dazu, Schulbusfahrer zu werden. Als solcher merke er, dass er gebraucht werde. Ein Gefühl, das er vorher nicht hatte.

Anderen fällt die Umstellung weniger leicht. Wie zum Beispiel seinem besten Kumpel Wolfgang «Locke» Herrmann, der jahrelang Seite an Seite mit ihm malocht hat. Ohne die Struktur der Schichtarbeit und die Kameradschaft wirkt er etwas verloren. Was sich etwa dann zeigt, wenn er keinen Schlaf findet oder mit seiner Teenager-Tochter aneinandergerät, als diese sich nicht an der Hausarbeit beteiligen will. «Such dir einen Job!», fährt sie ihn an, bevor sie sich ihrem Handy widmet. Thomas Hagedorn, der auf der Zeche für die frische Arbeitskleidung und saubere Wasch-

räume zuständig war, findet sich ebenfalls nicht gut zurecht. Dem Junggesellen, der mit seiner Mutter zusammenwohnt, droht nach der Stilllegung seiner Arbeitsstätte die soziale Isolation. Es sei denn, es gelinge ihm, sich über seine Leidenschaft fürs Kochen ein neues Umfeld zu erschliessen.

Bilder der Männlichkeit

Lokführer Kirishanthan «Kiri» Nadarajah, der vor über 20 Jahren aus Sri Lanka nach Deutschland kam, anerkennt, dass Veränderung und Verlust zum Leben gehören. Dennoch fällt ihm der Abschied schwer. «Die Zeche war mein Deutschland», sagt er und findet damit Worte dafür, wie wichtig diese Stelle für seine Integration war. Ein Arztbesuch konfrontiert ihn aber auch damit, dass die harte Arbeit «auf’m Pütt» ihren Tribut in Form eines Herzleidens gefordert hat. Die Diagnose zwingt den Familienvater zur kompletten Neuorientierung und dazu, sich verdrängten Erinnerungen aus der Zeit vor der Flucht zu stellen.

Für Martina Klimetzki dagegen ist der Aufbau eines neuen Selbstbildes seit jeher eine Lebensaufgabe. Schon immer wusste sie, dass sie eine Frau im Körper eines Mannes war. Doch hineingeboren in eine Bergbaufamilie, musste auch sie sich in diese Tradition einreihen. «Im Nachhinein hätte ich viel lieber etwas anderes gemacht: Friseuse oder Make-up-Artist. Aber wäre ich damals damit bei meinen Eltern um die Ecke gekommen, die

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hätten gesagt, ich hätte einen am Sträusschen. Es musste ein Männerberuf sein.» 2015 wagte sie den Schritt der Transition. Und ist somit die einzige Frau, die in Deutschland im Steinkohlebergbau unter Tage gearbeitet hat. Der Bergbau sei trotz allem ein Teil von ihr geworden, weshalb sie nun in den Salzbergbau gewechselt habe.

«Wir waren Kumpel» von Christian Johannes Koch und Jonas Matauschek ist eine feinfühlige Langzeitbeobachtung, die in diesen fünf Porträts sowohl den Systemwandel in der Industrie als auch den gesellschaftlichen Wandel in Bezug auf die Vorstellung von Männlichkeit offenlegt. «Aus unserer Sicht symbolisiert die Stilllegung der letzten deutschen Steinkohlezeche exemplarisch ein verspätetes Ende des Industriezeitalters in Westeuropa, das unsere Leistungsgesellschaft nachhaltig geprägt hat. Der jahrzehntelange, schonungslose Umgang mit Ressourcen hinterlässt eine Hypothek, die durch den Klimawandel immer spürbarer wird. Das ikonografische Bild des Bergmanns, der heldenhaft sein Leben riskiert, um ‹Mutter Erde› ihre Schätze abzuringen, wirkt in diesem Zusammenhang anachronistisch», lassen sich die beiden Filmemacher im Presseheft zitieren.

Das Ende des Steinkohlebergbaus in Deutschland war ein Bruch im Leben der Bergleute. Um dies formal hervorzuheben, sind die ersten 40 Minuten den letzten Arbeitstagen inmitten von Werkhallen, Schächten und Waschräumen gewidmet. Erst danach erscheint der Filmtitel: Wir waren Kumpel.

Doch was kommt danach und wer sind wir heute? Der zweite Teil zeigt, wie die fünf Protagonist*innen ihre anfängliche Orientierungslosigkeit überwinden und offen werden für neue, erfüllende Lebensentwürfe. Darin schwingt ein befreiender Denkanstoss mit: Der Mensch ist mehr als seine Arbeit.

«Wir waren Kumpel», Regie: Christian Johannes Koch und Jonas Matauschek, Dokumentarfilm, CH/D 2023, 104 Min. Läuft ab 11. April im Kino.

Des Reimes willen

Buch Ralf Schlatter hat einen märchenhaften Roman in Versen und Reimen geschrieben – ein Lesevergnügen.

Henk, der liebenswert-eigenbrötlerische Held in Ralf Schlatters neuem Roman, steht an seinem fünfzigsten Geburtstag am Strassenrand und blickt auf sein Leben zurück. Und dies, dank seines Autors, auf eine besondere, aussergewöhnliche Weise. Denn Schlatter hat einen ganzen Roman in Versen und Reimen geschrieben. Ein wundersames, verspieltes Epos, das seinen Protagonisten, der schon als Kind so «lang und dünn und bleich» ist, wie einen «Ritter von der traurigen Gestalt» auf eine märchenhafte Lebensreise schickt.

Diese Reise beginnt mit einem traumatischen Erlebnis. Denn das Kind Henk beobachtet den Vater beim Fremdgehen, ausgerechnet mit der Mutter von Trix, Henks Jugendunglücksliebe, die anders als er so «klein und rot und weich» ist. Doch im selben Augenblick, in dem Henk von Schock und Scham geprägt im Herzen zum Eremiten wird, erscheint ein Rabe und sieht den Jungen an, so intensiv, dass Henk das Gefühl hat, in die Seele des Vogels zu blicken.

Von da an hat es Henk mit den Vögeln. Diese werden zu seinen Wegbegleitern, die immer wieder in entscheidenden Momenten seines Lebens auftauchen. Wie etwa Mauersegler, bei deren Anblick dem Achtzehnjährigen «die Freiheit quasi aus dem Fussgelenk wächst». Henk verlässt sein Heimatdorf und seine in Gin zerfliessende Mutter, die seit Jahren nur noch lächelt und summt. In der Stadt verschlägt es ihn sogleich in eine Vogelauffangstation, nachdem ihm ein Punk einen verletzten Buchfinken in die Hand drückt. Hier, in einem Haus mit Amsel, Drossel, Fink und Star, findet er seinen Platz und in der zeitlos jungen und alten Marie, der Leiterin der Station, eine verwandte Seele. Als Marie stirbt, führt Henk, der selber längst ein Kauz geworden ist, die Station weiter. Verführungsversuche von Frau und Mann scheitern an diesem «Meister im Verpassen und Zaudern». Henk droht unter seinen geliebten Vögeln als Eremit zu enden.

Doch da nimmt der Roman einen neuen Anlauf und kehrt an seinen Ausgangspunkt zurück. Zurück zu Henk, der an seinem fünfzigsten Geburtstag am Strassenrand steht. Wieder ist es ein Rabe, der Henk die Richtung weist, zu neuen Abenteuern, zu Feuersbrunst und Zirkuswelt und Liebesglück. Und Vers um Vers wird dieses federleichte Epos immer mehr zu einem tragikomischen Märchen, das der Autor und Kabarettist Ralf Schlatter durch seinen Sprachwitz, seine Selbstironie und sein fantasievolles Spiel «um des Reimes willen» zu einem wahren Lesevergnügen macht. Kleiner Tipp: Ab und zu laut lesen. CHRISTOPHER ZIMMER

Ralf Schlatter:

«Des Reimes willen Henk»

Limbus Verlag 2023. CHF 24.90 FOTO:

Roman in Reimen.

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BILD: ROYAL FILM
ZVG

Veranstaltungen

Langenthal

«Vom Körper im digitalen Leben», Ausstellung, bis So, 23. Juni, Mi bis Fr, 14 bis 17 Uhr, Sa/So 10 bis 17 Uhr, Kunsthaus Langenthal, Marktgasse 13. kunsthauslangenthal.ch

Seit Beginn des Web-Zeitalters in den 1990er-Jahren wird der Körper im virtuellen Raum immer wieder neu diskutiert und in der Kunst verhandelt. Utopien vom Verlassen des Körpers und seiner Cyborgisierung stehen der Ernüchterung über die Realität gegenüber, in der wir während Stunden über glatte Bedienoberflächen streichen und davon Gelenkschmerzen und Schlafstörungen bekommen. Und wir wissen alle: Die Idee eines freien, demokratischen globalen Netzwerks ist – wie enttäuschend banal – mehr oder weniger den Mechanismen von Aufmerksamkeitsökonomie und Kommerzialisierung gewichen. Aber eben nicht ganz. Denn natürlich gibt es sie auch, die soziale und künstlerische digitale Vernetzung und Community-Bildung. In den letzten Jahren formierten sich hier auch vermehrt Empowerment-Bewegungen rund um Körperbilder und Normen, insbesondere in Bezug auf Gender und Race. Wie geht die jüngste Generation von Kunstschaffenden, geboren im Jahrzehnt der Lancierung des World Wide Web, mit dem Körperbild der digitalen Welt um? Mit James Bantone, bleed, Giulia Essyad, Mona Filleul, Victoria Holdt, Milena Mihajlović, Noemi Pfister, Thalles Piaget und Noah Ismael Wyss. DIF

Basel

«Dominique Goblet – Untiefen», bis So, 26. Mai, Di bis So, 11 bis 17 Uhr, Cartoonmuseum Basel, St. Alban-Vorstadt 28. cartoonmuseum.ch

künstler und Dominique Goblet ausgetauscht und gemeinsam eine Geschichte um eine alleinerziehende Mutter gezeichnet, die sich auf der Suche nach einem Partner im Dschungel des Online-Datings verliert: eine introspektive Erzählung über die Gefühlswelt dieser Frau, deren Höhen nund Tiefen durch die ungeheure Wucht der Bilder erfahrbar werden. Zum Album gehört eine installative Arbeit, welche die beiden in Basel neu entstehen lassen. DIF

Zürich

«Krieg und Theater», Stück, Podium, Workshop, Schauspielhaus Zürich, Pfauen, Rämistrasse 34, und Schiffbau, Schiffbaustrasse 4.

Die Kommunikation im familiären Umfeld, die Prägung von Geschlechterrollen durch die Gesellschaft oder das Älterwerden sind Themen, denen die belgische Zeichnerin Dominique Goblet mit einer eigenwilligen Bildsprache auf der Spur ist. International bekannt wurde die Künstlerin mit ihrer autobiografischen Geschichte «So tun als ob heisst lügen» (2007), die die Beziehung zu ihrem alkoholkranken Vater und ihrer Mutter in den Mittelpunkt stellt. «Chronographie» wiederum erarbeitete sie zusammen mit ihrer Tochter, die zu Beginn der Arbeit sieben Jahre alt war. Entstanden ist eine Reihe gegenseitiger Porträts, die sie nach zehn Jahren zu einem berührenden Album verdichtete. Goblet arbeitet oft auch mit anderen Künstler*innen zusammen, zum Beispiel mit Kai Pfeiffer für «Bei Gefallen auch mehr …»: Über sechs Jahre lang haben sich der Berliner Comic-

21. April (11 Uhr, Schiffbau-Box) findet ein Podium über den Krieg im Nahen Osten statt. In Kooperation mit dem Magazin Republik wird unter der Moderation von Daniel Binswanger über die prägenden Debatten und Dynamiken sowie über (antimuslimischen) Rassismus und Antisemitismus diskutiert. Beides hat auch in der Schweiz seit dem 7. Oktober 2023 in erschreckendem Ausmass zugenommen. Und am Mittwoch, 24. April (17 Uhr, Pfauen-Kammer) findet in Zusammenarbeit mit dem National Coalition Building Institute (NCBI) ein Workshop zu Vorurteilen statt. Der Workshop wird von einem erfahrenen Team des NCBI, bestehend aus jüdischen und muslimischen Mitgliedern, geleitet und ermutigt dazu, eigene unbewusste und stereotypisierte Blickweisen zu hinterfragen. Mit Ramazan Özgü und Ron Halbright. DIF

Schaffhausen

«Aufstehen», Gottesdienst mit Surprise Strassenchor, So, 14. Apr., 17 Uhr, Zwinglikirche, Hochstrasse 202.

Gäbe es doch nur endlich eine Dernière all der Kriege auf der Welt. Einfach so absetzen lassen sie sich diese Dramen leider nicht, das weiss man auch beim Schauspielhaus Zürich. Was bleibt an Optionen? Die Auseinandersetzung mit dem Thema. Die Frage, wie sich unaussprechliche Gewalt erzählen lässt. Wo die Grenzen der Ausdrucksfähigkeit sind. Und wie die Kunst ihren Beitrag zum Frieden leisten kann. Fragen wie diese stehen in mehreren Formaten auf dem Programm. Am 24. Februar 2022 floh der ukrainische Regisseur Stas Zhyrkov mit seiner Familie aus Kyiv. Seitdem lebt er im Exil. Mit «Antigone in Butscha» knüpft das Schauspielhaus Zürich an seine Tradition als Exiltheater an und empfängt Stas Zhyrkov, um seine Sicht auf den Krieg, auf die Geschichte und auf den westeuropäischen Umgang damit darzustellen. Am Sonntag, 7. April (16 Uhr, Pfauen) ist seine Inszenierung zum letzten Mal zu sehen. Am Sonntag,

Der Bob-Marley-Song «Get up, stand up» gehört natürlich zum Repertoire des Surprise Strassenchors, und wenn die Sänger*innen in einem nachösterlichen Gottesdienst auftreten, ergibt sich eine ganz eigene Mischung aus christlicher Auferstehung und dem «Aufstehen» als Lebensthema – als würdevolles Aufrechtstehen, als Einstehen für seine Rechte, als Wiederaufstehen nach Krisen. Auferstehung habe nicht nur an Ostern und am Lebensende seine Bedeutung, findet auch Nicole Russenberger, die Sozialdiakonin der Kirchgemeinde Zwingli, sie geschehe täglich und überall auf unserem Planeten. Vor allem, oder auch, unter prekären Lebensbedingungen. Das wird also ein gemeinsames Nachdenken übers Aufstehen, ein Mutmach-Gottesdienst sozusagen, mit viel Gesang. Im Anschluss sind alle zu einem Apéro eingeladen, die Kollekte geht an den Verein Surprise. DIF

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BILD(1): THALLES PIAGET BILD(2): DOMINIQUE GOBLET UND KAI PFEIFFER, FREMOK/ACTES SUD BD, 2014, BILD(3): SCHAUSPIELHAUS ZÜRICH, PHILIP FROWEIN BILD(4): KLAUS PETRUS

Pörtner in Egerkingen

Surprise-Standorte: Coop Gäupark

Einwohner*innen: 4311

Anteil Ausländer*innen in Prozent: 37,1

Sozialhilfequote in Prozent: 3,3

Geschichte: Ein Chronist namens Haffner bezeichnete 1666 Egerkingen als «ein halb irdisch Paradies».

Das berühmteste Gebäude Egerkingens ist das Motel, nicht zu verwechseln mit dem Hotel, das sich ganz in der Nähe befindet. Als dritte Unterkunftsvariante steht noch ein Gasthof bereit. Diese Häufung von Unterkünften ist natürlich der geografischen Lage und der Autobahnnähe geschuldet. Aus denselben Gründen befinden sich hier mehrere Industriegebiete, in denen sich unter anderem Transport- und Logistikunternehmen niedergelassen haben. Eine gegen die Autobahn gerichtete Fassade wirbt für den Europapark, der auch nicht mehr allzu weit ist.

Das Einkaufszentrum Gäupark geht fast als eigenes Quartier durch. Es findet sich alles für Mensch und Tier, allerdings ist es noch mit «Winterpark» angeschrieben, und der Winter hat sich für

dieses Jahr verabschiedet. Ein früher Frühling treibt erste Blüten. In der Ebene stehen die Blocksiedlungen, während sich die Einfamilienhäuser eher an die Hänge schmiegen. Am Fusse des Berges befindet sich die Vorstadt. Es gibt eine kleine Kneippanlage, die noch nicht in Betrieb ist. Wie das Schild am Eingang vermuten lässt, wird die Anlage nicht nur von Kneipp-Willigen benutzt. Ausdrücklich verboten sind Lärmen, Rauchen, Drogen und Hunde. Offenbar wurde der Platz als Partyzentrale missbraucht, von der Jugend vermutlich.

Wenig Freude daran hätte wohl Josef Meinrad Lauber, dem die Anlage gewidmet ist. Er blickt streng von seiner Bronzetafel, war Schulmeister, Kulturförderer und Sängervater. Singen ist trotzdem nicht erlaubt, zumindest nicht

von 22.00-06.00, da ist das Betreten der Anlage unter Bussandrohung von bis zu 2000 Franken verboten. Zu den anderen Zeiten steht unter anderem ein Barfusspfad zur Verfügung, bei dem über unterschiedliche Materialien gegangen wird. Die korrekte Benutzung der Anlage wird auf illustrierten Schildern erklärt.

Wer, allerdings kaum barfuss, weitergehen will, findet eine Anzahl gut ausgeschilderter Spaziergänge vor. Zum Beispiel die Waldwanderung «Von Holderbank über den Roggenschnarz nach Egerkingen», die von hier aus allerdings in umgekehrte Richtung absolviert würde. Weiter oben lockt denn auch eine Aussichtsplattform, «Schattenhüsli» genannt, von wo aus sich weit ins Mittelland hinausblicken lässt.

Vor der Martinskirche steht ein Denkmal des Bruder Klaus, Vater des Vaterlandes. Vor der Kirche steht eine grosse Linde, unter der sich auf Bänken verweilen lässt. Drinnen wird still gebetet, während draussen die Lastwagen vorbeidonnern. Von aussen eher trutzig, strahlt das Innere der Kirche prächtig, renoviert wurde sie vor rund vierzig Jahren und steht seither unter dem Schutz der Eidgenossenschaft.

Die reformierte Kirche befindet sich in der Nähe des Bahnhofs, unweit von ihr fliesst nicht etwa die Eger, sondern die Dünnern, gesäumt von weiteren Spazierwegen. Wer in der einen oder der anderen Kirche oder sonstwo Hochzeit gefeiert hat, findet bei «Heiraten Plus» im Gasthof Kreuz geeignete Räumlichkeiten für das Fest. Wer etwas Distanz braucht oder mal rauskommen will, kann sich bei e-motion e-Bike-World ein Fahrzeug kaufen und damit die Gegend erkunden, etwa den nahegelegenen Hauenstein, von wo aus die Welt schon wieder ganz anders aussieht.

STEPHAN PÖRTNER

Der Zürcher

Schriftsteller Stephan Pörtner besucht

Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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Tour de Suisse

Die 25 positiven Firmen

Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.

Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.

Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

Stoll Immobilientreuhand AG

Gemeinnützige Frauen Aarau movaplan GmbH, Baden

Maya Recordings, Oberstammheim

Madlen Blösch, Geld & so, Basel onlineKarma.ch / Marketing mit Wirkung

Scherrer + Partner GmbH www.dp-immobilienberatung.ch

Kaiser Software GmbH, Bern Buchhaltungsbüro Balz Christen, Dübendorf

Heller IT + Treuhand GmbH, Tenniken

Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

Bodyalarm GmbH – time for a massage

Anyweb AG, Zürich

Beat Vogel – Fundraising-Datenbanken, Zürich

Fäh & Stalder GmbH, Muttenz

Hypnose Punkt, Jegenstorf

Unterwegs GmbH, Aarau

Infopower GmbH, Zürich

Dipl. Steuerexperte Peter von Burg, Zürich

Büro Dudler, Raum- und Verkehrsplanung, Biel

Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich

www.raeber-treuhand.ch

Beo Treuhand GmbH

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden?

Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei.

Spendenkonto:

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Kontakt:

Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T

SURPLUS – DAS

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Das Programm

Wie wichtig ist Ihnen Ihre Unabhängigkeit?

Einige unserer Verkäufer*innen leben fast ausschliesslich vom Heftverkauf und verzichten auf Sozialhilfe. Surprise bestärkt sie in ihrer Unabhängigkeit. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie erhalten ein Abonnement für den Nahverkehr, Ferienzuschlag und eine Grundausstattung an Verkaufskleidung. Zudem können bei finanziellen Notlagen aber auch für Gesundheits- oder Weiterbildungskosten weitere Unterstützungsbeiträge ausgerichtet werden. Die Programmteilnehmer*innen werden von den Sozialarbeiter*innen bei Surprise eng begleitet.

Eine von vielen Geschichten Josiane Graner, Juristin, wurde in ihrem Leben von schweren Schicksalsschlägen getroffen. Sie kämpft und steht immer wieder auf. Ein Geschäftsprojekt, das sich zum Flop entwickelte, führte sie 2010 zu Surprise. Ihr Geschäftspartner hatte sich ins Ausland abgesetzt und sie mit dem Schuldenberg allein gelassen. Um ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten, verkauft Josiane Graner in Basel das Strassenmagazin. Zudem ist sie für den Aboversand zuständig. Dank des SurPlus-Programms erhält sie ein ÖVAbonnement und Ferientaggeld. Diese Zusatzunterstützung verschafft der langjährigen Surprise-Verkäuferin etwas mehr Flexibilität im knappen Budget.

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Derzeit unterstützt Surprise 29 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.

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Wir

#569: «Niemand schämt sich dafür, eine höhere AHV-Rente zu beziehen»

«Auf Solidarität gebaut»

Ich habe noch nie etwas zu diesem Thema gelesen, das so klar, konzis und gut verständlich formuliert war, wie Carlo Knöpfels Antworten auf die guten Fragen des Journalisten. Fortan werde ich in Diskussionen im Freundes- und Bekanntenkreis, aber auch in meiner Ortspartei, der SVP, Knöpfels Argumente vertreten. Es fiel mir beim Lesen der Erklärungen wie Schuppen von den Augen; wie hatte ich, der ich vor der Pensionierung zehn Jahre ein RAV hatte leiten dürfen, vergessen können, dass der der AHV zugrundeliegende Kern einer auf Solidarität gebauten Versicherung dem gleichen Prinzip wie die ALV folgt? Wie viele Male hatte ich doch Versicherten ins Gewissen reden müssen, weil sie sich zierten – oder gar schämten –, die Hilfe des RAV und der ALK in Anspruch zu nehmen. Das wirkungsvollste Argument bestand dann jeweils darin, den Versicherten zu erklären, dass durch die Hilfe nicht nur sie, sondern der Gesellschaft insgesamt geholfen sei, weil die Wahrscheinlichkeit, dass sie wieder zu selbsterwirtschaftetem Lohn und Brot kämen, im Interesse aller liege, dass sie also durch die Inanspruchnahme der ihnen zustehenden Versicherung auch etwas für die Gesellschaft leisteten und schon gar nicht irgendjemandem etwas wegnähmen. Ich teile Knöpfels Ansicht: Wenn die AHV für viele nicht reicht, ist sie zu erhöhen, anstatt, deren Sinn vernebelnd, die Menschen bei der Sozial- und anderen Hilfen anklopfen zu lassen.

BERNHARD ECKLIN, Zollikon

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Sara Winter Sayilir (win), Klaus Petrus (kp), Lea Stuber (lea)

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Ständige Mitarbeit

Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer

Mitarbeitende dieser Ausgabe

Abdellah Azizi, Urs Habegger, Ruben Hollinger, Helena Hunziker, Andrea Marti, Even Skyrud

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

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#568: Bloss nicht abheben

«Zum Buch ‹Der Traum vom Fliegen›»

Habe anfangs Januar
diese Collagen geklebt. Passt doch gut zum Thema des vorgestellten Buches von Milena Moser.

KATHRIN KUMBUNDU, Niederglatt

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alle sind Surprise
FOTO: ZVG

«Der Mensch muss arbeiten»

«Ich verkaufe Surprise nun schon seit acht Jahren in Ittigen vor der Migros. Von daher kenne ich viele Leute, die dort regelmässig einkaufen, und sie kennen mich. Manchmal bin ich ganz überrascht, wenn mich jemand grüsst, wenn ich an einem anderen Ort bin, zum Beispiel in Bern im Tram. Diese Kontakte freuen mich sehr. Und auch, dass manche Leute fragen, wo ich war und wie es mir geht, wenn ich ein paar Tage nicht an meinem Verkaufsplatz war.

Von Anfang an war ich sehr froh um diese Arbeit, denn die erste Zeit nach meiner Flucht und der Ankunft in der Schweiz lebte ich in der unterirdischen Zivilschutzanlage von Ittigen, mit bis zu hundert anderen Männern. Das Zusammenleben auf engstem Raum war nicht einfach, deshalb war ich umso glücklicher, als ich von Surprise hörte und von da an tagsüber draussen Hefte verkaufen konnte.

Aus meinem Heimatland Eritrea bin ich 2014 geflüchtet, weil ich es nach fünfzehn Jahren im Militärdienst nicht mehr aushielt. Eine Entlassung aus dem Dienst war noch lange nicht vorgesehen. Meine Frau und unsere fünf Kinder sah ich fast nie. Zudem wusste ich kaum, wie ich sie mit dem wenigen Geld, das ich erhielt, ernähren sollte. Also ergriff ich eines Tages bei einer günstigen Gelegenheit die Flucht aus der Militärbasis und brachte mich so schnell wie möglich im Nachbarland Sudan in Sicherheit. Hätte ich das nicht gemacht, hätte man mich gesucht, verhaftet und später sowieso wieder zum Militärdienst gezwungen.

Dank der Unterstützung meiner Brüder, die bereits vor mir nach Schweden und in die USA geflüchtet waren, machte ich mich schliesslich auf den Weg nach Europa. Die ganze Flucht von Khartum durch die Sahara bis Libyen und dann die Überfahrt mit dem übervollen Boot bis nach Italien war extrem gefährlich. Im Nachhinein glaube ich, ich habe das nur durch ein Wunder überlebt.

Nach eineinhalb Jahren in Ittigen kam ich in eine andere Flüchtlingsunterkunft in Interlaken. Diese war besser, weniger Menschen in einem Haus und nicht mehr in einem Untergeschoss. Dafür lief der Heftverkauf dort nicht so gut. Vielleicht weil Surprise in der Region noch weniger bekannt ist. Zum Glück aber spielte das schon bald keine Rolle mehr, denn ich erhielt die Aufenthaltsbewilligung B und durfte mir eine eigene Wohnung suchen. Der Zufall wollte es schliesslich, dass ich die Wohnung eines Kollegen übernehmen konnte –in Ittigen!

Iyob Kiflemariam, 58, verkauft gern Surprise in Ittigen, wünscht sich aber dennoch sehnlichst eine feste Arbeit.

Sehr glücklich war ich auch, als meine Frau und die Kinder, die in der Zwischenzeit nach Äthiopien geflüchtet waren, 2018 im Familiennachzug in die Schweiz reisen durften. Wobei wir nicht sofort zusammenwohnen konnten: Meine Frau wurde mit den Kindern zuerst in einer Flüchtlingsunterkunft in der Nähe von Worb untergebracht, und erst einige Monate später zogen wir dann zusammen in eine Wohnung in Burgdorf.

Inzwischen sind wir bereits seit vier Jahren in Münchenbuchsee zu Hause. Die älteren Kinder sind zum Teil schon ausgezogen, die jüngeren sind noch daheim und in der Lehre oder auf der Suche nach einer Lehrstelle. Meine Frau verkauft ebenfalls Surprise, und zwar in Münchenbuchsee. Ich möchte keinen anderen Verkaufsplatz als den in Ittigen, das ist klar. Hingegen ist es mein grösster Wunsch, eine feste Arbeit zu finden. Bisher hat es nicht geklappt, was wahrscheinlich auch an meinem Deutsch lag. Doch dafür besuche ich nun seit sechs Monaten einen Intensivkurs und lerne zudem Auto fahren. Beides hilft mir hoffentlich, bald eine Stelle zu finden. Da ich auf dem Land aufgewachsen bin, würde ich gerne als Gärtner oder auf einem Bauernhof arbeiten. Der Mensch muss arbeiten. Ich hoffe, ich bekomme bald eine Chance, denn ich bin noch fit. In Eritrea arbeitet man bis ans Ende des Lebens. Das wünschte ich mir hier für mich auch.»

Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN

30 Surprise 572/24 Surprise-Porträt
FOTO: RUBEN HOLLINGER

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10– 18 Uhr Zürich
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So
April,
So 26. Mai, 10–
Uhr Schützi, Olten Sa 7. September, 10–
Uhr Sekundarschule Vogesen, Basel
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