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Yvonne Kunz

Ticket Nr. 59

Dieses Jahr habe ich nach langer Zeit in der Schweiz mal wieder eine Weile woanders gelebt. Im Ausland, in Sevilla, Südspanien. Und nicht, um Ferien zu machen, sondern um mit den Spanier*innen Flamenco zu trainieren. Ein wirklich langer Aufenthalt war es nicht, knapp sieben Wochen. Aber lange genug, um einen Alltag zu haben – und lange genug, um in diesem Alltag fremd zu sein.

Fremd sein heisst erst einmal: nicht wissen. Wie das Müll- und Recycling-Wesen der Stadt funktioniert oder der öffentliche Verkehr. Fremd sein heisst, umgekehrt gedacht: herausfinden müssen, in meinem Fall mit begrenzten Sprachkenntnissen. Fremd sein heisst deshalb auch, überfordert zu sein. Wenn man den Instruktionen der Lehrerin im Tanzstudio nur so ungefähr folgen kann, zum Beispiel, oder dem Kellner in der lauten Tapas-Bar.

Am Tag nach meiner Ankunft menge ich mich in eine Menschentraube um den Tresen eines Käse- und Wurststands in der ältesten Markthalle von Sevilla. Es ist Samstagmorgen, die Stimmung geschäftig. Kund*innen mit sehr spezifischen Wünschen fachsimpeln mit den vier Lebensmittelhändler*innen, die leicht erhöht hinter den polierten Scheiben einer Auslage stehen, mit hunderten verschiedenen Manchegos, Quesos, Cabras, Chorizos, Jamones. Alle scheinen sich zu kennen, kreuz und queres Palaver unter den Wartenden. Nach zehn Minuten entdecke ich, dass man eine Nummer ziehen muss, also bahne ich mir den Weg zum Ticketautomaten, der die Nummer 59 ausspuckt. Im Gewimmel des Ladens sehe ich schliesslich auch den Zähler, rot leuchtet darauf die 8. Acht? Echt?

Eine Frau muss mein Verblüffen beobachtet haben, sie wendet sich mit einer langen Wortsalve an den Chef des Ladens, worauf dieser ein kleines Gerät zur Hand nimmt und vorklickt – bis auf dem Zähler die 55 erscheint. Die Leute lachen ihn freundlich aus: Euer Zählsystem ist nur Show! Vale, vale, ist ja gut, sagt der Verlachte. Die Frau, die intervenierte, hat die 55, aber bedeutet mir: Du warst vor mir, hast’s halt nicht verstanden mit den Nümmerchen. Da gebe es ja auch nichts zu verstehen, sagt eine zweite Frau, nochmals etwas Gegacker. Ich sei auch vor ihr da gewesen, meint sie. Eine dritte lässt mir auch den Vortritt, und noch eine. Vale, ich bin dran, die 59!

Sowas, sinniere ich auf dem Weg zurück zu meiner Wohnung, würde in der Schweiz nie passieren. Schon gar nicht einer Fremden.

YVONNE KUNZ, 50, beobachtet die Welt, ob im Zürcher Gerichtssaal, auf Reisen oder auch auf dem Tanzboden.