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Karin Pacozzi

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Winterschlaf

Wie jedes Jahr fühle ich mich im Winter müde. Die Energie des Frühlings, Sommers und Herbstes ist vorbei. Im Herbst dann kommt mir jedes Mal ein Gedicht von Rainer Maria Rilke in den Sinn, das ich mal auswendig konnte.

Herbsttag Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr gross.

So beginnt es. Rilke ist immer sehr religiös, ich bin es eigentlich nicht. Aber hier passt es und vermittelt das Gefühl: Es geht um etwas Grösseres. Die dritte und letzte Strophe heisst:

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben und wird in den Alleen hin und her unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Der Text ist melancholisch, man spürt, wie sich die Blätter verfärben. Rilkes Gedichte sind wie Gemälde. Der «Herbsttag» ist im «Buch der Bilder» unter vielen anderen Gedichten zu finden.

Schon Ende November, wenn die Tage bereits um vier Uhr dunkler werden und der Tagesanbruch lange auf sich warten lässt, bereiten sich die Tiere draussen im Wald auf ihren Winterschlaf vor, um den ich sie beneide. Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Das Haus könnte auch eine Höhle sein. Am liebsten würde auch ich mich für die nächsten zwei bis drei Monate in den Schlaf flüchten. Wenn man am Schlafen ist, ist man nicht allein. Wenn man sich in ein Bett kuscheln und sich in den Schlaf hineingeben kann, fühlt man sich nie einsam. Was seltsam ist, denn im Schlaf ist man im Grunde ja allein. Aber wenn man tief schlafen kann, ist alles gut. Wenn man nach tiefem Schlaf aber erwacht und sofort wieder weiss, wo man ist, und dazu noch das Gefühl kommt, dass einem niemand weh tun kann, dann vergehen auch die kurzen Tage in Wärme und Geborgenheit.

Auch Lesen wäre eine Überwinterungsmethode. Oder was wohl Rilkes Briefeschreiben entspräche: lange Gespräche. Im eigenen Kopf oder mit anderen Leuten.

KARIN PACOZZI, 56, verkauft Surprise in Zug und hat immer einen Block auf dem Küchentisch, um Gedanken aufzuschreiben und Kurzgeschichten zu verfassen.