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Daniel Gerlach

Die Geburt des Erlösers bei den Zoroastriern

Die längste Nacht des Jahres verbindet das Feuer mit dem Schöpfer. Denn so heissen die beiden Monate im iranisch-zoroastrischen Kalender. Der 1. Dey («Schöpfer») ist der erste Tag des Winters. Laut unserem europäischen Kalender fällt die Wintersonnenwende meistens auf die Nacht vom 21. auf den 22. Dezember. Iraner*innen sitzen am Vorabend und manchmal die ganze Nacht beisammen, essen, trinken, und lassen aufgrund des Winters eine Atmosphäre aufkommen, die manchen in Europa an Advent und Weihnachten erinnert. Sie lesen sich Gedichte eines ihrer grossen Nationaldichter vor: Hafez. In Iran und einigen seiner Nachbarstaaten wird die Nacht der Wintersonnenwende Shab-e Yalda genannt, die Nacht der Geburt, was sich aus einem persischen und einem aramäischen Wort zusammensetzt. Schon das deutet darauf hin, dass dieser hohe Festtag im iranischen Kalender eine interkulturelle Geschichte hat. Wessen Geburt da gefeiert wird? Am wahrscheinlichsten die der Sonne, die an diesem Datum die Dunkelheit überwindet und sich immer länger am Himmel zeigt. Es könnte auch, wie viele glauben, die altiranische Lichtgottheit Mithra sein. Oder aber, was auch nicht auszuschliessen wäre, es haben hier christliche Traditionen ihre Spuren hinterlassen: Schliesslich spielte das Christentum im persischen Sassanidenreich, auf dem Kaukasus und in vielen Ländern, in denen heute Shab-e Yalda begangen wird, eine wesentliche Rolle. (Die Iraner*innen würden das nicht gelten lassen. Nicht weil sie etwas gegen Christ*innen haben, sondern weil sie der Ansicht sind, dass die iranische die älteste Kultur ist und alles selbst erfunden hat.)

Am Vorabend dieser längsten Nacht des Jahres 2021 regnet es ergiebig. Die Strassen von Sulaimaniyya spiegeln das fahle Licht der wenigen Laternen. Die kurdische Metropole und Hauptstadt einer gleichnamigen irakischen Provinz liegt auf über 800 Metern und ist umgeben von den Bergen des östlichen Kurdistans. Bis zur iranischen Grenze sind es etwa hundert Kilometer Landstrasse. Wie bei den Kurd*innen im Nachbarland wird in Sulaimaniyya Sorani, ein Dialekt des Kurdischen, gesprochen.

Im Kulturzentrum herrscht an diesem Abend Hochbetrieb. Vor dem Eingang unter einem Zeltdach sind Stände mit etwas Kunsthandwerk, Honig, Öl und Süssigkeiten aufgestellt. Drinnen im Foyer werden aus einem Grund, der sich mir nicht erschliesst, ausgestopfte Tiere verkauft. Ein Fuchs, Fasane, Rebhühner und Kaninchen. Man sieht diesem kurdisch-zoroastrischen Christkindlmarkt an, dass seine Initiatoren für einige Zeit in Europa gelebt und anscheinend den Basar für Selbstgemachtes verinnerlicht haben. Die Stimmung ist gut, Kinder verteilen kleine Geschenktüten mit Nüssen, Rosinen und Dragées. Der Priester Asrawan Qadrok und die anderen an den rituellen Handlungen beteiligten Personen tragen an diesem Abend weisse Gewänder und rote Kopfbedeckungen. Seine Mütze sieht aus wie das «Zucchetto» genannte rote Häubchen, an welchem man in der katholischen Kirche die Kardinäle erkennt.

Es ist das erste Mal, dass ich die Farbe Rot bei zoroastrischen Priestern sehe, und ich vermute, dass es sich dabei um eine Idee der kurdischen Revival-Gemeinde handelt. Wer wollte ihnen das verbieten? Auch Awat trägt eine rote Kappe wie die Flugbegleiterinnen bei der Airline Emirates. Die kurdische Politikerin hat sich, im Einvernehmen mit den anderen, zur zoroastrischen Priesterin ernannt. Und da es keine zentrale Autorität, keinen Vatikan des Zoroastrismus gibt, gilt sie, diese Priesterweihe. Die kleine Gemeinde von Sulaimaniyya ist quasi eine zoroastrische Freikirche, die sich ihren eigenen Ritus gegeben hat. Dazu gehört eine eigene kurdische Hymne an Zarathustra, die mit Inbrunst und Hand auf dem Herz gesungen wird und die alle – Gross und Klein – inzwischen leidlich auswendig zu kennen scheinen. Ein gemaltes Porträt des Zarathustra hängt über dem Altar: ein sanfter, bärtiger Mann in weissem Gewand und mit weissem Turban, der die Heilige Schrift des Avesta in der Hand hält. Wann, wo und ob Zarathustra tatsächlich gelebt hat, ist in der Forschung umstritten: Im zweiten oder ersten Jahrtausend v. Chr., in Zentralasien, Iran oder an den Ufern des Kaspischen Meeres. Unstrittig ist, dass seine Lehren im Vorderen Orient vom Mittelmeer bis nach Südasien tiefe Spuren hinterlassen haben. Heute bekennen sich weltweit noch zwischen 100 000 und 150 000 Menschen zum Zoroastrismus, die meisten davon in Iran und in den Gebieten des ehemaligen britischen Kolonialreichs. Fast überall sind Glaube und Kultur der Zoroastrier auf dem Rückzug. Nur nicht hier, in Irakisch-Kurdistan.

DANIEL GERLACH, 45, studierte Geschichte und Orientalistik in Hamburg und Paris. Er ist Chefredaktor des Nahost-Magazins Zenith und Direktor des Think-Tanks Candid Foundation gGmbH. In seinem aktuellen Buch «Die letzten Geheimnisse des Orients – Meine Entdeckungsreise zu den Wurzeln unserer Kultur» (C. Bertelsmann 2022) führt er durch die Kulturgeschichte des Nahen Ostens zu den Ursprüngen von Christentum und Islam. Der vorliegende Text ist ein leicht bearbeiteter Auszug daraus.