Surprise 565/ 24

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davon gehen CHF 4.– an die Verkäufer*innen

Feiertage

CHF 8.–

Unser Adventskalender geht weiter: Sehnsüchte, Anliegen, Gedankenanstösse

Auf ein Neues!

Strassenmagazin Nr. 565 15. Dez. bis 4. Jan. 2024

Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass



FOTO: ZVG; TITELBILD: KATRIN VON NIEDERHÄUSERN

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Katrin von Niederhäusern arbeitet freiberuflich in Zürich in den Bereichen Illustration, Art Direction, Animation und Brand Identity. Sie kann es manchmal selbst nicht glauben, dass sie mit ihrer Arbeitskollegin Janine Wiget schon drei CouchgagIntros für die Simpsons kreieren und animieren durfte.

Illustrationen

Laufend alt werden

Florian Wüstholz

bericht zum jahreswechsel

Julia Rüegger

Wissen, was wir sagen wollen

9 Karin Pacozzi

Die Abersager

7 Dmitrij Gawrisch

Loslassen

Hans Rhyner

Die Pyramide des Diktators

5 Franziska Tschinderle

hie loch r en

Am Anfang anfangen

17 Hayat Erdoğan

Während man anderswo ist

15 Ingo Petz

«Ihr Anruf ist uns wichtig»

13 Umut Dirik

Zwölf Stunden

Adriana Ruzek

Lado

11 Klaus Petrus

Andere sind immer anders

23 Urs Habegger

Tschüss!

Lea Stuber

Moorhühner abschiessen

21 Migmar Dolma

Hyänen

Genet Weldu

Lebensenergie

Tsige Beyene

Als Minderheit auf der Gasse

19 Nina Hunziker

31 SurPlus Positive Firmen Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

Weitersegeln

Ute Sengebusch

Plan B

29 Anina Ritscher

Zurückschauend voranschreiten

27 Edwin Ramirez

Poesie für vergessene Leben

25 Melanie Katz

Redaktorin

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Erzählen lassen – vielleicht ist das jetzt unsere eigene Variante von dem, was auch die aufsuchende Sozialarbeit im Winter auf den Gassen macht, wenn sie das Rendezvous der Gesellschaft mit sich selbst beobachtet.

Wir haben für dieses Heft also wieder Cartes blanches verteilt. Wir haben Menschen auch, aber nicht nur in ihrer beruflichen Funktion angesprochen. Sondern sie auch nach persönlichen Momenten gefragt. So habe ich Neues über meine Redaktionskolleg*innen erfahren, über ihre Spinnen daheim und was sie abends in der Beiz erleben. Und zwischendurch dachte ich: Es ist eine ziemlich wilde Mischung, die da zusammenkommt.

DIANA FREI

Es lohnt sich, die Menschen einfach mal erzählen zu lassen. Wir spüren Sorgen, Anliegen, Befindlichkeiten in diesen Texten. Und wir bekommen eine kleine Ahnung davon, wie das Leben auf den Baumwollfeldern in Eritrea ist. Ich werde bestimmt daran denken, wenn ich mir das nächste Baumwoll-T-Shirt kaufe.

Weiter geht es mit unserem Adventskalender, und zwar bis im Januar. Denn immerhin ist gerade auch für viele unserer Verkäufer*innen am 6. und 7. Januar erst (oder schon wieder) Weihnachten: im orthodoxen Christentum nämlich, also in Serbien etwa oder in Eritrea und Äthiopien.

Wir treffen uns zum Rendezvous

Editorial


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Brutalistische Gebäude erleben einen Hype. Backpacker*innen, Hipster und Architektur-Student*innen machen auf ihrer mehrwöchigen Balkan-Reise Fotos von sozialistischen Grossbauten und lieben deren «rohen Charme». Man könnte auch sagen: Das Hässliche ist cool geworden. So auch mit einer Pyramide in Tirana. Mitten im Zentrum der albanischen Hauptstadt steht der eigenwillige Bau, 1988 zu Ehren des sozialistischen Diktators Enver Hoxha errichtet. Hoxha war drei Jahre zuvor gestorben. Er gilt als einer der bizarrsten, aber auch brutalsten Sozialisten, die das moderne Europa bisher hervorgebracht hat. Arbeitslager, Schussbefehl an der Grenze und hunderttausende Bunker waren Teil seines sozialistischen Regimes, das Albanien den Spitznamen einbrachte: das Nordkorea Europas. Bis heute finden sich in Albanien Überbleibsel aus dieser Ära: Tunnel für Kriegsgerät in den Bergen, Ziegelsteinbaracken mit verblichenen kommunistischen Parolen oder stillgelegte Fabriken. Die Pyramide aber ist das mit Abstand eigenwilligste Gebäude, gebaut aus weissem Marmor, rotem Stahl und bläulich schimmerndem Glas. Von oben sieht sie wie ein Stern aus – das Symbol der Partisanen im Zweiten Weltkrieg. Nach dem Ende der Sozialistischen Volksrepublik Albanien versank die Pyramide im Müll und Jugendliche nutzten ihre Flanken als Rutschbahn. Damit ist es jetzt vorbei. Nun soll die Pyramide von Tirana das neue Aushängeschild der Stadt werden. Ein Architekturbüro aus Dänemark hat die Pyramide für über zwölf Millionen Euro umgestalten und renovieren lassen, finanziert mit Geldern aus öffentlichen Töpfen und Entwicklungsfonds. Im Inneren können sich Start-up-Firmen, Tech-Labors, Universitäten und Cafés einmieten. All das passt gut zur Vision des neoliberalen Bürgermeisters Erion Veliaj, der formal zwar einer sozialdemokratischen Partei angehört, in der Praxis aber für eine gänzlich andere Politik steht, nämlich den Ausverkauf der Stadt an Investor*innen. Unter ihm hat sich Tirana, einst rückständig und isoliert, zu einer Stadt entwickelt, die in Architektur-Magazinen auf der ganzen Welt gefeiert wird. Das ist zumindest die Fassade, die Veliaj zeigt.

Die Pyramide des Diktators

Genau heute vor einem Jahr, am 16. Dezember 2022, da sass meine Mutter traurig auf ihrem Bett im Altersheim in Elm. Und ich dachte: Hierher gehört sie nicht. Meine Schwester Romi und ich hatten sie an dem Tag vom Kantonsspital Glarus hergebracht, nun war meine Schwester bereits

wieder alleinlassen müssen. Eine Nacht hätte ich zwar bleiben können, aber am Tag darauf hätte ich wieder zurück nach Zürich fahren müssen. Und was dann? Was, wenn ihr etwas passiert wäre? Ich hätte damit die ganze Verantwortung anderen aufgeladen, ich hätte sie der Schwester,

Loslassen


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FR ANZISK A TSCHINDERLE ist Journalistin mit Schwerpunkt Balkan. Sie lebt in Tirana und hat 2022 ein Buch über Albanien veröffentlicht.

Hinter den Kulissen hat Tirana zu kämpfen: steigende Mieten, kein Trinkwasser in den Wohnungen und ein mangelhaftes öffentliches Verkehrsnetz. Tirana hat kein U-Bahn- oder Tramnetz, nur ein paar Buslinien. Insbesondere an den Rändern der schnell wachsenden Stadt grassiert die Armut. Diese Seite aber zeigt der Bürgermeister nur selten auf seinem Instagram-Account. Er poliert lieber das Stadtzentrum auf. Wie die Pyramide: Jahrelang tobte der Streit über die Frage, was mit dem Denkmal des Diktators geschehen sollte. Ein Nachtclub oder doch ein Parlament? Ein Atelier für Künstler*innen? Einige plädierten dafür, sie einfach stehen zu lassen, weil sie – so hässlich sie auch war – zur Geschichte Albaniens dazugehört. Immerhin hat das Land auch die italienischen Palazzi aus der Zeit des Faschismus nicht abgerissen. Albanien muss damit zurechtkommen, dass der Grossteil seiner Infrastruktur auf diktatorische Zeiten zurückgeht. Das Land ist erst seit knapp dreissig Jahren eine Demokratie. Drängender schien mir die Frage: Wer wird die Pyramide nutzen? Tirana fehlt es an öffentlichen Orten, die Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten zugänglich sind, wo man sich aufhalten kann, ohne etwas konsumieren zu müssen: Parks, Spielplätze, Flaniermeilen mit Bänken. Was, wenn die Pyramide am Ende zu einer Einkaufsmall würde, von der wieder nur ein Teil der Bevölkerung profitiert? Heute ist die Pyramide ein Erlebnis. Im Winter, wenn es früh dunkel wird, kann man tagsüber an der Spitze die letzten Sonnenstrahlen geniessen und sich mit einem Coffee to go auf die Stufen setzen. Es ist ein Ort, an dem albanische Jugendliche auf ausländische Tourist*innen mit Selfie-Sticks treffen. Und genau das macht den Aufstieg auf die Pyramide zu einem politischen Erlebnis. Eine junge Generation holt sich zurück, was ihren Eltern und Grosseltern mit Zwang auferlegt wurde.

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HANS RHYNER ist Surprise Stadtführer in Zürich und verkauft das Strassenmagazin in Schaffhausen, Zug und Zürich.

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die in der Nähe in Ennenda lebt, zugeschoben. Es hätte Streit unter uns allen gegeben, weil ich eine Fehlhandlung begangen hätte. Und dies nur, weil ich mich selber schuldig fühlte und mich davon befreien wollte. Auch die Spitex sagte, die Mutter hätte die Situation zuhause auch nicht mehr verstanden. Sie sagten, in ihrem Fall müsste ich rund um die Uhr da sein, und das würde die Mutter wahrscheinlich auch nicht wollen. Im Juni dann, als ich wieder einmal als Letzter der Geschwister bei ihr im Altersheim zu Besuch war, sagte sie zu mir: «Hans, schau, dass ihr Frieden habt untereinander.» Sie sagte das wahrscheinlich auch, damit sie selber loslassen durfte. Ich bin mir sicher, dass sie dasselbe auch allen meinen Geschwistern, jedem einzeln, gesagt hat. Und wir lösen es heute noch ein. Das war, was wir wirklich noch für sie tun konnten.

FÜHRT WOHLSTAND ZU KULTURVERWAHRLOSUNG?

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gegangen. Ich blieb allein bei der Mutter zurück. Da spürte ich, ich muss anfangen loszulassen. Das ist natürlich ein gegenseitiges Loslassen. Sie merkte wahrscheinlich selber auch, dass es vielleicht nicht mehr lange geht. Sie wusste bestimmt auch, wenn ich danach ins Elternhaus gehen würde, um Holz zu hacken, dass ich es eigentlich bereits nicht mehr für sie mache. Ich als Sohn tue es nicht mehr für die Mutter. Ich ging in den Monaten darauf trotzdem immer wieder Holz hacken, natürlich immer verbunden mit einem Besuch im Altersheim. Aber es hat mir jedes Mal wehgetan. Zuerst ins Elternhaus und danach erst zur Mutter. An einen anderen Ort. An diesem 16. Dezember schien mir also, sie passe so gar nicht in dieses Altersheim. Ich ging zum Pflegepersonal und sagte: «Ich nehme die Mutter wieder mit nach Hause.» Ich hatte Schuldgefühle, weil sie immer gesagt hatte, sie wolle nie ins Altersheim. Wir hatten sie gegen ihren Willen dorthin gebracht. Ich hatte das Gefühl, wir hätten sie hintergangen. Ich musste mir eingestehen, dass ich der Mutter keinen Gefallen getan hätte, wenn ich sie wieder mitgenommen hätte, mir selber nicht und meinen Geschwistern auch nicht. Ich hätte sie


Die Abersager

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Aber Hand aufs Herz: Würdest du, wenn du in einem autoritären Staat lebst, nicht auch einfach die Klappe halten, statt gegen einen Krieg zu protestieren, den du eh nicht verhindern kannst?

Aber unsere Sanktionen dürfen die normalen Russinnen und Russen nicht treffen, sie sind in diesem Krieg genauso Opfer wie die Ukrainer.

Aber unsere Medien erzählen uns nur die halbe Geschichte, damit das klar ist.

Aber bei allem Verständnis für das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine dürfen wir Russlands Sicherheitsinteressen nicht vergessen.

Aber das ist doch gar kein echter Krieg, sondern bloss eine spezielle Militäroperation zur Denazifizierung und Demilitarisierung der Ukraine.

Aber ein Krieg gegen eine Atommacht ist eh nicht zu gewinnen.

Aber wir müssen dafür sorgen, dass die Ukraine keine Ziele auf russischem Gebiet treffen kann.

Aber die russischen Soldaten, die haben doch auch Frauen, Kinder, Hunde, Katzen.

Aber war die Ukraine nicht immer schon ein Teil Russlands?

Aber wetten, dass irgendwann rauskommt, dass hinter allem mal wieder die USA stecken?

Aber syrische Fahnen hat seinerzeit doch auch niemand ins Fenster gehängt, wie sehen die überhaupt aus?

Aber verkauft die Ukraine die gelieferten Waffen nicht auf dem Schwarzmarkt weiter?

Aber es ist doch die NATO, die Russland auf die Pelle rückt.

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DMITRIJ GAWRISCH, geboren 1982 in Kyjiw, Ukraine, studierte Wirtschaftswissenschaften in Bern. Er schreibt Theaterstücke und Prosa. Im April 2024 feiert seine Patchwork-Komödie «Die Dampfnudel» bei Bühnen Bern Premiere.

Aber unsere Neutralität ist wichtiger.

In der Ukraine sterben Kinder, sagt der Vater.

Aber wenn ich eine Schweigeminute für die ukrainischen Toten einlegen soll, dann will ich gefälligst auch eine Schweigeminute für alle anderen Toten einlegen, verstanden?

Aber jetzt muss die Ukraine endlich an den Verhandlungstisch gezwungen werden.

Aber als Demokrat*innen müssen wir beide Seiten ernstnehmen: Wie sehen eigentlich die Russ*innen diese Angelegenheit?

KANN DIE SCHWEIZ UNSEREN BILDUNGSHUNGER STILLEN?

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Aber wir haben doch genug eigene Probleme.

Aber warum kriegen die ukrainischen Flüchtlinge hierzulande eine Vorzugsbehandlung?

Mein Zuhause ist kaputt, sagt das Kind.

Aber wir wissen doch wohl am besten, ob die Ukraine auch Kampfflugzeuge braucht oder nicht.

Aber langsam finde ich das schon ein bisschen lästig: Können diese Ukrainer nicht mal aufhören, um immer mehr Panzer zu betteln?

Aber die russischen Soldaten sterben doch nur, weil sie versuchen, die russischsprachige Minderheit in der Ukraine zu schützen.

Aber Waffenexporte in Kriegsgebiete sind aus gutem Grund verboten.

Aber verlängern Lieferungen tödlicher Waffen nicht bloss das sinnlose Blutvergiessen?

Ich brauche Munition, keine Mitfahrgelegenheit, sagt der Präsident.

Aber was geht mich diese Ukraine überhaupt an?

Aber ich würde doch so gern bald eine Reise mit der Transsibirischen machen, das ist ein Lebenstraum von mir, wissen Sie?

Aber was wird aus unserer Wirtschaft ohne russisches Gas?

Aber die Ukrainer haben Russland doch provoziert, warum beharren sie auch so auf ihrer eigenen Sprache, warum wollen sie ausgerechnet in diese korrupte EU?

Aber können sich die Ukrainer nicht einfach ergeben, um weitere Opfer zu vermeiden?

Aber zum Glück wird das alles nicht lange dauern, drei Tage, höchstens, was hat die kleine Ukraine der russischen Übermacht schon entgegenzusetzen?

Der Krieg hat begonnen, schreibt die Schwester.

Aber es ist doch Nacht, noch lange Nacht, warum hört dieses dumme Handy nicht auf zu vibrieren?


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K ARIN PACOZZI verkauft Surprise in Zug. Die 13 T-Shirts mit Aphorismen und Sprichwörtern von SurpriseVerkäufer*innen sind online erhältlich: surprise.ngo/shop.

In der ganzen Menschheitsgeschichte gab es noch nie einen Moment des Friedens. Immer wieder gab es die grausamsten Kriege, leider auch heute noch. Wunder dagegen existieren, daran glaube nicht nur ich. Es gibt sogar Wunder, die von der katholischen Kirche anerkannt sind. Und da ich an Wunder glaube, darf ich eben auch auf Frieden hoffen. Ich mache schon seit Jahren keine Weihnachtsgeschenke mehr (meine Familie ist auch sehr klein geworden), aber ich nehme mir viel Zeit, koche gerne, um einfach mit anderen zusammen zu sein. Auch, weil ich weiss, dass die wertvollsten Geschenke die sind, die man sich nicht kaufen kann. In diesem Sinne wünsche ich allen, dass sie Frieden finden. Und vielleicht auch das eine oder andere Wunder.

Ich glaube an Wunder und hoffe auf Frieden.

In unserer Gruppe, in der wir regelmässig Kolumnen schreiben, haben wir zum diesjährigen Surprise-Jubiläum auch T-Shirts betextet – mit Statements, Aphorismen, Sprichwörtern. So sind in diesem Jahr unsere eigenen Lebensweisheiten entstanden. Wir sind zufrieden, ja sogar stolz darauf. Wer kann schon in kurzen Sätzen, in nur einigen Worten, so viel aussagen? Wir haben viele Post-its mit Ideen beschrieben und in der Gruppe darüber diskutiert. Von all den Textvarianten waren viele gut, aber am Schluss hat sich für jede*n eine bestimmte Aussage klar herauskristallisiert. Plötzlich hatten wir alle diesen speziellen Moment, in dem klar wurde: Jetzt weiss ich, was ich sagen will! Bei mir war das:

Wissen, was wir sagen wollen

und Literaturveranstalterin in Basel. Der Text stammt aus ihrem Gedichtband «einsamkeit ist eine ortsbezeichnung» (Schiler & Mücke, 2023).

JULIA RÜEGGER lebt als Autorin, Lektorin

dass mein verhältnis zu mir noch immer schwankt dass das heimweh der anderen schwer zu übertönen dass der alltag zunehmend auf abschüssigen wegen dass schlaflose nächte bis in den nachmittag dauern dass die zuversicht zunehmend abhandenkommt auch die uns nach abschieden wiederzufinden dass einer fort ist den ich kürzlich noch kannte dass das schweigen langsam an entschlossenheit gewinnt

bericht zum jahreswechsel

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Ein weiteres Mal haben wir die Sonne umrundet. Zeit, die Laufschuhe zu binden, den Rucksack zu schultern, die Wasserflaschen aufzufüllen und mich auf den Weg zu machen: In den nächsten Stunden will ich so viele Kilometer rennen, wie ich heute alt werde. Ein Ritual, dem ich mich seit einigen Jahren widme. Die Schlüsselfrage ist natürlich: Warum? Klar, da ist die Freude am Laufen, je weiter, desto spannender – auch wenn ich kein besonders guter und schneller Läufer bin. Mehr interessiert mich aber, mein Leben in diesen Stunden zu reflektieren und eine Reise in die Vergangenheit zu unternehmen. Mit jedem Kilometer will ich gedanklich in das entsprechende Lebensjahr eintauchen und führe mir bewusst Erlebnisse, Gefühle, Schicksalsschläge und Freuden vor Augen. Bei Kilometer fünf schiebe ich in Gedanken meine kleine Schwester durch unsere Wohnung in Princeton in den USA, während mich meine Füsse durch den Jura tragen. Sie sitzt in einer Kartonschachtel, die sich wunderbar über den Teppich stossen lässt. Eine Runde nach der anderen. Sie lacht, ich lache. Die Szene wechselt. Ein Streit der Eltern, Gewalt, Teller, die zu Boden geworfen werden und zerspringen, Tränen. Als der Halbmarathon schon geschafft ist, durchlebe ich nochmal meine Studienzeit in England, klettere an den Sandsteinfelsen von Stanage Edge, telefoniere nächtelang mit meiner damaligen Freundin. Dann kommen Erinnerungen an die kurz darauf folgende Trennung im Gedankenstrom auf – ein Gedanke führt zum nächsten. Funktioniert so Verarbeitung? Für Haruki Murakami ist Laufen eine Metapher. Aber wofür? Schliesslich lassen sich beliebig viele Metaphern entdecken: Zum Beispiel die Gewissheit, dass es weitergeht. Ich muss nur den nächsten Schritt machen. Oder: Das Leben zieht mal schneller und mal langsamer an mir vorbei. Der Klassiker: Dass es mal hoch und mal runter geht. Schliesslich: Manchmal fühlt sich alles federleicht an. Ich bin völlig im Flow. Und dann plötzlich ist alles anstrengend und sinnlos. Jedes Jahr staune ich auch darüber, was alles im Hinter-

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WIE POLITISCH IST KI?

FLORIAN WÜSTHOLZ ist freier Journalist und läuft gerne lange und weit. Er hat am 20. Dezember Geburtstag.

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grund bleibt: Die etlichen Male, die ich zur Bestrafung in den stockfinsteren Weinkeller gesperrt wurde, der zeitlebens verspürte Leistungsdruck oder die Angst, von meinen Mitmenschen nicht gesehen zu werden. Je länger ich laufe, desto intensiver wird das Erleben. Im Kopf, in den Beinen. Die letzten Jahre sind frisch, unverarbeitet, roh. Irgendwann kommt der Schmerz. Murakami würde dazu sagen: Schmerz ist unausweichlich. Nur das Leiden, das ist optional. Im Leben auch? Ich weiss es nicht. Aber ich fühle mit Murakami: «Ich werde glücklich sein, wenn das Laufen und ich zusammen alt werden dürfen.»

Laufend alt werden


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Simon: Es schneielet, es beielet. Maurice: Und glatt ist es. Wie ein altes Müeti bin ich hierher geschlurft, der Lado voraus. Eh ja. Simon: (zu mir) Gehst noch auf die Ski? Oder bist eher der Langläufler? Ich: Jesses Maria, nein. Maurice: Wusstet ihr, dass es den Aletschgletscher in exakt 77 Jahren nicht mehr geben wird? Übrigens: Was kommt unten raus, wenn er mal geschmolzen ist?

Der Ort: Restaurant da Toto, Bözingenstrasse 139, 2504 Biel. Die Personen: Maurice, 78, Rocker im Rentenalter; Lado, 16, Mops von Maurice; Simon, Mitte 70, früher Brückenbauer; ich, 56, Reporter. Der Rahmen: Maurice und Simon sitzen an einem Vierertisch, Lado liegt unterm Tisch und röchelt; ich am Nebentisch. Wir sehen uns öfter dort. Ich: Die Mumien der Touris, die wir ausgenommen haben? Maurice: Ein Gutter Fendant (er grinst). Ich: Jaja. (Lado knurrt) Simon: Wieso tut der Lado jetzt so? Maurice: Der Neue aus der Küche, den kann er nicht riechen. Dabei war der alte Koch doch tiptop, nicht? Mein Lado mag keine Veränderungen, so ist das. Gell Grunzi! Zehn Jährli haben wir noch, da lässt sich auch nicht mehr viel reinpacken. Simon: Die Hälfte der Zeit verpennen wir, den Rest dösen wir dahin. Dann noch ein Sudoku, dazu ein Balönli oder zwei, fertig Amen. Maurice: Jetzt übertreibst du. Simon: Vielleicht ists auch der Dezember, tammisiech. Maurice: Aber den Silvester packen wir gemeinsam! Ich: Apropos packen, hast die Dame von neulich wieder gesehen? Simon: Woher weisst jetzt das?

Lado

KL AUS PETRUS ist Co-Redaktionsleiter von Surprise. Den ersten Teil dieser Story gab es in Ausgabe 564 («Paule»).

Ich: Ich sass ja daneben. Hab gelauscht, alles aufgeschrieben. Mache jetzt eine Liebesgeschichte daraus, «Der Rocker und die Stewardess». Simon: Was Stewardess? Maurice: Nüd, der Walliser ist ein Plauderi. Simon: (zu mir) Verzell. Maurice: Jetzt hör aber auf! Wir haben über unsere Hunde geredet, sonst nichts. Sie hat einen Chihuahua. Ich: Der Paule. Maurice: Einen Mann hat sie auch. So ein Granti. Ich: Sie kommt immer dienstags zum Essen. Maurice: Jetzt aber fertig, Manne. (Lado knurrt) Simon: Und der Lado riecht von hier aus den Neuen in der Küche, kein Witz? Maurice: Kein Witz. Auch der Mops hat eine Nase.


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Durch die Linse unserer aufsuchenden Sozialarbeit sehen wir – wie es der Soziologe Hans Paul Bahrdt einst ausgedrückt hat – öffentliches Leben auf der anschaulichsten lokalen Ebene, nämlich als Rendezvous der Gesellschaft mit sich selbst. Der Verein für Gassenarbeit Schwarzer Peter ist seit vierzig Jahren regelmässig auf den Basler Strassen unterwegs. Als Gassenarbeiter*innen begegnen wir Menschen, die draussen leben, schlafen, sich treffen. Ihre Wohnzimmer sind die unterschiedlichsten Plätze dieser Stadt. Menschen möchten sehen und gesehen werden, und so dient der öffentliche Raum als Bühne. Was wir dort tagtäglich sehen, ist grosses Kino. Es wird vorbeigeeilt, gewartet, sich ausgeruht, musiziert, getanzt, getrunken, diskutiert, verhandelt, herumgebrüllt, gestritten, getröstet, geliebt, entliebt, geweint, aufgemuntert und vernetzt. Wir verbrachten dieses Jahr jeweils zwölf Stunden am Stück an den Hotspots am Bahnhof und am Claraplatz. Ein Auszug aus dem Protokoll: 08:35 Das Schiefe Eck rüstet auf: Sonnenschirme, damit das Tageslicht die Stammkundschaft nicht daran erinnern kann, dass bereits Morgen ist. I nimm no eins! 08:45 Der erste Zuhälter trägt seinen Moustache über den Claraplatz. Hose tight, er relaxed, aber zielstrebig. 10:45 Der Claraplatz ist endgültig erwacht. Vorherrschende Kopfbehaarung: weiss oder spärlich. Altersdurchschnitt:

deutlich gestiegen. Switch von Pendler*innen zu Pensionär*innen. Der Claraplatz liegt in Falten. Wir besetzen den Sarg. 11:11 Passanten echauffieren sich über den UBS-Deal: «S’isch ebbe nid so, dass dr Arbeiter d’Boni griegt. Das griege numme die obenuuse» – word bro! Alle machen einen Bogen um die Filiale der CS. Damit will niemand mehr etwas zu tun zu haben. 12:30 Schichtwechsel am Bahnhof: D. wagt ein Tänzchen auf dem Vorplatz. Ihr Haar fungiert als natürliches Lifting, das Bier als Energielieferant. Die Miene missmutig und betrübt. 14:50 Wir wechseln zum Meret-Oppenheim-Platz aka Mop. Wir dringen weiter in die Eingeweide des Bahnhofs vor. Stirnlampen-Check! 15:00 Die Katakomben der alten Passerelle duften nach Urin, das Parkhaus ist leer, in der Alten Post geht nicht die Post ab, stattdessen Staub und Spinnweben. Wir entdecken einen Raum für Tangokurse oder eine ehemalige Fuudibeiz. 16:16 A. schnorrt uns an und fragt bei der Gelegenheit, ob wir Bitcoins monatlich abrechnen oder wie wir das handhaben. T. will uns aus der Hand lesen. Es folgt eine Zukunfts- und Charakteranalyse. 17:35 Der Löffelimann betritt die Szene. 17:37 Der Löffelimann verlässt die Szene. 17:50 Die Pendler*innenströme nehmen ab. Die Stimmung nicht. Der Wodka fliesst. Die Boxen werden aufgedreht. Wir hören «Bella Ciao» zum 99sten Mal. Wir schreien uns gegenseitig an.

Zwölf Stunden

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ADRIANA RUZEK ist Co-Geschäftsleiterin und Gassenarbeiterin bei Schwarzer Peter, Verein für Gassenarbeit Basel.

18:18 Claracrew am Feiern. Pegel hoch, Stimmung hoch, Drama auf Anschlag. Hund S. will nicht essen, G. sollte weniger trinken, O. sollte zunehmen und M. söll doch jetzt gopferdammi nomol sini Schnuure halte. 19:20 Die Sonne geht unter, G. geht heim, das Licht geht an, die Dealer kommen raus. 20:35 Feierabend zur Primetime. Ein kleines Grüppchen verteidigt tapfer die Grenzen des autonomen Glaibasel. Und M., der alte Höschbrueder, hält die Stellung bis zum bitteren Ende.

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Bei einer Telefonschleife, in der die Leute zwei Minuten sind, kann man fast nichts falsch machen. Wenn ich aber eine Warteschleife machen muss, von der ich jetzt schon weiss: Da werden erstens viele Leute drinhängen und zweitens werden sie lange drinhängen, dann nehme ich immer mehr Faktoren raus, die aufstacheln, ärgern, aggressiv machen können. Die Ansprache wird immer sanfter, die Musik immer ruhiger, auch die Abstände zwischen den Ansagen werden länger. Denn wenn ich im 10-Sekunden-Takt gesagt bekomme: «Bitte warten Sie noch, bitte warten Sie noch» – da werde ich irgendwann mal pampig. Für Unternehmen mache ich auch ganze Menüs. Da musst du dich ganz am Anfang entscheiden: Möchten Sie einen Kundenberater sprechen, dann drücken Sie die «Eins», und so weiter. Man hat herausgefunden, dass die Kund*innen dann schon einmal ein bisschen von ihrem Redeschwall verlieren, den sie gleich hätten. Die meisten möchten ja einen echten Menschen sprechen. Dann muss man natürlich wirklich nochmal warten. In der zweiten Schleife gibt es dann Musik, die ich mit ausgesucht habe. Die meisten Kund*innen wollen etwas Beruhigendes, Sphärisches, so Chillout-Musik, ich nenne sie Fahrstuhlmusik. Man sollte darauf achten, dass die Musik eine Melodie hat, die relativ lange geht. Wenn die Wartschleife nur 60 Sekunden lang ist, ich aber sieben Minuten warten muss, dann höre ich ja sieben Mal das Gleiche! Viel schöner ist es, wenn ich die Musik vier bis fünf Minuten am Stück habe. Und alles über zehn Minuten Wartezeit finde ich sowieso nicht gut, dann ist es auch schon fast egal, welche Musik es ist. Die Stimme ist ja auch ein Hauptakt in der Telefonschleife. Da sage ich schon auch: Es sollten keine extremen Stimmen sein. Es gibt Menschen, die klingen einfach entspannt. Männlich oder weiblich ist in dem Fall egal, wichtig ist nur, dass sie eine gewisse Ruhe und Souveränität ausstrahlen und mir das Gefühl geben: Hier bin ich richtig und hier lohnt es sich auch zu warten. Beim Text dazu habe ich schon manchmal einen Clinch mit dem Unternehmen, weil die oft wollen, dass ich Folgendes vorlese: «Bitte haben Sie noch ein bisschen Geduld. INTERNATIONAL NETWORK OF STREET PAPERS

Mit freundlicher Genehmigung von STRASSENFEGER NÜRNBERG/

UMUT DIRIK ist eigentlich ausgebildeter Arzt. In seinem Tonstudio produziert er seit über 25 Jahren Ton jeder Art, vom Radio-Jingle über Info-Texte bis zu Hörbüchern.

Wenn ich eine Schleife produziere, ist das Ziel, dass die Leute lange dranbleiben. Es gibt manche Firmen, die dann nach drei Minuten eine Ansage machen: «Leider sind wir immer noch nicht erreichbar. Bitte versuchen sie es später nochmal.» Von so etwas rate ich immer ab. Entweder wird von vorneherein gesagt: «Wir sind gerade nicht erreichbar.» Damit kann ich umgehen. Oder aber die Schleife läuft so lange weiter, bis jemand rangeht. Aber wenn jemand mich warten lässt, um mir dann zu sagen: «Wir können gerade nicht rangehen», dann werde ich pampig. Manchmal muss ich kontrollieren, ob die Lautstärkeverhältnisse von Musik zu Sprache, die Geschwindigkeit, die Häufigkeit der Ansagen passen, und zwar im echten Einsatz. Dann rufe ich wirklich die Hotline an und hoffe, dass ich nicht zu schnell drankomme. Und genau in solchen Momenten wird sofort abgehoben. Da muss ich dann sagen: «Ich bin wahrscheinlich einer der wenigen, aber könnten Sie mich bitte zurückstellen in die Warteschleife, ich will die mal schnell hören.»

«Ihr Anruf ist uns wichtig»


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Näher dran an der Entwicklung von attraktiven Gemeinden, Städten und Regionen.

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Ihr Anruf ist uns wichtig.» Da denke ich als Anrufer doch immer: Wenn mein Anruf euch wichtig wäre, dann würdet ihr mich nicht warten lassen. Also schlage ich vor, diesen Satz rauszunehmen. Mir ist es lieber, wenn eine Schleife von vornherein sagt: Ihre durchschnittliche Wartezeit heute beträgt sieben Minuten. Dann kann ich entscheiden: Ist mir mein Anliegen das wert oder rufe ich später nochmal an. Es gibt Telefonanlagen, da kann man zum Beispiel je nach Uhrzeit und Tag programmieren, dass der erste Satz «Guten Morgen» oder «Schönen Abend» oder «Schönen Feiertag» ist. Als Kunde habe ich dann den Eindruck: Ah, hier ist es auch noch aktuell. Und es geht sogar inzwischen noch einen Tick weiter. Wenn man die Rufnummernerkennung aktiviert hat und schon bei einem Unternehmen bekannt ist, dann gibt es inzwischen KI-Stimmprogrammierungen, die sagen: «Hallo Herr Dirik, schön, dass Sie da anrufen, bitte bleiben Sie noch dran, es dauert noch zwei Minuten für Sie.» Das beruhigt mich und bringt mich dazu, mir zu sagen: Ja, hier bin ich gut aufgehoben.

Jetzt die ganze Geschichte lesen:

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Vor ein paar Wochen starb Alla. Sie war die Tante meiner Frau Alesja, eine kleine burschikose Person, deren einnehmende Herzlichkeit sich auch in ihrem selbstbewussten Humor fand. Ein Humor, der davon zeugte, wie sehr sie sich schon zu Sowjetzeiten in einer weitgehend männlich dominierten Welt durchsetzen musste. Alesja hatte gehofft, sie noch einmal zu sehen, bevor sie stirbt. Sie hatte Krebs. Es war klar, dass ihr wenig Zeit bleibt. Und uns. Denn darum geht es: Zeit und Zukunft. Sie werden von diesen Tyrannen, die mit Unterdrückung, Gewalt und Krieg herrschen, geraubt, zerstört, zunichte gemacht. Im Februar 2020, als die Pandemie loslegte und ihr Unheil begann, war Alesja das letzte Mal in Belarus, bei ihren Eltern, am Njoman, an der Memel, dort, wo sie aufgewachsen ist, wo der Himmel sich im Winter stahlblau über eine weisse Weite wölbt, wo die Wölfe nachts aus dem Wald kommen und um das Haus streunen. Dann, im Sommer 2020, begannen die Proteste der Belaruss*innen, die zu Hunderttausenden gegen die Diktatur, die sie so lange geduldet hatten, auf die Strassen gingen. Der Tyrann schlug zurück, liess bis heute Zehntausende festnehmen, zerstörte Organisationen und Initiativen, die sich auch in den Jahren der autoritären Herrschaft in den Nischen einer kontrollierten Freiheit gebildet hatten, trieb Hunderttausende ausser Landes. 2022 begann dann der russische Tyrann seinen grausamen, grossangelegten Krieg gegen die Ukraine und nutzte dafür auch Belarus als Aufmarschgebiet. Wir, die sowohl mit Belarus als auch mit der Ukraine verbunden sind, haben diesen Horror möglicherweise nicht kommen sehen, aber wir ahnten, dass sich etwas Unaussprechliches anbahnte, das die Koordinaten, in denen man lebte und sich orientierte, erschüttern und niederreissen würde. Ich kann mich noch gut erinnern, wie Alesja im Februar 2014 vor dem Fernseher in unserer Berliner Wohnung sass und weinte und schluchzte,

Während man anderswo ist


Surprise 565/23

Spendenkonto: Libereco, 8000 Zürich, CH13 0630 0506 7798 8509 1

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konnte, bevor der Tod die Aussicht auf eine letzte Begegnung, eine letzte Umarmung, einen letzten Kuss, eine letzte Berührung, ein letztes Wort zunichte machte. Die Eltern, die Grosseltern werden älter. Krankheiten beschleunigen das Schicksal. Man hält Kontakt über das Internet, man schreibt sich, schickt Fotos, telefoniert im Video-Call. Man beglückwünscht sich zum Geburtstag, wünscht sich alles Gute zum neuen Jahr. Aber was bedeutet dies schon: alles Gute? Die Erinnerungen an das, was Bindungen ausmacht, verblassen über die Zeit. Der Geruch, wenn man das Haus der Eltern betritt. Der Duft des gebratenen Memel-Fisches, den der Vater in Mehl

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als sie sah, wie man auf dem Maidan in Kyjiv die leblosen Körper forttrug. Junge und ältere Männer abgeknallt wie Vieh von den Beschützern des ukrainischen Tyrannen, der nicht erkennen wollte, dass seine Zeit gekommen war. Dann annektierte der russische Tyrann die Krim und brach einen Krieg in der Ostukraine los, der finstere Vorbote für das, was dann ab dem Vierzundzwanzigsten Februar Zweitausendzweiundzwanzig passierte. Seitdem ist endgültig nichts mehr so, wie es war. «My chotscham da domu», «Wir wollen zurück nach Hause», sagen all die Belaruss*innen, die nun in Litauen, Polen, Georgien, Deutschland und anderswo leben, im erzwungenen Exil, von dem niemand weiss, wie lange es dauern wird. Das Risiko, auch nur für einen Besuch zurückzukehren, ist zu gross. Niemand will in einem belarussischen Gefängnis landen, wo Menschen gebrochen und zerstört werden. All diese Menschen haben Mütter und Väter, Grosseltern, Verwandte und Freund*innen, die noch in Belarus sind. Von Bekannten hört man, dass der Vater verstorben ist, oder die Grossmutter, während man anderswo ist, dass man sich nicht mehr sehen

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17.11.23–7.1.24

INGO PETZ bezeichnet Belarus als seine zweite Heimat, über die er seit über 25 Jahren schreibt.

und Öl brät. Der nervöse Blick der Schwiegermutter, wenn man nicht noch zum dritten Mal einen Nachschlag Kartoffeln nimmt. Der frische Wind, der einem in der Frühlingssonne vom Fluss her ins Gesicht bläst und die Glücksgefühle zum Tanzen bringt. Wie viel Zeit bleibt noch, um sich wenigstens noch einmal zu sehen und zu begegnen? Das ist die Frage, die sich Alesja stellt, die wir uns stellen. Jeden Tag.


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Neulich rede ich mit einem Theaterdirektor. Er ist neu in Zürich und möchte verstehen, welche Geschichten die Leute hier mögen, mit welchen Ästhetiken sie sich identifizieren. Welche Leute meinst du, frage ich, die sind ja keine einheitliche Geschmacksmasse. Aber anstatt über Diversität und multigrafische Entwicklungen zu sprechen, über ästhetischen Anspruch und erzählerische Anliegen zu diskutieren, antworte ich: Die Frage, die ich mir aktuell stelle, lautet «Was brauchen die Leute gerade?» Vielleicht brauchen wir, die Leute, derzeit mehr denn je Ruhe, Trost, Verbundenheit, Sinn, Freude, Spiel, Humor. Sehnsüchte, die wir alle kennen, die das Begehren und das Bedürfnis nach Erfüllung anstacheln, die aber vor allem unerfüllt bleiben. Leerstellen, die wir nicht über Begriffszugehörigkeiten, über Milieuzugehörigkeiten, über bürgerliche oder popkulturelle Codes, über Stückekanons, über Moral oder über unterkomplex geführte Debatten füllen können. Ich jedenfalls kann mir kaum vorstellen, dass sich irgendwer nach mehr öffentlichem Diskurs sehnt, der auf einem begriffsverhärteten, gesinnungsgeschwängerten Meinungsplateau um Deutungshoheit kämpft, sage ich. Welche Erfüllung sollte darin liegen? Vielleicht also brauchen die Leute mehr hiervon: Gefühlsmässige Verbindungen, ästhetische Gemeinschaften – wo die Sinne berührt werden, Sinn sich in Sinnlichkeit zeigen kann, Begriffe sich in weichen Wahrnehmungen im Spiel langsam auflösen können. Und vielleicht müsste man dafür Begriffe, die harte Werte-, Überzeugungs- und Gesinnungszugehörigkeiten schaffen, überschreiben und zurückerobern. Zum Beispiel mit Geschichten vom gefühlsmässigen Sinn, über sinnliche Verbindungen. Mit Begriffen, die sanft von Ideologie befreit wären, im ästhetischen Spiel unserer Sinne, durch die Offenheit unserer Wahrnehmungen – in all ihrer Ambivalenz.

fern, ist eine Frage der Perspektive, die man einnimmt. Tiefe entsteht, wenn wir uns bewegen. Was wir sehen und denken, ist so beweglich, wie wir uns dazu ins Verhältnis zu setzen vermögen. In einer haltlosen Zeit, gegen ungehaltenes begriffsmässiges Gemeine hilft: Bewegung, Perspektiv- und Lichtwechsel. Auch gut gegen Haltungsschäden.

Haltung Ästhetischer Begriff. Was nah erscheint, was

Im Gefühl der Trauer könnte ein verbindendes Moment der Versöhnung liegen. Weil: «Trauer(n) ist ein politischer Akt» (Judith Butler). Wir sind «United in Grief» (Kendrick Lamar). Siehe: Festival über Trauer(n), Theater Neumarkt, 17. bis 20. Januar 2024.

Grief «Es ist genug Trauer für alle da» (Max Czollek).

der Frauenfreundschaften. Gegen das Vergessen von Gegennarrativen, für Geschichten der Vergessenen gegen heteronormative Standards. Vgl. Silvia Federici, Witch, Witch-Hunting, and Women.

Gossip Für ein notwendiges Revival aus dem Geiste

Freude Goliarda Sapienza, Die Kunst der Freude. Roman.

Einbildungskraft

Senin Olsun» in der Version von Cem Yıldız. Möge die ganze Welt Dein sein, «bir dost bir post yeter bana».

Dost tr. Freund:in. Dazu Musik, und zwar «Bütün Dünya

Charakter

des Takts angeschlagenen Tones, bis in die gute Zeit.» (Johann Georg Sulzer, 1771)

Bindung «Die Fortdauer eines auf der schlechten Zeit

Am Anfang anfangen


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Photo aus ‹Der Barbier von Sevilla›: Ingo Höhn

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Eine gute Geschichte hat unvorhergesehene Wendungen, verschiedene Stränge. Geduld.

Aufhaltung Keine vorschnellen Schlussfolgerungen.

Anstand

dem nichts vorhergehen muss.

Anfang ist etwas, das allen Dingen vorausgeht, ist das,

Resolution Neues Jahr: alte Worte, neues Wörterbuch. Keine marktgängigen Begriffe mehr, die den gegenwärtigen Diskurs dominieren. Andere Leerstellen. Denn in der Lücke liegt das Glück, Gelücke (mhd.). Am Anfang war also die Auslassung und der

BASEL

theater-basel.ch/einsmehr

Jeden Tag ein neuer Beitrag aus Oper, Schauspiel, Ballett, Theater Public und Kooperationspartner:innen des Theater Basel. Alle Einnahmen fliessen in den Topf ‹Eins mehr›. Sie schenken damit ein Ticket an Menschen, die sich einen Theaterbesuch gerade selbst nicht leisten können.

ADVENTSKALENDER 1.–23.12.2023, 17:00–17:30 Uhr, Eintritt frei

THEATER

HAYAT ERDOĞAN ist Co-Direktorin und Dramaturgin am Theater Neumarkt Zürich.

Happy 2024.

Zeichenzahl ist hier aufgebraucht. Auf den Anfang, also:

Nichts daran ist selbstverständlich. Don’t take it for granted.

Hayat tr. Leben. Enthält alles, was wir wissen müssen:

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Seit Jahren treffen wir immer mehr (lesbische) Frauen, inter, nicht-binäre, trans und agender Personen (im Folgenden: FINTA) auf der Gasse an. Es sind Personen, die nicht der sogenannten Heteronormativität entsprechen, also nicht heterosexuell und nicht «einfach Mann oder Frau» sind. Offenbar sind immer mehr FINTA obdach-, wohnungslos und armutsbetroffen oder müssen sich allgemein im öffentlichen Raum aufhalten. Es handelt sich um eine besonders vulnerable Gruppe. Tatsächlich sind wir gesamtgesellschaftlich immer noch weit von einer reellen Gleichstellung aller sexuellen und Gender-Identitäten entfernt. Bestehende diskriminierende und gewaltvolle Mechanismen wie die allerorts vorherrschende Trennung in Männlein und Weiblein sowie Vorurteile und Hass gegen jene, die diesen althergebrachten Kategorien nicht entsprechen, wirken sich besonders stark auf der Gasse aus: Dort ist die Welt zwar keine andere, aber sie ist unmittelbarer, direkter und härter. Weil armutsbetroffene und sozial ausgegrenzte Menschen häufig im Konflikt mit ihren Familien und ihrem sozialen Umfeld liegen, haben sie auch weniger Ressourcen zur Bewältigung sexualisierter Gewalt oder anderer Unterdrückungsmechanismen. Personen mit einem funktionalen sozialen Netzwerk und ausreichend finanziellen Mitteln sind in einer ganz anderen Lage. So kann ein sexualisierter Übergriff leichter abgewehrt werden, der Rückhalt einer befreundeten Person kann in Anspruch genommen werden, therapeutische Hilfe gesucht. Viele können sich zudem juristischen Beistand leisten. Selbstverständlich kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich jede Frau selbstbewusst gegen sexuelle Übergriffe wehren kann, wenn sie denn nur in stabilen Verhältnissen lebt. Aber viele armutsbetroffene FINTA haben oft gleich mehrere der Möglichkeiten gar nicht, sich zur Wehr zu setzen. Oft geht es auch um Selbstwert, der über die Jahre in Armut und Notsituationen sinkt. FINTA in prekären Lebenslagen haben häufig das Gefühl, dass sie sich vieles gefallen lassen müssen und NOR A HUNZIKER arbeitet als Gassenarbeiterin in der Stadt Bern. Sie leitet den Schreibnachmittag und das Magazin «Mascara».

selten Unterstützung erleben. (Man erinnere sich an Frauenerzählungen früherer Generationen.) Wir stellen beispielsweise fest, dass FINTA aus Scham spät um Hilfe bitten. Sie machen Deals, um nicht draussen übernachten zu müssen – wo es sehr gefährlich ist. Häufig übernachten sie bei Bekannten, die als Gegenleistung sexuelle Handlungen einfordern. Während ein Teil der Gesellschaft über «nur Ja heisst Ja» diskutiert, geht es bei vielen FINTA ums reine Überleben und Durchkommen. In der Sozialberatung führen wir viele Gespräche über Konsens und dass sich mensch nicht alles gefallen lassen muss. Wenn wir eine FINTA-Person unterstützen wollen, beispielsweise dabei, aus einer gewaltvollen Beziehung zu entkommen, sind uns aber schnell Grenzen gesetzt. Viele können sich ein Leben allein finanziell nicht leisten. Das gilt auch, wenn sie Sozialhilfe beziehen, weil der Übergang sehr schwer und der Prozess träge ist, sodass die Existenzangst überwiegt. Zudem lehnen Schutz-/Frauenhäuser gewaltbetroffene FINTA in der Regel ab, wenn sie suchterkrankt sind. Hier fehlen spezialisierte Angebote, wo wohnungslose FINTA ausreichend geschützt sind. Auch darf Sucht kein Ausschlusskriterium für den Zugang zu Schutzinstitutionen sein, da dies schon lange nicht mehr dem zeitgemässen Umgang mit Suchterkrankungen entspricht. Besonders prekär ist die Situation für nicht-binäre und trans Menschen. Fast alle Wohnangebote und Notschlafstellen sind binär nach Geschlechtern getrennt. So erleben sie in sozialen Organisationen und Notangeboten zusätzlich Angst und Stress, weil es für sie keine sicheren Räume gibt. Es wäre an der Zeit, zusätzliche Angebote zu schaffen, die tatsächliche Sicherheit bieten und nicht Sexismus und Transfeindlichkeit reproduzieren.

Als Minderheit auf der Gasse


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Als mein zweites Kind zur Welt kam und das erste noch sehr klein war, hatten wir zuhause nichts zu essen. Mein Mann war krank und konnte nicht arbeiten gehen. Meine Tochter hatte oft Hunger und fragte nach Essen. Eine Nachbarin hat ihr jeweils zu essen gegeben, ich konnte uns nichts kaufen. Meine Nachbarin hat mich gefragt, was ich nun tun wolle. Ich sagte, ich wisse nicht, was tun, und hätte nichts mehr zu essen. Ich war ratlos. Sie hat mich schliessslich auf verschiedene soziale Anlaufstellen aufmerksam gemacht, auf Vereine und das Rote Kreuz. Sie sagte mir, dass diese mir weiterhelfen könnten, und hat mir den Weg gezeigt. Ich habe dort das sogenannte Fafa bekommen, ein Kilo, und verschiedene andere Lebensmittel.

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TSIGE BEYENE verkauft Surprise in Zürich am Limmatplatz und an der Europaallee.

Fafa ist eine Art grobes Mehl aus verschiedenen Getreiden, Mais, Hirse, Erbsen, das man zu Brei anrührt. Das hat meine Kinder gerettet, das hat mein Leben gerettet. Ich werde diesen Moment nie vergessen, als mir meine Nachbarin den Weg dorthin gezeigt hat, wo man sich in der Not Hilfe holen kann. Sie wird für mich immer eine wichtige Person bleiben. In Eritea gibt man Menschen in Notsituationen meistens Fafa. Oder man verabreicht es, wenn jemand krank ist und keinen Appetit mehr hat. Fafa ist nahrhaft und gibt Energie.

Lebensenergie

GENET WELDU verkauft Surprise in Zürich an der Saatlenstrasse und am Bahnhof Oerlikon.

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Dies ist eine wahre Geschichte, an die ich heute noch oft denke: Früher in Eritrea habe ich auf dem Feld gearbeitet. Damals musste ich die Baumwollfelder wässern, und das musste man nachts tun. Ich nahm meinen 13-jährigen Sohn mit, weil ich jemanden bei mir haben wollte, der mich begleitet. Einen Esel haben wir auch mitgenommen. Wir gingen um 20 Uhr hin und blieben bis 2 Uhr morgens. Ich habe gearbeitet, und mein Kind hat geschlafen. Ich habe meinen Sohn immer mitgenommen, wenn ich den Ort wechseln musste, um den Pflanzen in einer anderen Ecke Wasser zu geben. Wir wanderten so von einer Seite des Feldes zur nächsten. Dann sind Hyänen in der Nähe aufgetaucht. Ich habe sie nicht gesehen, nur ihre Rufe gehört. Hyänen sehen aus wie Hunde, aber es sind Raubtiere, die nachts auf Jagd gehen. Ich bekam Angst und weckte meinen Sohn. Ich wollte so schnell wie möglich nach Hause, die Situation war lebensgefährlich. Wir haben das Feld also verlassen und eilten einen Weg entlang, der von vielen kleinen Bäumen gesäumt war, wie es sie in Eritrea oft gibt. Zwischen diesen Bäumen auf unserem Weg hörten wir die Rufe der Hyänen. Diese Situation hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt, und meinem Sohn geht es genauso. Immer, wenn wir wieder diese Bäume sehen, denken wir: Jetzt kommen die Hyänen! Der Schreck steckt uns immer noch in den Knochen, obwohl wir die Tiere nur gehört haben. Trotzdem arbeite ich nach wie vor sehr gerne auf dem Feld und baue auch gerne Gemüse an. Die Baumwolle von damals ist gut gewachsen. Ich habe nach dieser Nacht, in den Monaten vom August bis November, 600 Kilogramm Baumwolle geerntet.

Hyänen


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Tenzin sitzt am Computer, als ihre Mutter nach Hause kommt. Sie spielt Moorhuhn. Das Ziel ist es, innert eineinhalb Minuten so viele Moorhühner wie möglich abzuknallen. Wie gewöhnlich trägt die Mutter in der einen Hand eine Einkaufstasche und in der anderen die Post. Sie ist erschöpft, stellt die Tüte auf dem Boden ab und nähert sich Tenzin, die Augen gebannt auf den Monitor. «Was spielst du da?» «Moorhuhn», antwortet Tenzin. Die Mutter legt den Arm auf den Stuhlrücken und schaut ihr beim Spielen zu. Sie kann ihren Blick nicht mehr abwenden, und nach ein paar Minuten sagt sie: «Lass mich auch mal.» Tenzin muss der Mutter nicht viel erklären. Sie zeigt ihr, wie man die Waffe nachlädt. Geschossen wird mit der linken, nachgeladen mit der rechten Maustaste. Beim ersten Spiel erwischt die Mutter kaum fünfzehn Moorhühner. Sie spielt mehrere Male hintereinander, bis sie Tenzin wieder ranlässt. Dann geht sie in die Küche und beginnt zu kochen. In der Küche wird es laut. Bollywood-Musik ertönt, die Mutter singt mit, und die Wohnung riecht schon bald nach ölgebratenen Zwiebeln und Tomaten.

Moorhühner abschiessen

Mit dir ist es wie mit der dicken Spinne in meiner Badewanne. Solange ich sie nicht gesehen habe, hat sie mir nichts

dass ich mich klein gefühlt habe, unsicher, voller Zweifel. Du wolltest mich doch nur beschützen (wahrscheinlich vor

Tschüss!


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MIGMAR DOLMA ist Gewerkschafterin und WOZ-Kolumnistin. Momentan arbeitet sie an ihrem literarischen Debüt. Sie zitiert gerne Mely Kiyak: «Man soll immerzu erklären. Man will aber lieber erzählen.»

Am Abend legt sich Tenzin ins Bett und starrt an die Decke. Ihre Augen fühlen sich schwer an und fallen langsam zu. Sie ist schon eingeschlafen, als plötzlich Schüsse ertönen. Sie schreckt auf, öffnet die Augen und starrt kurz an die Decke. Die Waffe wird nachgeladen und eine halbe Sekunde später ertönen wieder Schüsse. Laut und schnell nacheinander. Sie steht auf, öffnet die Tür und steht direkt hinter ihrer Mutter. Sie sitzt am Computertisch und erschiesst Hühner. Wie gebannt vom Bildschirm schlägt sie hypnotisiert auf die Maus. Die ganze Wohnung ist dunkel, kein Licht brennt ausser dem grellen Monitor, der das Gesicht der Mutter bestrahlt. Es ist bald Mitternacht. Sie trägt eine Schlabberhose mit pinken Blumenmustern und ein grünes T-Shirt mit dem Schriftzug «Kiss me under a thousand stars». Einen richtigen Pyjama trägt sie nie. Die kleinen Füsse sind zusammengezogen auf dem Bürostuhl, der für sie viel zu klein und niedrig ist, weil er für Kinder gemacht ist. Obwohl es kalt ist in der Wohnung, trägt sie keine Socken. Immer trägt sie in der Wohnung die Füsse nackt und die schwarzen Haare mit einer Klammer nach hinten gebunden. Tenzin dreht sich leise um und schliesst die Tür. In dieser Nacht kann Tenzin lange nicht einschlafen, die Schüsse halten sie wach. Am nächsten Abend zeigt die Mutter ihrer Tochter den Rekord. Auf Nummer eins der Tabelle ist der Name ihrer Mutter zu lesen. 174 Punkte. 174 Moorhühner in eineinhalb Minuten abgeschossen. Tenzin lacht und staunt. «Wow, nicht schlecht!» Ihre Mutter freut sich und lächelt stolz wie ein Kind. Einige Tage lang versucht Tenzin den Rekord ihrer Mutter zu brechen. Jeden Nachmittag nach der Schule hat sie genau zwei Stunden Zeit, bevor die Mutter von der Arbeit nach Hause kommt, aber die Mühe ist vergebens. Nachts beweist die Mutter, wer die beste Moorhuhn-Spielerin des Hauses ist. Nach zwei Wochen muss Tenzin das Computerspiel der Stadtbibliothek zurückbringen. Ihre Mutter drängt darauf, das Spiel nochmals auszuleihen. Alle zwei Wochen lächelt die Bibliothekarin nun schelmisch, wenn Tenzin das Computerspiel an der Theke aus ihrer Tasche auspackt, nur um es gleich wieder auszuleihen. Das Moorhuhnspiel bleibt im Besitz der Familie. Und wenn die Schüsse nachts vor ihrem Zimmer ertönen, schrecken sie Tenzin nicht mehr auf, vielmehr wiegen sie sie in den Schlaf.

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10.11.2023

21.7.2024

LEA STUBER ist Reporterin beim Strassenmagazin Surprise.

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Die nächste Spinne, sie kommt bestimmt.

Ciao jetzt.

den Mücken), ja, ich weiss, aber wie so oft im Leben ist es mit diesen verflixten guten Absichten komplizierter. Wie du wohl landest? Und wo? Aber nein, das ist nun egal. Und ich rufe mir nochmal in Erinnerung: Dich brauche ich hier nicht. Du hältst mich nur auf, schränkst mich ein von allen Seiten, selbst wenn du mir helfen willst. Das bringt mir nichts auf dem Weg zum guten Leben.

it VisNICHTS

ausgemacht. Jetzt aber sehe ich dich (ein Sorry an die Spinne an dieser Stelle, ich weiss, dass sie theoretisch ihre guten Seiten hat, Mücken verspeisen zum Beispiel). Ich merke jetzt, wenn ich mich erschrecke deinetwegen, wenn ich zurückweiche wegen dir. Wenn ich mich klein fühle. Ich will mich in Gedanken aber nicht um Unsicherheiten und Zweifel drehen. Ich will um meine Wünsche, meine Träume, meine Visionen kreisen, immer grösser und immer weiter. Ich glaube, heute ist ein guter Tag, um dir Tschüss zu sagen. Ich fange dich ein, stülpe ein Glas aus der Küche über dich, schiebe einen dünnen Karton unter deine Füsse. Und dann werfe ich dich aus dem Fenster. Du zappelst, du fliegst. Es war zwar irgendwie gut, dass du bei mir warst. Aber du hast dafür gesorgt,


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Ich kann mich gut erinnern, wie ich schon als kleiner Knirps an Silvester bis Mitternacht und darüber hinaus aufbleiben wollte, und das auch gedurft hätte. Es hat aber viele Jahre gedauert, bis ich es zum ersten Mal geschafft habe, ohne dass ich, die Augenlider schwer wie Blei, nicht schon weit vorher eingeschlafen bin, trotz aller Aufregung; da half nichts. Zu meiner Verteidigung: Wir Kinder waren an Silvester auch schon in aller Herrgottsfrüh mit Pfannendeckeln und anderen «Instrumenten» unterwegs und haben, so wie sich das an Silvester gehört, im Dorf anständigen Lärm gemacht. Wir feiern also wieder einmal Silvester. Auf den Sekundenschlag, genau um Mitternacht, knallen Korken und Feuerwerk um die Wette, feierlich begleitet vom erhabenen Geläut der Kirchenglocken. Der Ruf und Wunsch «Es guets Neus» hallt tausendfach in Stuben, auf Partys und Strassen. Unzählige flinke Finger tippen ihn ins Handy und schicken «Es guets Neus» in die Welt hinaus. Überall herrscht Jubel, Trubel, Heiterkeit. Doch trotz aller Ausgelassenheit schleicht sich auch die bange Frage, was das neue Jahr wohl bringen mag, in so manche Menschenseele. Und insgeheim, in aller Stille, träumt jede und jeder von einer besseren Welt, dass sich die Welt zum Guten wende, als wäre der Sekundenzeiger in der Silvesternacht ein Zauberstab mit magischen Kräften.

URS HABEGGER verkauft seit 15 Jahren Surprise in der Bahnhofunterführung in Rapperswil. Wenn nicht Silvester ist, schreibt er über seine Erlebnisse vor Ort.

Aber was wäre die Welt, was wären wir ohne Träume? Wer keine Träume mehr hat, der hat auch keine Hoffnung mehr, und wer keine Hoffnung mehr hat, der hat resigniert. Bisweilen werden Träume wahr! Selbst wenn all unsere Träume fürs neue Jahr wahr werden würden; eins ist sicher: Auch im neuen Jahr werden andere Menschen immer anders sein als du und ich. Andere sind immer anders. Daran ändert auch dieses Jahr der mitternächtliche Sekundenschlag an Silvester nichts. Ein Glück, hat sich mitten unter uns Feiernde der Respekt gemischt. Und mit ihm seine drei Schwestern, die Empathie, die Toleranz und die Wertschätzung. Diese vier sind gern gesehene Gäste. Sie sind überall beliebt und willkommen, an Silvester und danach, über das Jahr, in jeder Stube, auf Schritt und Tritt, im täglichen Leben, im Gewöhnlichen und Ungewöhnlichen, im Umgang mit den anderen. Niemand käme auf die Idee, ihnen die Tür zu weisen. Denn wir wissen; diese vier, der Respekt, die Empathie, die Toleranz und die Wertschätzung, sind die Grundlage für eine bessere Welt. Wir können etwas dafür tun. Dafür, dass Träume wahr werden. Für eine bessere Welt.

Andere sind immer anders


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Einsamkeit ist, das zeigen diverse wissenschaftliche Studien, ein rasant anwachsendes Problem in westlichen Gesellschaften. Sie ist auch ein hochpolitisches Thema, das Menschen quer durch alle Bevölkerungsschichten betrifft. Laut einer im November 2020 veröffentlichten Umfrage der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG ist zwischen Juni und Oktober desselben Jahres in der Schweiz die Angst vor sozialer Isolation und Einsamkeit im Zusammenhang mit der Pandemie von 30 auf 46 Prozent gestiegen. Auch schon vor Corona war Einsamkeit ein Thema: Schon im Jahr 2017 gaben laut einer Erhebung des Bundesamts für Statistik BFS 38 Prozent der Wohnbevölkerung und 46 Prozent der Migrant*innen der ersten Generation an, einsam zu sein. Soziale Isolation betrifft vor allem Menschen in prekären Situationen oder ältere Menschen, aber auch – und das

Blumen, das Verlesen – wirft ein Licht auf die «vergessenen Leben». Es erweist den Verstorbenen Respekt und Würde und ist ein Zeichen der Solidarität. Das Gedicht wird im Nachgang der Beisetzungen auch auf einer Webseite publiziert, die in Gestaltung und Funktion als digitale Stele dem Gedenken über das Begräbnis hinaus dient. Zudem wird das Gedenken bei jeder Lesung wiederbelebt. Die Arbeit am Text wirft dabei Fragen auf: Wie dichtet man für einen unbekannten Menschen? Will er, will sie dies überhaupt? Und wem nützt das? Wie kann ich es ihm oder ihr zueignen? Nicht nur einmal wurde ich gefragt, wer denn da überhaupt zuhöre. Wenn also in der Stadt Zürich ein Mensch verstirbt und durch das Friedhofsamt keine Angehörigen aufzufinden sind, die sich für die Beisetzung zuständig fühlen, wird die verstorbene Person im Gemeinschaftsgrab auf

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rer Spurensuche erzählen. Dieser literarische Bericht spielt eine wichtige Rolle, er verweist auf die Entstehungsbedingungen des lyrischen Textes und lässt die Autor*innen und deren Rezeption der Umstände sichtbar werden. In der persönlichen Erzählung können über die persönliche Perspektive der Schreibenden auch sozialkritische Fragen angesprochen werden. Das Gedicht als verdichtete sprachliche Form ermöglicht die zartesten und die stärksten Möglichkeiten zum Sublimen. Es eignet sich hervorragend für die Art der Erinnerungsarbeit. Soziale Entfremdung tritt in der Vereinzelung von Menschen sowohl in roher Gewalt und auch leise zwischen den Zeilen einer Existenz zutage, die wir zu übersehen nei-

Poesie für vergessene Leben


Hochschule der Künste Bern Haute école des arts de Berne hkb.bfh.ch

dem Friedhof Nordheim in Zürich Oerlikon beigesetzt. Diese Sammelbeisetzungen der Einsamen finden einmal jährlich Ende September statt. Werden keine Angehörigen gefunden, die sich für das Begräbnis zuständig fühlen, wird vom Friedhofsamt ein Datenblatt an uns verschickt. Hierin finden sich je nach Todesfall zumeist der Geburtsort, die letzte Wohnadresse und manchmal Daten zu etwaigen Kontaktpersonen, unter Umständen auch nur der Geburtsort (z.B. bei Todesfällen von obdachlosen Menschen, von denen keine weiteren Unterlagen mehr auffindbar sind). Die «Dichtenden vom Dienst» bekommen die Informationen mit der Bitte um Diskretion und können damit auf Recherchetour gehen. Da alle Beisetzungen öffentlich ausgeschrieben werden, ist dies datenschutztechnisch unproblematisch, aber aufgrund einer hohen Tabuisierung in Verhandlungen mit zuständigen Ämtern trotzdem ein sensibler Aspekt, den wir als «Dichtende vom Dienst» sehr ernst nehmen. Die Recherche beginnt in der Regel am letzten Wohnort. Jede Recherche ergibt ein Gedicht, aber auch einen Prosatext, den «Bericht», in dem die Dichtenden von ih-

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MEL ANIE K ATZ ist Autorin und leitet das «Einsame Begräbnis» in der Deutschschweiz. Im Limmat Verlag ist 2023 der Band «Die Einsamen Begräbnisse» erschienen.

gen und dazu auch allzu oft gewillt sind. Die Gedichte zum Einsamen Begräbnis setzen dem etwas entgegen. Sie halten auf der virtuellen Plattform Stellung, sind dort zum Gedenken festgeschrieben, finden ihren Weg in Bücher, an Lesungen, zu den Menschen. Dass Sprache, eben das einander zusprechen, die harte Schale von Einsamkeit aufbrechen und somit auch politisch und gesellschaftlich wirksam werden kann, macht die Arbeit als Dichtende vom Dienst an diesem Gedenken im Leben erfahrbar.

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ist besorgniserregend – zunehmend junge Menschen. Zu den Ursachen gehören sowohl ökonomische Zwänge, der Druck der Leistungsgesellschaft, das Aufweichen zahlreicher Rollenbilder und Familienbande als auch die Digitalisierung. Das «Einsame Begräbnis» setzt dieser Entwicklung die Sprache, das Gedicht entgegen. Es ist ein Abschiedsgruss an Menschen, die allein ihren letzten Weg antreten. Die Dichter*innen schreiben in diesem 2017 von mir in Zürich initiierten Projekt gegen das Vergessen von Menschen an. Seitdem begleiten wir Verstorbene auf ihrem letzten Weg auf dem Zürcher Friedhof Nordheim. In der Deutschschweiz sind zudem weitere Städte mit uns im Gespräch. Es ist ein lyrisches Projekt, für das die jeweils beauftragten «Dichtenden vom Dienst» ein persönlich gewidmetes Gedicht für einsam verstorbene Menschen verfassen und an deren Begräbnis verlesen. Das Gedicht begleitet die Verstorbenen, die Dichtenden verabschieden sie aus einem Leben, in dem sie zumindest zum Schluss auf sich allein gestellt waren. Das kleine Ritual – ein paar


Einen besonderen Platz im Herzen hat bei mir der Jahresanfang 2021. Gerade hatte ich meinen Bürojob gekündigt, um mich hauptberuflich dem Theaterschaffen und der Comedy zu widmen. Nachdem ich seit Jahren meiner Leidenschaft nur nebenbei nachgegangen war, würde ich nun endlich den Sprung wagen und den Hauptteil meiner Zeit dem widmen, was mir am meisten Freude macht. Kunsthochschulen sind grösstenteils noch unzugänglich, und Personen mit Behinderung wird Kunst als Karriere nicht nahegelegt: Fast alle behinderten Künstler*innen erlangen ihr Handwerk daher durch learning by doing. Ich wurde für eine Vielzahl unterschiedlicher Projekte angefragt, für die mein Wissen, meine gelebte Erfahrung und Perspektive einen wertvollen Beitrag darstellten. Zusätzlich zu Auftritten mit

meinem Kollektiv Criptonite war ich als Juror*in, Workshopleiter*in oder Vorstandsmitglied in diversen Kulturprojekten tätig und durfte mich für meine Ideale – mehr Zugänglichkeit, Diversität und Akzeptanz – starkmachen. Ich fühlte mich voller Energie. Ich hatte Elan und Freude, wie ich sie bisher nur ganz selten erleben durfte. Ich konnte kaum erwarten, welche weiteren Herausforderungen das Leben noch für mich bereithalten würde. Im Vergleich dazu fühlt sich 2023 langsam, schleppend und ermüdend an. Im Verlauf von einem Jahr habe ich meinen Vater und beide Grosseltern mütterlicherseits verloren. Mensch hört ja oft, dass der Verlust der Eltern einem den Boden unter den Füssen wegzieht. Und doch war ich nicht bereit, als es passierte. Nostalgie hat mich schon immer misstrauisch werden lassen, besonders wie sie dazu eingesetzt wird, uns Produkte zu verkaufen, wie gerade während der Festtage. Seit dem Tod meines Vaters und meiner Grosseltern ertappe ich mich aber immer wieder dabei, mit Sehnsucht in der Vergangenheit zu schwelgen. Sei es über die «Erdsee»-Buchserie von Ursula K. Le Guin aus den 1970ern, durch den Film «Züri brännt» über die Opernhauskrawalle der 1980er oder durch die Teenie-Komödie «10 Dinge, die ich an Dir hasse» von 1999. Dennoch weiss ich, dass die Dinge nicht so rosig waren, wie sie Klein-Edwin erschienen. Wenn ich genauer hinschaue, finde ich da auch mehr als nur eine Sehnsucht

Zurückschauend voranschreiten

EDWIN R AMIREZ macht Theater und Stand-up-Comedy und engagiert sich für mehr Barrierefreiheit und Diversität in der Schweizer Kulturlandschaft.

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nach vermeintlich besseren Zeiten in mir. Da ist ein starker Drang, mich in die Generationen vor mir hineinzuversetzen: Was waren ihre Wünsche? Wovor hatten sie Angst? Wogegen haben sie gekämpft, womit gehadert? Was wollten sie uns weitergeben? Ich spüre den starken Wunsch, mich mit der Generation vor mir auseinanderzusetzen und die Dinge, die ich wertschätze, weiterzutragen. Ich will mit dem weiterarbeiten, was schon hier ist. Was schon vor mir da war. Ich schätze mich glücklich: Ich habe eine wundervolle Partnerperson und die besten Freund*innen, die ich mir wünschen kann, die mich gemeinsam mit meiner neuen Therapeutin durch meinen Trauerprozess hindurch unterstützen. Mit viel Geduld und einer neuen Wertschätzung für die Vergangenheit freue ich mich wieder jeden Tag ein bisschen mehr auf meine Zukunft.


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Neulich besuchte mich ein Freund aus Deutschland. Die Schweizer Wahlen standen bevor, und während eines Spaziergangs erklärte ich ihm das hiesige politische System. Er hatte die Schweiz in all den Jahren, in denen wir uns kennen, immer belächelt. Es sei ihm zu ordentlich hier, zu piefig – und vor allem, natürlich: zu teuer. Doch an diesem Tag, als er von Zauberformel und Konkordanzsystem erfuhr, brach Begeisterung aus ihm heraus. «Hierher kann ich kommen, wenn es in Deutschland schlimmer wird», sagte er. Falls der AfD-Politiker Björn Höcke Thüringer Ministerpräsident werden und damit das höchste Amt des Bundeslands bekleiden sollte, beispielsweise. «Für diesen Fall brauche ich einen Plan B», fand mein Freund. Ein Ministerpräsident Höcke wäre für ihn aus unterschiedlichen Gründen auch persönlich gefährlich. In der Schweiz gebe es, so seine Analyse, weniger Risiken für einen plötzlichen rechten Umsturz. Der systemimmanente Kompromiss verhindere das. Ich musste an meine Grosseltern denken, die in den Fünfzigerjahren aus Deutschland in die Schweiz ausgewandert waren. Auch sie flohen aus einem Land, in dem nach wie vor Nazis in den Ämtern, im Bildungssystem und auch sonst überall sassen. Mein Urgrossvater wurde von den Nazis als «Landesverräter» ermordet. Erst fünfzig Jahre später rehabilitierte ihn der deutsche Staat. Bis dahin galt er den Behörden als angeblicher Sowjetspion und Kommunisten-Kollaborateur. Für meine Grosseltern war die Schweiz der Ort, der von diesen Abscheulichkeiten weitgehend unberührt war. Zwar stimmt das nicht ganz, immerhin wies man hier ab 1942 «Flüchtlinge nur aus Rassengründen» an den Grenzen ab und schickte Tausende in den Tod. Auch wurden echte und vermeintliche Kommunist*innen zeitweise verfolgt. Etwas ist dennoch wahr: Radikale politische Wendungen sind in der Schweiz eher unwahrscheinlich. Man kann das positiv sehen. Viel schlimmer wird es in absehbarer Zeit vermutlich nicht. Besser wird es aber genauso schleppend. Denn Veränderungen gibt es in diesem Land fast nie. Man neigt

Plan B


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UTE SENGEBUSCH ist Co-Leiterin am Schlachthaus Theater Bern.

Im Austausch bleiben. Miteinander reden. Uns überraschen lassen. Fragen. Anderen von unseren Entdeckungen erzählen. Wie macht ihr das denn? #Lifehacks teilen. Tricks und Kniffe austauschen. Sprechen. Über den noch immer vorhandenen Gender-Pay-Gap und die prekären Produktionsbedingungen in der Kultur. Über Möglichkeiten, die Zugänglichkeit zu verbessern. Über strukturelle Veränderungen für mehr Diversität im Team. Sprechen mit den Künstler*innen, in der Planung und über Visionen. Mit dem Publikum, nach den Vorstellungen. Mit dem Team, im geteilten Alltag. Es tut gut, in Gesprächen, durch Gespräche immer wieder neue Pfade entdecken und andere Richtungen einschlagen zu können. Alleine kommen wir nicht weiter. Allein auf meiner kleinen Jolle würde ich niemals so viel erleben, sehen oder mitkriegen. Immer wieder bin ich fasziniert vom «Mehr», das entsteht, wenn wir uns zusammentun. Gemeinsam kommen wir auf andere Ideen. Gemeinsam können wir grössere Segel halten. Und den Winden und Wellen trotzen.

Im Sommer haben wir zum Saisonstart im Programmheft für das Schlachthaus Theater (SHT) geschrieben: «Den Wind können wir nicht ändern, doch die Segel anders setzen.» Der Wind ist rau, die Weltgeschichte hält uns in Atem. Und doch sind die Ausläufer, die wir direkt zu spüren bekommen, vergleichsweise gering. Das Haus steht, ein starkes Team ist an Bord, Strom, Gas und Wasser laufen, wir können weiterhin regelmässig unsere Türen öffnen. Dafür sind wir dankbar. Und dafür, dass wir unser Programm frei gestalten können und das Foyer ein Ort ist, wo man sich vor und nach den Vorstellungen austauscht. Dankbar sind wir auch für die Zusammenarbeit mit den Künstler*innen, die ihre Stücke am SHT zeigen, ihre Positionen klar markieren und mutig ihren Kurs halten. Und dankbar für unser Publikum, das sich immer wieder einlässt und mitreist, Eindrücke mitnimmt, teilt und weiterträgt. Wie schaffen wir es, weiterzusegeln und dabei nicht vom Wind zerfetzt zu werden, Kurs zu halten und das Ganze zu meistern, ohne seekrank zu werden?

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22.11.2023 14:09:04

Deshalb kämpft Solidar Suisse weltweit für faire Arbeitsbedingungen. In über 60 Projekten setzen wir uns mit lokalen Partnerorganisationen für soziale Gerechtigkeit und gegen extreme Ungleichheit ein.

Ausbeutung ist immer noch in Mode. Zum Beispiel in Kambodschas Textilindustrie.

ANINA RITSCHER ist Redaktorin und Journalistin. Sie recherchiert zu Themen rund um Recht und Gerechtigkeit.

sich höchstens sachte mal zur einen, mal zur anderen Richtung. Der Status quo bleibt Staatsräson. Die Stabilität ein Segen, nach dem sich – verständlicherweise – viele sehnen. Für mich ist das kein Trost. Denn der Status quo liegt weit rechts. Das Land, in dem ich lebe, ist eines, in dem die grösste Partei seit Jahrzehnten gegen Migrant*innen hetzt. Wo Armut nicht abgeschafft, sondern unsichtbar gemacht wird. Und das sich mit der eigenen Verflechtung in der Welt partout nicht beschäftigen will, weder historisch noch im Jetzt, aber profitiert, wo es geht. Ich kann meinem Freund einen «Plan B Schweiz» daher nicht ans Herz legen. Die Frage «Wohin denn dann?» wird allerdings mit jedem Wahlsieg der Demokratiefeinde – von den Niederlanden bis nach Argentinien – schmerzlich schwerer zu beantworten.


Madlen Blösch, Geld & so.

Scherrer + Partner GmbH

SISPROCOM GmbH, Zürich

Wag Genossenschaft, www.wag-buelach.ch

Kaiser Software GmbH, Bern

Kaehlin Bodenbeläge GmBH, Waedens

TopPharm Apotheke Paradeplatz

TYDAC AG

Hofstetter Holding AG, Bern

EnviroChemie, Eschenbach SG

Die Mappe – Agentur für Dies und Das, Basel

Yogaloft GmbH, Rapperswil SG

iris-schaad.ch Qigong in Goldau

Maya-Recordings, Oberstammheim

FairSilk social enterprise www.fairsilk.ch

Breite-Apotheke, Basel

Pub Pfiff, Haltbergstrasse 16, 8630 Rüti

www.tanjayoga.ch, Lenzburg

Gemeinnützige Frauen Aarau

Zubi Carrosserie, Allschwil

Beat Hübscher, Schreiner, Zürich

AnyWeb AG, Zürich

Fachschule LIKA, Stilli b. Brugg

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Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag. Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Aleksandra Bruni T +41 61 564 90 52 marketing@surprise.ngo

Lebensraum Interlaken GmbH, Coaching, Kunsttherapie und mehr

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Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel

IceFishing.ch

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Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.

Die 25 positiven Firmen

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Weitere Informationen gibt es unter: surprise.ngo/surplus

abgenommen hat. Zusammen mit seiner Frau und seinen zwei erwachsenen Söhnen ist er auf das Einkommen des Strassenmagazinverkaufs angewiesen, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Das SurPlus-Programm unterstützt ihn dabei: Mit Krankentaggelder, bezahlten Ferientagen und einem Abonnement für den öffentlichen Nahverkehr.

Derzeit unterstützt Surprise 29 Verkäufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo surprise.ngo/spenden. Herzlichen Dank!

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende

Negasi Garahlassie gehört unterdessen schon fast zum Winterthurer Stadtbild. Seit rund 15 Jahren ist Negasi Garahlassie als Surprise-Verkäufer tätig. Entweder verkauft der gebürtige Eritreer seine Magazine auf dem Wochenmarkt oder am Bahnhof Winterthur. Der Arbeitstag des 65-Jährigen beginnt frühmorgens und dauert meist so lange, bis der abendliche Pendelverkehr wieder

Eine von vielen Geschichten

Wie w ist Ihn ichtig Unabh en Ihre ängigk eit?

Einige unserer Verkäufer*innen leben fast ausschliesslich vom Heftverkauf und verzichten auf Sozialhilfe. Surprise bestärkt sie in ihrer Unabhängigkeit. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkäufer*innen zusätzliche Unterstützung. Sie erhalten ein Abonnement für den Nahverkehr, Ferienzuschlag und eine Grundausstattung an Verkaufskleidung. Zudem können bei finanziellen Notlagen aber auch für Gesundheits- oder Weiterbildungskosten weitere Unterstützungsbeiträge ausgerichtet werden. Die Programmteilnehmer*innen werden von den Sozialarbeiter*innen bei Surprise eng begleitet.

Das Programm

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA


Surprise 565/23

PETER VÖGELI, Kt. Zürich

Sicher ist mir bekannt, dass Asylsuchende meist aus gutem Grund in Europa, der Schweiz, Asyl beantragen. Sie haben oft ein erniedrigendes Leben in ihrem Heimatland erduldet. Hier geht es viel zu lange, bis ein definitiver Entscheid fällt, der eine Aufenthaltsbewilligung und damit auch die Erlaubnis für eine Arbeit ermöglicht. Das muss sich ändern. Aber die Schweiz (Bund, Kantone, Gemeinden) übernimmt hier Kosten für Unterkunft, Essen, Versicherungen, Gesundheitskosten, zum Teil auch ausserordentlichen Aufwand für Winterkleider und vieles andere. Dafür zahlen die übrigen Einwohner. Da scheint es mir selbstverständlich, dass die Betroffenen bereit sein sollten, etwas dafür zu leisten. Wenn das nicht verlangt wird, so droht uns, dass die SVP noch mehr Einfluss nehmen wird, denn eine solche Unterstützung ohne Gegenleistung akzeptieren die wenigsten Steuerzahler*innen. Wenn ein*e Schweizer*in aus welchem Grund auch immer in Afrika, Südamerika oder Asien Asyl beantragen würde – hätte er*sie mit Sicherheit niemals eine ähnliche Unterstützung.

«Keine Unterstützung ohne Gegenleistung»

#562: Arbeitszwang im Asylwesen

R AY BALLISTI, Hinwil

SONJA, ohne Ort

Letzten Samstag habe ich wieder einmal ein Surprise gekauft. Ich mache das ab und zu, weil ich gut finde, dass die Menschen etwas tun. In diesem Heft war das Hauptthema, dass die Menschen mit Asylanträgen ausgenützt werden, indem sie für wenig Geld arbeiten müssten. Gerade vorgestern ging ich für eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern einkaufen, da ihr das Geld neben Miete und Krankenkasse und Teuerung usw. diesen Monat einfach nicht mehr reicht, um noch genug Lebensmittel zu kaufen. Ja, ich helfe gerne. Wenn Asylsuchende mit Arbeitseinsätzen sinnvoll beschäftigt werden, sehe ich das positiv. Sie werden grundsätzlich unterstützt, müssen weder Miete noch Krankenkasse noch Steuern bezahlen. Arbeit gibt ihnen Tagesstruktur, und das ist auch für die Psyche besser, als mit Nichtstun die Zeit zu verbringen. Was wünschen Sie denn für diese Menschen?

«Für die Psyche besser»

Ich kaufe bei Gelegenheit Surprise, und, wie der Name sagt, bin ich oft überrascht über die guten Artikel, die ich dort finde. Statt einem Abo ziehe ich es vor, die Zeitung bei den Verkäufer*innen zu beziehen. Ich nehme an, dass dies auch für diese befriedigender ist. Manchmal sind die Verkäufer fast unsichtbar... vielleicht würde ein (auch kleines, evtl. tragbares) Plakat für mehr Sichtbarkeit sorgen? Oft hat man es eilig…

«Oft überrascht»

#Strassenmagazin

Mitarbeitende dieser Ausgabe Tsige Beyene, Umut Dirik, Migmar Dolma, Hayat Erdoğan, Dmitrij Gawrisch, Urs Habegger, Nora

Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Dina Hungerbühler, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer

Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Diana Frei (dif) Klaus Petrus (kp), Sara Winter Sayilir (win) Reporterin: Lea Stuber (lea) T +41 61 564 90 70 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T +41 43 321 28 78 M+41 79 797 94 10 anzeigen@surprise.ngo

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Der reduzierte Tarif gilt für Menschen, die wenig Geld zur Verfügung haben. Es zählt die Selbsteinschätzung.

Halbjahres-Abo CHF 120.–, 12 Ausgaben Reduziert CHF 84.–

Probe-Abo für CHF 40.– (Europa: CHF 50.–), 4 Ausgaben Reduziert CHF 28.– (Europa: CHF 35.–)

Gönner-Abo für CHF 320.–

25 Ausgaben zum Preis von CHF 250.– (Europa: CHF 305.–) Reduziert CHF 175.– (Europa: CHF 213.50.–)

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Auflage 57420

Druck AVD Goldach

Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

Hunziker, Melanie Katz, Karin Pacozzi, Ingo Petz, Edwin Ramirez, Julia Rüegger, Hans Rhyner, Anina Ritscher, Adriana Ruzek, Ute Sengebusch, Franziska Tschinderle, Katrin von Niederhäusern, Genet Weldu, Florian Wüstholz

Das Abonnement ist für jene Personen gedacht, die keinen Zugang zum Heftverkauf auf der Strasse haben. Alle Preise inklusive Versandkosten.

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Bruuchsch öppis?

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1 Mödeli Anke

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1 kg Wyssmähl

Verbunden, um füreinander da zu sein. Wir wünschen allen Surprise Leser*innen zauberhafte Festtage, und möge Ihnen immer jemand zur Seite stehen, wenn mal etwas abverheit.

Gemeinsam bereit.


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