Guide Magazin 612 – 3. Ausgabe

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612 — KOLUMNE

DER STADTBEOBACHTER

Ich habe das Jetzt wiederentdeckt

Gallus Hufenus, 41, Kaffee-Zelebrierer und Kaffeehaus-Betreiber, Tango-Liebhaber, Weltenbummler, Sozialdemokrat. In der Kolumne «Stadtbeobachter» beleuchtet er St.Gallen aus seiner Perspektive. Liebevoll-kritisch, engagiert, nachdenklich-wohlwollend, fordernd, identitätsstiftend. Wer den umtriebigen Barista live erleben möchte: Man trifft ihn in seinem Kaffeehaus (Betonung auf der zweiten Silbe) in der Spiservorstadt: www.kaffeehaus.sg. Dort gibt's übrigens auch den stadtbesten ­Kaffee. ­Genussvoll. Varietätenreich. Mindestens einen Spaziergang wert.

«Gesundheit ist ein Zustand des geistigen, sozialen und körperlichen Wohlbefindens und nicht das Feh­ len von Krankheit und Gebrechen.» Was im ersten Artikel der Verfassung der Weltgesundheitsorganisa­ tion niedergeschrieben ist, darüber gilt es in Zeiten wie diesen zu debattieren und philosophieren. Mich hat es angeregt, darüber nachzudenken, was mir gut­ tut, und es hat mir deutlich gemacht, was ich in den letzten Monaten entdecken durfte: Achtsamkeit. Auf einmal wird dieses Wort fassbar. Schon verrückt, dass man sich heute bei einer Begegnung als Erstes überlegt, ob man sich nun umarmen soll oder nicht. Die dann bewusste und einvernehmliche Entschei­ dung, gerade jetzt miteinander Tango zu tanzen, lässt den Atem fliessen und Körper und Musik mit­ einander verschmelzen. Dieser besondere Tanz ist intensiv wie keiner zuvor. Der Spaziergang über die Drei Weihern und der sich öffnende Horizont zu un­ serem Meer, dem Bodensee, helfen zu akzeptieren, dass es Dinge gibt, die man nicht ändern kann. Die Glockenschläge der Kathedrale schenken Geborgen­ heit. Strassencafés bespielen plötzlich die Plätze. Raum für Wachsamkeit entsteht und eine Bühne für den Austausch für alles, was ich ändern kann. Ich habe das Jetzt wiederentdeckt: das Lachen aus dem Latinoclub im Quartier, den Duft der frisch ge­ backenen Panettoni von der Bäckerei in der Strasse. Ich betrachte das Schaufenster der Künstlerin gegenüber. Ich lausche, wie die Geigen-, Gitarrenund Bandoneón-Klänge des Trios, das sich «Café Deseado» – das ersehnte Café – nennt, in der Nach­ barschaft über die Kreuzung schleichen. Das Be­ wusstsein, dass der geschmacksexplodierende Es­ presso, nur wenn er im öffentlichen Raum aus einer dickwandigen Tasse getrunken wird, bedeutet, mit­ einander Geschichten zu schreiben. Begegnen wir diesen Zeiten allein mit Massnahmen, die versuchen, Symptome zu unterdrücken, damit das Wachstum nicht gebremst und Erfolg weiterhin in Zahlen und das Leben in Tagen gemessen wird, bleiben Be­ schränkungen und Regeln lange. Wenn wir vielmehr gleichzeitig beginnen zu lauschen, was uns die «besondere Lage» eröffnen will, werden wir mit mehr Einfachheit umso mehr Qualität, nachhaltige Freiheiten und überschäumende Lust erleben. Ganz besonders hier in St.Gallen. 45


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