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Vorwort

wirkliche, die zwischen mir und dir, zwischen uns und euch, noch immer dieses chaotische Gewirr aus Sackgassen darstellt, so trügerisch mit ihren verträumten Promenaden, so hinterhältig, wenn sie etwas ausdrücken will, und auch, wenn sie etwas verschweigen will.“ Wir könnten gemeinsam in der neuen Spielzeit hineinleuchten in diese Sackgassen, uns vortasten auf den verträumten Promenaden. Einfach so, ganz ohne Recht haben zu wollen.

Du kannst mir alles erzählen. Das ist natürlich eine maßlose Aufforderung. Geht ja gar nicht, alles zu erzählen. Allerdings haben wir – und auch darüber wurde viel und aufgeregt diskutiert – ohne Unterlass geprobt und ziemlich viel angesammelt in den letzten Monaten. Jetzt haben wir jede Menge Geschichten wortwörtlich auf Lager. Wir können aus dem Vollen schöpfen. Das finden wir wunderbar, denn Geschichten werden wir brauchen! Vielleicht kann uns die Bereitschaft, alles zu erzählen, schließlich dahin bringen, uns doch auf die eine oder andere Gemeinsamkeit zu einigen. Der Soziologe Andreas Reckwitz hat schon vor Corona auf die große gesellschaftliche Herausforderung aufmerksam gemacht, dass wir unbedingt mehr Verzicht auf individuelle Bedürfnisse zugunsten gesellschaftlicher Übereinkünfte brauchen. Können wir das überhaupt noch und warum ist das so dringend geboten? „Singularitäten“ nennt Reckwitz uns Individuen der Spätmoderne. Und der Wert einer Singularität beziffert sich darüber, wie „besonders“ sie ist, wie sehr sie sich originell und stilsicher von anderen absetzt. Wobei paradoxerweise durch die immer neuen modisch vorgegebenen Definitionen des Besonderen dieses schon nicht mehr besonders sein kann … Aber „wer Ambivalenzen aushalten kann, ist in der Spätmoderne klar im Vorteil“ (Reckwitz). Alles nicht so einfach - Ambivalenzen sollen wir

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aushalten, resilient sollen wir auch noch werden, damit wir Schritt halten können. Und beides überfordert viele. Die große Gefahr dieser Entwicklung ist eine gesellschaftliche: Besonders kann nämlich leider nur sein, wer über ausreichend Kapital an Bildung, Geld und Begabung verfügt, das ist eine teure Angelegenheit auf mehreren Ebenen und in unterschiedlicher Währung. Wer dies nicht leisten kann, gehört zum nicht wertgeschätzten „abgehängten Drittel“ und fühlt sich auch so. Corona dürfte dieses abgehängte Drittel noch weiter zurückfallen lassen. Das ist eine politisch gefährliche und gesellschaftlich traurige Entwicklung.

Wir brauchen also, um einen altmodisch klingenden aber eigentlich hochmodernen Begriff zu verwenden, der ebenfalls schon bei Hannah Ahrendt auftaucht und nun von vielen aufgegriffen wird, Gemeinsinn. Dringend. Etwas, auf das wir uns bei all unseren Unterschieden einigen können. In dem wir weiter in individuellen Farben schillern können und doch das gemeinsame Ganze im Blick haben.

Ob wir dazu noch in der Lage sind, wird sich zeigen. Versuchen müssen wir es auf jeden Fall. Wir hier im Theater jedenfalls werden das uns Mögliche dafür tun, wir wollen erzählen und erzählen lassen und zuhören, auf der Bühne, im Foyer, im grünen Kakadu. Bis die ganze Atmosphäre im und rund um das Theater voll ist mit unseren, Ihren und Euren Geschichten. Und wir werden versuchen, dafür Zwischentöne und Bilder zu finden, die uns auf Saramagos verträumte Promenaden und anderswohin führen, wo wir vorher vielleicht noch nie waren.

Es gibt so viel zu erzählen, so viele verschiedene Geschichten. Wir wollen so mannigfaltig und reichhaltig wie möglich sein, um einige der schmerzhaften Lücken zu füllen, die entstanden sind. Die meisten Sprechblasen in

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