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Oktober 2022, Kleines Haus
es uns fällt, selbst (oder gerade) unter größtem Druck Entscheidungen zu treffen. Diesen und vielen anderen Produktionen ist gemeinsam, dass sie uns nicht mit einer einfachen Antwort aus dem Abend entlassen, sondern uns provozieren, in verschiedene Richtungen auf einmal zu denken.
Ähnliches gilt für das Musiktheater, das in Die Eroberung von Mexico von Wolfgang Rihm nach dem Grundsätzlichen hinter den vermeintlichen historischen Tatsachen sucht und das Aufeinanderprallen unterschiedlicher Weltanschauungen reflektiert, Peter Pan löst Realitäten und Gesetzmäßigkeiten von Zeit und Raum gleich ganz auf, Cosí fan tutte fragt spielerisch, wohin uns ständiges Misstrauen bringen kann und warum wir so verletzlich sind, wenn wir Nähe wagen, und Im Dickicht, unsere Koproduktion mit den Schwetzinger SWR Festspielen, stellt ganz konkret in einer Gerichtsverhandlung die Frage, ob sich Wahrheit rekonstruieren lässt, wie viel Wert Zeugenschaft hat – und ob wir unseren Augen und Ohren überhaupt trauen können. Damit schlägt die Oper einen dramaturgisch gefassten Bogen über verschiedene Epochen und gibt musikalische und ästhetische Anregungen, über Fantasie, Fakten und die eigene Urteilskraft nachzudenken.
Und hier schließt sich der Kreis, wieder geht es um die Methode! Denn auch dieses Thema ist über die konkrete Auseinandersetzung in den Stücken hinaus ganz grundsätzlich ein Theaterthema. Gerade in der Auseinandersetzung mit so genannten Fakten kann das Spiel auf der Bühne und unser Zusammentreffen vorher und nachher einen Gegenentwurf bilden. Theater nimmt keine Weisheit für sich in Anspruch, sondern geht Umwege. Es ist eine der größten Errungenschaften unserer europäischen Geschichte, die wir, so meine ich,
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nach Rückfällen in die Barbarei mit Leidenschaft verteidigen sollten: Kunst und Kultur sind niemals eindeutig. Denken und Fantasieren nicht linear. Komplexe ästhetische Gebilde und Gedankengebäude sind dazu da, dass man sich darin verlieren darf, um zu erkennen, dass wir aushalten müssen, niemals die eine richtige Antwort zu kennen. Nur wenn wir diese Komplexität akzeptieren und wollen, macht uns das zu rechtmäßigen Erb*innen der Aufklärung. Putins Überfall auf die Ukraine, autokratische Weltanmaßungen und die Unterdrückung von Meinungsfreiheit – egal wo – sind ein Angriff auf die Werte, die uns wesentlich sind. Und es ist unerträglich, dass wir hilflos zusehen müssen, wie ein Land, das auf dem Weg in die europäische Gemeinschaft war, in dem viele für Demokratie, Freiheit und Vielfalt gekämpft haben, zu einem Trümmerhaufen zerbombt wird – und mit ihm einige unserer Gewissheiten und Überzeugungen. Denn wir werden gezwungen, uns die vielleicht schmerzhafteste aller Fragen zu stellen: Wie viel sind wir bereit zu tun, um unsere Werte zu verteidigen? Wir halten diese Frage nicht aus. Die große Bereitschaft zu spenden, Geflüchtete aufzunehmen und auch heftige wirtschaftliche Einschnitte hinzunehmen, speist sich auch aus der schrecklichen Furcht, dass wir Teil dieses Krieges werden, dass auch wir gezwungen werden, unsere Werte mit der Waffe zu verteidigen. Was bisher unvorstellbar war, drängt sich mit aller Monstrosität der Folgen in unsere Gedanken und unser Leben.
Wir fühlen uns ratlos, einfache symbolische Gesten wirken dürftig. So, wie wir in der Pandemie hilfesuchend auf die Expert*innen und die Wissenschaft geschaut haben und keine eindeutigen Lösungen bekommen konnten, müssen wir auch jetzt aushalten, dass es keine Gleichung
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