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Carlo Knöpfel

Wie die Schweiz zu einer Million Armer kam

Seit 1999 gibt Caritas Schweiz jährlich den Sozialalmanach heraus. Sie schliesst damit eine Lücke in der kontinuierlichen Sozialberichterstattung. Jeder Sozialalmanach hat zwei Teile. Im ersten wird die wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklung der Schweiz im Jahresrückblick dokumentiert und kommentiert. Im zweiten Teil wird ein sozialpolitisches Thema aus verschiedenen Perspektiven diskutiert. Die erste Ausgabe war der «Existenzsicherung» gewidmet.

Für die Ausgabe 2006 stellte ich im gesellschaftspolitischen Rückblick zum sozialen Wandel fest, dass es immer noch keine Statistik über das Ausmass an Armut in der Schweiz gab. Man konnte zwar im Statistischen Jahrbuch nachlesen, wie viele Forellen aus dem Bodensee gefischt und wie viele Autos neu zugelassen wurden, aber wie viele armutsbetroffene Menschen in der Schweiz lebten, war bislang unbekannt.

Ich suchte darum Studien zusammen, die jeweils eine Schätzung für einen Teil der Armutsbevölkerung beinhalteten. Die erste schätzte, wie viele Kinder und Jugendliche in Armut leben, die zweite, wie viele Erwachsene betroffen sind, und die dritte, wie viele Rentnerinnen und Rentner. Zusammengerechnet ergab dies eine Million Arme in der Schweiz. Diese Feststellung machte ich in meinem Jahresrückblick fast beiläufig, sie sollte aber auf grosse Resonanz stossen. Denn ohne mich vorweg zu informieren, publizierte der Leiter der Kommunikation bei der Caritas heute vor 17 Jahren, am 27. Dezember 2005, eine Medienmitteilung zum Erscheinen des Sozialalmanachs mit dem Titel «Eine

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Million Arme leben in der Schweiz». Ich war in der Woche mit meiner und ein paar anderen Familien in einem Ferienlager in Broc im Kanton Fribourg. An diesem Tag machten wir eine Schneewanderung zu einem Kloster. Kurz vor der Pforte schaute ich auf mein Handy und hatte 7 verpasste Anrufe auf dem Display. An einem Tag zwischen Weihnachten und Neujahr? Beim ersten Rückruf wurde mir klar, was los war: Journalist*innen von Radios, Fernsehen und Zeitungen wollten wissen, wie Caritas dazu kam, von einer Million Armer in der Schweiz zu sprechen: mehr als Zehntel der Bevölkerung!

An diesem Tag war ausgerechnet ich für das Abendessen zuständig. Es gab Poulet. Ich fuhr mit dem Bus zurück zum Lagerhaus, marinierte die Poulets und steckte sie in den Ofen. Immer wieder musste ich diese bepinseln. Parallel dazu rief ich die registrierten Nummern an, inzwischen waren es 11 verpasste Anrufe, und gab zwischen den Pinselrunden in der Küche unserer Unterkunft Interviews: Was versteht man unter Armut? Wie viele Arme gibt es? Wer ist arm? Warum sind Menschen arm? Was kann man gegen Armut machen? Dass die Poulets saftig und knusprig aus dem Ofen kamen, überrascht mich noch heute. Nun kam uns aber die Moral in den Weg: Durfte diese Poulets denn überhaupt geniessen, wer zur selben Zeit über das massive Ausmass an Armut in der Schweiz Auskunft gab?

Die Sache ging weiter, als kurz nach Neujahr ein ganzseitiger Artikel mit dieser Headline in der NZZ erschien. Der Artikel begann als Verriss: Wie war Caritas zu einer solchen Schätzung jenseits aller Realitäten gekommen? Diese könne nur falsch sein. Doch dann arbeitete sich der Autor ebenfalls durch die erwähnten Studien, die absolut seriös waren, und kam zum Schluss, dass die Schätzung wohl ihre Richtigkeit habe. Doch was nicht sein darf, kann nicht sein: So endete der Artikel mit der «Erkenntnis», dass offenbar die Armutsgrenze in der Schweiz zu hoch angesetzt sei. Damit lieferte er die Vorlage für eine erneute Debatte über die SKOS-Richtlinien, in denen das soziale Existenzminimum festgelegt ist. Viel an der Realität geändert hat sich seither nicht: Heute leben schon 1,3 Millionen armutsbetroffene und armutsgefährdete Menschen in der Schweiz.

CARLO KNÖPFEL, 64, kann auch Poulet zubereiten. Sonst ist er Professor am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

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