Paracontact Winter 2023

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Das Magazin der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung I Winter 2023

Initiative für mehr Inklusion


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EDITORIAL

Geschätzte Leserinnen und Leser Es wäre vermessen, die vorliegende Ausgabe unter das Leitmotiv «Inklusion als Gesellschaftsmodell» zu stellen. Dennoch werden Sie merken, dass wir ganz viele Artikel zu diesem wichtigen Thema verfasst haben. So zeigen wir auf, dass beim ÖV die Inklusion noch lange nicht erreicht ist, weil z. B. die Halte­ stellen von Zügen, Bussen oder Trams nicht hindernisfrei sind. Dagegen müssen wir etwas tun. Deshalb bauen wir den Fachbereich «Interessenver­ tretung hindernisfreies Bauen» auf.

«Sammeln Sie Unterschriften» Wie auch in den letzten Ausgaben in­for­ mieren wir über den Stand der Inklu­ sions-Initiative, die helfen soll, dass alle Menschen mit einer Behinderung selbst­ bestimmt wohnen, leben und arbeiten können. Ich appelliere deshalb an alle unsere Mitglieder, Unterschriften zu sammeln. Wenn schweizweit jede von einer Behinderung betroffene Person selbst unterschreibt, müssen wir nicht um das Erreichen der 100 000 Unter­ schriften bangen.

Paracontact I Winter 2023

Auch im Sport finden Sie Informationen zu inklusiven Projekten wie beispiels­ weise der Cycling-WM 2024 in Zürich, zu inklusiven Segel- und Ruderevents oder zur Bewerbung für Olympische und Paralympische Winterspiele in der Schweiz, bei deren Organisation der Parasport von Anfang an miteinbezogen wird. Inklusion hat aber auch Grenzen. Nämlich dort, wo es Menschen mit einer Behinderung nicht möglich ist, gleich­ berechtigt bei einem Anlass teilzuneh­ men oder eine Aktivität auszuüben. Aus diesem Grund braucht es speziali­ sierte Reisen für unsere Mitglieder oder Sportangebote, die im Rollstuhl ausgeübt werden können. Einige dieser Angebote präsentieren wir Ihnen auf den folgenden Seiten. Ich wünsche Ihnen viel Spass bei der Lektüre und eine besinnliche und frohe Adventszeit. Herzlichst

Laurent Prince, Direktor

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IMPRESSUM

INHALT

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Herausgeberin Schweizer Paraplegiker-Vereinigung Kantonsstrasse 40, 6207 Nottwil Telefon 041 939 54 00 E-Mail spv@spv.ch www.spv.ch Chefredaktorin Evelyn Schmid Redaktion Laurent Prince, Nadja Venetz, Felix Schärer, Roger Getzmann, Daniela Vozza, Michael Bütikofer, Peter Birrer, Tina Achermann Koordination, Grafik, Inserate Tina Achermann Fotos SPV, SPS, Adobe Stock, RC Thurgau, SBB, Joao Dias, Reisetheater, Anita Panzer, M. Kaderli/U. Schwaller, HSA, Tobias Lackner, World WCMX, Kevin Morris, Paralympics Paris 2024, Clinique romande de réadaptation, Tania Emery, N. Duvivier, Mathias Azéronde Druck Brunner Medien AG, www.bag.ch Redaktionsschluss Ausgabe Frühling 2024: abgeschlossen Ausgabe Sommer 2024: 31.1.2024 Auflage 8100 Exemplare deutsch 4 250 Exemplare französisch Wir bemühen uns um gendergerechtes Schreiben, verwenden zur besseren Lesbarkeit manchmal die weibliche oder männliche Form stellvertretend für alle Geschlechter. Alle Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion. Fremdbeiträge geben nicht in jedem Fall die Meinung der SPV wieder. Ein Abdruck von unverlangt eingesendeten Manuskripten ist nicht gewährleistet.

Paracontact I Winter 2023

WIR BEWEGEN AKTUELL  6 WEIHNACHTSREZEPT Toblerone-Mousse 9 UNSERE PARTNER Herzlichen Dank 10 AUS DEN CLUBS Sensibilisieren mit einem Parcours 11 NACHGEFRAGT Den gesunden Lebensstil fördern 13

FREIZEIT RUNDREISE KANADA Eine Reise sorgt für Kritik und Lob 24 IN KÜRZE  26 HSA Abgetaucht in Ägypten 29 MIT DEN CLUBS Ab in den Süden 31

ROLLSTUHLSPORT «MOVE ON» «Es ist fantastisch!» 32 LEBENSBERATUNG IN KÜRZE  34 PFLEGENDE ANGEHÖRIGE Endlich etwas Entlastung 14 PODESTPLÄTZE Erfolgreiche Jagd 36 WERT VOLLE UNTERSTÜTZUNG Zu mehr Sichtbarkeit verhelfen 17 TRAINERAUSBILDUNG Vom Skilehrer zum Nachwuchstrainer 37 RECHTSBERATUNG TETRASKI HAFTPFLICHTRECHT Skivergnügen ohne Grenzen 38 Was ist der Erwerbsschaden? 18 PARALYMPICS PARIS 2024 Games Wide Open 39 RUDERN MEDIZIN UND WISSENSCHAFT Ziel: die Paralympics 2024 40 DIABETES Möglichkeiten aufzeigen statt Verbote 20 INKLUSIONSANGEBOT In einer eigenen kleinen Welt 41 HINDERNISFREIES BAUEN INTERESSENVERTRETUNG Inklusion darf beim ÖV nicht aufhören

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FOKUS VERMISCHTES  42 IM GESPRÄCH Silke Pan 44 QUERSCHNITTGELÄHMTE DES JAHRES Therese Kämpfer und Albert Marti 48 FÜR SIE DA Konrad Arnosti 50 5


RUBRIK AKTUELL

VERANSTALTUNG

GESCHÄFTSLEITUNG

Forum Recht

Roger Getzmann verlässt die SPV

Bis anhin war das Forum Recht eine Infor­ mationsveranstaltung für Ressortverant­ wortliche der Rollstuhlclubs. Neu dürfen alle interessierten SPV-Mitglieder am An­ lass teilnehmen. Der jährlich stattfindende Event widmet sich stets einem Hauptthema. Anwältinnen und Anwälte des Instituts für Rechtsberatung so­ wie ein Gastreferat beleuchten das Thema aus verschiedenen Perspektiven.

VISION OLYMPIA

Austragungsland statt Austragungsort Zusammen mit den Wintersportverbänden prüfte Swiss Olympic die Voraussetzungen für eine mögliche Austragung von Olympischen und Paralympischen Winterspielen 2030, 2034 oder 2038 in der Schweiz. In Frage kommt nur ein nationales Konzept, das die ökologische, wirtschaft­liche und soziale Nachhaltigkeit ins Zentrum stellt. Die Vision: Die Schweiz wird zum ersten Host Country der Welt und organisiert Olympische und Paralympische Spiele, die zum Ausdruck der Transformation in eine nachhaltige Gesellschaft werden.

Das nächste Forum Recht findet am Donners­ tag, 25. April 2024 von 14.00 bis 17.00 Uhr in der Aula des Hotels Sempachersee in Nottwil statt. Diese Ausgabe widmet sich dem Thema Beiträge an Versicherte. Die Vorträge wer­ den in deutscher Sprache gehalten. Nach den Referaten gibt es einen Apéro. Bitte melden Sie sich an. Institut für Rechtsberatung claudia.kobel@spv.ch

INKLUSIONS-INITIATIVE

Über die Hälfte erreicht 65 000 Unterschriften sind bereits für die Inklu­ sions-Initiative eingegangen. Das ist dem Einsatz des Initiativkomitees, den beteiligten Verbän­den und zahlreichen motivierten Einzelpersonen zu verdanken. Auch einige Rollstuhlclubs wie der Tessiner Club InSuperAbili oder der RC Thurgau legten sich ins Zeug und sammelten fleissig Un­ terschriften auf der Strasse. Vielen Dank für die­ ses Engagement!

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Er hat den Schweizer Parasport ab 2006 stark geprägt, zuerst als Leiter Leistungssport, später als Bereichsleiter von Rollstuhlsport Schweiz. 2021 ist der Bereich Kultur und Freizeit in seinen Zuständigkeitsbereich gekommen. Die SPV verliert mit ihm eine wichtige Führungsperson und ein Mit­glied der Geschäftsleitung. Ab 1. Februar 2024 übernimmt Peter Läuppi die Nachfolge. Der Aargauer hatte von 1997 bis 2005 bereits den Bereich Rollstuhlsport Schweiz geleitet. Er wird in der nächsten Ausgabe des Paracontact vorgestellt. Mehr dazu auf spv.ch.

HANDBIKE

Wechsel Nationaltrainer Rollstuhlsport Schweiz trennt sich von Nationaltrainer Michael Würmli. Der Grund für die Auflösung des Arbeitsverhältnisses findet sich in der Bilanz der aktuellen Saison, die nicht den Erwartungen von Rollstuhlsport Schweiz entspricht.

Die Schweizer ParaplegikerVereinigung und Rollstuhlsport Schweiz tragen die Vision mit. Mehr Informationen swissolympicteam.ch

Roger Getzmann, Bereichsleiter Rollstuhl­sport und Freizeit, verliess die SPV per Ende November auf eigenen Wunsch.

Unterschriftenbogen herunterladen spv.ch/inklusions-initiative

Wir danken Michael Würmli für die in den letzten drei Jahren geleistete Arbeit. Die Rekrutierung einer Nachfolge ist in vollem Gang. Paracontact I Winter 2023


ZENTRALVORSTAND

Rücktritt von Fabien Bertschy Fabien Bertschy tritt auf die kommende Delegiertenversammlung von seinem Amt als Beisitzer im Zentralvorstand zurück. Gesundheitliche Gründe bewogen den Neuenburger zu diesem Entscheid. Seit 2020 war er Teil des Zentralvorstands der SPV und vertrat die Anliegen der Betroffenen. Für seinen Einsatz bedanken wir uns herzlich. Die Nachfolge von Fabien Bertschy wird an der Delegiertenversammlung vom 4. Mai 2024 gewählt.

SPORT

15 EM-Medaillen Vom 6. bis 20 August fand in Rotterdam die erste Multisport-EM im Parasport statt. 40 Schweizer Athletinnen und Ath­ ­leten traten in den Sportarten Badmin­ ton, Basketball, Bogenschiessen, Cycling, Sportschiessen und Tennis an. Insgesamt kehrte die Schweiz mit acht Gold-, vier Silber- und drei Bronzemedail­

len zurück. Besonders erfolgreich waren das Badminton- und das Cycling-Team mit sieben bzw. acht Medaillen. Das Tennisdop­ pel Nalani Buob und Angela Grosswiler verlor das Spiel um Bronze und musste sich mit einem undankbaren vierten Platz be­ gnügen. Schützin Nicole Häusler erreichte den sechsten Rang und zeigte sich zufrie­ den mit ihrer Leistung.

Marie Guyot

Marie Ribeaud

Michelle Duss

Marie Guyot studierte Rechtswissenschaften an den Universitäten Neuchâtel, Luzern und Heidelberg. Nach dem Master­abschluss absolvierte sie in verschiedenen Gerichtsbehörden und im Anwaltsbüro Weissberg Bütikofer in Biel ein Praktikum als Juristin. Ihr Anwalts­ patent hat sie im Juni 2023 erworben und seit Juli unterstützt sie die Mitglieder der SPV als Rechtsanwältin.

Ursprünglich hat Marie Ribeaud eine Ausbildung zur Sonderpädagogin gemacht und lange mit Jugendlichen gearbeitet. Es zog sie schliesslich mehr in die Soziale Arbeit. Mit einem Bachelor in Geistesund Sozialwissenschaften erwarb sie das nötige Wissen. Seit September ist sie Sozialarbeiterin bei der Lebensberatung. Davor war sie sieben Jahre lang in einem kommunalen Sozialdienst tätig.

Im August begann Michelle Duss ihre Ausbildung zur Kauffrau bei der SPV. Die Nottwilerin schnupperte in verschiedenen Betrieben, doch bei der SPV gefiel es ihr am besten: das Team, die Aufgaben und der Kontakt zu den Mitgliedern. Ihr bisheriges Fazit ist positiv. Sie findet es super, dass sie bereits nach wenigen Wochen selbstständig Arbeiten übernehmen konnte.

Bergweh Am Wochenende schnürt Marie Guyot ihre Wanderschuhe und unternimmt lange Touren. Ebenso verbringt sie gerne Zeit mit Joggen, Familie und Freunden. Das sei ein guter Ausgleich zur Büroarbeit.

Eingespannt Wenn Marie Ribeaud Zeit für sich findet, kocht sie gerne, unternimmt Spaziergänge im Wald oder taucht in ein Buch ein. Der Taktgeber über ihre Freizeit ist allerdings ihr Sohn.

Sportsgeist Zweimal wöchentlich geht Michelle Duss ins Handballtraining bei den Spono Eagles. Der Spass am Sport steht im Vordergrund. Trotzdem hofft sie, mit ihrem Team in die nächste Liga aufzusteigen.

NEUE MITARBEITENDE

Rechtsanwältin

Paracontact I Winter 2023 2023

Sozialarbeiterin

Lernende

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Paracontact I Winter 2023


WIR BEWEGEN

WEIHNACHTSREZEPT

Toblerone-Mousse Der Schweizer Dessert-Klassiker schlechthin: cremige Toblerone-Mousse. Die Mousse schmeckt auch mit weisser oder schwarzer Toblerone himmlisch. Augen zu und geniessen!

ZUTATEN Für 4 Portionen 200 g Toblerone 5 EL Milch 3 dl Rahm Ideen für Garnitur Schlagrahm Himbeeren, Brombeeren oder andere Früchte Guetzli oder caramelisierte Nüsse

Von Andrea Di Bilio-Waldispühl

Die Toblerone-Mousse macht sowohl ge­ schmacklich als auch optisch viel her. Mit nur drei Zutaten und ein klein wenig Gar­ nitur zaubern Sie ein unglaublich leckeres Dessert, dass Sie und Ihre Gäste nicht mehr vergessen werden. Und so wirds gemacht Die Toblerone in Stücke brechen und zu­ sammen mit der Milch in eine Schüssel geben. Beides zusammen im Wasserbad schmelzen lassen. Den Vollrahm in einer anderen Schüssel steif schlagen. Die aus­ gekühlte Tobleronemasse vorsichtig unter den geschlagenen Vollrahm ziehen. Nun die Masse portionieren und für mindes­ tens vier Stunden in den Kühlschrank stel­ len. Vor dem Servieren kann man das Dessert nach Belieben garnieren; mit etwas Schlagrahm, einer Himbeere oder einer anderen Frucht, einem Guetzli oder ein paar Nüssen. Dann schmeckt es nicht nur gut, sondern sieht auch noch anspre­ chend aus.

Etwas Abwechslung können Sie in das Dessert bringen, indem Sie z. B. den ge­ schlagenen Rahm durch drei teilen. Je 70 g weisse, braune und schwarze Toblerone unter den geschlagenen Vollrahm ziehen und diese in die Gläser schichten. Paracontact I Winter 2023

FROHE WEIHNACHTEN Das Team der Schweizer ParaplegikerVereinigung wünscht Ihnen, Ihren Familien, Freunden und Bekann­ten schöne Weihnachtstage und alles Gute für das neue Jahr. 9


WIR BEWEGEN

UNSERE PARTNER

Integrationspartnerin Suva Bei der Arbeit wie im Sport gilt für die Suva folgendes Motto: Menschen mit Behinderung können viel erreichen, wenn man sie lässt.

Ob als Inklusionspartnerin bei Weltklasse Zürich im Letzigrund oder beim Rudern auf dem Rotsee, die langjährige Partner­ schaft mit der Suva entwickelt sich stetig weiter und unterstützt Betroffene bei Inte­ gration und Inklusion im Sport, bei der Ar­ beit sowie im Alltag. Zum ersten Mal in der 120-jährigen Ge­ schichte der Lucerne Regatta starte­ten die­ ses Jahr Para-Athletinnen und -Ath­leten auf dem Rotsee – ein wichtiger Schritt in Richtung Inklusion und Chancengleich­ heit. Dieses Thema wurde den Schweizer Ruder­ clubs im Rahmen eines gemeinsam mit SWISS ROWING und der Schweizer Para­ ­­plegiker-Vereinigung veranstalteten Orien­ tierungstages nähergebracht. Para-Rudern wurde 2005 in das paralympische Pro­ gramm aufgenommen und 2008 in Peking erstmals ausgetragen. Die Bootsrümpfe sind mit denen der Athletinnen ohne Be­ hinderung identisch, die Sitze sind den je­ weiligen Einschränkungen der Athleten und Athletinnen angepasst.

Die Suva engagiert sich seit vielen Jah­ren als Integrationspartnerin im Roll­stuhl­sport. Ziel des Engagements ist es, ver­unfallten Menschen die Chance zu ge­ben, als ParaAthletinnen und -Athleten an Wettbewer­ ben in der Schweiz teilzunehmen, aber auch den Breitensport zu ermög­lichen. Der Sport, bei dem man sich auf Augenhöhe be­ gegnet, fördert die Wieder­eingliederung in die Gesellschaft und die Sportlerinnen und Sportler über­nehmen eine Vorbildrolle. So geht eine Erfolgsgeschichte in die nächs­ ­te Run­de und entwickelt sich stetig weiter.

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PARTNER

ERFOLG DURCH TEAMWORK Gestalten Sie Erfolgsgeschichten im Rollstuhlsport mit, unterstützen Sie Freizeitaktivitäten oder Reiseangebote. Ein individueller Auftritt ist Ihnen sicher! Ihr Kontakt Nicolas Hausammann Verantwortlicher Sportvermarktung sponsoring@spv.ch Tel. 041 939 54 48

SUPPORTER – AMAG Sursee – Baumann Christina, Zürich – Bergbahnen Sörenberg, Sörenberg – Bundesamt für Sport, Magglingen – Castle Paul – CHRIS sports AG, Münchwilen – Teamsportstore, Manno – Fondation Montreux 2006 – Petersen Kerstin – perü timing, Lengnau – Publicare AG

MAIN PARTNER

SPONSOREN –S alomon – Amer Sports SA Switzerland, Hagendorn –S chweizerische Vereinigung zugunsten von Personen mit Spina Bifida und Hydrocephalus, Tagelswangen – Sportmedizin, Nottwil – Stiftung Denk an mich, Basel – Stiftung Folsäure Schweiz, Zug –S wiss International Air Lines Ltd., Zürich – Swiss Olympic, Ittigen – Visico GmbH, Spreitenbach Paracontact I Winter 2023


WIR BEWEGEN

AUS DEN CLUBS

Sensibilisieren mit einem Parcours Der Rollstuhlclub Thurgau liess mehrere Elemente anfertigen, durch die Fussgängerinnen und Fussgänger selber erfahren können, dass sich Hürden nur mit Geschick und Anstrengung überwinden lassen. Von Peter Birrer

Wie fühlt es sich an, sich selbstständig mit einem Rollstuhl fortzubewegen? Wie lassen sich Hürden überwinden, von denen es im Alltag unzählige gibt? Man kann es mit Worten versuchen – oder man macht es wie der innovative Rollstuhlclub Thurgau: mit einem Parcours, der Fussgängerinnen und Fussgänger sensibilisieren soll. Wenn sie sich in einen Rollstuhl setzen und eine Türe öffnen oder eine kurze, steinige Stre­ cke zurücklegen müssen, realisieren sie: Das erfordert einiges an Geschick und An­ strengung, erst recht ohne fremde Hilfe. Zusammenarbeit mit lokalem Schreiner Ursprünglich hatten die Thurgauer die Idee, einen solchen Parcours auszuleihen und mit Aktionen auf sich aufmerksam zu machen. Allerdings gestaltete sich die Su­ che gar nicht so einfach, weshalb der Vor­ stand beschloss, ein paar Hindernisse an­ fertigen zu lassen. Sie beauftragten einen lo­kalen Schreiner mit der Produktion – und liessen zudem einen Anhänger auf Mass an­ fertigen. Das alles ist mit einem beträcht­ lichen finanziellen Aufwand verbunden. Beglichen wurde die Rechnung mit einem Betrag aus der Klubkasse, ausserdem war Verlass auf die Unterstützung von Pro In­ firmis sowie der Thurgauer Kantonalbank. Und jetzt ist der RC Thurgau also stolzer Besitzer eines Parcours, der aus fünf ro­ busten Elementen besteht und im Juli am Strassenfestival Amriswil erstmals richtig zum Einsatz kam. Trotz hoher Temperatu­ ren herrschte reges Interesse, und nicht wenige gerieten noch mehr in Schwitzen, weil ihnen eine Fahrt im Rollstuhl einiges abverlangte. Paracontact I Winter 2023

Ein Bild vom Anlass machte sich auch Mit­ te-­Nationalrat Christian Lohr und lobte die Veranstalter für ihr beeindruckendes Engagement. A propos Engagement: Die Mitglieder des RC Thurgau sammelten in Amriswil an zwei Tagen über hundert Un­ terschriften für die Inklusions-Initiative. «Unser Ziel ist es, mit dem Parcours mög­ lichst viele Leute zu erreichen und ihnen zu vermitteln, was es heisst, mit dem Roll­ stuhl vorwärtszukommen», sagt Roland Dürr, der im Vorstand das Ressort Recht und Soziales leitet und neben Roman Her­ tach, Verantwortlicher Kultur und Freizeit, eine der treibenden Kräfte hinter dem Par­ cours-Projekt war: «Es geht auch darum, junge Menschen abzuholen und Hemm­ schwellen abzubauen.» Den Parcours kann man mieten Für Urs Kläger, Präsident des RC Thurgau, ist dieses offensive Vorgehen die einzig richtige Strategie. «Wir handeln proaktiv», sagt er, «uns ist es wichtig, das Verständnis für uns zu fördern, indem wir uns nicht verstecken. Wir sind überzeugt, dass wir da­durch einen Beitrag zu einem unkom­ plizierten Zusammenleben leisten.» Das soll nicht nur auf Thurgauer Terrain pas­ sieren, sondern auch ausserkantonal. Der Parcours kann von anderen Rollstuhlclubs oder sozialen Institutionen gemietet wer­ den, für 400 Franken pro Tag oder 600 Fran­­ken für zwei Tage. Mitgeliefert wird ei­ne detaillierte Anleitung, wie die Ele­ men­­te aufgebaut und hinterher wieder im Anhänger verstaut werden. Mietanfragen nimmt der Club über die Website entge­ gen. «Es wäre wünschenswert, den Parcours

Eine gute Idee Der Parcours stösst auf Interesse

drei, vier Mal pro Jahr zu vermieten», sagt Präsident Urs Kläger. Roland Dürr fügt an: «Wenn wir dank des Parcours Ein­nahmen haben, ist das ein schöner Nebeneffekt. Aber Priorität hat für uns nicht das Geld. Über allem steht das Thema Inklusion mit der Absicht der Sensibilisierung.» Der An­ fang ist gemacht – und vorzüglich gelungen. Mietanfrage via Formular auf www.rctg.ch/Parkour 11


Invader Alltag. Kompromisslos individuell. Der Starrrahmen-Rollstuhl Invader zeichnet sich durch seine sportliche Rahmenform kombiniert mit sehr hoher Festigkeit und geringem Gewicht aus. Der Aktivrollstuhl wird nach Mass gefertigt, wodurch er komplett individuell ist und somit perfekt zum Nutzer passt. Ottobock. The human empowerment company.

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WIR BEWEGEN

NACHGEFRAGT

Den gesunden Lebensstil fördern Die SPV pflegt neu eine Zusammenarbeit mit SalutaCoach, einem Start-up der Universität Basel. Mittels Coachings sollen Menschen dazu gebracht werden, gesünder zu leben. Thomas Hurni hat die Ausbildung zum Coach absolviert – und ist überzeugt vom Projekt. Von Peter Birrer

Worum geht es bei diesem Projekt konkret? Die Gesundheitsförderung ist für alle Menschen sehr wichtig und heutzutage ge­ radezu ein Trend. Wir wol­ len aber nicht einem Trend nacheifern, sondern Personen im Roll­stuhl zu einem gesunden Le­ bensstil begleiten – mit einem Coaching, das übers Telefon oder Video läuft. Wie funktioniert das Telefoncoaching? Zuerst wird ein kurzer, einfacher Gesund­ heitscheck durchgeführt, der allgemeine Erkenntnisse über den Lebensstil der Per­ son liefert und einen allfälligen Hand­ lungs­bedarf aufzeigt. Den Fragebogen hat SalutaCoach entwickelt und gemeinsam mit mir auf querschnittspezifische Aspekte angepasst. So wollen wir beispielsweise wis­sen: Gibt es physische Beschwerden? Wie viele Minuten pro Woche bewegt sich eine Person und in welcher Form? Gerade für Menschen im Rollstuhl sind Mobili­ sation und Bewegung unerlässlich. Eruiert wird zudem der Body-Mass-Index, der ei­ nen Hinweis auf den Körperfettanteil lie­ fert. Ausgewertet werden die Antworten mit einem Ampelsystem. Das heisst? Grün bedeutet: Die Person ist auf gutem Weg und soll so fortfahren. Bei Orange ist ein Coaching empfehlenswert. Und bei Rot läuten bei dir die Alarmglocken? Dann sind Massnahmen dringend empfoh­ len. Ein erstes Gratiscoaching dauert eine Paracontact I Winter 2023

Viertelstunde. Der Coach, das kann entweder ich oder jemand von SalutaCoach sein, schaut mit dem Kli­ enten oder der Klientin an: Wo steht sie? Welche Ziele hat sie? Geht es um Gewicht­ management? Aber auch die mentale Gesundheit und Stress­ bewältigung können ein Thema werden. Wenn genügend Informationen vorliegen, fängt die Arbeit mit einem Coach oder einer Coachin an. Natürlich nur, wenn das SPV-Mitglied dies will. Alle Coaches wur­ den übrigens von der SPV für querschnitt­ relevante Gesundheitsthemen sensibili­ siert, damit sie auf diese Aspekte eingehen können. Dann macht der Coach Vorgaben und der Kunde führt aus? Nein, man arbeitet gemeinsam an einem Ziel und bespricht sich immer wieder. Der Coach oder die Coachin versucht, der Per­ son zu einer Verhaltensänderung zu ver­ helfen. Vie­le Leute wüssten ja, was sie ma­ chen müss­ten, bloss tun sie es nicht. Vielleicht befürchten sie, dass sie zum Beispiel nichts Süsses mehr essen dürfen. Der neue Lebensstil soll Spass machen. Süsses ist nicht ein Tabu. Vielmehr soll der bewusste Umgang mit Ernährung geför­ dert werden. Ich will keinesfalls moralisie­ ren und nicht missionarisch unterwegs sein, sondern nur aufmerksam machen. Am Ende müssen die Leute überzeugt sein, weil die Umsetzung ganz persönlich ist und auch vom eigenen Umfeld geprägt wird.

Wie wichtig ist Bewegung? Das ist ein zentraler Punkt. Bewegung ist Medizin. Zu wenig Bewegung fördert zum Beispiel Herz-Kreislauf-, Atemwegs- und muskuloskelettale Erkrankungen sowie Krebs und Diabetes. Das ist evidenzba­ siert. Viele Gewohnheiten schleichen sich ein und es braucht Zeit, um sie zu ändern. Wie oft telefoniere ich mit dem Coach? In der Regel telefoniert man während der ersten Wochen einmal wöchentlich, dann nimmt die Kadenz ab. Man wird ständig von derselben Person begleitet. Und auf einer App werden nicht nur die Ziele und das Vorgehen festgehalten, sondern auch die Gesprächsinhalte. Was weist auf Fortschritte hin? Ein besseres Lebensgefühl. Oder die Waa­ ge, wenn ich zum Beispiel einen Gewichts­ verlust als Ziel definiert habe. Ein Thema für ein solches Coaching sind die Kosten. Wer kommt dafür auf? Der erste Gesundheitscheck mit dem er­ wähnten Ampelsystem ist kostenlos. Da­ nach fallen Kosten an, die die Kundin oder der Kunde trägt. Empfehlenswert ist es, vor Beginn eines Coachings die Krankenkasse zu konsultieren. Viele Krankenversiche­ run­gen übernehmen über die Zusatzversi­ cherungen einen Teil der Kosten bei einer Zusammenarbeit mit einem zertifizierten Coach.

Zum Gesundheitscheck salutacoach.ch/health-check-spv 13


LEBENSBERATUNG

PFLEGENDE ANGEHÖRIGE

Endlich etwas Entlastung Der inkomplette Tetraplegiker Pierre-Alain Tercier wird von seiner Partnerin Mireille Schafer gepflegt. Seit Mai 2022 erhält sie für ihre Arbeit eine Entschädigung, die dem Paar Luft gibt – und die sie als Anerkennung wahrnimmt.

Von Peter Birrer

Mireille Schafer stellt sich hinter ihren Partner Pierre-Alain Tercier, der eben das Frühstück zu sich genommen hat, legt ihre Arme über seine Schul­tern, stützt ihren Kopf auf seinem ab und lächelt. Es ist ein Bild, das irgendwie auch Symbolcharakter hat: Uns bringt nichts und niemand aus­ einander. Le Bry heisst die kleine Ortschaft im Kan­ ton Freiburg, hier lebt das Paar in einem beschaulichen Quartier fernab von hekti­ schen Menschenmassen und Verkehrslärm. Aber unbeschwert ist ihr Alltag längst nicht mehr – er ist geprägt von einem stän­digen Kampf, auch um die eigene Zukunft.

einen Moment, in dem er sich überhaupt nicht mehr bewegen konnte und dachte: «Es ist vorbei.» Aber er rappelt sich auf, und das hat ge­ wiss auch mit Mireille Schafer zu tun, der Frau an seiner Seite, die ihn moralisch auf­ richtet und hilft, wo sie nur kann. Sie ist ein eindrückliches Beispiel für die unzäh­ ligen pflegenden Angehörigen, die sich lie­ bevoll um ihre Partnerin oder ihren Part­ ner kümmern und dabei nie auf die Uhr

schauen. Gemäss einer Studie der Gewerk­ schaftsorganisation Travail.Suisse und der Berner Fachhochschule handelt es sich um jede fünfte erwerbstätige Person, die einen erwachsenen Angehörigen unterstützt. Diese Menschen sind immer da, wenn sie gebraucht werden. Und Mireille Schafer braucht es ganz oft. Dabei hat sie selber un­ fassbar vieles durchgemacht. 2008 verlor sie ihren ersten Mann nach einem Krebs­ leiden. 16 Monate nach seinem Tod kam

Als sich die beiden vor zwölf Jahren ken­ nenlernen, sieht ihr Alltag noch ganz an­ ders aus. Beide sind beruflich engagiert, Mireille Schafer als Verkäuferin, PierreAlain Tercier als Lagerist. Doch ab 2013 ändert sich das mit einer ernüchternden Diagnose: Bei Pierre-Alain Tercier wird eine degenerative Bandscheibenerkran­ kung festgestellt. Das Leben wird auf den Kopf gestellt. «Es ist vorbei» Zunächst kann er zwar noch mit Mühe ge­ hen, aber nach sechs Jahren kommt er nicht mehr ohne Rollstuhl aus. Sein Zu­ stand verschlechtert sich, 2019 wird der Mann mit einer inkompletten Tetraplegie ein erstes Mal im Schweizer ParaplegikerZentrum in Nottwil behandelt. Es folgen weitere Aufenthalte, verbunden mit Ängs­ ten. Pierre-Alain Tercier erinnert sich an 14

Wertschätzung Mireille Schafer ist als pflegende Angehörige angestellt Paracontact I Winter 2023


gen zu müssen. Aber mittlerweile gelingt es ihr, sich in solchen Momenten nicht mehr zu viele Gedanken zu machen. Sie denkt dann nur: «Wir können gerne einmal ei­ nen Tag lang tauschen.» Angestellt seit Mai 2022 Was wirklich stark belastet, ist die wirt­ schaftliche Situation. Die beiden fürchten lange um ihre Existenz und wissen nicht, ob der Verkauf ihres Hauses, das ihnen Ge­ borgenheit gibt, einmal unumgänglich wer­ den könnte. Deshalb schränken sie sich ein, wo sie nur können, und drehen jeden Franken zweimal um, bevor sie ihn ausge­ ben. Mit eiserner Disziplin und grossem Willen kommen die zwei Kämpferherzen über die Runden. Rückhalt Das Paar ist füreinander da

ihr Sohn bei einem Unfall ums Leben. Im Herbst 2016 erlitt sie ein Burnout. Und eben: Da war Pierre-Alain, der Mann an ih­ ­rer Seite, dem es zusehends schlechter ging. Aber eines stand für sie stets ausser Frage: Niemals würde sie ihn im Stich lassen. «Der Mensch Pierre-Alain ist immer noch derselbe», sagt Mireille Schafer. «Als ich vor sieben Jahren mit persönlichen Problemen zu kämpfen hatte, wollte ich nicht sofort eine neue Stelle suchen, sondern mich um Pierre-Alain kümmern.» Die Liebe gibt ihr Kraft Support erhält sie von der Spitex – anfäng­ lich auch am Abend. Auf diese Unterstüt­ zung verzichtet das Paar jedoch bald. «Er lag oft um 18 Uhr schon im Bett, weil für die Spitex ein späterer Termin nicht mög­ lich war», sagt Mireille Schafer und PierreAlain Tercier fügt an: «Wenn Kollegen zu Besuch kamen, war das für mich unange­ nehm.»

Darum übernimmt Mireille Schafer nun auch Aufgaben, die am Abend und bis zur Nachtruhe anfallen. Tagsüber erledigt sie die Einkäufe, chauffiert ihren Partner zu allen möglichen Terminen, kocht, sorgt sich um den Haushalt. Seine Dankbarkeit ist unüberhörbar: «Sie ersetzt meine Beine und Arme – und oft auch den Kopf. Sie ist Paracontact I Winter 2023

schlicht unbezahlbar und für mich das grösste Glück. Wäre Mireille nicht da …» Er bricht ab und fährt fort: «Ich wäre wohl in einem Pflegeheim.» Woher sie die Energie nimmt? «Es ist die Liebe», antwortet Mireille Schafer. «Manch­ mal weiss ich nicht, wie wir das schaffen, aber Resignation darf kein Thema sein.» Ein Anker im Leben der beiden ist ihre Enkelin Victoria, ein bald dreijähriger Wir­ belwind. Die beiden sagen: «Sie gibt uns unheimlich viel Kraft.» Eine Trennung? «Niemals!» Dabei zweifelt Pierre-Alain Tercier einmal stark, ob Mireille Schafer sich eine Zu­ kunft mit ihm überhaupt antun will. 2020 ist es, als er ihr während eines Aufenthalts in Nottwil sagt: «Wenn wir uns trennen wollen, dann jetzt.» Natürlich will er das auf keinen Fall, nur: Er versetzt sich in die Lage seiner Frau und hat das Gefühl, dass er in seinem Zustand für sie doch nur eine Belastung ist. Ihre Antwort kommt so schnell wie deutlich: «Niemals!»

Oft spürt sie, dass ihr Leute unterschwel­ lig zu verstehen geben, dass sie doch ein schönes Leben habe: Sie bleibt daheim, statt auswärts einer Arbeit nachzugehen. Das macht ihr anfänglich noch zu schaffen, weil sie oft das Gefühl hat, sich rechtferti­

Von grosser Bedeutung ist es, dass Mireille Schafer sich im Mai 2022 anstellen lassen kann und sich dadurch ein regelmässiges Einkommen sichert. Sie ist nun offiziell Mit­arbeitende von AsFam – das ist eine von mehreren Organisationen, die pflegen­ ­de An­gehörige unterstützt und ihnen mit Fachwissen zur Seite steht. Wer sich daheim um eine pflegebedürftige Person kümmert, entlastet das Gesund­ heitssystem und trägt zu erheblichen Kos­ teneinsparungen bei. Laut dem Bundesamt für Statistik leisten Angehörige rund 80 Millionen Stunden unbezahlte Arbeit, was einem Wert von 3,7 Milliarden Franken ent­ spricht. Janik Delville, die Mireille Schafer und Pierre-Alain Tercier als AsFam-Ver­ treterin in Le Bry unter die Arme greift, sagt: «Gäbe es nicht so viele selbstlose Hel­ fende, würde das System zusammenbre­ chen.» Mireille Schafer füllt nun jeden Abend ei­ nen Rapport aus, in dem sie detailliert festhält, welche Pflegeleistungen sie er­ bracht und wie viel Zeit sie dafür aufgewen­ det hat. Vertraglich zugesichert ist ihr ein Stundenlohn von 34.30 Franken, was ihr und Pierre-Alain Tercier immerhin etwas finanziellen Spielraum gibt. «Mit dieser Ent­schädigung kommen wir durch», sagt sie, wirkt zufrieden und fügt an: «Pflegen­ ­de Angehörige fühlen sich so auch mehr wertgeschätzt. Wir sind sehr dankbar für diese Lösung.» 15


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Paracontact I Winter 2023


LEBENSBERATUNG

WERT VOLLE UNTERSTÜTZUNG

Zu mehr Sichtbarkeit verhelfen Judith Nkoumou, Sozialarbeiterin bei der SPV, spricht über die Rolle der pflegenden Angehörigen – und sagt, wie sie unterstützt werden. Von Peter Birrer

Judith, warum ist es so wichtig, die pflegenden Angehörigen zu thematisieren? Laut Bundesamt für Sta­ tistik gelten in der Schweiz zwar fast 1,4 Millionen Men­ schen als pflegende Angehöri­ ­ge, aber diese Menschen leisten ih­ ren Dienst weitgehend unbeachtet. Dabei ist das, was sie vollbringen, ungemein wertvoll. Dank ihrer Unterstützung kann die betreute Person den sozialen Kontakt mit ihrem Umfeld aufrechterhalten und länger zu Hause bleiben. Je nach Situation kann die Angehörige eine wichtige Res­ source sein, die uns in unserer Arbeit un­ terstützt und ermöglicht, bei unseren ver­ schiedenen Interventionen schneller vo­ranzukommen. Darum ist es mir ein An­ liegen, pflegenden Angehörigen zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen, aufzuzeigen, was sie auf sich nehmen und wie wichtig es ist, ihnen Unterstützung zu geben. Sie verdie­ nen für das, was sie leisten, mehr Anerken­ nung. Unbeachtet Pflegende Angehörige

Was wird für pflegende Angehörige auf Bundesebene getan? Lange passierte wenig bis nichts. Aber nun ist Bewe­ gung in die Sache gekom­ men. Auf politischer Ebene hat der Bundesrat beschlossen, Massnahmen zugunsten der pfle­ gen­den Angehörigen zu ergreifen und zum Beispiel zu ermöglichen, ihren Einsatz mit ihrem beruflichen Engagement in Ein­ klang zu bringen. Wer sich um eine pflege­ bedürftige Person kümmert, kann Betreu­ ungsurlaub beantragen, von Betreuungsgutschriften sowie von der Aufhebung des hypothetischen Einkommens für Bezüger­ innen und Bezüger von Ergänzungsleistun­ gen profitieren. Die Hilflosenentschädi­ gung wird teilweise auch für die Entschädigung von Angehörigen verwendet. Gibt es weitere Mittel, um pflegende Angehörige zu unterstützen? Ja, es gibt Strukturen, die Angehörige bei ihren Pflegeleistungen mit einer offiziellen Anstellung unterstützen. Das bedeutet, dass sie einen vertraglich zugesicherten Lohn erhalten und für sie Sozialversicherungs­ beiträge bezahlt werden. Das ist auch bei einer Spitex möglich. Wo bekommen pflegende Angehörige Auskunft, wenn sie sich für eine Anstellung interessieren? Interessierte können sich bei Solicare, As­ Fam oder der Permed Spitex AG informie­ ren. Die Links sind in der Box aufgeführt. Auskunft erteilt auch die Spitex, die Sie unterstützt. Die Angehörigen können sich für Informationen auch bei uns melden.

Paracontact I Winter 2023

WEBSEITEN Unter folgenden Links erhalten Sie weiterführende Informationen Bundesmassnahmen

(insieme.ch) Auskunft zur Anstellung www.solicare.ch www.asfam.ch www.permed.ch Zusätzliche Informationen www.info-workcare.ch

(community. paraplegie.ch)

Wie unterstützt die Sozialberatung Angehörige? Wir arbeiten mit einem systemischen An­ satz, der darin besteht, die betroffene Per­ son, aber auch die Menschen um sie herum in ihren Anliegen zu verstehen und zu un­ terstützen. Wir bieten Beratungsgespräche, helfen finanzielle Ressourcen zu erschlies­ sen oder informieren über Entlastungsan­ gebote. Kontakt für weitere Informationen Tel. 041 939 68 68 lb@spv.ch 17


RECHTSBERATUNG

HAFTPFLICHTRECHT

Was ist der Erwerbsschaden?

Ist ein Dritter verantwortlich für meinen Unfall? Das Haftpflichtrecht klärt diese Frage und regelt mitunter den Schadenersatz. Der Erwerbsschaden kann dabei eine wichtige Rolle einnehmen.

Von Sebastian von Graffenried, Mlaw, Rechtsanwalt

Die Funktion des Haftpflichtrechts stellt grob gesagt den Ausgleich der Folgen dar, die eine Person durch ein Schadensereig­ nis erleidet. Die geschädigte Person soll dem­­nach den erlittenen Schaden nicht sel­ ber tragen müssen, sondern dessen Kon­­­­ sequenzen auf einen verantwortlichen Drit­­ten abwälzen können. Um die Theo­ rie bes­ser zu verstehen, nehmen wir das Beispiel einer Körperverletzung: Frau Mus­ ter fährt mit dem Auto zur Arbeit. Dabei wird sie von einem anderen Autofahrer, welcher ihren Rechtsvortritt missachtet, in einen schweren Autounfall verwickelt. Frau Muster erleidet eine Querschnittlähmung. Durch diese unfallbedingte Körperverlet­ zung kann Frau Muster ihr Leben und ih­ ren Beruf im Detailhandel nicht wie ge­ wohnt weiterführen. Über das Haftpflichtrecht kann Frau Muster den Schaden auf die Motorfahrzeugversicherung der vor­ trittsmissachtenden Person abwälzen, um zumindest finanziell ihre bisherige Lebens­ ­weise fortsetzen zu können.

der Bemessung des Schadenersatzes zu be­ rücksichtigen. Dabei nehmen im Allgemei­ nen neben dem hier interessierenden Er­ werbsschaden der Haushaltsschaden, der Pflege-, Betreuungs- und Besuchsschaden sowie verletzungsbedingte (Mehr-)Kosten eine wichtige Position ein. Der seelische Schmerz, welcher mit der Körperverlet­ zung verbunden ist, kann im Rahmen der Genugtuung ebenfalls geltend gemacht werden. Eine Person in der Schweiz kann

sich aber im Zusammenhang mit einem Schadensfall – anders als beispielsweise aus TV-Serien aus den USA bekannt – nicht bereichern. Es gilt das sogenannte Berei­ cherungsverbot. Den Schaden gilt es dem­ zufolge konkret zu berechnen. Der Erwerbsschaden im Besonderen Infolge der erlittenen Körperverletzung kann eine Person womöglich nicht mehr oder nur noch in eingeschränktem Umfang

Unfall Schadenersatz geltend machen

Der Personenschaden im Allgemeinen Die Körperverletzung an sich – in unserem Beispiel die Querschnittlähmung – bedeu­ tet noch keinen Schaden im Rechtssinne. Erst die wirtschaftlichen Nachteile, welche sich durch diese Körperverletzung erge­ ben, sind als haftpflichtrechtlich relevan­ ten Schaden zu verstehen. Die aus dem Unfallereignis resultierenden wirtschaftli­ chen Vermögenseinbussen sind somit bei 18

Paracontact I Winter 2023


arbeiten. Der Verdienstausfall infolge von Arbeitsunfähigkeit oder kurz «Erwerbs­ schaden» steht somit für die Differenz zwi­ schen den noch realisierbaren Einnahmen der geschädigten Person mit Unfall (sog. «Invalideneinkommen») und dem erwar­ teten Einkommen ohne Unfall (sog. «Va­ li­den­einkommen»). Mit anderen Worten wird verglichen, was trotz Unfall noch ver­ dient werden kann und was ohne das schä­ digende Ereignis verdient worden wäre. Bei angestellten Personen beträgt der Schaden die konkrete Lohneinbusse. Bei selbststän­ dig Erwerbenden ist die erlittene Gewinn­ einbusse massgebend. Berechnung des Erwerbsschadens Die Berechnung des Gesamtschadens und damit auch des Erwerbsschadens kann erst vorgenommen werden, wenn sich der Ge­ sundheitszustand stabilisiert hat und die Sozialversicherungsleistungen (bspw. Ren­ ten der Invaliden- und Unfallversicherung) bekannt sind. Denn letztere sind vom ein­ zufordernden Direktschaden in Abzug zu bringen. Aus diesem Grund kann die Scha­ densberechnung einige Zeit in Anspruch nehmen und verlangt von den Betroffenen viel Geduld. Tritt eine vollständige Hei­ lung der Verletzung ein, so können die Folgen der Arbeitsunfähigkeit als zeitlich abgeschlossener Schaden bestimmt wer­ den. Ist hingegen – wie bei der Diagnose der Querschnittlähmung leider oftmals der Fall – mit einem bleibenden Körper­ schaden zu rechnen, so wird bei der Scha­ densbemessung zwischen dem vergange­ nen und dem künftigen Schaden unterschieden. Vergangener Erwerbsschaden Der vergangene Erwerbsschaden betrifft den Schaden vom Zeitpunkt des Unfaller­ eignisses bis zur Schadensberechnung. Bei diesem Blick zurück in die Vergangenheit soll anhand der konkreten Verhältnisse er­ mittelt werden, wie hoch die Differenz zwischen dem Invaliden- und Validenein­ kommen ausfällt. Wie erwähnt, müssen für diese Bemessung der Gesundheitszu­ stand der verunfallten Person stabil und die Leistungen der Sozialversicherungen festgesetzt worden sein. Während dieser ab­zuwartenden Dauer sind die in dieser Zeitperiode allenfalls eingetretenen Lohn­

Berufliche Weiterentwicklung kann in die Berechnung miteinfliessen

veränderungen zu berücksichtigen. Bei­ spielsweise müsste einer allfälligen Lohn­ steigerung der im Detailhandel tätigen Frau Muster über diese Zeitspanne Rech­ nung getragen werden. Frau Muster kann nach dem Verkehrsunfall zudem keiner Arbeit mehr nachgehen. Vier Jahre nach dem Unfall ist gemäss den Ärztinnen und Ärzten auch keine Verbesserung des Ge­ sundheitszustandes mehr möglich. Zukünftiger Erwerbsschaden Bei der Bemessung des zukünftigen Er­ werbsschadens interessiert die Frage, wie sich die Einkommenssituation der geschä­ digten Person in Zukunft entwickelt hätte. Auch hier wird der Fokus erneut auf die Differenz zwischen dem Einkommen ge­ legt, welches die Geschädigte mit den un­ fallbedingten Einschränkungen und ohne verdient hätte. Diese Bemessung kann sich aber im Vergleich zum vergangenen Scha­ den nicht auf konkrete Zahlen stützen, son­ dern basiert – weil ausschliesslich in der Zukunft liegend – auf Hypothesen. Nach dem Gesetzestext ist dieser in der Zukunft liegende Schaden unter Berücksichtigung des «gewöhnlichen Laufs der Dinge» zu berechnen. Dabei kommen Wahrschein­ lich­keitsannahmen und Prognosen zum Zug. Es werden, soweit möglich, konkrete Umstände berücksichtigt und statistische Parameter beigezogen. Als Ausgangsbasis für die Berechnung des Valideneinkom­ mens dient jeweils der ak­tuelle Lohn. Bei Frau Muster dient ihr monatliches Netto­ einkommen als Basis. Ausgehend davon ist ihre Erwerbsbiografie ohne Unfall und die damit zusammenhän­gende Lohnent­ wicklung bis zum Erreichen des Pensionie­ rungsalters abzuschätzen. Die Karriere, zu der es ohne den Unfall nach dem gewöhn­ lichen Lauf der Dinge gekommen wäre,

wird anhand der bisherigen beruflichen Position, der bis zum Un­fall absolvierten Ausbildung, der beabsich­tigten beruflichen Weiterentwicklung und der Karrierechan­ cen ermittelt. Frau Muster hat die Lehre im Detailhandel abgeschlossen und war wäh­ rend des Unfallszeitpunktes in der Weiter­ bildung zur Fi­­lialleiterin. Gestützt auf die­ se Umstände ist das Valideneinkommen festzusetzen. Da­von abzuziehen ist das Invalideneinkommen, sofern ein solches noch erzielt werden kann. Da Frau Muster verletzungsbedingt nicht mehr arbeiten kann, kann kein Inva­lideneinkommen ab­ gezogen werden. Bezieht Frau Muster je­ doch Rentenleistungen der Sozialversiche­ rungen, sind diese, wie bereits erwähnt, an das Valideneinkommen anzurechnen. Die verbleibende Differenz ist Frau Muster von der Motorfahrzeugver­sicherung zu ersetzen. Komplexität und unsere Unterstützung Der ganze (Erwerbs-)Schaden und damit auch die hypothetische Erwerbsbiografie muss von der geschädigten Person nach­ gewiesen und belegt werden. Gerade auch deshalb ist die Geltendmachung von Per­ sonenschäden, wie der vorliegende Beitrag anhand der Schadensposition des Erwerbs­ schadens aufzeigt, komplex. Das Institut für Rechtsberatung der SPV unterstützt Sie deshalb gerne auch bei haftpflichtrechtli­ chen Fragestellungen.

Institut für Rechtsberatung Zentralstrasse 47 2502 Biel Tel. 032 322 12 33 lex@spv.ch

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MEDIZIN UND WISSENSCHAFT

DIABETES

Möglichkeiten aufzeigen statt Verbote

Karin Studer ist diplomierte Pflegefachfrau und arbeitet seit über acht Jahren im Schweizer Paraplegiker-Zentrum. Seit Kurzem berät sie Patientinnen und Patienten mit Diabetes.

Von Nadja Venetz

Gemäss Bundesamt für Gesundheit sind in der Schweiz rund eine halbe Million Menschen von Diabetes (siehe Box) betrof­ fen, Tendenz steigend. Da ist es nur nahe­ liegend, dass sich darunter auch Personen mit einer Querschnittlähmung befinden. Ob Rückenmarksverletzte ein erhöhtes Ri­ siko haben, ist nicht belegt, aber das sei auch nicht der Grund gewesen, weshalb am Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) eine Diabetesberatung geschaffen wurde, erklärt Stelleninhaberin Karin Studer. Seit über acht Jahren arbeitet die Pflegefach­ frau in Nottwil. Mit der Zusatzausbildung zur Diabetesberaterin kann sie ihr neu er­ worbenes Wissen mit ihrer Erfahrung im Bereich Querschnittlähmung verbinden.

Je­den Freitag ist sie für betroffene Patien­ tinnen und Patienten da, allerdings nur für diejenigen, die stationär untergebracht sind. «Für ein ambulantes Angebot reichen die Ressourcen im Moment nicht aus», erklärt die gebürtige Ostschweizerin. Diabetes nebenher Karin Studer wird benachrichtigt, wenn ei­ne Person mit Diabetes stationär im SPZ weilt. «Ich schaue einfach mal bei der Pa­ tientin oder beim Patienten vorbei und fra­ ­ge, wie ich unterstützen kann. Die einen wissen schon viel über Diabetes, anderen kann ich wertvolle Informationen mitge­ ben und wiederum andere haben in ihrer aktuellen Situation keine Kapazität, sich

Diabetesberaterin Karin Studer unterstützt im Umgang mit der Krankheit

dem Thema zu widmen», sagt Karin Studer. Für diese Art der Antwort habe sie viel Verständnis, schliesslich sind die Perso­ nen wegen einer anderen Diagnose in der Neu­rorehabilitation des SPZ. Hier sieht sie auch einen der wenigen Unterschiede zu ihrer Tätigkeit als ambulante Diabetesbe­ raterin. «Bei den Patientinnen und Patien­ ten des SPZ ist Diabetes quasi ein Neben­ schauplatz, während bei Beratungen im ambulanten Bereich Diabetes im Zentrum der Aufmerksamkeit steht», erläutert Karin Studer. (Un-)Wissen Nie mehr Kuchen, keine Schokolade. Di­ abetes ist eine Krankheit, über die jeder und jede etwas zu wissen meint. Vieles da­ von ist jedoch längst überholt. Diabetes wird heute anders behandelt als noch vor 30 Jahren. «Wie stark die Leute von über­ holten Vorstellungen geprägt sind, merke ich bereits, wenn ich ins Zimmer komme. Viele geraten in eine Abwehrhaltung», be­ schreibt Karin Studer. Während früher Di­ abetesberaterinnen den Patienten eine lan­ ge Liste vorlegten, was sie alles nicht mehr essen dürfen, geht es heute darum, Wis­sen zu vermitteln und Möglichkeiten aufzuzei­ gen. «Ich biete an, ich verbiete nicht», ver­ deutlicht Karin Studer.

«Die Beratung ist gar nicht so schlimm», melden Patientinnen und Patienten oft­ mals auf die Besuche von Karin Studer zu­ rück. Diabetikerinnen und Diabetiker dür­ 20

Paracontact I Winter 2023


WISSEN

Was ist Diabetes? Diabetes mellitus, kurz Diabetes, ist eine chronische Stoffwechselerkrankung, die sich in einer erhöhten Konzentration von Zucker im Blut äussert. Dieser Zustand verursacht, falls über längere Zeit unbehandelt, Folgeerkrankungen am Blutgefäss- und Nervensystem.

fen auch Süsses essen. Karin Studer führt aus, dass ihre Beratung die Betroffenen ani­ mie­ren will, ihren Körper besser kennen­ zulernen und sich der Konsequenzen des ei­genen Essverhaltens bewusst zu werden. Da­mit das überhaupt möglich ist, erklärt Karin Studer von Grund auf: Was passiert im Körper, wenn wir essen? Wie wird Zu­ cker verarbeitet und wie kommt er ins Blut? Welche Vorgänge sind durch Diabetes re­ duziert bzw. blockiert? Wer weiss, wie Di­ abetes funktioniert und der eigene Blutzu­ ckerwert reagiert, kann strategisch essen. «Ich rate den Personen immer, mit dem Essen zu ‹spielen›. Eine Mahlzeit sollte im­ mer aus einem Kohlenhydrat- und Pro­te­in­ anteil als auch einem grossen Gemü­seund/oder Salatanteil bestehen. Wenn ich jetzt aber schon im Vorfeld Lust auf ein Dessert habe, kann ich den Kohlenhydrat­ anteil auf meinem Teller reduzieren, mehr Gemüse oder Salat zu mir nehmen und dann darf ich mir das Dessert auch gön­ nen», sagt Karin Studer. Massnahmen, die passen In der Arbeit mit den querschnittgelähmten Patientinnen und Patienten liegt der Fokus von Karin Studer darauf, das Leben zu er­ leichtern und nicht noch zusätzlich zu belasten. Da sind manchmal kreative Lö­ sungen gefragt. «Wie kann die betroffene Person selber ihren Blutzuckerwert mes­ sen und Insulin spritzen, ohne dass dafür drei Mal am Tag extra die Spitex vorbei­ kommen muss?», nennt Karin Studer ein Beispiel. Die Personen sollen möglichst selbstständig bleiben. Andere Massnahmen wiederum dienen sowohl der Rehabilita­ tion als auch dem Blutzuckerspiegel. Karin Studer betont hier den Aspekt der Bewe­ gung: «Wer sich regelmässig bewegt, baut seine Muskeln auf und bleibt länger selbst­

ständig. Zudem senkt Bewegung den Blut­ zuckerspiegel. So hat die Patientin mit ei­ ner Massnahme einen doppelt positiven Effekt.» Karin Studer verfolgt in ihren Beratungen kein fixes Schema. Die Bedürfnisse ihres Gegenübers stehen im Zentrum. Die Pa­ lette an Themen, zu denen sie berät, ist ge­ wollt breit. Sie klärt auf, was die Leute be­ achten sollen, wenn sie sich hinters Steuer setzen, oder welche Vorbereitungen für die Ferien zu treffen sind und vermittelt In­ formationen, um Spätfolgen zu vermeiden. Sie stellt die grosse Auswahl an Hilfsmit­ teln vor, um den Blutzucker zu messen und Insulin zu verab­rei­chen. «Ich habe ver­schie­ ­denes Anschau­ungs­material dabei, unter­ schiedliche Pens und Sensoren, die der Patient anschau­­en und testen kann. Die Verordnung für ein bestimmtes System stellt jedoch die behandelnde Endokrino­ login aus.» Karin Studer spricht mit ihren Klientinnen über alles, was mit Diabetes zu tun hat. Lediglich die medikamentöse Einstellung ist Auf­­gabe des Arztes. Die Diabetesberaterin erfährt viel Dank­ barkeit für ihr Tun. Die Verantwortung, die erhaltenen Informationen und Ratschläge in den Alltag zu integrieren, liegt jedoch ganz bei den Betroffenen selbst. Möchten auch Sie eine Diabetesberatung in Anspruch nehmen? Jedes grössere Spi­ tal in der Schweiz bietet diese Dienstleis­ tung an. Wenden Sie sich an Ihre Hausärz­ tin oder Ihren Hausarzt, um sich für eine Beratung in Ihrer Wohnregion anmelden zu lassen. Verzeichnis der Beratungsstellen www.sidb-gicid.ch

Zucker dient unseren Körperzellen als Brennstoff. Im Darm wird er als Einfachzucker (Glukose) aus der Nahrung aufgenommen und gelangt von dort aus in den Blutkreislauf. Über die Blutbahn wird er im ganzen Körper verteilt und mithilfe von Insulin in die Zellen transportiert, wo Glukose als Energielieferant für die unterschiedlichsten Zellprozesse verwendet wird. Das Insulin wird in der Bauchspeicheldrüse produziert und sorgt im Zusammenspiel mit anderen Hormonen dafür, dass der Blutzuckerspiegel in etwa konstant gehalten wird. Wird die Insulinproduktion der Bauchspeicheldrüse gestört, fällt sie ganz aus oder werden die Körperzellen für die Aufnahme von Insulin unempfindlich, führt dies zu überhöhtem Blutzucker. Es gibt verallgemeinert zwei Formen von Diabetes: – Typ 1 betrifft 10 % der DiabetesErkrankten. Typ 1 ist eine Auto­ immunerkrankung. Das eigene Im­munsystem hindert die Bauchspeicheldrüse an der Insulinproduktion. – Typ 2 betrifft 90 % der DiabetesErkrankten. Betroffene produ­zieren zwar weiterhin Insulin, jedoch entweder in ungenügender Menge oder die Körperzellen können den Zucker nicht mehr wirksam verwenden. Die häufigste Ursache von Typ-2-Diabetes ist starkes Übergewicht. Quelle: Bundesamt für Gesundheit, bag.admin.ch (Stand 11.10.2023)

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HINDERNISFREIES BAUEN

INTERESSENVERTRETUNG

Inklusion darf beim ÖV nicht aufhören

Wer im Rollstuhl unterwegs ist, soll Bahn und Bus allein benutzen können – das sieht das Gesetz von 2002 vor. Ein Bericht des Bundesrates zeigt, dass das noch lange nicht möglich ist. Die SPV will Gegensteuer geben. Von Adrian Haueter und Evelyn Schmid

Das im Jahr 2002 verabschiedete Behin­ dertengleichstellungsgesetz (BehiG) hält fest, dass der ÖV spätestens ab Anfang 2024 barrierefrei und damit für Behinder­te grundsätzlich autonom nutzbar sein muss. Davon ist man noch meilenweit ent­ fernt, wie der im März 2023 vom Bundes­ rat publizierte Bericht mit dem Titel «Zu­ gänglichkeit für Menschen mit einer Be­hinderung zum öffentlichen Verkehr» zeigt. Laurent Prince, Direktor der SPV, findet: «Es ist an der Zeit, dass der Druck auf Bund, Kantone, Gemeinden und auf die Infrastrukturbetreiber erhöht wird. Noch immer können auf den Rollstuhl angewie­ sene Menschen nicht selbstständig mit dem ÖV zur Arbeit, in die Schule oder zum Ein­kaufszentrum gelangen.»

Kritik an SBB und Co Was die SPV und andere Behindertenorga­ nisationen schon lange vermutet hatten, bestätigte der Bericht des Bundesrates. Ver­­säumnisse gibt es insbesondere bei der Zu­gänglichkeit von Bahnhöfen, dem Zug­ material und bei den Bushaltestellen. In keinem dieser Bereiche hat man die 2002 gesetzten Ziele erreicht.

Was die Eisenbahn-Infrastruktur betrifft, konnten per Ende 2021 nur 928 der insgesamt 1800 Stationen sogenannt spontan und autonom benutzt werden. Per Ende 2023 sollen es gemäss der Prognose des Berichtes 1094 Bahnstationen sein. Die Priorität setzten die SBB bei den grossen Bahnhöfen, decken diese doch 83 % der Rei­

senden ab. Wer also auf dem Land lebt oder dorthin reisen will, hat einfach Pech gehabt. Ein anderes beschämendes Fazit ist, dass 541 der Zughaltestellen erst nach Ablauf der Frist umgesetzt werden. Hier werden Über­ brückungsmassnah­men notwendig, meis­ tens ist dies die Hilfe durch Personal. Wei­ ter kommt der Bericht zum Schluss, dass bei 140 Bahn­höfen (ca. 8 %) eine bauliche Anpassung un­verhältnismässig sei. Dabei geht es um die Abwägung, ob der zu erwar­ tende Nutzen für Menschen mit einer Be­ einträchtigung in einem bestimmten Miss­ verhältnis zu den Kosten, zum Umweltoder Heimatschutz oder zur Sicherheit steht. Bei diesen Bahnhöfen wird also ar­ gumentiert, dass die Kosten im Verhältnis zum Passagieraufkommen zu hoch sind. Folglich müssen die Unternehmen ab An­ fang 2024 eine Ersatzlösung anbieten, oft ist dies wieder die Hilfe durch Personal. Das heisst, dass Betroffene das Ein-, Um- oder Aussteigen im Vorfeld ankünden müssen, damit dann auch jemand da ist mit einem mobilen Lift oder einer Rampe. Ein Auf­ wand, der flexi­ble und spontane Mobilität verhindert und Menschen mit einer Behin­ derung unnötig einschränkt. Der Blick auf die Eisenbahn-Fahrzeuge er­ gibt ein zwiespältiges Bild. Ab 2024 werden schweizweit immer noch 6% des regiona­ len Verkehrs nicht BehiG-konform (siehe

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Paracontact I Winter 2023


Kasten) sein. Auch hier wird das Ziel also nicht erreicht. In gewissen Bereichen sind es sogar noch mehr, beispielsweise können bei der S-Bahn Zürich 13 % der Züge zwar spontan, aber nicht autonom benutzt wer­ den. Es muss also jemand beim Einsteigen helfen. Beim Fernverkehr gibt der Bericht eine 100%-Konformität an. Das gute Re­ sultat kommt nur zustande, weil das Regel­ werk Ausnahmen zulässt. So muss z. B. nur ein Zug pro Stunde autonom benutz­ bar sein und bei den weiteren Fernverkehrs­ zügen ist ein Zugang mit Hilfestellung zu­ lässig. Weitere spezifische Ausnahmen gibt es für Neigezüge. Bus und Tram machen es nicht besser Die Beurteilung der Situation bei den Bus­ haltestellen erweist sich als noch schwie­ riger, da gewisse Kantone keinen abschlies­ senden Überblick haben, gerade was die Um­setzung auf Gemeindeebene anbelangt. Der Bericht des Bundesrates schätzt, dass nur rund 33 % der Bushaltestellen BehiGkonform sind, bei den Tramhaltestellen sind es deren 61 %. Satte 25 % der Bus- und 5 % der Tramhaltestellen profitieren vom Prinzip der Verhältnismässigkeit. Verein­ facht heisst das wieder, dass wenn die Lö­ sungen als zu teuer erachtet werden, sie nicht umgesetzt werden und weiterhin das Bus- und Trampersonal beim Ein- und Aussteigen helfen muss. Zu den verbleiben­ den 42 % der Bushaltestellen sei derzeit kei­ne eindeutige Aussage möglich. Gemeinsam gegen Missstände Nicht nur die SPV ist empört. Auch beim Dachverband der Behindertenorganisa­ tionen Inclusion Handicap ist man gar nicht zufrieden. «Das Glas ist immer noch halb leer», sagt Co-Geschäftsleiterin Caro­line Hess-Klein zur Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes im ÖV. «Schweizweit können Menschen in einem Rollstuhl bei einer Bushaltestelle meistens nicht allein ein- oder aussteigen.» Der Be­ hinderten-Dachverband erhöht mit Einzel­ beschwerden den Druck auf die ÖV-Bran­ che, damit die Umsetzung des Behindertengleichstellungsgesetzes vorangetrieben wird. Zudem hat er eine Volksinitiative lan­ciert, welche die Gleichstellung von Menschen mit Beeinträchtigung verlangt, die sogenannte Inklusions-Initiative. Paracontact I Winter 2023

Die SPV unterstützt die Bemühungen von Inclusion Handicap seit Jahren, will aber vermehrt auch selber aktiv werden. «Die Analyse des Bundesratsberichtes zeigt ei­ nerseits, dass trotz der grosszügig gesetzten Deadline von 20 Jahren viele Projekte im ÖV noch nicht umgesetzt sind. Anderer­ seits sind wir der Ansicht, dass zu viele Hin­ tertüren offenstehen, um unzureichen­de Lösungen als BehiG-konform zu deklarie­ ren, und zu oft wird auf die Verhältnismäs­ sigkeit gepocht», ist Laurent Prince über­ zeugt. «Bauliche Massnahmen kosten, das ist ein Fakt, aber Inklusion darf nicht auf­ grund der Kosten beim ÖV aufhören. Wie überall ist es auch beim ÖV wichtig, dass wir Missstände publik machen und den Dialog mit den Entscheidungsträgern auf­ nehmen.» SPV-Pilotprojekt Seit März dieses Jahres baut die SPV den Fachbereich «Interessenvertretung hindernisfreies Bauen» auf. Das Projekt ist in der Pilotphase und nimmt ab 2024 neben na­

tionalen Themen auch regionale Missstän­ ­de unter die Lupe. Die Mitarbeitenden des Fachbereichs intervenieren und sensibili­ sieren dabei auf verschiedenen Ebenen. Sie befassen sich mit der kantonalen und kom­ munalen Gesetzgebung und arbeiten bei Vernehmlassungen mit, gehen aber auch direkt auf Bauverantwortliche zu, wenn bei Projekten Aspekte des hindernisfreien Bauens nicht beachtet wer­den, dies nicht nur in Fragen des ÖV. Sie fördern zudem den Austausch und Informationsfluss zu kantonalen und regionalen Fachstellen und Institutionen für hindernisfreies Bauen. Auch wird der Kontakt zu Medienschaf­ fenden gesucht, damit das Thema hinder­ nisfreies Bauen vermehrt in der Öffentlich­ keit wahrgenommen wird. Laurent Prince ist überzeugt, dass nur ein guter Mix an Massnahmen von möglichst vielen Seiten langfristig Verbesserungen bringt: «Das Prin­zip Hoffnung ist selten ein guter Rat­ geber. Die SPV wird zukünftig hartnäcki­ ger nachfragen und klare Forderungen stel­ len. Nur so können wir etwas erreichen.»

GESETZ Was meint der Bund mit dem Begriff BehiG-konform? Folgende drei Grundsätze werden in der Verordnung über die behindertengerechte Gestaltung des öffentlichen Verkehrs (VböV) vermerkt und dienen als Leitlinie für alle Lösungen: 1. Behinderte, die in der Lage sind, den öffentlichen Raum autonom zu benützen, sollen auch Dienstleistungen des öffentlichen Verkehrs autonom beanspruchen können. 2. Soweit die Autonomie nicht durch technische Massnahmen gewährleistet werden kann, erbringen die Unternehmen des öffentlichen Verkehrs die erforderlichen Hilfestellungen durch den Einsatz von Personal. 3. Die Unternehmen des öffentlichen Verkehrs verzichten möglichst auf eine Pflicht zur Voranmeldung, die nur für Behinderte gilt.

Diese Regelungen gelten sowohl für Einrichtungen als auch Fahrzeuge des öffentlichen Verkehrs. Dazu gehören Zugänge zu den Bauten und Anlagen, Haltepunkte, Perrons, Kundenschalter, Informations-, Kommunikations-, Billettbezugs- und Reservationssysteme, Notrufsysteme, Toiletten, Parkplätze der Haltepunkte, Türöffnungssysteme und Halteanforderungssysteme. (Anmerkung der Autoren: Bei den drei Grundsätzen kommt die im BehiG vermerkte Verhältnismässigkeit zum Zuge. Oft werden Anpassungen als zu teuer erachtet oder man geht davon aus, dass zu wenig Personen davon Gebrauch machen. Bei Grundsatz 1 werden alle ausgeschlossen, die sich heute nicht autonom bewegen können. Wer also z. B. keine 12 %-Rampe befahren kann, muss nicht berücksichtigt werden. Dies ist ein Widerspruch zum BehiG, das alle Menschen mit Behinderungen erfasst.)

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FREIZEIT

RUNDREISE KANADA

Eine Reise sorgt für Kritik und Lob

Nach dem zweiwöchigen Kanada-Trip gab es neben lobenden Worten auch kritische Rückmeldungen. Die SPV nimmt sie ernst – und will Lehren daraus ziehen.

Von Peter Birrer

Die Reise war gewiss nicht alltäglich. Sie war ausgeschrieben für alle Mitglieder der Schweizer Para­plegiker-Vereinigung (SPV) und versprach einen bunten Mix aus atem­ ­­­beraubender Natur und mondänen Städ­ten während zwölf Tagen in Kanada, genauer in der Provinz Québec. Im Unterschied zu Reisen für Mitglieder mit Tetraplegie ist auf Reisen für alle keine pflegeri­sche Be­ treu­ung enthalten. Wer mitreist und Hilfe­ stellung benötigt, organisiert diese selbst.

Reto Schmitz mit kritischem Feedback

Die Gruppe, die am 20. August in Zürich abhebt, besteht aus neun Reisegästen im Roll­stuhl, vier Begleitpersonen und einem Gruppenleiter der SPV. Das Programm, das alle erhalten haben, ist ein Hinweis da­ rauf, was zu erwarten ist: eine Menge an Aktivitäten, längere Fahrten mit dem Klein­ bus, die Intensität ist relativ hoch. 24

Als Begleitperson mit von der Partie ist Reto Schmitz, einst Verantwortlicher Fach­ liche Bildung im Schweizer ParaplegikerZentrum und inzwischen pensioniert. Als er von einer Tetraplegikerin angefragt wird, ob er sie auf dieser anspruchsvollen Reise begleiten würde, sagt er zu. Er bringt Er­ fah­rung mit – und Lust auf abwechslungs­ reiche Tage.

im Rollstuhl spezialisiert zu sein. Reto Schmitz und andere stören sich daran, dass ein vorgesehener Workshop mit Indigenen einfach ausfällt – «ohne Erklärung», wie er anmerkt. «Und einmal sollte eine Degusta­ tion stattfinden. Als wir nach längerer Fahrt beim Lokal ankamen, mussten wir unver­ richteter Dinge wieder umkehren, weil die­ ses geschlossen war.»

Ein Kritikpunkt: die Hotelzimmer Reto Schmitz bezeichnet sich nicht als Rei­ seprofi, aber er ist gerne unterwegs und kennt vor allem auch die Bedürfnisse von Menschen, die sich im Rollstuhl fortbewe­ gen. Nach etwas mehr als einer Woche in Kanada meldet er sich mit einer kritischen Mail bei der SPV, um auf einen Missstand aufmerksam zu machen. In Québec waren Ausstattung und Qualität des Hotels noch in Ordnung, unterwegs aber hätten die Unterkünfte nicht mehr den Anforderun­ gen genügt, wie er beschreibt: «Im engen Zimmer konnte sich ein Rollstuhlfahrer kaum drehen, und die Waschbecken im Ba­dezimmer waren nicht unterfahrbar. Es gab Leute, die keine Chance hatten, sich zu waschen. Wer im Rollstuhl unterwegs ist, weiss, dass immer wieder Improvisation gefragt ist, aber nicht in diesem Ausmass und zu diesem Preis.»

Auch positive Erlebnisse Reto Schmitz traute sich Dinge anzuspre­ chen, die für ihn nicht in Ordnung waren. Es ging ihm in dieser Situation um das Wohl und die Zufriedenheit der Rollstuhl­ fahrerin, die er auf dieser Reise betreuen durfte. Dass dies dem Tour-Operator nicht gefiel, habe er zu spüren bekommen: «Er hat mich und andere kritische Teilnehmen­ ­de fortan gemieden.»

Die Infrastruktur ist ein Kritikpunkt. Ein zweiter ist der Tour-Operator vor Ort, der seinen Sitz in Kalifornien hat, mit der SPV bereits zusammengearbeitet hat und von sich selbst sagt, auf Reisen für Personen

Kanu fahren Jedoch nicht für alle Paracontact I Winter 2023


Es ist nicht so, dass alles, was er und die Gruppe in Kanada erlebten, negativ war. Im Gegenteil! «Wir waren in einer wunder­ schönen Natur unterwegs, einmal auch mit dem Kanu. Der Ausflug in den Natio­ nalpark Hautes-Gorges-de-la-Rivière-Mal­ baie auf dem Fluss entlang der idyllischen Landschaft hatte schon fast etwas Medi­ tatives. Leider wurde meines Erachtens das vorgängige Rekognoszieren vernach­ lässigt.» Zum Beispiel? «Beim Kanufahren hätte ein Teil der Gruppe nach einer ge­ wissen Strecke der anderen Hälfte den Platz überlassen sollen. Aber es gab scheinbar keine geeignete Transferstelle, an der das hätte pas­sieren können, weil da nur meter­ hohe Felsen waren», sagt er. Entsprechend musste die Gruppe, die noch nicht im Kanu war, den vier Kilometer langen Rück­weg ohne zu paddeln wieder an Land zurück.» Die Gedanken der Reisefachfrau Die Ausführungen von Reto Schmitz ver­ hallen nicht. Sie werden ernst genommen. Die SPV führt jährlich 20 Reisen für Mit­ glieder durch, darunter regelmässig eine «grosse», also ein Trip auf einen anderen Kontinent, der entsprechend länger dauert und ein gewisses Mass an Abenteuerlust er­fordert. Wenn eine Gruppe aufbricht, macht sich Monserrat Thalmann als Fach­ frau Reisen der SPV oft Gedanken: Haben wir an alles gedacht? Klappt vor Ort alles?

Als sie nun aus Übersee die Mail von Reto Schmitz erhält, erschrickt sie. Und sie rea­ lisiert sofort: Da besteht Rede- und Hand­ lungsbedarf. «Wir müssen uns darauf ver­

lassen, dass der Partner vor Ort auf wich­tige Details achtet und sich bewusst ist, dass Menschen mit einer Behinderung eigene Bedürfnisse haben», sagt Monserrat Thal­ mann. Für sie ist nach den Rückmeldungen klar: Die Kooperation mit dem Tour-Operator wird per sofort beendet. Und: Bei der Eva­ luation der Hotels werden die Reisefach­ leute der SPV im Vorfeld noch genauer darauf achten, ob die Unterkünfte taugen. Schon jetzt müssen Hotels einen Fragen­ katalog ausfüllen, der Erkenntnisse liefert, ob die Rollstuhlgängigkeit ausreichend ist. Noch genauere Abklärungen «Wir haben jedoch weder die personellen noch die finanziellen Ressourcen, um für Reisen eine Rekognoszierung durchzufüh­ ren», erklärt Monserrat Thalmann. «Darum müssen wir andere Mittel anwenden, um ein klares Bild zu erhalten und Details zu klären.» Künftig sollen die Hotels verschie­ dene Fotos schicken, mit denen sie doku­ mentieren, was sie im Fragenkatalog an­ geben, inklusive detaillierter Angaben wie zum Beispiel die Beschaffenheit des Fuss­ bodens oder die Bettenhöhen. Diese An­ gaben wird die SPV den Teilnehmenden weitergeben, damit sie wissen, was sie er­ wartet.

Reisen mit der SPV erfreuen sich grosser Beliebtheit, und nicht selten kommt es vor, dass Teilnehmende umgehend nach Er­ scheinen des Ferienkatalogs buchen. Künf­ tig will Monserrat Thalmann mit ihrem

Team Interessierte bei aufwendigen Reisen vorab sensibilisieren und auf mögliche He­rausforderungen, die auftreten können, aufmerksam machen. «Wichtig ist das Bewusstsein dafür, dass Unvorhergesehenes passieren kann», sagt die Fach­frau Reisen. «Darum ist stets ein ge­­wisses Mass an Flexibilität erforderlich.» Dass eine Reise selbst bei eingehender Pla­ nung abenteuerliche Züge annehmen kann, ist auch Reto Schmitz klar: «Man kann nicht alle Eventualitäten ausschliessen und alle Dinge, die man eigentlich nicht erle­ ben möchte, vermeiden. Ein Restrisiko ist immer vorhanden.» Unterschiedliche Wahrnehmung Die Kanada-Reise 2023 sorgte aber auch für positive Eindrücke, zum Beispiel bei Tamara Vaucher. Sie hat die Reise im Roll­ stuhl erlebt, kann aber mit ihrer Gehbe­ hinderung auch ein paar Schritte laufen. Die Frau aus dem freiburgischen St. Ursen genoss «sehr schöne Ferien», wie sie sagt: «Der Mix aus Natur und Städten gefiel mir. Für mich war eigentlich alles gut. Ich kann nichts Negatives sagen. Wobei mir auch klar ist: Ich hatte wohl weniger Schwie­ rigkeiten als einige Teilnehmende im Roll­ stuhl.»

Die SPV ist stets offen für Kritik und be­ strebt, ihr Angebot zu verbessern. Rückmel­ dungen wie die von Tamara Vaucher zei­ gen, dass es letztlich auch individuellen Vorlieben entspricht, ob und weshalb eine Reise gefällt oder nicht.

Kanada-Reise 2023 Die Schönheit der Natur überzeugte alle Teilnehmenden Paracontact I Winter 2023

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FREIZEIT FREIZEIT

27.1.2024

4.5.2024

Reisetheater

Swiss-Trac-Kurs

Auf der aktuellen Tournee spielt das Reise­theater den Klassiker «Das Aschenbrödel». Ein Stück, das Kinder sowie Erwachsene ins Land der Märchen mitnimmt. Tickets sind an der Tageskasse vor Ort im Schweizer Paraplegiker-Zentrum erhältlich. Einen Vorverkauf gibt es nicht.

Haben Sie schon vom SwissTrac gehört, wissen aber nicht so genau, was er alles kann? Oder fehlt es Ihnen noch an Fahrpraxis?

Wir freuen uns auf viele Besucherinnen und Besucher!

2.3.2024

Ziesel-Tour Ein Event für die Abenteuerlustigen unter Ihnen! Ganz viel Action und Spass erwartet Sie Anfang März, wenn Sie mit dem wendigen Elektroraupengerät durch die wunderschöne Winterlandschaft auf dem Hoch-Ybrig flitzen. Ein einzigartiges Bergerlebnis für Naturliebhaber! Melden Sie sich rasch an, die Plätze sind begehrt!

Online-Anmeldung www.spv.ch/ veranstaltungen Für Auskünfte wenden Sie sich an Simone von Rotz, simone.vonrotz@ spv.ch 26

2.6.2024

Wandervögel aufgepasst Sind Sie begeistert von der Schweizer Natur und den unzählig schönen Or­ten, die es zu erkunden gibt? Dann kommen Sie mit uns auf die Wander­tour, die je nach Route durch­ aus körperliche Herausforderungen mit sich bringt. Wandern und Rollstuhl passen auf den ersten Blick nicht zusammen, doch unter gewissen Vo­ raussetzungen ist das Wandern bzw. Erklimmen eines Gipfels auch für Personen im Rollstuhl möglich. Sowohl die Teil­neh­menden als auch die Begleitpersonen müssen auf jeden Fall kör­ perlich fit sein. Die Helfenden ziehen oder brem­ sen den Rollstuhl mit Seilen oder einem Gummi­ schlauch. So legen Sie als Team erstaunliche Strecken zurück und geniessen die Bergwelt zu­ sammen!

17.2./20.4./26.10.2024

Erste-HilfeKurse Wissen Sie, wie Sie bei einem medizinischen Notfall helfen können? Gemeinsam mit den regionalen Samaritern organisieren wir drei Erste-Hilfe-Kurse. Zwei Kurse finden in Nottwil statt und einer in der Ostschweiz. Sie erlernen die Grundlagen der Ersten Hilfe in der Theorie und üben die Hand­ griffe in der Praxis anhand unterschiedlicher Fallbeispiele. Alle Teilnehmenden erhalten bei erfolgreicher Absolvierung eine Kursbestätigung.

Dann kommen Sie am 4. Mai nach Küssnacht am Rigi und lernen Sie dieses Zuggerät kennen. Es ermöglicht Ihnen selbstständig mobil zu sein, Hindernisse zu überwinden und im Gelände zu fahren. Zudem erhalten Sie Tipps von den Profis, welche individuellen Anpassungen möglich sind, um Ihren Bedürfnissen gerecht zu werden.

7./8.9.2024

BettmeralpWeekend Mit viel Herzblut wird dieses genussvolle Wochenende von Alois Schmid, selbst Roll­ stuhlfahrer, organisiert. Die Bettmeralp ist wie geschaffen für einen gemütlichen Bergausflug. Der Aletschgletscher, der grösste der Alpen, ist gleich oberhalb der Bettmeralp und die Aletsch Arena barrierefrei zugänglich. Bestaunen und geniessen Sie dieses UNESCO-Welterbe! Paracontact I Winter 2023


23.6.2024

Jodelgottesdienst

27.8. BIS 1.9.2024

Giro Suisse Die kommende Ausgabe des Giro Suisse führt in die südliche Schweiz.

unsere Aus­fahrt im Wallis. Nehmen Sie die ganze Wo­che oder eine einzelne Etappe un­ ter die Räder. Ein bleibendes Erlebnis unter Die einwöchi­ge Handbike-Tour startet in zahlreichen Radbegeisterten ist Ihnen si­cher. Graubünden.Weiter fahren wir ins Tessin, Auf jeden Fall ein Highlight des kom­­menden die Sonnenstube der Schweiz, und beenden Jahres!

3 BLÖCKE À 5 DATEN ÜBERS JAHR VERTEILT

Körper und Geist stärken Yoga tut gut und entspannt nicht nur den Körper, sondern auch den Geist.

achtet da­rauf, Übungen anzubieten, die für alle machbar sind. Vorwissen ist keines not­ wendig. Der Kurs findet in Nottwil statt. Ist Yoga bringt Sie in die Balance und wirkt po­ Ih­nen die Teilnahme vor Ort nicht möglich, sitiv auf alle Bereiche des Seins. Es spielt kei­ können Sie sich online dazuschalten und in ne Rolle, wel­che körperlichen Voraussetzun­ Ihren eigenen vier Wänden an der Yogastun­ gen Sie mitbringen. Yogalehrerin Karin Roth ­de teilnehmen. Tun Sie sich etwas Gutes.

7. BIS 12.10.2024

Der beliebte und besinnliche ökumenische Gottesdienst findet jährlich im Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Nottwil statt. Ein Jodelklub aus der Region umrahmt diese Messe musikalisch. Lassen Sie sich überraschen.

6.4.2024

Clever essen und trinken Unsere Ernährung beeinflusst uns in vielerlei Hinsicht: Sie gibt uns Energie, kann uns vor Krankheiten schützen und ist ein wichtiger Pfeiler unseres Wohlbefindens. Die Ernährungsberaterin Bettina Senft zeigt in diesem Kurs in Nottwil, wie eine ausgewogene Ernährung aufgebaut ist und wie sie diese in Ihren Alltag integrieren. Die Rollstuhlfahrerin geht dabei besonders auf die Anliegen von Menschen mit Querschnittlähmung ein. Bettina Senft macht Lust auf gesundes Essen und hat zahlreiche Tipps und Kniffe für Sie. Passend zum Kursthema essen wir in der Mittagspause zusammen im Schweizer ParaplegikerZentrum.

Malen und Mobilitätskurs Im Sport- und Freizeitcamp «move on» werden wir erneut Freizeitaktivitäten wie Malen, Yoga oder einen Mobilitätskurs an­ bieten. Probieren Sie etwas Neues aus. So können Sie sich während dieser Woche ei­ Paracontact I Winter 2023

nerseits kreativ betätigen, anderseits dem eigenen Körper und Geist beim Yogakurs etwas Gutes tun sowie das Rollstuhlhand­ ling beim Mobilitätskurs lernen bzw. ver­ bessern. 27


FREIZEIT

DATUM AUSSTEHEND

9.11.2024

Handbike-Trail

Tanznacht

Erleben Sie die Schweiz auf dem Handbike hautnah!

Die nächste Tanznacht findet im kommenden November bei der VEBO in Oensingen statt. Fetzige Musik, leckeres Essen und eine Gruppe von begeisterten Tänzerinnen und Tänzern erwartet Sie. Kommen Sie vorbei und geniessen Sie diesen Abend mit alten und neuen Bekannten.

Unterwegs auf Singletrails, Wanderwegen und Bergstrassen entdecken Sie spannende Ort und Gegenden, die für Sie im Rollstuhl vielleicht unerreichbar scheinen. Steile Aufstiege und rasante Abfahrten, es hat alles dabei. Geniessen Sie einen Tag in der Gruppe und bestaunen Sie die einzigartigen Landschaf­ten und spektakulären Aussichten.

13.7.2024 UND 8.9.2024

Swincar-Tour Mögen Sie Action und Berglandschaften? Dann melden Sie sich für die Swincar-Tour im nächsten Sommer oder Herbst an.

27. UND 28.12.2024

SPV-Jodler-Lotto Es dauert zwar noch über ein Jahr, doch können sich ehrgeizige Lottofans die Daten vom 27. und 28. Dezember 2024 bereits vormerken. Im Schweizer ParaplegikerZentrum führen wir, erneut zusammen mit den Jodlerklub Nottwil, unsere kurzweilige Lottoveranstaltung durch. Attraktive Preise warten auf Sie. Kommen Sie vorbei und lassen Sie sich einen geselligen Abend mit viel Spass nicht entgehen. Eine Anmeldung ist nicht nötig. 28

Es geht ins schöne Unterwallis nach Champous­ sin im Val d’Illiez. Dort haben Sie die Möglich­ keit, mit einem leistungsstarken Elektrovehikel die Berge zu erklimmen. Sie fahren nicht nur auf Wanderwegen, sondern können auch kreuz und quer durch die Landschaft kurven. Lassen Sie sich von den Fähigkeiten dieses Gefährtes be­ ein­drucken. Genies­sen Sie die ungefähr zwei­ stündige Fahrt durch die Gegend der «Portes du Soleil» und der «Dents du Midi» und nehmen Sie ein unvergessliches Er­lebnis mit nach Hause.

17.8.2024

Pendelsprung Haben Sie starke Nerven und sind Sie mutig? Im nächsten Jahr werden wir in den Gorges du Pissot einen Pendelsprung anbieten. Dabei erleben Sie einen freien Fall von 30 Metern und pendeln mit einer Riesenschaukel über die Schlucht. Ein unvergessliches Erlebnis ist garan­ tiert. Kommen Sie mit uns und erleben Sie Ad­ renalin pur im schönen Waadtland!

10.11.2024

ParaReisen Day Am 10. November 2024 treffen Sie Ihre neuen und alten Reisebekanntschaften am ParaReisen Day in Nottwil. Schwelgen Sie in Ferienerinnerungen des vergangenen Jahres und blicken Sie mit uns auf unser vielfältiges Reisejahr 2025. Wir freuen uns, Ihnen persönlich unsere Highlights vorzustellen.

7. UND 8.12.2024

Weihnachtsmarkt Bestaunen Sie kunsthandwerkliche, selbstgemachte Produkte, die von unterschiedlichen Ausstellenden zum Verkauf angeboten werden. Da finden Sie bestimmt schöne Weihnachtsgeschenke und gehen nicht mit leeren Taschen nach Hause. Für ein abwechslungsreiches Rahmenprogramm ist ebenfalls gesorgt. Kommen Sie vorbei und geniessen Sie die festliche Weihnachtsstimmung vor dem Schweizer ParaplegikerZentrum in Nottwil! Paracontact I Winter 2023


FREIZEIT

HANDICAPPED SCUBA ASSOCIATION

Abgetaucht in Ägypten Drei Rollstuhl-Tauchende, sieben Tauchbuddys sowie drei Pflegebegleitungen flogen Ende September nach Ägypten, um die Unterwasserwelt des Roten Meers zu entdecken. Von Doris Rickenbacher

Die Vorfreude auf den bevorstehenden Tauchurlaub ist gross. Man kennt sich von vergangenen Tauchgängen. Im Zentrum ste­­hen die drei Tauchenden im Rollstuhl: Paraplegikerin Tanja macht das erste Mal Tauch­ferien. Tetraplegiker Andy ist schon in den Schweizer Seen abgetaucht, aber noch nie im Meer. Tetraplegikerin Sandra hingegen war schon öfter dabei. Sieben Tauchbuddys sowie drei Pflegende kom­ plettieren die Gruppe. Wir fliegen von Zürich nach Hurghada. Am Abend des Anreisetags sitzen die Tauch­ buddys zusammen und planen die Ein­ teilung der drei Tauchteams. Morgens um 8.15 Uhr ist bereits Treffpunkt in der Tauch­ basis. Hier wird das ganze Material zusam­ mengestellt und auf das Tauchschiff ge­ bracht, das uns die nächsten fünf Tage zur Verfügung steht. Genaues Timing Bald ertönt das Kommando: Leinen los! Wir fahren das erste Riff an. Nach einem Tauchplatz-Briefing der Gruppenleaderin Tina machen sich die drei Tauchteams be­ reit. Die speziell angefertigten Neoprenan­züge mit langen Reissverschlüssen er­ möglichen ein einfacheres Anziehen. Das Timing im Team muss genau passen. Die

querschnittgelähmte Person wird von der Boots-Crew auf eine Plattform getragen, wo sie mit Unterstützung die Tauchausrüs­ tung anzieht. Sobald die Person hinten auf der Plattform bereit ist, müssen die Tauch­ buddys im Wasser ebenfalls bereit sein. Mit einer Rolle vorwärts gelangen die drei, Tanja, Andy und Sandra, nach­einander ins Wasser. Eine Person mit Paraplegie kann meist selbst abtauchen. Tanja braucht am An­ fang noch etwas Hilfe, aber am Ende der Woche meistert sie das Abtauchen allein. Ferienziel erreicht! Ihr Tauchbuddy Beat ist stets an ihrer Seite und unterstützt sie bei Bedarf. Auch ihr Lebenspartner Mar­ cel taucht mit und zwinkerte mir mit den Worten zu: «Vielleicht trauen wir uns, bald allein in die Tauchferien zu fahren.» Tetraplegiker Andy braucht etwas mehr Unter­stüt­zung. Die grosse Erfahrung un­ serer Gruppenleiterin Nicole ist wertvoll, denn das Anbringen der richtigen Gewich­ ­te an den Beinen und am Tauchgerät ist bei diesem Tauchteam eine Herausforde­ rung. Nach einigen Tauchgängen gelingt es Andy zeitweise, allein zu tauchen. Die bei­ den Tauchbuddys Röbi und Jean-Claude übernehmen abwechslungsweise die Füh­

rung und Kommunikation. Beide gewin­ nen zusammen mit Andy immer mehr Er­ fahrung. Andys Frau Brigitte betreut ihn an der Oberfläche, ist aber auch unter Was­ ser gerne an seiner Seite, denn die­se gemein­ same Aktivität geniessen beide sehr. Hochseilakt unter Wasser Tetraplegikerin Sandra ist während des ganzen Tauchgangs auf Hilfe angewiesen und wird hinten an der Tauchflasche ge­ führt. Aufgrund der fehlenden Muskulatur kann sie sich im Wasser nicht gut selbst stabilisieren. Mario und ich unterstützen sie als Tauchbuddys, eine sehr anspruchs­ volle Auf­gabe. Taucherin und Buddys müs­ sen jederzeit neutral tariert sein. «Das ist Tarieren in Perfektion», meint Mario. Ich für mich habe diesen Vergleich: «Tauchen ist wie Fahrradfahren, Tau­chen mit einer Person mit Paraplegie wie Einradfahren, und Tauchen mit einer Tetraplegikerin wie Sandra ist Einradfahren auf dem Hoch­ seil.»

Zehn Boots-Tauchgänge und einen Haus­ riff-Tauchgang haben wir in diesen Ferien absolviert. Alle gewannen an Erfahrung, ver­besserten ihre Fertigkeiten und freuen sich bereits auf die nächsten Tauchferien mit der Handicapped Scuba Association.

Paracontact I Winter 2023 29



FREIZEIT

MIT DEN CLUBS

Ab in den Süden Im September reiste das Team Breitensport – Freizeit – Gesundheit (BFG) ins Tessin, um die Freizeit- und Sportverantwortlichen der Rollstuhlclubs zu treffen. Von Simone von Rotz

Der Wetterbericht versprach Gutes, die Vor­­bereitungen im Büro waren abgeschlos­ sen, das Fahrzeug der SPV gepackt und un­ ser Team in Nottwil abfahrtbereit. Doch bereits nach wenigen Fahrminuten die Mel­ dung: 140 Minuten Stau am Gotthard und der Pass ist gesperrt. Es war also Chaos in Richtung Alpensüdseite angesagt und un­ ser Plan auf den Kopf gestellt. Hin- und hergerissen zwischen der Route über den

organisiert. Die Ressortverantwortlichen Sport und Freizeit wünschten dies in un­ serer 2022 durchgeführten Umfrage. Frü­ her gab es komplett separat voneinander jeweils die Sportchefkonferenzen und Be­ sprechungen der KF-Ressortleiter sowie einen sogenannten KF-Ausflug. Seit der Fusion der Bereiche Kultur und Freizeit so­ wie Breitensport innerhalb der SPV wurden diese Austauschplattformen am gleichen

Das Ziel vor Augen in den Diskussionsrunden und beim Target-Sprint

San Bernardino oder den Wechsel auf den ÖV, fuhren wir dann nach Arth-Goldau, um von da den Zug zu nehmen. Man hätte denken können, «das fängt ja gut an», doch es blieb zum Glück das einzige Malheur, und der Rest klappte reibungslos. Reorganisation In diesem Jahr haben wir neu je ein Tref­ fen in jeder der drei Sprachregionen für die Freizeit- und Sportverantwortlichen gemacht sowie diesen Ausflug ins Tessin Paracontact I Winter 2023

Tag nach Ressort getrennt geführt. Ein in­ formeller Teil sollte es über die Ressort­ grenzen hinaus ermöglichen, Kontakte zu knüpfen. Der Aufwand für diesen ersten BFG-Ausflug ins Tessin war gross, das In­ teresse leider gering. Bereits vor der Ab­ reise nach Tenero haben wir entschieden, diesen Ausflug bis auf Weiteres als einma­ lig zu belassen und im nächsten Jahr «nur» noch drei regionale Treffen zu organisieren und diese mit einem fakultativen Nach­ mittagsprogramm als Ersatz für den Aus­

flug zu ergänzen. Claude Siegenthaler, Ko­ ordinator BFG, betont die Wichtigkeit die­ser Treffen: «Der formelle und informelle Austausch zwischen den Verantwortlichen des Sports sowie der Freizeit der Roll­ stuhlclubs und der SPV ist sehr wichtig. Dies können wir immer wieder feststellen. Diesen Austausch versuchen wir stetig zu verbessern, damit dieses Treffen nicht zur Last wird, sondern zu einem freudigen Event, dem man gerne beiwohnt. Unser Kon­zept haben wir weiterentwickelt, so­ dass ein Maximum an Personen am Tref­ fen in der jeweiligen Sprachregion teilneh­ men kann.» 13 Vorstandsmitglieder aus den Rollstuhl­ clubs folgten unserer Einladung ins Tessin. Sie erwartete am Samstagvormittag ein in­ formativer Teil, und im Anschluss gab es einen Austausch in Form eines World Ca­ fés. Alternierend diskutierten die Teilneh­ menden an jedem Tisch ein anderes The­ ma, was spannende Schlüsse hervorbrachte, etwa wie man neue Ressortleiter*innen schulen oder die Kommunikation in den Clubs verbessern soll. Nach dem Mittag­ essen teilte sich die Gruppe auf. Während die einen ein sportliches Nachmittagspro­ gramm verfolgten, fuhren die kulturell in­ teressierten Personen mit einem Minibus nach Locarno, um im Museum «Ghisla Art Collection» zeitgenössische Kunst zu be­ staunen. Die andere Gruppe übte sich der­ weil auf der Sportanlage in Tenero im Rollstuhlfahren und Laser-Schiessen, also einer Art Biathlon, genannt Target-Sprint. Definitive Höhepunkte des diesjährigen Aus­flugs! Eine lange Anreise, viel Spass, spannender Austausch, super Wetter, sportliche sowie kulturelle Aktivitäten: Der BFG-Ausflug war ein rundum gelungener Anlass. Verena Erni, Freizeitverantwortliche des RTC Aar­ gau, meinte zum Schluss: «Es waren sehr gesellige Stunden mit inspirierendem Aus­ tausch, wodurch ich mein Netzwerk ver­ stärken sowie viele Ideen für Clubanlässe sammeln konnte.» Auch an den künftigen regionalen Treffen werden wir ein kurz­ weiliges Programm mit Aktivitäten und Austausch zusammenstellen und hoffen, damit Inputs für ein attraktives Clubleben zu bieten. 31


ROLLSTUHLSPORT

«MOVE ON»

«Es ist fantastisch!»

Das Sport- und Freizeitcamp «move on» hat die Teilnehmenden begeistert. Delphine Clavien und Caroline Bossy erzählen, warum ihnen die Tage in Nottwil gefallen haben – und was ihnen der Sport gibt.

Von Peter Birrer

Das Lob kommt aus berufenem Mund. «Yes!», ruft Lorraine Truong, schiebt ein kräftiges «Nice!» nach und drückt so ihre Begeisterung über eine gelungene Perfor­ mance im Skatepark aus. Eine Gruppe ist gerade daran, in Hitzkirch die noch junge Sportart WCMX zu erkunden – angeleitet von einer wahren Expertin ihres Fachs: die Neuenburgerin Lorraine Truong darf sich Weltmeisterin nennen. Als Helfer und Auf­ passer steht Marco Bruni im Einsatz. Der Leiter Athletenentwicklung der SPV ist von Organisationsseite bei diesem WCMXKurs im Lead. Delphine Clavien: Die leisen Zweifel verfliegen schnell Es geht darum, mit dem Rollstuhl Tricks zu demonstrieren, eine Treppe zu überwin­ den oder eine steile Kurve mit Schwung zu meistern. WCMX ist eines von insge­ samt 15 Angeboten, das die Teilnehmen­ den im Rahmen des Sport- und Freizeit­ camps «move on» wahrnehmen können. Delphine Clavien gehört zu ihnen, und der 33-jährigen Neuenburgerin geht es ähnlich wie allen anderen – sie ist unermüdlich und kann kaum genug bekommen. «Sie ist sehr talentiert und lernt schnell», lobt Lor­ raine Truong, «Delphine kann den Skate­ park lesen.»

Immer und immer wieder holt Delphine Clavien Anlauf, gewinnt kontinuierlich an Stilsicherheit und vergisst beinahe, dass das Ganze auch einiges an Energie kostet. «Es macht riesigen Spass», sagt sie, bevor sie im Skatepark von Hitzkirch nochmals zu einer Runde aufbricht. 32

WCMX Delphine Clavien übt Tricks

Dabei weiss die Sozialpädagogin im Vor­ feld gar nicht so recht, was sie in dieser Wo­che erwartet – und wie sie aufgenom­ men wird. Delphine Clavien ist nicht quer­ schnitt­gelähmt, sie hat sich bei einem Snow­ boardunfall vor drei Jahren eine gravierende und komplizierte Knieverletzung zugezogen. Sie kann zwar noch gehen, be­ nötigt dazu allerdings Krücken. Für sport­ liche Aktivitäten benötigt sie den Rollstuhl. Die leisen Zweifel verfliegen schnell. Sie ist sofort integriert und dankbar dafür: «Die anderen haben mich von Anfang an so ak­ zeptiert, wie ich bin.»

Nächstes Jahr wieder dabei Der Sport ist und bleibt ein bedeutender Faktor in ihrem Alltag. Sie fährt Monoski, schwimmt, spielt Badminton und Uniho­ ckey, und wenn der Rollstuhlclub NordVau­­dois ein Training auf einem sport­li­chen Gebiet organisiert, ist sie da­bei. Im Sommer 2023 wagt sie sich zum ers­ten Mal mit dem Rollstuhl in einen Skatepark. «Ich brauche regelmässig Bewegung. Der Sport stärkt meine Physis, gibt mir Energie und ist eine Bereicherung», sagt sie und fügt an: «Ich liebe es, mit anderen Menschen Sport zu machen und Neues auszuprobieren.» Paracontact I Winter 2023


Als sie von «move on» hört, klingt das für sie wie ein massgeschneidertes Programm. Sie will im WCMX, ihrem Hauptsport, Fort­schritte erzielen, und daneben findet sie eine breite Palette an Möglichkeiten, die ihr zusagen. Und eben: Sie fühlt sich sofort wohl, sowohl in der Umgebung des Cam­ pus Nottwil als auch innerhalb der Gruppe. «Die Tage in Nottwil waren schlicht ge­nial», betont sie, «ich wurde von allen anderen super aufgenommen, profitierte von der her­vorragenden Infrastruktur und wusste am Schluss: Nächstes Jahr werde ich beim ‹move on› wieder dabei sein.»

Badminton Caroline Bossy möchte regelmässig spielen

Das ausgebaute Programm Ihre Begeisterung drückt die allgemeine Stimmung aus, die in diesem Camp ge­ herrscht hat. «Das Feedback war überaus positiv», fasst Thomas Hurni zusammen. Der Leiter Breitensport – Freizeit – Gesund­ heit (BFG) bei der SPV trägt bei «move on» gemeinsam mit Doris Rickenbacher (Ko­ ordinatorin BFG) die Gesamtverantwor­ tung und hört von Teilnehmenden auch: «Wieso findet der Anlass nicht zweimal jährlich statt?»

Das Angebot beschränkt sich inzwischen nicht mehr nur auf den Sport. Malen, Mo­ bilitätskurs, Yoga – mit dem ausgebauten Programm wird auch der Kreis der Teil­ nehmenden grösser, weil auch Leute ange­ sprochen werden, die nicht primär wegen des Sports nach Nottwil kommen möchten. Einen Stammplatz haben zudem die abend­ lichen Veranstaltungen: Am Montag dreht sich alles um das Thema Selbstverteidi­ gung, am Dienstag findet ein Vortrag über Mountainbike statt, der Mittwoch ist Brett­ spielen gewidmet, der Donnerstagabend steht im Zeichen eines Drum-Events, und der Fotoabend bildet am Freitag den Ab­ schluss. Caroline Bossy: Schöne Gefühle mit dem Kajak «move on» erfreut sich einer immer grös­ seren Beliebtheit. 2023, bei der siebten Aus­ tragung in der Deutschschweiz, waren alles in allem rund 50 Personen aktiv dabei, so viele wie noch nie. Und gegen 40 Helfer­in­ nen und Helfer stemmten eine «move-on»Woche, die nicht zuletzt auch Caroline Bossy in bester Erinnerung bleiben wird.

Kajak-Spass auf dem See

Die 30-Jährige aus Courtepin FR, die mit ei­ner spastischen Parese zur Welt kam, zählt zu den Erfahrenen: Bereits zum dritten Mal ist sie in Nottwil dabei, ausserdem hat sie «move on» zweimal in Yverdon erlebt. Was ihr diesmal besonders Spass macht: Kajak. Es ist ein traumhafter Oktobernachmittag, als Caroline Bossy mit einer kleinen Grup­ ­pe hinausfährt – angeleitet von Fachper­ sonen, die genau darauf achten, dass sich die Teilnehmenden wohl und sicher in ihren farbigen Booten fühlen. Bei einem kurzen Zwischenhalt am Ausgangspunkt schwärmt sie: «Es ist fantastisch!» Sie ge­ niesst die wunderbare Ruhe auf dem Sem­ pachersee, sie streicht das schöne Gefühl hervor, über das Wasser gleiten zu können. Drei Tage verbringt sie im Camp, drei Ta­ ge, die für sie «cool» sind, aber auch «an­ strengend». Wenn sie sich sportlich betä­

tigt, tut sie das stets mit grösster Leidenschaft, erst recht in einer Umgebung wie bei «move on»: «Ich mag es, mit anderen Leuten zusammen aktiv zu sein, die Team­ arbeit macht mir grossen Spass.» Und: «Ich liebe es, Neues zu lernen.» Neben Kajak spielt sie auch Tischtennis – und Badmin­ ton, einen Sport, den sie gerne intensiver betreiben würde. «Leider sind die Voraus­ setzungen nicht immer so günstig wie wäh­rend dem ‹move on›», sagt sie, «in der Nä­he meines Wohnortes findet sich prak­ tisch niemand, mit dem ich Badminton spielen könnte.» Umso mehr kostet sie die Stunden in Nott­ wil aus, sei es beim Sport, beim Essen mit den Teilnehmenden oder auf dem Cam­­pus, dessen Infrastruktur für sie «absolut top» ist. «Gefehlt hat mir einzig die Mög­lichkeit einer Massage», sagt sie mit ei­nem Augen­ zwinkern, «nach den Trainings wäre es schön gewesen, die Muskeln zu lockern.»

Paracontact I Winter 2023 33


ROLLSTUHLSPORT

WCMX

WM in den USA Titelverteidigerin Lorraine Truong und Nachwuchstalent Emiglio Pargätzi wollen sich an der WCMXWM Edelmetall sichern. Anfang Dezember heisst La Quinta im US-Bundesstaat Kalifornien die weltbesten WCMX-Athletinnen und -Athleten zur Weltmeisterschaft willkommen. Vom 4. bis 11. Dezember messen sich die Adrenalinjunkies in den Disziplinen Adaptive Skate, WCMX AM und WCMX Pro/Open.

WINTERANGEBOT

Adrenalinjunkies aufgepasst! Am 25.2.2024 organisiert unser Partner Olympia Bob Run in St. Moritz den Para­ bob Schnuppertag. Wer hat den Mut, mit 130 km/h durch den Eiskanal zu fliegen?

Unser Winterprogramm ist vielfältig und findet in allen Sprachregionen der Schweiz statt. Wir bieten wie jedes Jahr Tages- und Mehrtageskurse an. Jetzt anmelden www.spv.ch (unter Breitensport)

Etwas weniger schnell, aber immer noch rasant geht es an unseren Skikursen die Piste runter. Wer es ruhiger mag, kann sich auf der Langlaufloipe sportlich betätigen.

Die Schweizerin Lorraine Truong reist mit einem klaren Ziel an die WM: Sie will ihren Titel verteidigen. Delegationsleiter Marco Bruni ist optimistisch: «Mit den Erfahrungen des vergangenen Jahres sollte Lorraine ihren Titel verteidigen können.» Die grösste Konkurrenz erwartet er aus den USA.

CURLING

International in Wetzikon «Bei den Männern hat unser Nachwuchsathlet Emiglio Pargätzi gute Chancen auf eine Top-5-Platzierung», ist sich Marco Bruni sicher. «Schön wäre ein Podestplatz.» Auch hier ist vor allem mit Konkurrenz aus den USA, aber auch aus Deutschland und Grossbritannien zu rechnen. 34

Zum 15. Mal stand vom 13. bis 15. Okto­ ber 2023 die Curlinghalle in Wetzikon im Zentrum für das internationale Roll­ stuhl-Curling-Turnier.

Im Final am Sonntag setzte sich das Team aus der Slowakei klar gegen Kanada durch. Das Spiel um den dritten Platz gewann Korea im spannenden Spiel gegen Schweden.

Bei –6 °C und hervorragend präpariertem Eis kämpften im Zürcher Oberland die acht Nationalteams aus Estland, Italien, Kanada, Korea, Polen, Schweden, Schweiz und Slowakei und die vier Schweizer Klub­ teams CC Bern-Fribourg, CC3C Genf, CC Oberwallis und CC Wetzikon in sechs Spielrunden um Punkte, Ends und Steine.

Anlässlich der Siegerehrung schaute OKPräsident Harry Burger auch zurück auf die Anfänge des Rollstuhl-Curlings, das vor rund 25 Jahren in der Schweiz begrün­ det wurde. Die damaligen Initiantinnen und Initianten Doris Huguenin, Bruno Schallberger und Peter Nater wurden für ihre Verdienste mit einem Präsent geehrt. Paracontact I Winter 2023


NLR-EXPERTENGRUPPE

PerformanceExperte Gregor Boog

ABBOTT WORLD MARATHON MAJORS

Schweizer Doppelsieg Die Champions der Abbott World Mara­ Bei den Frauen ging es bei diesem letzthon Majors Series stehen fest: Catherine ten Rennen um alles. Manuela Schär lag Debrunner und Marcel Hug. in der Gesamtwertung gerade mal einen Punkt vor Catherine Debrunner. Auch für Nach Chicago im Oktober gewinnen De­ Susannah Scaroni (USA) und Madison de brunner und Hug auch in New York und si­ Rozario (AUS) lag der Sieg in greifbarer chern damit den Gesamtsieg der Marathon-­ Nähe. Debrunner beendete das Rennen Serie. Mit einem dominanten Auftritt am überlegen mit einem Streckenrekord und «Big Apple» machte Hug sechs von sechs entscheidet damit die Serie zum ersten Majors perfekt. Für diese Leistung erhielt Mal für sich. Manuela Schär wird hervor­ er eine spezielle goldene Six-Star-Medaille. ragende Zweite vor Susannah Scaroni.

FIS PARA ALPINE

World Cup St. Moritz Die Weltelite des paralympischen Skisports trifft sich zum Saisonauftakt vom 14. bis 17.12.2023 in St. Moritz. Gemeinsam mit St. Moritz Tourismus organisiert PluSport den FIS Para Alpine Ski World Cup auf der Corviglia. Zum ersten Mal werden die Athletinnen und Athleten zwei Abfahrten bestreiten.

Mehr Infos plusport.ch Paracontact I Winter 2023

PARA -CYCLING WM

Zürich 2024 Knapp ein Jahr vor dem Beginn der Para-cycling-WM konnte die Einsprache des Kinderspitals Zürich mit einer ein­ vernehm­lichen Lösung geregelt werden. Die Streckenführung wird wie geplant durchgeführt. Somit steht den weltbesten Para-cyclerinnen und -cyclern nichts mehr im Weg, um auf dem Sechseläutenplatz in Zürich unter grossem Publikumsaufmarsch einzufahren. Nebst den Fans vor Ort erwar­ tet das OK viele Radsportbegeisterte, die aus aller Welt den Event am Bildschirm vorfolgen. Die UCI-Rad- und Para-cyclingWM findet vom 21. bis 29. September statt.

Das Expertenteam des Nationalen Leistungszentrums für Rollstuhlsport (NLR) begleitet unsere Athletinnen und Athleten auf dem Weg an die Spitze. Performance-Experte Gregor Boog hilft in Sachen Ausdauer.

Bei der Sportmedizin Nottwil seit? Seit Januar 2018. Deine Aufgabe im NLR? Mir fallen alle Bereiche zu, welche mit Ausdauer zu tun haben. Ich überwache oder führe selber Trainings mit Athleten durch. Neben Ausdauerleite ich auch Koordinationstrainings. Ich unterstütze Trainer oder Athletinnen bei Fragen zur Saisonplanung. Deine Lieblingstätigkeit im Job? Der persönliche Austausch mit Athleten und Trainerinnen schätze ich sehr. Was ist deine Superpower? Ich glaube, ich nehme mich selbst nicht so ernst und kann so schwierige Situationen etwas entschärfen. Deine Lieblings-App? Antenne Bayern oder SWR3, Hauptsache eine Radio-App. 35


ROLLSTUHLSPORT

PODESTPLÄTZE

GRATULATION

Erfolgreiche Jagd

Die SPV gratuliert den Medaillengewinner*innen sowie ihren Trainern und Staff zu den dies­jährigen Erfolgen und wünscht alles Gute für die kommende Saison.

Für die einen war es eine Premiere, andere freuten sich zum wiederholten Mal über eine WM- oder EM-Medaille. Das sind die Medaillengewinnerinnen und -gewinner 2023. Von Linda Wiprächtiger

An den diesjährigen Titelwettkämpfen er­ rangen elf unserer Schweizer Athletinnen und Athleten insgesamt 21 Medaillen (10 × Gold, 7 × Silber, 4 × Bronze). Zu Jahres­ beginn begrüsste St. Moritz Bobpiloten aus aller Welt zur WM. Dem Routinier Chris Stewart reichte es trotz Speedrekord (131,57 km/h) am ersten Renntag wegen kumulierter kleiner Fehler nicht für den Heimsieg. Der im Kanton Zürich wohn­ hafte Sportliebhaber durfte sich jedoch über Bronze freuen. Schweiz dominierte in Paris Es war ein grandioser Auftritt für die Schweiz. An der WM in Paris sorgte unse­ ­re Schweizer Leichtathletik-Elite für einen wahren Medaillenregen. Über 13 Medaillen konnten wir uns freuen. Der Auftritt von Catherine Debrunner (T53) darf wahrlich als überirdisch bezeichnet werden. Die Wahlluzernerin reiste mit insgesamt fünf Medaillen nach Hause. Über 400 m, 800 m, 1500 m und 5000 m blieb sie ungeschlagen. Einzig über 100 m reichte es Catherine De­ brunner «nur» für Silber. Über Gold hat sich Teamkollegin Manuela Schär (T54) besonders ge­freut (400 m und 800 m). Da­ mit konnte die Luzernerin endlich eine Lücke in ihrem Pal­marès schliessen. Über 1500 und 5000 m – kombinierte Klassen T53/T54 – musste sich Manuela Schär von Catherine Debrunner geschlagen geben.

Auch Marcel Hug (T54) zeigte einmal mehr, dass er das Feld in seiner Klasse do­ miniert. Drei Goldmedaillen brachte er mit nach Hause (800 m, 1500 m und 5000 m). Und nicht nur das, bei der Zieleinfahrt im 5000-m-Rennen überrundete der Thur­ 36

WM Bob St. Moritz, SUI, 2.–3.2.2023 Christopher Stewart Bronze

gauer fast das gesamte Feld. Was für eine grandiose Leistung! Für die Überraschung der WM sorgte Fabian Blum (T52), der sich zum eigenen Erstaunen die Silberme­ daille über 100 m holte. Erwartungen mehr als erfüllt Grosse Erwartungen hatte man an das Bad­minton-Damendoppel Ilaria Renggli (WH2) und Cynthia Mathez (WH1). Die beiden reisten als beste Europäerinnen in ihrer Kategorie an die EM in Rotterdam. Das Spiel um Gold gestaltete sich als höchst spannend und wurde erst im dritten Satz entschieden. Die beiden Schweizerinnen konnten sich über Gold freuen. Auch im Einzel trumpften beide stark auf und ge­ wannen in ihrer jeweiligen Kategorie eine Silbermedaille.

Auch Luca Olgiati (WH2) lieferte einen hochstehenden Finalmatch. Im dritten Satz musste er sich jedoch geschlagen geben, der Aargauer durfte sich über Silber freuen. Zusammen mit den beiden Bronzemedail­ len für Marc Elmer (WH2) im Herrendop­ pel und Lars Porrenga (WH2) im Mixed hat die Badminton-Delegation die Erwar­ tun­gen klar übertroffen. Vom Parkett auf die Strasse Ebenfalls in Rotterdam fand zeitgleich die Para-cycling-EM statt. Während es bei den stehenden Athletinnen reichlich Me­ daillen regnete, konnte sich bei den Hand­ bikern lediglich Benjamin Früh (MH1) mit einer Medaille zufrieden geben. Der Zürcher wurde für eine gute Leistung im Zeitfahren mit der Bronzemedaille belohnt.

WM Leichtathletik Paris, FRA, 8.–17.7.2023 Catherine Debrunner (T53) Gold über 400 m, 800 m, 1500 m, 5000 m Silber über 100 m Fabian Blum (T52) Silber über 100 m Manuela Schär (T54) Gold über 400 m, 800 m Silber über 1500 m, 5000 m Marcel Hug (T54) Gold über 800 m, 1500 m, 5000 m EM Badminton Rotterdam, NED, 15.–20.8.2023 Cynthia Mathez (WH1) Silber im Einzel Gold im Damen Doppel Ilaria Renggli (WH2) Silber im Einzel Gold im Damen Doppel Marc Elmer (WH2) Bronze im Herren Doppel Luca Olgiati (WH2) Silber im Einzel Lars Porrenga (WH2) Bronze im Mixed Doppel EM Para-cycling Rotterdam, NED, 17.–20.8.2023 Benjamin Früh (MH1) Bronze im Zeitfahren (Zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses lagen die Resultate der WM WCMX sowie der B-WM Curling noch nicht vor.)

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PERSÖNLICHKEIT Schnellfeuer zum Trainertyp Gefühl oder Analyse? Klar Analyse! Natur- oder Kunstschnee? Ich bin der Naturtyp. Technik oder Geschwindigkeit bolzen? Beides fasziniert mich. Sonnenschein oder Neuschnee? Neuschnee – aber wenn es erst frisch geschneit hat und dann die Sonne rauskommt, ist das Glück perfekt.

TRAINERAUSBILDUNG

Vom Skilehrer zum Nachwuchstrainer Pascal Achermann ist seit sechs Jahren in der Monoskibob-Basis von Rollstuhlsport Schweiz aktiv. Das Rennfahrer-Gen hatte er schon immer, nun profitiert der Nachwuchs von seinem Wissen. Von Nicolas Hausammann

«Die Skibob-Fahrenden haben mich im­ mer schon fasziniert», sagt der neue Nach­ wuchsverantwortliche des Swiss Paralym­ pic Ski Teams. In Sörenberg sind die Sit­zenden omnipräsent und die SkilehrerCrew bekannt für ihren guten Teamspirit. Daher war für den ehemaligen JO-Leiter auf Anfrage eines Kollegen schnell klar, dass er die Ausbildung zum Mono- und Dualskibob-Lehrer machen wird. Kurz da­rauf übernahm Pascal Achermann als Trainer den Stützpunkt in Sörenberg. In der Funktion des Stützpunkttrainers sammelte Pascal Achermann fünf Jahre lang Erfahrung als Assistenztrainer des Nachwuchsverantwortlichen. Nun fühlt er sich bereit, die Aufgabe ganz zu überneh­ men: «Ich konnte meinem Vorgänger über die Schulter schauen und mir so auch viel Erfahrung bezüglich der stehenden Athle­ Paracontact I Winter 2023

tinnen und Athleten aneignen, wobei das Coaching dort sehr nahe am FussgängerSkisport liegt. Beim Blindenskifahren muss ich gewiss noch etwas an meinen Fähig­ keiten feilen.» Ausbildungsweg Der Weg als Skilehrer begann für Pascal Achermann gleich nach der Lehre. Er star­ tete mit der J+S-Ausbildung mit dem Fo­ kus auf Wettkampf und wurde JO-Leiter. Es folgte der Quereinstieg bei Swiss Snow­ sports, wo er die Stufe 1 absolvierte. Dann erweiterte er sein Wissen mit der Monound Dualskibob-Ausbildung. Mit den Mo­ dulen Physis und Psyche erreichte er Stufe 4 der RSS-Ausbildung. Zwar ist der Berufs­ trainer-Lehrgang für den 37-Jährigen ein Thema, jedoch ist eine allfällige Promotion zum Nationaltrainer bei der momentanen Familiensituation mit zwei kleinen Kin­

dern kein unmittelbares Ziel. Der Sören­ berger führt das typisch zweigeteilte Skileh­ rer-Leben und ist 40% beim Swiss Para­lympic Ski Team angestellt. Zusätzlich ar­ beitet er zu 60% als Projektleiter bei einer Schreinerei. Die zahlreichen WochenendEinsätze sind da natürlich eine Herausfor­ derung fürs Familienleben. Weitere Ein­ sätze bei Weltcuprennen in Übersee, die mit wochenlangen Absenzen einhergehen, liegen momentan nicht drin. Freiheit und Disziplin: das richtige Mass machts «Bei mir steht die Person ganz klar im Vor­dergrund. Ich fordere allerdings auch ein gewisses Mass an Disziplin, damit wir nicht von der Spur abkommen», beschreibt Pascal Achermann seine Coaching-Philo­ sophie. Anders würde es wohl auch schwie­ rig bei zwölf Sportlerinnen und Sportlern. Bei so vielen Charakteren brauche es einen Rahmen, damit man sich nicht verliere.

Interessiert an einer Schneesport-Ausbildung? Wir haben das passende Ausbildungsangebot. 37


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TETRASKI

Skivergnügen ohne Grenzen Mit dem TetraSki fahren Menschen mit starken Einschränkungen selbstständig Ski. Ab der Saison 2023/24 können Interessierte Kurstage buchen. Von Thomas Hurni

des TetraSkis erfolgt durch zwei Motoren, die über ein Steuerungsmodul unter der Sitzschale angesteuert werden. Dabei über­ nimmt die angebaute Elektronik die Steu­ erung, welche beim Kartski mit den Armen ausgeführt wird. Das Steuerungsmodul wird durch das Bewegen eines Joysticks mit einfachen Steuerungsbefehlen versorgt. Diese setzen dann die Motoren in Gang und erzeugen Pflugstellen, Flachstellen so­ wie Aufkanten der Skis. Der Joystick kann je nachdem, ob die Person Links- oder Rechtshänderin ist, entsprechend ange­ bracht werden. Falls die Einschränkungen zu gross sind, um einen Joystick zu bedie­ nen, besteht die Möglichkeit, das Gerät über die Aus- und Einatmung zu steuern. Die Aufgabe des begeleitenden Skilehrers ist es, durch ein Bremsseil und eine Fern­ steuerung bei allfälligen Schwierigkeiten beim Führen des TetraSkis einzugreifen und so jederzeit die Sicherheit des Gastes zu gewährleisten. Jeder Tag ein TetraSki-Tag Für die Saison 2023/24 wird der TetraSki ab dem 2. Januar bis zum 10. März 2024 mit wenigen Ausnahmen täg­lich in Sörenberg zur Verfügung stehen. Vom 11. März bis zum Ende der Saison im April steht das Gerät für SPV-Mitglieder auf den Pisten in Villars-sur-Ollon in der Westschweiz bereit. Die Kurse in der Romandie werden von unserer Partnerorganisation Handi­ concept durchgeführt. Wer dieses neue Ski­ vergnügen ausprobieren möchte, meldet sich bitte direkt über die SPV-Website an. Mit dem QR-Code gelangen Sie direkt zum entsprechenden Angebot. An jedem Tag gibt es nur einen verfügbaren Platz, da nur ein Gerät vorhanden ist. Es gilt also: «Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.»

Personen mit eingeschränkter Arm- und Handfunktion konnten bisher nicht selbst­ ständig Ski fahren. Die Schweizer Paraplegi­ker-Vereinigung ermöglicht ihnen nun das Skifahren mit der Einführung des Tetra­Skis. Die SPV besitzt das Gerät seit ver­gan­genem Winter. Seither haben wir ausreichend Erfahrung im Umgang mit dem Gerät gesammelt und die Skilehrer wurden geschult. Jedoch mussten noch ei­ nige Aspekte, wie der Transport mit dem 38

Skilift, getestet werden. Diese Unsicher­ heiten konnten durch wiederholtes Üben und an­gepasste Einstellungen am Gerät behoben werden. Wie funktioniert der TetraSki? Die Entwicklerinnen der Universität Utah haben einen Kartski der Firma Tessier ver­ wendet und umgebaut, um Menschen mit schweren Lähmungen das selbstständige Skifahren zu ermöglichen. Die Führung

TetraSki-Anmeldung Sörenberg

TetraSki-Anmeldung Villars-sur-Ollon

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PARALYMPICS PARIS 2024

Games Wide Open Das Organisationskomitee hat anlässlich des Chef-de-Mission-Seminars «One year to go» den teilnehmenden Teams die Konzepte zur Umsetzung der Paralympics sowie die Infrastrukturen gezeigt. Von Roger Getzmann

Selbst die Fragen zur Kühlung der Woh­ nungen im Paralympic Village hat das Organisationskomitee kompetent beant­ wortet: Die Mischung aus isolierenden Wänden, gekühlten Böden, Fensterver­ dun­kelungen und eine Schulung zum op­ timalen Verhalten bei Hitze soll es bringen. Die Ausführungen wirken glaubwürdig, es wurden nachvollziehbare Berechnun­ gen geliefert. Es ist zudem hilfreich, dass der Bür­germeister des Olympic und Para­ lympic Village mit Laurent Michaud ein Schweizer ist. Publikum In Paris werden sicher viele Schweizer Fans vor Ort sein. Im Unterschied zu früheren Jahren sind organisierte Gruppenreisen leider nicht möglich. Die Ticketrechte lie­ gen bei einer Eventagentur, die Reisen an die Spiele verkaufen wird. Deshalb ist ein adäquates Ticket-Handling nicht mehr möglich. Alle interessierten Zuschauerin­ nen und Zuschauer müssen sich somit in­ dividuell um Tickets und Hotel bemühen.

Athletin Carmen Brussig gut aus, im Tri­ athlon wird es hingegen knapp. Im Rudern ist mit Claire Ghiringhelli eine Rollstuhl­ sportlerin noch im Rennen um die Quoten­ plätze. Sie verpasste leider die WM 2023 aus Verletzungsgründen, hat nächstes Jahr aber noch zwei Chancen (eine davon an der Ruderregatta auf dem Rotsee in Luzern).

Swiss Paralympic Team Die Schweiz dürfte mit etwa 20 bis 25 Ath­ letinnen und Athleten vertreten sein. Ak­ tuell rechnet sich Swiss Paralympic noch in zwölf Sportarten Chancen auf Quoten­ plätze aus: Badminton, Bogenschiessen, Cycling, Dressur, Judo, Leichtathletik, Ru­ dern, Schwimmen, Sportschiessen, Tennis, Tischtennis und Triathlon. Erfahrungsge­ mäss wird nicht alles in Erfüllung gehen und wir dürfen von neun bis elf Sportarten ausgehen. In den Sportarten Judo, Rudern und Triathlon wären es die ersten Paralym­ pics-Teilnahmen für die Schweiz: Für Judo sieht es dank Weltmeisterin und PluSport-

Sportliches Potenzial Gute Chancen auf Medaillen dürfen sich die Schweizer neben Judo auch in der Leicht­athletik ausrechnen. In den Sportar­ ten Badminton, Cycling und Schwimmen ist ebenfalls Medaillenpotenzial vorhanden. Medaillen gab es hier bereits an Europaund Weltmeisterschaften, allerdings ist bei den Paralympics das Niveau oft höher, teil­ weise auch wegen Klassenzusammenlegun­ gen. In den anderen Sportarten müsste ei­ niges zusammenpassen, damit es auf das Podium reicht. Allerdings dauert es noch acht Monate bis zu den Spielen. Da kann noch viel passieren.

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Modellansicht des Olympic und Paralympic Village in Saint-Denis

Wir sind jetzt schon gespannt, welcher Stern in Paris zum ersten Mal aufgehen wird. In Tokio haben Catherine Debrun­ ner (Leichtathletik), Elena Kratter (Leicht­ athletik) und Nora Meister (Schwimmen) ihre ersten Paralympics-Medaillen gewon­ nen. Sie gehören auch in Paris zu den heis­ sen Eisen im Feuer, genauso wie die weite­ren Medaillengewinnerinnen und -ge­winner Marcel Hug und Manuela Schär (beide Leichtathletik). Wenn Heinz Frei (Handbike) seine Medaille von Tokyo 2020 verteidigen kann, gelänge ihm eine Über­ raschung. Von den erfolgreichen Spielen in Japan ha­ ben die Schweizer Athletinnen und Athle­ ten 14 Medaillen nach Hause gebracht. Alle arbeiten schon jetzt hart daran, ihre Ziele im nächsten Jahr zu erreichen. Wir dürfen uns auf attraktive und emotionale Spiele mit Höhen und Tiefen freuen.

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RUDERN

Ziel: die Paralympics 2024 Die französisch-schweizerische Doppelbürgerin Claire Ghiringhelli ist eine Quereinsteigerin im Rudersport. Swiss Rowing unterstützt das Projekt einer Frau, für die der Sport zentral in ihrem Leben geworden ist. Von Peter Birrer

Wenn sich Claire Ghiringhelli ins Ruder­ boot setzt, ist das, als würde sie in eine andere Welt eintauchen. Bis zu 20 Stun­­den pro Woche verbringt sie auf dem Wasser, getrieben vom Ehrgeiz, noch besser, noch schneller zu werden. Die 45-Jährige sagt: «Der Sport gibt mir unheimlich viel, und dank dem Rudern hat sich mein gesund­ heitlicher Zustand nicht nur stabilisiert, sondern verbessert.» Claire Ghiringhelli war immer schon ein Bewegungsmensch, war in den Bergen un­ terwegs, rennend oder auf Ski, sie brauchte das als Ausgleich zu ihrem anspruchsvol­ len Beruf als Ingenieurin. Das hohe Tempo muss sie aber gezwungenermassen dros­ seln, als bei ihr an der Wirbelsäule ein Tumor gefunden wird. Mit 39 Jahren wird sie Paraplegikerin. Im Internet das Rudern entdeckt In der elfmonatigen Rehabilitation verar­ beitet sie den Schock und setzt sich Ziele. Sie will zurück an ihren Arbeitsplatz. Und sie möchte einen Sport finden, der sie for­ dert, Spass macht – und den sie in der Na­ tur betreiben kann. Im Internet stösst sie auf Para-Rudern und möchte das zumin­ dest ausprobieren. Die Premiere verläuft zwar harzig, da der Transfer ins Boot müh­ sam ist und sie das Gefühl hat, in den Armen keine Kraft zu haben. Aber das hält Claire Ghiringhelli nicht davon ab, weiter­ zumachen. Im Gegenteil. 40

Sie hat den Ehrgeiz, voranzukommen. Da­ für trainiert sie, wann immer sie Zeit fin­ det, auf dem Wasser und auf dem Ergome­ ter. Während der Coronapandemie vergeht kaum ein Tag ohne Sport. Claire Ghirin­ ghelli steckt viel weg, auch private Sorgen muss sie meistern. Im Rudern findet sie Ablenkung, sie sagt: «Dieser Sport gibt mir wahnsinnig viel.» Die französisch-schweizerische Doppel­ bürgerin wird dank immensem Aufwand stetig besser und findet im Sommer 2022 in Locarno den Club «Società Canottieri ­Locarno», der gewillt ist, sie zu fördern. Und schliesslich definiert sie ein neues, grosses Ziel: An den Paralympics 2024 will sie in Paris, wo sie lebt, am Start sein. Der französische Verband meldet sich bei Neville Tanzer, dem Präsidenten von Swiss Rowing, mit dem Hinweis, dass da eine starke Ruderin sei, die in Frankreich aber kaum Aussichten auf den Status als Num­ mer 1 habe. Darauf kommt das Projekt in der Schweiz ins Rollen. Im Februar 2023 findet in Lau­ sanne ein erster Austausch zwischen Claire Ghiringhelli, ihrem Trainer und Swiss Ro­ wing um Direktor Christian Stofer statt. Christian Stofer erstellt danach ein Selek­ tionskonzept für 2023. «Wir wollen die Para-Ruderin fördern, aber die Basis der Zusammenarbeit sind Leistungskriterien, die erfüllt sein müssen», sagt er.

«Claire ist extrem unkompliziert» Claire Ghiringhelli nimmt die Herausfor­ derung an, liefert überzeugende Resultate ab und integriert sich problemlos in die Schweizer Delegation. Wenn sie mit ande­ ren Athletinnen und Athleten an einem Wett­kampf weilt, hat sie nicht einmal an­ satzweise Sonderwünsche. «Claire ist ex­ trem unkompliziert», lobt Christian Stofer, «sie wird den sportlichen Anforderungen gerecht. Und sie will unbedingt lernen.»

Die Frau, die eigentlich noch fast ein Neu­ ling in der Ruderwelt ist, belegt im ParaEiner an der EM Ende Mai den sechsten Rang, bei der Weltcup-Regatta in Varese wird sie Fünfte, auf dem Rotsee Vierte. Claire Ghiringhelli kämpft immer noch um die Qualifikation. Als sich an der WM in Belgrad eine Chance bieten würde, muss sie wegen einer Thrombose im linken Arm absagen. 2024 hat sie noch zwei Chancen, einen Startplatz für Paris zu ergattern: Ende April in Ungarn und im Mai auf dem Rot­ see – bei beiden Regatten qualifizieren sich die Siegerinnen. Christian Stofer ist zuver­ sichtlich, dass die Schweiz bei den ParaRennen mit Claire Ghiringhelli vertreten sein wird: «Sie gehört für mich zu den sechs Besten weltweit. Ich bin überzeugt, dass sie es packt.»

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INKLUSIONSANGEBOT

In einer eigenen kleinen Welt Den Rollstuhl an Land lassen und das Gefühl von Freiheit geniessen. Der Segeltag des Bieler Segelcenters und des Rollstuhlclubs Biel machen das möglich. Von Sophie Gnaegi

Segeln scheint auf den ersten Blick nicht ge­eignet für Personen im Rollstuhl. Doch beweisen das Bieler Segelcenter und der Rollstuhlclub Biel das Gegenteil. Bereits zum zweiten Mal haben sie gemeinsam ei­nen Schnuppertag für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen durch­ geführt. «Ohne Motorgeräusche, nur vom Wind angetrieben, auf dem Wasser glei­ tend; auf dem Boot ist man in einer eige­ nen kleinen Welt», schwärmt Tobias Soder, Präsident des RC Biel. Die Zusammenarbeit zwischen dem loka­ len Rollstuhlclub und dem Bieler Segel­ center ist noch jung. Tobias Soder wurde im Herbst 2022 von Daphné Léchenne und ihrem Partner Andi Schraner kontaktiert. Die beiden sind passionierte Segler des Bieler Segelcenters und wollten ihre Lei­den­ ­schaft auch für Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer zu­gänglich machen. Tobias Soder war sofort begeistert von die­ser Idee. Zusammen mit weiteren Personen der bei­ den Clubs führten sie im April 2023 nach einigen Testsegeltörns einen ersten Schnup­ pertag durch. Verein «Ships N’Wheels» Dieser erste Segel-Schnuppertag für Men­ schen mit eingeschränkter Mobilität legte den Grundstein für die Vereinsgründung «Ships N’Wheels». Der Verein will Segel­ sport für Rollstuhlfahrerinnen zugänglich machen und herausfinden, wie das Segeln zusammen mit Fussgängern am besten funk­tioniert.

«Segeln im Rollstuhl ist möglich und muss keine Utopie bleiben.» Seit der Vereinsgründung konnten bereits drei adaptierte Boote angeschafft werden. «Die Organisation ist grundsätzlich gleich wie bei jedem anderen Segelkurs. Die einzige Herausforderung ist, dass wir im Ha­fen ‹Beau-Rivage› in Biel nur einen ein­ zigen Steg haben, der für das Ein- und Aussteigen geeignet ist», meint Daphné Léchenne und Tobias Soder ergänzt: «Für den Transfer vom Steg auf das Segelboot sind wir momentan noch auf reine Mus­ kelkraft angewiesen. Hier wäre ein Trans­ ferkran extrem wertvoll. Dies ist jedoch mit Kosten verbunden, welche wir mo­ mentan nicht stemmen können.»

Wichtige Erkenntnisse Eine der wichtigsten Erkenntnisse von Daphné Léchenne und Tobias Soder ist, dass es extrem wich­tig ist zu wissen, wer welche körperlichen Möglichkeiten hat. So kann das optimale Boot sowie der an­ genehmste Transfer angeboten werden. Zudem dürfen Teilnehmende sowie Hel­ ferinnen und Helfer keine Berührungs­ ängste haben, da man sich insbesondere während den Transfers zwingend profes­ sionell näherkommt.

Eine Zusammenarbeit zwischen Fussgän­ gerverein und Rollstuhlclub lohnt sich auf je­den Fall, ist Tobias Soder überzeugt. «Man kann immer voneinander lernen. Gerade in unserem bunt durchmischten DreamTeam von Fussgängern und Rollstuhlfah­ rerinnen, Frauen und Männern, Romands und Deutschschweizern merken wir immer wieder, dass jede und jeder seine Stärken einbringen kann, damit die Organisation funktioniert. Dies ist eine Bereicherung für alle. Wichtig ist jedoch die Bereitschaft von allen, sich zu engagieren und ein tol­ les Erlebnis möglich zu machen.» SHIPS N’WHEELS Sie wollen auf dem Bielersee Segeln oder Sie haben Fragen? Das Team von «Ships N’Wheels» ist gerne für Sie da: www.shipsnwheels.ch contact@shipsnwheels.ch Der nächste Segeltag in Biel: 25. Mai 2024

Segeln für alle Der Verein «Ships N’Wheels» machts möglich

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VERMISCHTES

POLITIK

Hilfsmittel im AHV-Alter Die Motion «Ambulant vor stationär für Menschen mit Behinderung nach Erreichen des AHV-Alters durch eine ‹smarte› Auswahl an Hilfsmitteln» fordert eine angemesse­ne Versorgung mit Hilfsmitteln für Menschen, die im AHVAlter eine Behinderung erfahren. Im Nationalrat stimmte ein deutliche Mehrheit dafür. Der Ständerat nahm die Motion in der Herbst­session an. Damit legt das Parlament bei der Abgabe von Hilfsmitteln den Grundstein für eine Gleichstellung zwischen der AHV und der IV – bisher waren Personen im AHV-Alter be­­züglich Hilfsmittel deutlich schlechter gestellt. Der Leistungskatalog der AHV soll nun gezielt mit bestimmten Hilfsmitteln des IV-Leistungska­talogs ergänzt werden.

POLITIK

Sprachliche Anpassung Das Schweizer Rechtssystem basiert im­ mer noch auf einem medizinischen, de­ fizitorientierten Verständnis von Behin­ derung, was sich auch in herabsetzenden Begriffen wie «Invalidität» und «Hilflo­ senentschädigung» zeigt.

tember 2023 veröffentlichten Bericht im Auftrag der Sozial- und Gesundheitskom­ mission des Ständerats hält der Bundesrat fest, dass er bei künftigen Änderungen des Gesetzes jeweils betroffene Ausdrücke prü­fen und wenn sinnvoll und möglich einen Ersatz vorschla­gen wird. Er lehnt jedoch Für diese diskriminierenden Begrifflich­ eine umfassende Änderung ab, da dies mit keiten wurde die Schweiz auch vom UNO- einem sehr hohen Aufwand verbunden Ausschuss kritisiert. In seinem am 15. Sep­ wäre.

MODE

Kleider, die sitzen

Zur Motion www.parlament.ch (Geschäfte, Motion 22.4261)

RUDERN

Para-Boot Seeclub Richterswil Anfang September fand in Richterswil ZH eine besondere Feier statt. Der Seeclub weihte im Beisein zahlreicher Mitglieder, Sponsoren und Gäste seinen ersten Doppelzweier für Menschen mit Behinderung ein. Als Breitensportverein möchte der Club das Rudern auch Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung ermöglichen. Es ist das erste Para-­ Ruderboot auf dem Zürichsee. 42

Für Menschen im Rollstuhl ist es eine Herausforderung, passende und zugleich stylische Kleider zu finden.

den als Krönung anlässlich der Modeschau Mode Suisse, der bedeutendsten Mode­ schau der Schweiz, am 4. September in Zürich präsentiert. Zudem wurde das Pro­ Für sie lancierte die Schweizer Paraplegi­ jekt in der Kategorie «Inclusive Design» ker-Stiftung ein besonderes Projekt (siehe für den Schweizer Designpreis nominiert. Paracontact 1/2023, Seite 10). Studierende der Schweizerischen Textilfachschule ent­ Mehr über das Modeprojekt warfen im engen Austausch mit Betroffe­ www.paraplegie.ch (Blog: Im Sitzen muss es sitzen) nen mehrere Outfits. Die Ergebnisse wur­ Paracontact I Winter 2023


STIFTUNG

Mit Esperanza ins Berufsleben

REHAKLINIKEN

CRR Games 2023 Die fünfte Ausgabe der CRR Games fand am 7. September 2023 in der Clinique ro­ mande de réadaptation in Sitten statt. In Zusammenarbeit mit der SPV und Plu­Sport nahmen an diesem Nachmittag rund 50 Personen mit einer körperlichen Behinde­ rung teil. Auf dem Programm standen ver­schiedene sportliche Aktivitäten wie Orientierungslauf, Bowling, Tischtennis, Blas­rohr, virtuelles Kajakfahren auf der

Wii-Konsole und Stafettenspiele. Bei letz­ te­rem Workshop mussten die Teilnehmen­ den so viele Karten wie möglich für ihr Team mitnehmen und die darauf abgebil­ dete Sportart finden. Dadurch lernten die Patientinnen und Patienten verschiedene Sportarten kennen, welche die SPV oder PluSport anbieten, und erhielten wertvolle Anregungen für ein neues Hobby nach dem Austritt.

Menschen mit Querschnittlähmung den Wiedereinstieg ins Berufsleben zu erleichtern, ist das Ziel der Stiftung Esperanza. Die Stiftung ist ein Engagement des Rotary-Clubs Lausanne. Seit 2011 und in Partnerschaft mit der Schweizer ParaplegikerStiftung begleitet Esperanza Betroffene nach der Erstreha zurück in die Arbeitswelt. Dies geschieht einerseits durch Coachings, andererseits finanziell. Jede Person kriegt zudem eine Patin oder einen Paten aus dem Rotary-Netzwerk zur Seite, um Kontakte in die Arbeitswelt zu knüpfen. Unterstützt werden Personen mit Wohnsitz in der Westschweiz. Bei Interesse wenden Sie sich bitte an die Lebensberatung der SPV. Lebensberatung lb@spv.ch Tel. 041 939 68 68

STUDIE

Inklusionsindex 2023 IV In welchen Lebensbereichen fühlen sich Menschen mit Behinderung diskrimi­ niert? Bisher gab es in der Schweiz keine Studie, bei der die Einschätzung der Be­ troffenen im Zentrum steht.

1433 Personen im Alter zwischen 16 und 64 Jahren, unterschiedlichen Geschlechts, mit unterschiedlichen Behinderungsarten und aus unterschiedlichen Sprachregionen haben mitgemacht und Fragen zu zehn Lebensbereichen beantwortet. Die Studie Um diese Wissenslücke zu schliessen, hat zeigt: In der Schweiz fühlen sich vier von Pro Infirmis den Inklusionsindex in Auf­ fünf Menschen mit Behinderung in min­ trag gegeben, welcher die Bedürfnisse und des­tens einem Lebensbereich in ihrer Teil­ Ansichten von Menschen mit Behinderung habe stark eingeschränkt. Jeder zweite systematisch erfragt hat. Es ist die erste Mensch mit Behinderung findet, dass er Studie zur Inklusion der Schweiz, bei der kaum eine Chance hat, in den ersten Ar­ die Perspektive der Betrof­fenen im Zen- beits­markt einzusteigen. trum steht. Am stärksten emp­­funden wird die Diskriminierung in den Bereichen Mehr über die Studie www.proinfirmis.ch Poli­tik, Arbeit und Mobilität. Paracontact I Winter 2023

Gutachterstelle PMEDA Gemäss einer Medienmit­ teilung des Bundesrats vom 4. Oktober vergibt die Inva­ lidenversicherung keine medizinischen Gutachten mehr an die PMEDA. Damit kommt die IV der Empfehlung der Eidgenössischen Kommission für die Qualität bei der medizinischen Begutachtung nach. Diese hat in ärztlichen Gutachten der PMEDA formale und inhaltliche Mängel festgestellt. 43


FOKUS

IM GESPRÄCH

Der Zirkus ist meine Welt

Silke Pan stürzte vor 16 Jahren vom Trapez und glaubte nicht, dass sie als Paraplegikerin noch einmal in die Manege zurückkehren würde. Aber genau das hat sie geschafft: Die Frau aus Aigle ist wieder als Artistin unterwegs. Von Peter Birrer

Ein Mittwoch im September fernab des Zentrums von Aigle. Didier Dvorak ver­ staut Material im Auto und im Wohnwa­ gen, während Silke Pan einen Stock höher zu tun hat und sich trotz bevorstehender Ab­reise Zeit für ein ausführliches Gespräch nimmt. Silke Pan ist Künstlerin, nicht irgendeine, sondern eine, die im Zirkus eine Hand­ stand­nummer aufführt – als Paraplegike­ rin. Die deutsch-schweizerische Doppel­ bürgerin weilt mit ihrem Mann Didier von Ende September bis Mitte Dezember in Mailand, wo sie beim Gravity Circus engagiert ist. Danach verbringt das Duo mehre­ 44

r­ e Wochen in Berlin beim Circus Roncalli. Die Vorfreude auf das Zirkusleben und die Manege ist enorm. Silke Pan, nach deinem Unfall 2007 hast du deine Zirkusrequisiten verschenkt … … ja, ich gab alles weg. In den ersten Mo­ naten meiner Rehabilitation in Nottwil musste ich wegen des Schädel-Hirn-Trau­ mas drei Monate im Bett liegen und durfte mich nicht bewegen. Aber ich hatte den Traum, wieder als Artistin auftreten zu können. Ich hatte ja nicht so viel Ahnung, was Querschnittlähmung wirklich bedeu­ tet. Aber nach etwa einem halben Jahr musste ich feststellen: Das geht nicht.

Wie hast du das realisiert? Ich wollte das, was ich mir gedanklich zu­ rechtgelegt hatte, in der Turnhalle auspro­ bieren, im Beisein eines Physiotherapeu­ ten. Ich wollte herausfinden, was ich noch kann. Ich dachte, vielleicht klappt es ja mit dem Handstand, aber nichts ging, nichts! Nicht einmal eine halbe Drehung wollte mir gelingen. Das frustrierte mich ziemlich. Mir fehlte jegliches Feingefühl für meinen Körper. Und darum hast du einen vermeintlichen Schlussstrich gezogen. Genau. Ich liebte zwar die Artistik, den Zirkus, das Tanzen und Turnen. Aber das Paracontact I Winter 2023


würde nie mehr möglich sein, darum trenn­ ­te ich mich von allem, was mich allein beim Anblick an den schönen Alltag vor dem Un­fall erinnerte. Ich wollte die Vergangen­ heit ruhen lassen und ein neues Leben mit anderen Zielen beginnen. Aber die Geschichte nahm eine Wende: Aus dir ist wieder eine Artistin geworden. Was steckt dahinter? Du warst ja eine erfolgreiche Handbikerin. Dass ich mit dem Leistungssport aufhörte, hat nicht zuletzt mit der Coronapandemie zu tun. Viele Wettkämpfe fielen aus, ich trainierte daheim und entdeckte zufällig, dass ich wieder in der Lage war, den Hand­ stand zu machen. Wieso zufällig? Gedanklich hatte ich mit der Artistik ja abgeschlossen, aber Krafttraining machte ich weiterhin. Irgendwann fing ich an, neue Übungen zu machen und probierte einfach einmal, ob mir der Handstand ge­ lingt. Offensichtlich hatte ich durch den Handbikesport eine gewisse Robustheit und physische Stärke erlangt – jedenfalls spürte ich, dass ich über einige Kraft ver­ fügte.

a­ n trainierte ich jeden Tag neben den Ein­ heiten mit dem Handbike, und ich probier­te laufend neue Techniken aus – ich musste es irgendwie hinkriegen, ohne das Snowboard in den Handstand zu gelangen. Einmal versuchte ich es, indem ich meine angewinkelten Beine ganz fest an den Ober­ körper band und sah dadurch aus wie eine Kugel. Ich schaffte es, allein mein Becken hochzudrücken. Aber das erforderte un­ gemein viel Übung. War für dich klar, dass du zurück in die Zirkusmanege willst? Ich hatte die leise Hoffnung, dass daraus etwas entstehen würde. Im Wissen natür­ lich, dass noch ganz viel Arbeit vor mir lag. Ich hatte das Glück, relativ schnell Fort­ schritte zu machen. Das nährte meine Zu­ versicht, in die Manege zurückzukehren. Trotzdem bist du dem Leistungssport bis zum Ende der Saison 2021 treu geblieben. Ich konnte nicht früher zurücktreten, weil ich verschiedenen Verpflichtungen nach­ kom­­men musste, etwa den Spon­­soren ge­ genüber. Und ich war immer noch im Na­ tionalkader. Aber der Trainer hatte keine Freude, als ich ihm sagte, dass ich mit dem Sport aufhöre. Er traute mir zu, dass ich mich für die Paralympics 2024 in Paris qua­ lifizieren würde. Aber ich hatte einen an­ deren Plan. (Schmunzelt.)

Wie muss man sich das vorstellen: eine querschnittgelähmte Frau im Handstand? Ich lag der Länge nach auf einem Snow­ board, mein Mann band meine Beine da­ ran fest, was mir Stabilität gab. Dann hob er mich in die Senkrechte. In dieser Posi­ tion winkelte ich die Arme an und streckte sie wieder – so funktionierte das Krafttrai­ ning. Es ist, als würde man Liegestützen ma­chen, einfach senkrecht. Meine Ober­ arme erinnerten sich daran, wie man das Gleichgewicht hält, und ich empfand ein unglaubliches Glücksgefühl. Ich hatte das nicht mehr für möglich gehalten. Nach so vielen Jahren brachte ich es fertig, mich eine Minute im Handstand zu halten. Da­ nach weinte ich vor Freude. Es war wie …

Wie kam es zum ersten Engagement im Zirkus? 2020 postete ich Fotos auf Facebook und wollte einfach meine Freude teilen. Der Direktor des Zirkus Helvetia sah die Bil­ der, rief mich an und sagte, er wolle mich verpflichten. Das gab mir einen Kick – sein Anruf stärkte meinen Glauben an mich. Ich fing an, an einer etwa zehnmi­ nütigen Zirkusnummer zu arbeiten. Im Dezember 2021, gut drei Monate nach dem Rücktritt vom Sport, erlebte ich in Mou­ don die Premiere.

… die Neugeburt einer Artistin? Ja, das kann man so sagen. Plötzlich sah ich doch wieder eine Chance, ein Leben als Künstlerin zu führen. Ich fühlte mich so frei, weil ich mit meinem Körper ohne den Rollstuhl etwas anfangen konnte. Fort­

Gab es im Vorfeld Zweifel? Oder gar Ängste davor, wie das Publikum reagieren würde? Vor dem ersten Auftritt hatte ich heftiges Lampenfieber. Ich wusste ja nicht, wie das ankommen und ob ich es schaffen würde,

meine Leidenschaft rüberzubringen. Mein Anspruch war auch der, dass meine Darbie­ tung ein hohes Niveau erreicht. Ich woll­te meiner Leistungsfähigkeit von früher wie­ der so nahe wie möglich kommen. Wie reagierten die Zuschauerinnen und Zuschauer? Sehr positiv. Ich bekam für meine SoloHandstandnummer tosenden Beifall bei der Premiere und auch den Aufführungen danach. Das Ganze wurde ein riesiger Er­ folg. Was bedeutet dir Applaus? Sehr viel. Das zeigt mir, dass ich das Rich­ tige mache und das, was ich einstudiert habe, gut rüberbringe. Ich kommuniziere nonverbal mit dem Publikum. Wichtig sind auch Eleganz und Ästhetik. Der Zirkus ist meine Welt, ich fühle mich da zuhause. Der Leistungssport war gut, keine Frage, er gab meinem Leben einen wichtigen In­ halt und ermöglichte mir, mich mit mei­ nem Körper nach dem Unfall wieder ver­ traut zu machen. Aber in meiner Seele blieb ich immer Artistin, das ist das, was mich am meisten erfüllt.

Eine Stange fixiert die Beine

Kreative körperliche Höchstleistung

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Was ist das Faszinierende daran? Für mich ist es die Kombination aus phy­ sischer Topleistung und Kreativität. Ich will mit der Inszenierung dem Publikum etwas erzählen. Welche Botschaft vermittelst du? Es ist im Grunde ein Ausschnitt aus mei­ nem Leben. Ich schaue aus dem Rollstuhl zum Trapez, das in luftiger Höhe baumelt, dann schaue ich auf meine Beine runter. In dem Moment kommt mein Mann in die Manege, hilft mir aus dem Rollstuhl, setzt mich auf das Podest und bringt mir eine Stange, an der ich meine Beine fixiere. Das symbolisiert: Ich bekomme mein Leben zurück – von meinem Mann, der wie ein Schutzengel auftritt und Lebenskraft ver­ körpert. Dann beginnt die eigentliche Num­mer. Die Botschaft soll die sein: Ich bin gestürzt, das Leben war quasi fertig, aber ich habe die innerliche Kraft gefun­ den, um – im übertragenen Sinn – wieder aufzustehen. Und am Ende laufe ich auf Handstelzen. Das bedeutet: Ich habe einen neuen Weg gefunden, um selbstständig wieder voranzukommen. Ist der Zirkus barrierefrei? Nein. Nur schon das Sägemehl in der Ma­ nege ist eine Herausforderung. Oder wenn es regnet, muss ich vor dem Auftritt im­ mer zuerst noch den Rollstuhl putzen, der auf dem Weg vom Wohnwagen zum Zir­ kuszelt dreckig geworden ist. Aber wir fin­ den immer eine Lösung. Die Leute, mit denen ich zu tun habe, sind extrem hilfs­ bereit. Ich muss mich einfach bemerkbar machen, weil ich merke, dass viele Leute immer noch gewisse Hemmungen im Um­ gang mit Menschen im Rollstuhl haben. Es ist halt auch so: Menschen mit einer Be­ hinderung sind im Zirkus eine Seltenheit, darum wird auf Barrierefreiheit nicht so geachtet. Ärgert dich das manchmal? Als ich Sportlerin war, ärgerte ich mich ab und zu – beispielsweise dann, wenn ich am Abend vor einem Wettkampf in ein Hotel kam, von dem es hiess, es sei rollstuhlgän­ gig. Aber dann kam ich nicht mal durch die Toilettentür. Ich glaube, viele Leute sind sich gar nicht bewusst, was barrierefrei überhaupt bedeutet. Diesen Ärger spüre ich

heute nicht mehr, weil ich auch nicht mehr den Stress der Athletin habe. Wenn ich ein Hotel buche und man mir versichert, es sei barrierefrei, stelle ich mich trotzdem auf klei­nere Hürden ein, weil es die immer gibt. Ich passe mich an. Der Wohnwagen, in dem du und dein Mann während des Engagements im Zirkus leben, ist auch nicht frei von Hürden. Nein. Wenn ich mich in den Wohnwagen zurückziehe, lasse ich den Rollstuhl draus­ sen, weil dafür drinnen überhaupt kein Platz ist. Ich transferiere mich auf ein Kissen im Wohnwagen und bewege mich rutschend am Boden fort. Alles, was ich benötige, ist in den unteren Schränken ver­staut. Mein Mann und ich wohnen auf engstem Raum und verbringen auch sonst die meiste Zeit miteinander. Das setzt na­ türlich voraus, dass wir uns gut verstehen. Spannungen gibt es selten, und wenn es welche gibt, beheben wir sie schnell. Nun trittst du seit Anfang Oktober beim Gravity Circus in Mailand auf. Verfügst du über endlose Energiereserven? An vier Tagen pro Woche zeige ich in je­ weils zwei Vorstellungen meine Darbie­ tung. Natürlich kostet das viel Energie, aber früher hatte ich während einer Saison praktisch gar nie einen Tag frei. Ich lernte, die kurze Regenerationszeit effizient zu nut­zen. Und wieder in der Manege sein zu dürfen, setzt Kräfte in mir frei. Ich habe das Glück, sehr fit und erfahren zu sein. Ich weiss, wie das Zirkusgeschäft funktio­ niert. Ein paar Jahre möchte ich schon noch dabeibleiben. Du machst einen sehr zufriedenen, ja glücklichen Eindruck. Der Eindruck täuscht nicht. Ich fühle mich im Einklang mit mir selbst, kann mich entfalten und bin innerlich richtig glück­ lich. Im Leistungssport musste ich mich an strikte Pläne halten, so etwas wie künstle­ rische Freiheit gab es nicht. Auch was die Kleidung anging, durfte ich nicht tragen, worauf ich gerade Lust hatte, es war ja auch wichtig, die Sponsorenlogos zeigen zu können. Es gab Regeln, und an die hielt ich mich. Aber diesen Abschnitt habe ich beendet.

Artistin mit Leib und Seele

Dreamteam Silke und Didier

Ist dein aktuelles Leben wieder dasselbe wie vor dem Unfall? Es ist ähnlich. Wenn ich ein Engagement in einem Zirkus bekomme, bin ich mit meinem Mann unterwegs, und unser Zu­ hause ist in dieser Zeit der Wohnwagen. Wir sind Teil einer grossen Familie aus Künstlerinnen und Künstlern. Durch mei­ ne Behinderung kann ich zwar zum Bei­ spiel nicht mehr beim Aufbau mithelfen, aber was ich nicht schaffe, übernimmt mein Mann. Wir sind ein eingespieltes Duo. Und ich habe das Glück, unkompliziert und flexibel zu sein. Bist du perfektionistisch veranlagt? Bei der Arbeit ja. Das war im Sport schon so, selbst nach einem gewonnenen Ren­ nen setzte ich mich selbstkritisch mit mei­ ner Leistung auseinander. Nach einer Vor­ stellung im Zirkus weiss ich immer, was ich das nächste Mal besser machen könnte. Aber den Perfektionismus im Alltag habe ich abgelegt, das macht einen nur verrückt. Wir leben mit einem Hund, sind oft in der freien Natur. Es gibt immer mal wieder Hundehaare auf dem Fussboden bei uns, solche Dinge halt – das nehme ich inzwi­ schen ganz gelassen.

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FOKUS

QUERSCHNITTGELÄHMTE DES JAHRES

Therese Kämpfer und Albert Marti

Am internationalen Tag der Querschnittlähmung ehrte die Schweizer Paraplegiker-Stiftung zum 30. Mal zwei Persönlichkeiten für ihr Engagement und ihre Vorbildfunktion. Von Nadja Venetz

Bereits zum 30. Mal zeichnete die Schwei­ zer Paraplegiker-Stiftung zwei Menschen mit Querschnittlähmung aus, die in ihrem Leben Ausserordentliches geleistet haben. Die fünfköpfige Jury, der unter anderem SPV-­Bereichsleiterin Daniela Vozza an­ gehört, kürte Therese Kämpfer und Albert Marti am 5. September 2023 zu den «Quer­ schnittgelähmten des Jahres 2023». Heidi Hanselmann, Präsidentin der Schweizer Pa­raplegiker-Stiftung, und Heinz Frei, Prä­ sident der Gönnervereinigung und lang­ jähriger Spitzensportler, überreichten den beiden Persönlichkeiten den bedeutenden Ehrenpreis in Anwesenheit von zahlreichen Gästen. THERESE KÄMPFER Geboren: 13.8.1958 Behinderung: Tetraplegikerin Beruf: Pflegefachfrau, ehem. Leiterin Peer Counselling und Patientenbildung im SPZ Nottwil Hobbys: Handbike-Reisen, Bridge, Beraterin bei einer Hotline

Wegbereiterin der Peer-Arbeit Auf dem Heimweg von einer Nachtschicht verunfallte die damals 21-jährige frisch aus­ ­gebildete Kinderkrankenschwester Therese Kämpfer mit dem Töffli. Seither ist sie querschnittgelähmt. Obwohl der Langen­ 48

thalerin zunächst alles verloren schien, liess sie sich nicht unterkriegen, fand ihren Weg und gründete eine eigene Familie. «Ich hatte ein grossartiges Umfeld, das mich in dieser schwierigen Situation auffing. Dass ich bald wieder ins Berufsleben einsteigen konnte, half mir sehr, und sobald wir eige­ ­ne Kinder hatten, beschäftigten uns plötz­ lich wieder alltägliche Fragen. Wohin gehen wir in die Ferien? Wie erziehen wir die Kinder?», erinnert sie sich. «Dadurch wur­ de das Leben wieder ‹normal›.» Ein bunter Strauss an Fragen Therese Kämpfer trieb viel Sport und feierte Er­folge im Rug­by und im Curling. Auch des Sports wegen war sie oft im Schweizer Para­ plegi­ker-Zentrum. Sie wur­ de an­ge­spro­chen, ob sie nicht im Sin­ne des Quali­tätsmanagements Pa­tientinnen und Patien­­­ten zu ihrer Zu­ friedenheit befragen kön­­­­ne. «Wir gingen während 15 Minuten die vorgegebenen Fragen durch und anschliessend löcherten mich die Befragten: Was machst du, wenn deine Kinder davon­ren­nen? Wie kommst du ins Flugzeug? Wie gehst du auf die Toilette? Ohne es zu wissen, machte ich damals bereits Peer-Arbeit», erklärt The­ rese Kämpfer.

Therese Kämpfer liess sich vorzeitig pen­ sionieren, um sich einen Traum zu reali­ sieren: Sie wollte eine Ausbildung für Peer-

Beraterinnen und -Berater anbieten, damit Betroffene ihr Erfahrungswissen auf pro­ fessionelle Art zur Verfügung stellen kön­ nen. «Die Peer-Arbeit bringt allen etwas. Sie gibt frisch Betroffenen Zuversicht und die beratende Person erfährt, wie ihre per­ sönlichen Erfahrungen zu begehrtem Wis­ sen werden.» Professionalisierung Therese Kämpfer gründete mit ihrer Toch­ ter den Verein «myPeer». Die Organisation bildet Menschen, die mit einer Be­ hinderung, einer chronischen Krankheit, einem Schick­sals­ ­schlag oder einer Sucht­er­ krankungen leben, zu zer­ ­ti­fizierten myPeer Coa­ches aus. Dabei unterrich­ten sie und ihre Tochter die angehenden Coaches selbst. Die zertifizierten myPeer Coa­ ches können sich auf einer Such­ plattform registrieren und über die Platt­ form direkt gebucht werden. Zudem will der Verein Peer-Arbeit als wesentlicher Bestandteil des Gesundheitswesens etablieren.

«Zu sehen, dass ich etwas bewege, macht mich glücklich. Nicht mehr gebraucht zu werden, war meine grösste Angst nach dem Unfall», sagt die mittlerweile stolze Gross­ mutter. Gemeinsam mit ihrem Partner reist sie auf dem Handbike durch die Welt. «Das ist stets Abenteuer pur,» schwärmt die 64-Jährige. Paracontact I Winter 2023


ALBERT MARTI Geboren: 5.1.1970 Behinderung: Paraplegiker Beruf: Generalsekretär ESCIF Hobbys: Handbike, Bier brauen

schen Dachverband für Querschnittge­ lähm­te. Nationale Organisationen sind Mit­glied bei ESCIF und verfolgen das ge­ meinsame Ziel, die Lebensqualität von Menschen mit Querschnittlähmung zu verbessern. Profitieren sollen da­bei vor allem Länder, deren Strukturen noch nicht so ausgebaut sind. Den Ausgleich zur Schreibtischarbeit findet er im Sport.

Akademische Laufbahn Vor 33 Jahren verunglückte Albert Marti mit dem Motorrad und erlitt eine Quer­ schnittlähmung. Der ehemalige Realschü­ ler hatte eine Postlehre absolviert. Nach dem Unfall machte der Schaffhauser eine Umschulung und legte die Matura ab. «Als ich die Matura im Sack hatte, dachte ich, jetzt studiere ich halt.» Nach Abschluss des Studiums der Politikwissenschaft legte man ihm nahe, der Forschung treu zu bleiben und so schrieb er seine Doktorarbeit in Ge­ sundheitswissenschaft und Gesundheits­ politik. «Zehn Jahre wirkte ich daraufhin in der Wissenschaft und für mich ging im­ mer wieder eine Tür auf. Am Schluss hatte ich einen PhD in der Hand. Das war nie mein Plan», erzählt der heute 53-Jährige.

Ausdauernd Die Einladung zu einem Rennen entfachte in Albert Marti das Feu­ er für den Handbike-Sport. «Die Sport­ art hat mir gleich gefallen. Man kann raus in die Natur und braucht sonst keine Infrastruktur», erklärt Albert Marti. Neben dem Training begann er, sich in der TK zu engagieren und Rennen zu organi­ sieren. Besonders gefallen ihm die langen Ausdauer­leistungen. Schon mehrfach nahm er in un­terschiedlichen Teamkonstel­ lationen an der «Tortour» teil, einem mehr­ tägigen Radrennen über mehrere Schwei­ zer Alpen­pässe.

ESCIF Seit 2019 arbeitet Albert Marti als Gene­ ralsekretär für die European Spinal Cord Injury Federation ESCIF, dem europäi­

Soziales Engagement Dem Sport ist es zu verdanken, dass Albert Marti zum Projekt HaitiRehab stiess, dem er seit Gründung als Präsident vorsteht.

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Nach dem schweren Erdbeben 2010 stellte die Schweizer Paraplegiker-Stiftung vor Ort ein Hilfsprojekt auf die Beine. «Die Be­ troffenen sollten eine ganzheitliche Reha erfahren. Da gehörte auch Sport dazu und ich begann mit den Leuten zu trainieren. Unterdessen sind wir seit fast 15 Jahren vor Ort. Die Welt verändern kön­ nen wir nicht, aber im Kleinen etwas bewegen.» Im Kleinen viel bewirken war auch die Absicht hinter der Idee, ukrainischen Flüchtenden im Rollstuhl grenznah ei­ nen sicheren Ort der Ruhe anzubieten. Das Safe House an der polnischen Grenze, das ESCIF gemein­sam mit der Schweizer Para­ plegiker-Grup­pe und der deutschen För­ dergemeinschaft der Querschnittge­lähm­ ten während sechs Monaten betrieb, geht auf die Initiative von Albert Marti zurück (siehe Paracontact 3/2022). «Wir konnten den Leuten ei­ne grosse Last von den Schul­ tern nehmen.» Herzliche Gratulation Die Schweizer Paraplegiker-Vereinigung gratuliert den beiden Querschnittgelähmten des Jahres 2023 und bedankt sich für das grosse Engagement zugunsten aller Betroffenen.

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FOKUS

FÜR SIE DA

Am Spitalbett Konrad Arnosti sitzt als Peerberater Frischverletzten am Klinikbett gegenüber, hilft bei Alltagsfragen und stellt die Leistungen der SPV vor. Von Nadja Venetz

«Es macht einen Unterschied, dass ich ins Zimmer rolle und es nicht als Fussgänger betrete», stellt Koni Arnosti fest. Seit 2021 besucht er Frischver­letzte kurz vor Aus­ tritt aus der Klinik. «Ich berichte ihnen, was die SPV für sie tun kann, von den ver­ schiedenen Beratungsangeboten hin zu Sportmöglichkeiten, Rei­sen und Ausflügen. Und ich erkläre, was es für Vorteile hat, sich einem Rollstuhlclub anzuschliessen.» Einige entscheiden sich da­raufhin für eine Mitgliedschaft, andere nicht. Koni Arnosti äussert dafür Verständnis: «Die Patientin­ nen und Patienten haben so viele Entschei­ dungen zu treffen, da fehlt manchen die Kapazität, um sich das Leben nach dem Klinikaustritt vorzustellen. Das war wäh­ rend meiner eigenen Reha nicht anders.» Nach einer Operation an der Bizepssehne 2013 war Koni Arnosti vollständig gelähmt. Einige Körperfunk­tio­nen kamen zurück, und dank viel Therapie und Training be­ wältigt er heute seinen Alltag selbstständig. 50

Von wegen Ruhestand Seine Klientinnen und Klienten sieht er ein-, zweimal vor dem Klinikaustritt. An­ schliessend hat Koni Arnosti kaum mehr Kontakt. Ab und zu begegnet man sich zu­ fällig in den Gängen des Schweizer Para­ plegiker-Zentrums. Nur ganz selten geht er zu den Leuten nach Hause; das überneh­ men meist seine Kolleginnen und Kollegen der Peerberatung, die zum Bereich Lebens­ beratung gehört. Schliesslich arbeitet er nur in einem kleinen Teilzeitpensum von 10 %. «Eigentlich bin ich ja pensioniert», wirft Koni Arnosti lachend ein. Die restli­ chen 90 % seines Lebens ist er viel unter­ wegs. Er mache gerne Sport, fahre Hand­ bike, im Winter Ski und spiele Tennis. «Ich nutze viele Angebote der SPV», betont er. Seit jungen Jahren ist das Mitglied des RC Zentralschweiz begeisterter Motorradfah­ rer und Fan von Harley-Davidson. Als in­ kompletter Tetraplegiker braust er mit sei­ ner dreirädrigen Harley über die Strassen.

Und dann sind da noch seine Grosskinder und das eigene Haus in Italien. «Mein Ka­ lender ist immer gut gefüllt», bemerkt der 66-Jährige. Koni Arnosti schätzt den Kontakt zu den Menschen. «Es ist schön, darf ich etwas von meiner eigenen Erfahrung weitergeben.» Welche Begegnungen ihm in besonderer Erinnerung geblieben sind, will ich von ihm wissen. Seine Antwort ist Schweigen. «Du musst wissen, ich bin sehr vergess­ lich», erklärt sich mein Gegenüber schmun­ zelnd. Und dann fällt ihm doch noch eine ein: «Ich besuchte einen Mann mittleren Alters, Vater von zwei kleinen Kindern. We­ gen eines Unfalls war er vom Hals abwärts gelähmt. Bei unserem ersten Treffen war er froh, dass er noch lebt und sehen kann, wie seine Kinder aufwachsen. Beim zwei­ ten Treffen ein paar Wochen später jedoch hatte er seinen Lebenswillen verloren. Mit dieser Situation war ich überfordert.» Mit­ arbeitende der Sozialberatung unterstütz­ ten daraufhin besagten Klienten. Lieber keine Administration Koni Arnosti ist gelernter Maurer und be­ wegte sich während seines beruflichen Wer­degangs mehrheitlich im Baugewerbe. Eigentlich wollte er sich frühzeitig zur Ru­he setzen, als das Angebot der SPV ein­ traf. Ans Aufhören mag er aber noch nicht den­ken. Seine Arbeit macht ihm Spass. Nur die Administration müsste nicht sein.

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