durch Saint-Ursanne
Streifzug
Das Magazin der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung I Herbst 2023
NEU
Der Katheter der nächsten Generation
Mikro-Öffnungen. Makro-Unterschied.
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Geschätzte Leserinnen und Leser
Sechs Quotenplätze für die Paralympics 2024 und 14 Medaillen brachte die Schweizer Delegation von der Leichtathletik-WM in Paris nach Hause. 13 dieser Medaillen haben wir Athletinnen und Athleten von Rollstuhlsport Schweiz zu verdanken. Wir gratulieren herzlich zu diesen herausragenden Leistungen.
Die WM hätte für die Schweiz nicht besser laufen können und wir freuen uns bereits jetzt auf die Paralympischen Spiele, die nächstes Jahr in Paris stattfinden. Der Erfolg unserer Athletinnen und Athleten kommt nicht von ungefähr. Ihm geht jahrelange intensive Arbeit voraus, die dem Sport alles unterordnet.
heben lässt. So erarbeiten sich Frischverletzte hartnäckig Stück für Stück ihre Selbstständigkeit zurück und jeder Erfolg löst ein Glücksgefühl aus. Lesen Sie dazu die Geschichten von Olivier De Vito und Stephan Freude.
Einen langen Atem braucht es auch in der Politik. Wir alle sind nach wie vor gefordert, um die 100 000 benötigten Unterschriften für die Inklusions-Initiative zusammenzutragen. Eine, die sich unermüdlich für die Anliegen von Menschen mit Behinderung stark macht, ist unser Mitglied Vanessa Grand. Lassen Sie sich von ihrem Einsatz inspirieren.
Ich wünsche Ihnen eine bereichernde Lektüre.
Viel Durchhaltewillen erfordert auch der Reha-Prozess. Der Klinikalltag in der Erstrehabilitation ist geprägt von zahlreichen Therapien und kontinuierlichem Training. Unzählige Versuche sind nötig, bis der Transfer zum ersten Mal gelingt, stetiges Üben, bis sich der Arm wieder
Herzlichst Laurent Prince, Direktor
Paracontact I Herbst 2023 3 EDITORIAL
«Mit Beharrlichkeit ans Ziel»
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Das Logo von Rolland Bregy drückt anders als viele Rollstuhlpiktogramme Dynamik und Modernität aus. Es zeigt den Rollstuhlfahrer als aktiven Menschen in Bewegung.
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T. 041 367 70 info@gelbart.ch17
4 Paracontact I Herbst 2023
Herausgeberin
Schweizer Paraplegiker-Vereinigung
Kantonsstrasse 40, 6207 Nottwil Telefon 041 939 54 00
E-Mail spv@spv.ch www.spv.ch
Chefredaktorin
Evelyn Schmid
Redaktion
Laurent Prince, Nadja Venetz, Felix Schärer, Roger Getzmann, Daniela Vozza, Michael Bütikofer, Peter Birrer, Tina Achermann
Koordination, Grafik, Inserate
Tina Achermann
Fotos
SPV, SPS, Adobe Stock, Christophe Vouillamoz, Jonathan Liechti, Susanne Schenker, Maria Ambühl, Anita Panzer, Andi Gautschi, Gregor Sonderegger, Vittoria la Rocca, Tobias Lackner, Swiss Paralympic/Gabriel Monnet, Gregor Stäuble, Paris 2024/Florian Hulleu, Ticino Bulls, VBS/DDPS Alex Kühni, ESCIF, Vanessa Grand, Stephan Freude
Druck
Brunner Medien AG, www.bag.ch
Redaktionsschluss
Ausgabe Winter 2023: abgeschlossen
Ausgabe Frühling 2024: 9.11.2023
Auflage
8100 Exemplare deutsch
4 250 Exemplare französisch
Wir bemühen uns um gendergerechtes Schreiben, verwenden zur besseren Lesbarkeit manchmal die weibliche oder männliche Form stellvertretend für alle Geschlechter.
Alle Beiträge sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion. Fremdbeiträge geben nicht in jedem Fall die Meinung der SPV wieder. Ein Abdruck von unverlangt eingesendeten Manuskripten ist nicht gewährleistet.
Paracontact I Herbst 2023 5 IMPRESSUM INHALT
WIR BEWEGEN AKTUELL 6 AUS DEN CLUBS Wir haben einiges vor 8 AKTIVISMUS Wirbeln und Weibeln für Inklusion 9 NACHGEFRAGT Inklusion à la Klubschule Migros 11 LEBENSBERATUNG AUFGEHOBEN Olivier De Vito und der Glücksfall Nottwil 12 AUTOFAHREN Freie Fahrt 15 RECHTSBERATUNG VERSICHERUNGSRECHT Gestärkte Rechte für Versicherte 16 MEDIZIN UND WISSENSCHAFT HILFSMITTEL Forschung mitten im Alltag 18 HINDERNISFREIES BAUEN ZUGÄNGLICHKEIT Geschichte ohne Hindernisse 20 FREIZEIT PARAREISEN Machen Sie Ferien mit uns! 22 Highlights 2024 23 IN KÜRZE 24 MOUNTAINBIKE Über Stock und Stein 25 EINE REISE MIT HINDERNISSEN Lebensfreude bei 36 Grad 26 TETRAREISEN Gelungene Premiere 29 SWINCAR Bergspinne 31 AUSFLUG Perle des Jura 32 ROLLSTUHLSPORT KIDS CAMP Unbeschwert und auf Augenhöhe 34 IN KÜRZE 36 TRAINERAUSBILDUNG Nächster Halt: Berufstrainerin 38 PARALYMPICS PARIS 2024 Nachhaltige und ethische Spiele 39 «MOVE ON» Sport- und Freizeitcamp 40 BASKETBALL Zurück an die Spitze 41 FOKUS VERMISCHTES 42 IM GESPRÄCH Stephan Freude 44 FERNSEHEN Im Rollstuhl über den Gotthard 47 UNSERE HELFER Gabi Bucher 49 FÜR SIE DA Monserrat Thalmann 50 9 25
Neuer Trainer
Jani Westerlund (57) trainiert neu die Elite der Leichtathletik.
Der gebürtige Finne bringt langjährige Erfahrungen im Leistungssport mit, dies als Athlet, Trainer sowie als Verbandsvertreter. Er folgt auf Beat Fäh und Monika Vifian.
NEUE MITARBEITENDE
FORSCHUNG
Umfrage Arbeitsleben
Eine Befragung der Schweizer Paraplegiker-Forschung sammelt Daten, damit Betroffene über ihr gesamtes Arbeitsleben gezielt unterstützt werden können.
Die Befragung startet demnächst und findet per Onlinefragebogen statt. Einladungen werden per Post verschickt. Teilnehmen können Personen mit, aber auch ohne Arbeitserfahrung seit Eintritt der Querschnittlähmung.
Die Teilnehmenden werden zu zentralen Etappen und Ereignissen in ihrem Lebenslauf befragt, in Bezug auf die Bereiche Ar-
beit, Ausbildung, ehrenamtliche Tätigkeiten sowie soziale Kontakte und Familienleben.
Die SPV unterstützt die Studie als Projektpartnerin und möchte Sie zur Teilnahme anregen. So helfen Sie uns, die Angebote für Sie und andere Menschen mit Querschnittlähmung zu verbessern.
Kontakt: Dr. Urban Schwegler urban.schwegler@paraplegie.ch
Weitere Informationen www.swisci.ch
Sabine Sieber Leiterin Finanz- und Rechnungswesen
Sabine Sieber absolvierte ihre kaufmännische Ausbildung bei einer Bank und arbeitete anschliessend in verschiedenen Treuhandabteilungen. Nach einem zweijährigen Aufenthalt in Berlin zog es sie wieder zurück in die Region Luzern, wo sie bei der PH Networks AG eine Anstellung fand. Hier kümmerte sie sich in den letzten Jahren um die Finanzen.
Swim Team Lucerne
Durch ihre Kinder kam sie zum Schwimmsport und engagiert sich im Verein. Man trifft Sabine Sieber im Garten. Mit einem Podcast auf den Ohren bekämpft sie das Unkraut. Hätte sie mehr Zeit, würde sie gern nähen.
Sachbearbeiterin ZD
Schon seit Langem liebäugelte Sandra Wandeler mit einer Anstellung bei der SPG. Seit Juli kümmert sie sich bei der SPV um den Empfang, betreut die Lernenden und arbeitet bei den Verbandsdienstleistungen mit. In einer solchen Drehscheibenfunktion war die Kauffrau schon immer tätig, zuletzt in der Automobilindustrie und davor über 20 Jahre beim Uhrenhersteller Carl F. Bucherer.
Am Wasser
Die Mutter einer 13-jährigen Tochter verbringt viel Zeit auf und am Sempachersee. Ohnehin ist sie gerne in der Natur, geniesst aber auch ein geselliges Essen mit Familie und Freunden.
Bereits 23 Jahre lang hatte sich Iris Fuchser bei der SPV engagiert. Sie wechselte ins Bildungs- und Kulturdepartement der Stadt Kriens, wo sie bei den Familien-, Freizeit- und Kulturdiensten tätig war. Nun kehrt sie zurück zur SPV und kümmert sich neu um das Bildungsangebot des Verbands.
Trumpf
Seit 17 Jahren spielt sie in der Alphornvereinigung Pilatus Kriens, geht aber gerne auch auf Rockkonzerte. Iris Fuchser ist begeisterter Sportfan und beim Skiund Velofahren, Langlaufen und Wandern auch selbst sportlich aktiv. Ihr Morgenritual: auf einer App einen Jass klopfen.
RUBRIK 6 Paracontact I Herbst 2023 AKTUELL
LEICHTATHLETIK
Iris Fuchser Koordinatorin Bildung
Sandra Wandeler
AUS DEN CLUBS
AUS DEN CLUBS
Genf besucht Nottwil
Corinne Bonnet-Mérier, Präsidentin des Rollstuhlclubs Genf und Genfer Stadträtin, führte Ende Mai eine Delegation der Genfer Stadtregierung nach Nottwil.
Die Teilnehmenden lernten die SPV kennen und tauchten im Besucherzentrum ParaForum in den Alltag von Menschen mit Querschnittläh-
mung ein. «Seit ich Stadträtin bin, hege ich die Idee dieses Besuchs», erklärt uns Corinne Bonnet-Mérier. «Manchmal hilft das Eintauchen in eine Lebenswelt am meisten, um Problemfelder zu verstehen. Ich hoffe, dass das Gesehene und Erlebte in den Ratsdiskussionen und der Arbeit in den Kommissionen noch lange nachwirkt.»
Neuer Name, neues Logo
Der Rollstuhlclub Chur nennt sich neu Rollstuhlclub Graubünden. Und mit dem neuen Namen geht auch ein neues Logo einher – modern und dynamisch.
COMMUNITY
Neue Website
Die Online-Community der Schweizer Paraplegiker-Gruppe erstrahlt in neuem Kleid. Die Website wurde komplett überarbeitet und kommt neu in einem ansprechenden, übersichtlichen Design daher.
Die Community bietet Menschen mit Querschnittlähmung und ihren Angehörigen eine digitale Plattform für den Austausch untereinander. Auf dem Marktplatz können gebrauchte Hilfsmittel, umgebaute Autos u. v. m. erworben oder verkauft werden. Und Blogbeiträge beleuchten spannende Themen.
Zur Community community.paraplegie.ch
AUS DEN CLUBS
WORKSHOP
Fit für Social Media
Wie schreibe ich einen Post für meine Facebook-Seite und welche Bilder darf ich verwenden?
Mitte Mai führte die SPV den ersten Social-Media-Workshop durch. Interessierte aus den Rollstuhlclubs lern-
ten, wie sie verschiedene Plattformen nutzen können. Das vermittelte Wissen wurde gleich praktisch in Posts umgesetzt. Dabei entstanden angeregte Diskussionen über Vor- und Nachteile der sozialen Medien. Weitere Workshops sind in Planung.
Zugänglichkeit
Der Rollstuhlclub Valais Romand engagiert sich, dass öffentliche Orte im Wallis für alle erreichbar sind.
Der Club sensibilisiert Fachkräfte und Auszubildende in der Baubranche. Zudem melden Clubmitglieder Verstösse gegen die Barrierefreiheit an die Behörden und listen auf der Website des Clubs die Zugänglichkeitsdaten beliebter Ausflugsziele.
Paracontact I Herbst 2023 7
Wir haben einiges vor
Die Basketballer des RC Valais romand und des RC Bern fusionierten vor einem Jahr. Eine treibende Kraft hinter dem Projekt: Claude Siegenthaler.
Von Peter Birrer
Die Idee kam vor gut drei Jahren auf. Daraus entwickelte sich ein Projekt, und schliesslich war sie da: die Fusion. 2022 «heirateten» die Basketballteams der Rollstuhlclubs Valais romand und Bern und belegten in ihrer Premierensaison Rang 3. Aber das sollte erst der Anfang des Höhenflugs sein.
Hinter dieser Zusammenlegung der zwei Mannschaften verbirgt sich vor allem ein Name: Claude Siegenthaler. Er arbeitet bei der SPV als Koordinator der Westschweiz im Bereich Breitensport – Freizeit – Gesundheit, und daneben ist er begeisterter Basketballer. Der 45-jährige Seeländer spielte einst mit den jurassischen Kollegen in Delémont, er gehörte lange auch zur Genfer Equipe und legte für sein Hobby tausende Kilometer im Auto zurück.
Lösung gegen Personalmangel
Seit zwölf Jahren lebt er nun im Oberwallis, ist Mitglied bei Valais romand und hat hier das gleiche Problem angetroffen wie
schon andernorts. Die Basketballmannschaft leidet an Personalmangel. Und zu wenig Spieler bedeutet zwangsläufig, dass die Teilnahme am nationalen Wettkampfbetrieb nicht möglich ist.
Die Berner sahen sich mit der gleichen Schwierigkeit konfrontiert. Claude diskutierte immer mal wieder mit deren Teammanager Mustafa Muhammadamin darüber. Und irgendwann fragte er ihn, ob eine Fusion ein Thema wäre. Mustafa war einem Versuch gegenüber positiv eingestellt – so gleisten die beiden das Projekt auf.
Walliser und Berner zu vereinen, scheint mit einigen Herausforderungen verbunden zu sein. Da ist die Distanz zwischen den Trainingsorten Martigny und Moosseedorf, da ist auch die sprachliche Barriere, und vielleicht sind da auch Mentalitätsunterschiede. Aber in einer ersten Bilanz lässt sich festhalten, dass alle vermeintlichen Hürden gemeistert wurden oder laufend neue gemeistert werden.
Ein paar wenige Trainings absolvieren die Walliser und Berner gemeinsam. In der Regel tun sie das aber getrennt, um lange Anfahrtswege zu vermeiden. Dafür sind die Inhalte der Übungseinheiten für beide Gruppen festgelegt und aufeinander abgestimmt worden. In Bern übernimmt Matthias Suter die Leitung, Claude Siegenthaler coacht die Walliser – an Spieltagen bilden sie ein Duo: Matthias ist der Coach und Captain, gibt auf dem Feld die strategische Ausrichtung vor und vermittelt mit seiner Ruhe eine gewisse Coolness; Claude ist Assistenzcoach, der Wechsel anordnet und Time-outs nimmt, in denen er mit den Spielern redet.
Neuer Name: Martigny-Berne Magic Die Meisterschaftspartien werden in Martigny ausgetragen. Bislang traten die Basketballer unter dem Namen Valais-Berne Magic an. Weil sie sich inzwischen aber dem Verein Martigny Basket angeschlossen haben und auch dessen Infrastruktur nützen dürfen, heissen sie nun MartignyBerne Magic. «Wir haben eine Win-WinSituation für alle geschaffen», sagt Claude Siegenthaler, «es lohnt sich für alle Beteiligten, dass wir die Fusion umgesetzt haben.» Und: «Es ist auch für die anderen Teams der Liga ein Vorteil, dass sie gegen eine weitere Mannschaft antreten können.»
Im Oktober erfolgt der Start in die neue Saison. Der Coach spielt zwar nur noch sporadisch selber, aber das ändert nichts an seinen Ambitionen. Er schickt eine Kampfansage an die Konkurrenz der Liga: «Wir haben noch einiges vor.»
WIR BEWEGEN 8 Paracontact I Herbst 2023
DEN CLUBS
AUS
Wirbeln und Weibeln für Inklusion
Vanessa Grand leistet Aufklärungsarbeit, wo immer sie kann: in der Politik oder auf der Strasse. Die Oberwalliserin zeigt auf, warum das Zustandekommen der Inklusions-Initiative so wichtig ist.
Von Peter Birrer Wer Vanessa Grand gegenübersitzt, merkt schnell: Diese Frau hat Durchsetzungsvermögen – und jede Menge Power. Wenn sie sich etwas vornimmt, lässt sie nicht locker, bis das Ziel erreicht ist. Ihre Beharrlichkeit kommt nun bei einem Thema zum Vorschein, das für sie eine Herzensangelegenheit ist: Sie weibelt und wirbelt für die Inklusions-Initiative. Vanessa Grand sagt: «Ich setze mich für alle Anliegen ein, die Menschen mit einer Behinderung betreffen.»
Teilnehmerin der Behindertensession Mehrmals schon hat sie die Erfahrung gemacht, dass Angesprochene etwas hilflos reagieren und gar nicht wissen, wie sie Politik auch für Menschen mit einer Behinderung machen sollen. Umso wichtiger ist es für Vanessa Grand, immer und immer wieder darauf hinzuweisen, dass in diesem Bereich mehr getan werden muss. Sie profitiert davon, dass man sie kennt – zum einen, weil sie als Schlagersängerin öffentliche Auftritte gewohnt ist, zum anderen, weil sie im Frühjahr an der ersten Behindertensession im Nationalratssaal teilnahm.
Die Gelegenheit nutzte sie, um ihr Netzwerk zu erweitern, um unzählige Gespräche zu führen und sich unter anderem für die Inklusions-Initiative starkzumachen. Das macht sie auch bei ihrer beruflichen Tätigkeit, sei es als Journalistin oder wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Berner Fachhochschule.
Initiative sind neben dem Wohnen zudem Themen wie Diskriminierung und Gleichstellung – Vanessa Grand spricht auch diese offen an.
Resilient und schlagfertig «Ich versuche, auf Dinge hinzuweisen, an die viele Leute gar nicht denken», sagt das Vorstandsmitglied des RC Oberwallis, «was die Inklusions-Initiative angeht, ist für mich klar: Es muss dringend gehandelt werden. Und ich glaube schon, dass die Bevölkerung unseren Bedürfnissen gegenüber positiv eingestellt ist.»
Die 44-jährige Oberwalliserin ist selbst betroffen. Sie lebt mit der Glasknochenkrankheit, inzwischen zählt sie die Zahl der Knochenbrüche nicht mehr.
Vanessa Grand engagiert sich mit Leidenschaft dafür, dass besagte Initiative zustande kommt. Sie tut das mit einer beeindruckenden Unerschrockenheit, geht auf Politikerinnen und Politiker im ganzen Kanton zu und erläutert bei einem Kaffee die Bedeutung des Anliegens. Oder wie sie es formuliert: «Ich stubse sie an und mache so auf uns aufmerksam.»
Sie sammelt Unterschriften, wo immer sich eine Chance ergibt, und wenn sie mit irgendwem auf der Strasse ins Gespräch kommt, fängt sie meist mit der gleichen Frage an: Weisst du, dass wir Menschen mit Behinderung nicht selber entscheiden können, wo wir leben wollen? Manchmal erzählt sie auch, was auf sie zukommen könnte, wenn sie einmal nicht mehr auf die wertvolle Unterstützung der Eltern zählen kann. «Mit der Initiative sollen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, die Menschen mit einer Behinderung ermöglichen, selbstbestimmt zu leben», sagt sie, «ich möchte nicht, dass andere Leute über mich entscheiden können.» Zentrale Aspekte der
Vanessa Grand kann in Diskussionen mit einem skeptisch eingestellten Gegenüber überzeugend argumentieren, in ihrem Medien- und Kommunikationsstudium in Freiburg hat sie sich rhetorisches Rüstzeug zugelegt. «Ich bringe eine gewisse Resilienz mit, habe einen breiten Rücken und bin schlagfertig, um mich zu wehren», sagt sie. «Ich stelle fest, dass ich bei der Politik und bei der Bevölkerung etwas erreiche, wenn ich erkläre, worum es bei der Initiative überhaupt geht.»
Eines ist für sie unbestritten: Locker lassen wird sie nie. «Denn sobald man das tut, ändert sich nichts», sagt sie. Vanessa Grand opfert viel von ihrer Freizeit zugunsten der Initiative – und wird das bis zum Ende durchziehen.
Inklusions-Initiative Sammeln auch Sie Unterschriften www.spv.ch/inklusions-initiative
Paracontact I Herbst 2023 9 WIR BEWEGEN AKTIVISMUS
Vanessa Grand sammelt Unterschriften
• Die Schutzhülse hilft, den Katheter vor Kontakt mit Bakterien in den ersten 15 mm der distalen Harnröhre zu bewahren und hilft, das Risiko eines Bakterientransfers in den Harntrakt zu reduzieren
• Die Schutzfolie ermöglicht es, den Katheter überall anzufassen und stellt eine Barriere dar, die hilft, Keime vom Katheter fernzuhalten
Benötigen Sie weitere Informationen oder möchten Sie ein Testprodukt anfordern? Dann besuchen Sie uns auf www.hollister.ch/VaPro.
Lesen Sie vor der Verwendung die Gebrauchsanleitung mit Informationen zu Verwendungszweck, Kontraindikationen, Warnhinweisen, Vorsichtsmassnahmen und Anleitungen.
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Schutz durch 100% berührungsfreie Anwendungwas Sie auch berühren, berührt nicht Ihren VaPro Einmalkatheter.
Switzerland / DE
Inklusion à la Klubschule Migros
Seit August arbeitet die SPV eng mit der Klubschule Migros zusammen, um Bildungs-, Bewegungs- oder Kreativmöglichkeiten zu bieten. Und das professionell und inklusiv. Thomas Hurni hat diese Kooperation initiiert.
Von Evelyn Schmid
Was können die SPV-Mitglieder von der Zusammenarbeit erwarten?
Dank einer Kooperation mit der Klubschule Migros können die Mitglieder der SPV ab Sommer (18. August 2023) vom breiten Angebot des grössten Freizeitkursanbieters der Schweiz profitieren. In einem Pilotprojekt bietet die Klubschule Migros in den Kurszentren Luzern, Sursee und Zug in Zusammenarbeit mit der SPV Veranstaltungen aus den Bereichen «Kultur & Kreativität» und «Bewegung & Gesundheit» an. Das Angebot ist eigentlich nichts Neues, waren doch die Kurse der Klubschule schon immer für alle offen, ganz nach dem Motto «Bildung für alle». Leider wurde das von den SPV-Mitgliedern bislang wenig bis gar nicht genutzt.
Weshalb wurden diese Angebote nicht in Anspruch genommen?
Vielleicht gab es von Seiten der Rollstuhlfahrerinnen Vorbehalte bezüglich der Zugänglichkeit der Infrastruktur. Da hätte
man jeweils nachfragen müssen. Bei den nun gemeinsam vorgestellten Angeboten ist sichergestellt, dass die Infrastruktur hindernisfrei zugänglich ist und die Kursleitenden entsprechend auf Teilnehmende aus unseren Rollstuhlclubs vorbereitet sind. Damit bauen wir Hemmschwellen und Hindernisse ab.
Das heisst, an den Kursen werden Fussgänger und Personen im Rollstuhl gemeinsam teilnehmen?
Ja genau. Mit diesem Projekt geht die SPV zusammen mit der Migros einen grossen Schritt in Richtung Inklusion im Sinne der Gleichstellung und Teilhabe an Freizeitund Kulturaktivitäten. Der Aufwand für vorgängige Abklärungen hinsichtlich Barrierefreiheit soll entfallen und die Teilnahme erleichtert werden. So können die Mitglieder der SPV ohne grossen Aufwand Kurse mit Gleichgesinnten und Personen mit gleichen Interessen besuchen. Beim Malen, Meditieren oder Singen spielt es
schliesslich keine Rolle, ob man auf einem Stuhl oder in einem Rollstuhl sitzt. Dank der Anmeldung über unseren Link weiss auch der Kursleitende, dass Teilnehmende im Rollstuhl kommen und kann sich dementsprechend vorbereiten.
Ihr startet mit einem Pilotversuch in der Zentralschweiz. Wie geht es danach weiter?
Ab 2024 sollen in allen Klubschulzentren der Migros integrative Angebote durchgeführt werden, sodass wir die ganze Schweiz abdecken können.
Bislang hat die SPV selber viele Kurse angeboten, ist das nun nicht mehr der Fall? Leider mussten wir in den letzten Jahren immer wieder Kurse mangels Teilnehmender annullieren. Um dieser Situation entgegenzuwirken, suchte mein Fachbereich «Breitensport – Freizeit – Gesundheit» nach Lösungen und fand diese in der Zusammenarbeit mit der Klubschule Migros. Aber natürlich werden wir auch in Zukunft rollstuhlspezifische Angebote und Anlässe, die einem Bedarf entsprechen, wie gewohnt und in bester Qualität planen und durchführen. Darunter sind zum Beispiel der Mobilitätskurs, in dem wir die Handhabung des Rollstuhls verbessern, Erste-Hilfe-Kurse oder Touren mit Handbikes oder Swincars, die speziell für Menschen im Rollstuhl konstruiert wurden. Auch Events wie die Tanznacht werden wir weiterhin anbieten. Damit wird der Austausch und die Vernetzung unter den Betroffenen gefördert und unterstützt. Darauf wollen wir nicht verzichten. Es braucht eben beide Angebote; inklusive und solche, die nur für Betroffe sind.
WIR BEWEGEN NACHGEFRAGT
Paracontact I Herbst 2023 11
Inklusiv etwas Neues lernen
Olivier De Vito und der Glücksfall Nottwil
Der 51-Jährige aus Lausanne verunfallte im Februar 2022 und lernt immer besser, mit der Tetraplegie zu leben. Dazu gehört auch der Umgang mit dem Rollstuhl.
Von Peter Birrer
Eine letzte Kurve noch, dann ist das Ziel erreicht und der Skitag an diesem 13. Februar 2022 zu Ende. Olivier De Vito kennt die Piste im Gebiet Les Portes du Soleil, ein Anfänger ist er gewiss nicht. Aber dann passiert das Unglück. Nach einem Ausweichmanöver stürzt er mehrere Meter den Hang hinunter, prallt gegen einen Baum und spürt danach weder Beine noch Arme. Nur eines realisiert er rasch: Es ist etwas Gravierendes geschehen.
Ein Rettungshelikopter bringt den Verunfallten nach Lausanne, im Universitätsspital folgt die Operation, bevor Olivier De Vito nach Nottwil verlegt wird. In kleinen Etappen muss er sich als inkompletter Tetraplegiker in der Rehabilitation an viel Neues gewöhnen, zum Beispiel: an den Rollstuhl, der ihn von nun an ständig begleiten und unterstützen wird.
Optimal betreut in Nottwil
Der 51-jährige Italiener ist seit vergangenem November zurück in Lausanne, der Stadt, in der er gross geworden ist. Etwas ausserhalb des Zentrums hat er eine Wohnung gefunden und damit einen neuen Rückzugsort in der Nähe seines sozialen Umfelds. Als er anfängt, über die Rehabilitation zu reden, sagt er zuerst: «Nottwil war für mich ein riesiger Glücksfall. Es ist ein unglaublicher Ort für Menschen mit einer Querschnittlähmung. Ich hätte mir keine bessere Betreuung vorstellen können.»
Im Schweizer Paraplegiker-Zentrum macht er dank vieler Therapien Fortschritte, und Mut machen ihm Menschen, deren Namen er nie vergessen wird: Lara Capoferri kümmert sich als Physiotherapeutin intensiv um ihn, Chiara Mele als Ergotherapeutin. Und in dieser Zeit lernt er auch Yann Avanthey kennen, der als Peer bei der SPV arbeitet und vornehmlich für Klientinnen sowie Klienten aus der Westschweiz zuständig ist.
Yann Avanthey stellt Olivier De Vito während seiner Zeit in Nottwil die Organisation SPV vor und listet ihm sämtliche Vorteile auf, die er als Mitglied hat – es sind nicht wenige. Das gibt dem Romand ein gutes Gefühl, ein Gefühl von Sicherheit auch, er spürt: «Während und auch nach
PEERBERATUNG
Yann Avanthey weiss, wovon er spicht.
der langen Reha wird niemand mit seinem Schicksal alleingelassen, die Patientinnen und Patienten werden sehr gut auf die Rückkehr in den Alltag vorbereitet.»
Er will auch selber Lösungen finden Wann immer er ein Anliegen hat, weiss er, dass er Yann Avanthey kontaktieren darf oder auch sonst jemanden von der SPV, sei es von der Peer- und Sozialberatung oder von der Rechtsabteilung. Alles in allem, sagt er, habe er Glück im Unglück gehabt, wenn er sehe, wie man sich um ihn kümmere.
Gleichwohl will er nicht wegen jeder Kleinigkeit den Support von Nottwil in Anspruch nehmen. «Ich bin überzeugt, dass es sich lohnt, selber die Initiative zu ergrei-
Frischverletzte haben unzählige Herausforderungen zu meistern. Wie finde ich mich sitzend in einer Welt von Fussgängern zurecht? All das habe ich auch durchlebt und weiss, wie es ist, im Gespräch ständig nach oben blicken zum müssen.
Wir Peerberater sprechen mit den Betroffenen auf Augenhöhe, im wahrsten Sinn des Wortes. Selbstzweifel haben da genauso Platz wie konkrete Tipps für den Alltag. Schreiben Sie uns: lb@spv.ch
12 Paracontact I Herbst 2023 LEBENSBERATUNG AUFGEHOBEN
fen und zu versuchen, Lösungen für gewisse Probleme zu finden», sagt er, «es tut der Moral gut, wenn man sieht, dass man mit seinem Kampf vorankommt.»
Als Olivier De Vito das SPZ verlässt, tut er das als Besitzer eines Führerscheins. Während der Rehabilitation erhielt er die Chance, in einem auf seine Bedürfnisse angepassten Auto acht Fahrstunden zu absolvieren. Am Ende absolvierte er in Luzern die praktische Prüfung mit Erfolg.
Autoprüfung während der Reha
Ein umgebautes Auto hat er bislang nicht angeschafft. Zuerst will er abwarten, wie sich seine körperliche Verfassung entwickelt. Aktuell kommt er gut ohne eigenes
Gefährt zurecht, für Ausflüge wird er stets abgeholt. So oder so ist er aber froh, dass er überhaupt wieder die Option hat, selber Auto zu fahren. «Als ich das erste Mal wieder am Steuer sass, war das ein geniales Gefühl», sagt er, «fast noch besser als vorher. Es fühlte sich nach Freiheit an.»
Zentral für Frischverletzte ist, natürlich, der Rollstuhl. Yann Avanthey redet als Betroffener aus Erfahrung, wenn er sagt: «Der Rollstuhl ersetzt meine Beine, er gibt mir
ein grosses Stück Unabhängigkeit zurück. Ich kann mich mit Freunden treffen, Sport machen und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Hätte ich ihn nicht, wäre ich ständig daheim eingesperrt.»
Olivier De Vito benötigt noch etwas Geduld und gewöhnt sich nach wie vor an den Rollstuhl, der nach dem verhängnisvollen Unfall sein neues Fortbewegungsmittel ist. Inzwischen findet er sich ganz ordentlich damit zurecht. «Wir haben uns kontinuierlich angenähert», sagt er. Nach einer Anfangsphase mit dem elektrischen Rollstuhl stieg er auf einen manuellen um, was ihn dazu zwingt, die Arme einzusetzen und damit etwas für die körperliche Verfassung zu tun. «So verhindere ich, dass ich passiv und bequem werde», sagt Olivier De Vito. Nur für Spaziergänge setzt er gelegentlich auf Unterstützung, spannt den Swiss-Trac vor den Rollstuhl und geniesst es, am Ufer des Genfersees unterwegs zu sein.
Der grosse Wert des Rollstuhls Fakt ist, dass der Rollstuhl ein wichtiger Bestandteil einer für Olivier «komplett neuen Welt» geworden ist. Bis zu seinem Unfall hat er sich mit dem Thema Querschnitt-
lähmung nicht auseinandergesetzt, dem Immobilienverwalter und Barbesitzer sind in Lausanne auch kaum Menschen im Rollstuhl aufgefallen.
Und jetzt ist der Rollstuhl auf einmal ein unersetzliches Hilfsmittel. «Eines habe ich ziemlich schnell begriffen: Ich habe gar keine Wahl. Darum stellte ich mir nie tausende Fragen», sagt er, schiebt aber eines nach: «Das Schicksal akzeptiere ich nicht, doch ich lerne, damit zu leben und bemühe mich, das Ganze positiv anzupacken.»
So schwierig die Situation für ihn ist: Es sind Qualitäten zum Vorschein gekommen, von denen er gar nicht wusste, dass sie in ihm schlummern. Dank eisernem Willen erzielt er laufend Fortschritte, manchmal zwar nur Fortschrittchen, von denen jedes einzelne ihm aber einen Motivationsschub gibt.
Seine Nächsten sind immer für ihn da Sich hängen lassen, das kam zudem wegen seines Umfelds nicht infrage. Er fühlt sich verantwortlich gegenüber seinen zwei mittlerweile erwachsenen Kindern, seiner Partnerin, die ihn immer unterstützt hat, den Freunden, die für ihn da sind – seine Fussballkollegen, mit denen er jährlich für ein paar Tage ins Ausland reiste, verbrachten während Oliviers Reha ein Wochenende in Nottwil statt irgendwo in einer europäischen Stadt. Seine Partnerin hilft ihm durch ihre positive Einstellung, trotz der grossen Veränderung für beide nach vorne zu schauen und Pläne für die Zukunft zu schmieden. Und: Er hat seine Mutter Concetta, die mehrmals wöchentlich für ihn kocht und im Haushalt hilft.
Jahrzehntelang war der Sport für Olivier De Vito ein bedeutender Faktor im Alltag, der Fan von Juventus Turin spielte Fussball und fuhr Ski. Dass er das nicht mehr kann, hat ihn zunächst arg frustriert. Aber mittlerweile ist die Verarbeitung weit gediehen. Nur ein kleines Problem hat Olivier De Vito: Er hat zugenommen und möchte das eine oder andere Kilo loswerden. «Die Sache ist, dass meine Mutter einfach so gut kocht. Da kann ich nicht widerstehen», sagt er.
Paracontact I Herbst 2023 13
Eingespielt Olivier De Vito und Mutter Concetta
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AUTOFAHREN
Freie Fahrt
Für die meisten Menschen ist Mobilität ein wichtiges Thema. Erst recht, wenn sich die Fortbewegung durch eine eingeschränkte Gehfähigkeit erschwert.
Von Beat Bösch
Dank des Autos sind Menschen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, unabhängig und selbstständig mobil. Doch wie gelangt man zur Fahrerlaubnis?
Führerschein
Damit eine Person mit eingeschränkter Gehfähigkeit den Führerausweis (wieder) erlangen kann, muss sie bestimmten Vorgaben folgen. Das gilt sowohl für Neulenker mit einer Behinderung, die Auto fahren
lernen möchten als auch für Personen, die bereits vor ihrem Unfall oder ihrer Erkrankung in Besitz des Billets waren. Ein Arztzeugnis bestätigt die Fahrtüchtigkeit. Eine technische Motorisierungsabklärung legt fest, ob und wie ein Fahrzeug umgebaut werden muss. Mit Hilfe dieser Unterlagen legt das zuständige Strassenverkehrsamt die Auflagen für den Lernfahrausweis bzw. für das Wiedererlangen des Führerausweises fest.
Ablauf zum (Wieder)-Erlangen des Führerausweises mit Auflagen
Neulenker Offizielles Antragsformular vom Strassenverkehrsamt des Wohnkantons
Ausweisinhaber Gesundheitliche Änderungen sind beim StvA meldepfichtig
Fahrzeugumbau
Die technische Motorisierungsabklärung prüft die Fahrtüchtigkeit. Das zuständige Strassenverkehrsamt oder ein Fahrzeugumbauer testet die Anwärterin, ob sie das Gaspedal bedienen kann und ob sie fähig ist, in Kurven die Geschwindigkeit anzupassen. Getestet wird auch, ob die Person das Lenkrad bedienen kann und die Kraft in den Beinen für die Betätigung der Bremspedale ausreicht. Zusätzlich geprüft werden die Reaktionszeit, das Blickfeld und die Fähigkeit, visuelle Reize zu verarbeiten.
Arztzeugnis
Bestätigt die medizinische Fahrtauglichkeit Ist durch einen spezialisierten Arzt (Stufe 3) auszufüllen
Technische Motorisierungsabklärung Wird durch den Fahrzeugumbauer oder das zuständige Strassenverkehrsamt durchgeführt
Antragsformular/Kopie Führerschein Wird durch Antragsteller organisiert
Meldung an das Strassenverkehrsamt Die oben erwähnten Dokumente an das zuständige Strassenverkehrsamt senden
Personenbezogen Fahrzeugbezogen
Behördliche Auflagen Werden schriftlich durch das Strassenverkehrsamt erteilt
Lernfahrausweis/Fahrerlaubnis
Die Auflagen sind in Form von Codes und Text eingetragen
Lern-/Übungsfahrten
Lern- und oder Übungsfahrten sind nur mit Fahrlehrer oder Ausbildner erlaubt
Führerprüfung/Kontrollfahrt
Prüfung wird durch das StvA durchgeführt
Führerausweis mit Auflagen
Wichtig Die IV-Stelle benötigt eine Umbauofferte (Sofern Antragstellerin berechtigt ist)
Die Fachkräfte bewerten die koordinativen Fähigkeiten und geben eine Einschätzung ab. Zugleich dürfen die Betroffenen während dieses Termins auch verschiedene Fahrzeuganpassungen ausprobieren, etwa Bedienungshebel am Lenkrad oder Anpassungen, die ein leichteres Greifen des Lenkrads ermöglichen.
Fahrstunden
Falls das Strassenverkehrsamt für die Bewilligung eines Umbaus Lernfahrten mit einem Fahrlehrer oder eine Kontrollfahrt vorschreibt, übernimmt die IV die Kosten als Gebrauchstraining.
Umbauauflagen Sicherheitsrelevante Auflagen werden verfügt
Fahrzeuganpassung Anpassungen müssen den Auflagen, Gesetzen und Richtlinien entsprechen
Fahrzeugprüfung
In beiden Dokumenten erfolgen die entsprechenden Einträge
Findet in der Regel im Beisein der betroffenen Person statt. Es erfolgt ein Eintrag im Fahrzeugausweis.
Fahrzeugausweis mit eingetragenen Umbauten
Hat eine versicherte Person, die neu einen Führerschein erwerben möchte, invaliditätsbedingt Anspruch auf einen Fahrzeugumbau, werden die invaliditätsbedingten Mehrkosten für Fahrunterricht übernommen, wenn die Anzahl Fahrstunden den Schweizer Durchschnitt von 32 Lektionen überschreitet.
Uneingeschränkt mobil Infobroschüre auf www.tcs.ch
Paracontact I Herbst 2023 15 LEBENSBERATUNG
Gestärkte Rechte für Versicherte
Das Versicherungsvertragsgesetz wurde teilrevidiert. Wir geben einen kurzen Überblick über die wichtigsten
Von Mirjam Schneider, MLaw, Rechtsanwältin
Änderungen.
Am 1. Januar 2022 ist das teilrevidierte Versicherungsvertragsgesetz (VVG) in Kraft getreten. Die Zeit für die Teilrevision war mehr als reif, denn das bestehende VVG trat vor mehr als 100 Jahren am 1. Januar 1910 in Kraft. Selbstredend genügte es den heutigen Ansprüchen nicht mehr gänzlich und musste deshalb dringend revidiert werden.
Den meisten Schweizerinnen und Schweizern dürfte das VVG höchstens oberflächlich ein Begriff sein, obwohl die Mehrzahl
Verträge
Versicherungen
von ihnen schon mindestens einmal einen Vertrag nach VVG abgeschlossen hat. Als Beispiele für private Versicherungen nach VVG seien die Privat- und Betriebshaftpflicht-, die Lebens-, die Rechtsschutz- sowie die Krankenkassenzusatzversicherung genannt.
Die Teilrevision per 1. Januar 2022
Das Ziel der VVG-Revision war die Stärkung der Rechte der Versicherten und die Anpassung des VVG an das digitale Zeitalter.
Mit der Teilrevision des VVG wurde unter anderem ein Widerrufsrecht von 14 Tagen für die Versicherungsnehmenden eingeführt. Dies bedeutet, dass Versicherte neu eine Bedenkfrist von zwei Wochen haben, während der sie ohne weitere Verpflichtungen aus dem Vertrag zurücktreten können.
Des Weiteren wurde die Verjährungsfrist für Forderungen aus VVG-Verträgen von zwei auf fünf Jahre verlängert. Forderungen können demzufolge neu bis fünf Jahre nach Eintritt des Schadensfalls geltend gemacht werden. Eine Ausnahme bleibt hierbei die kollektive Krankentaggeldversicherung. Forderungen aus dieser Versicherung verjähren wie bis anhin nach zwei Jahren.
Die Teilrevision des VVG führt nebst der Stärkung der Versichertenrechte auch zu einer Erleichterung des elektronischen Geschäftsverkehrs. So ist bei Erklärungen und Informationen im Zusammenhang mit dem Versicherungsvertrag neu gestützt auf das teilrevidierte Gesetz keine Unterschrift mehr erforderlich. Konkret ist unter anderem die Kündigungserklärung auch per E-Mail möglich.
Direktes Forderungsrecht für alle Haftpflichtversicherungen
Die Einführung eines allgemeinen direkten Forderungsrechts für die Geschädigten gegenüber den Haftpflichtversicherungen war eine der wesentlichen Forderungen des Konsumentenschutzes und wird aktuell in der Lehre aufgrund ihrer grossen
16 Paracontact I Herbst 2023 RECHTSBERATUNG
VERSICHERUNGSRECHT
Tragweite am meisten beachtet. Die nachfolgenden Ausführungen zur Haftpflichtversicherung im Allgemeinen sollen zum besseren Verständnis der Bedeutung des direkten Forderungsrechts dienen.
Wer einer anderen Person einen Schaden zufügt, ist grundsätzlich verpflichtet, diesen wiedergutzumachen. Die möglichen Schäden reichen dabei vom Wert einer zerbrochenen Blumenvase in der Höhe von CHF 50.– bis zu einem Körperschaden in Millionenhöhe. Die meisten Personen in der Schweiz, etwa 90%, haben eine Privathaftpflichtversicherung abgeschlossen, welche diese Kosten grundsätzlich übernimmt. Dies mit gutem Grund: Die Privathaftpflichtversicherung kann einen vor einem enormen finanziellen Verlust, gar vor dem finanziellen Ruin, bewahren. Denn der Schadensverursacher haftet selbst nicht nur mit dem aktuellen, sondern auch mit dem zukünftigen Einkommen und Vermögen. Es ist deshalb durchaus möglich, dass über Jahre hinweg jeden Monat ein Teil des Lohnes für den Ersatz des zugefügten Schadens abgezogen wird. Der Abschluss einer Haftpflichtversicherung sei deshalb auch an dieser Stelle unbedingt empfohlen, sollte die Leserin oder der Leser noch über keine solche verfügen.
Vor der hier thematisierten Teilrevision des VVG gab es kein allgemeines direktes Forderungsrecht für Versicherungsverträge. Bekannt war das Institut vor allem aus dem Strassenverkehrsgesetz, welches das direkte Forderungsrecht bereits zuvor für die Motorfahrzeug-Haftpflichtversicherung kannte. Seit der Teilrevision besteht das direkte Forderungsrecht nun für sämtliche Haftpflichtversicherungen.
Das direkte Forderungsrecht erlaubt es der geschädigten Person, ihre Ansprüche direkt bei der Haftpflichtversicherung des Schädigers geltend zu machen. Wenn die versicherte Person beispielsweise die erwähnte Blumenvase ihres Nachbars beschädigt, kann dieser seinen Anspruch neu direkt bei der Versicherung des Schädigers geltend machen. Vor der Teilrevision war er hingegen gezwungen, den Schaden beim Schädiger selbst geltend zu machen, worauf sich dieser wiederum an seine Haft-
pflichtversicherung wenden konnte. Dies konnte für die geschädigte Person einen äusserst mühsamen und langwierigen Vorgang darstellen. Denn sie war nach erfolgter Konfrontation des Schädigers mit dem entstandenen Schaden auf dessen Kooperation angewiesen. Weigerte sich dieser, den Schaden anzuerkennen und bei seiner Haftpflichtversicherung anzumelden, blieb ihr einzig die Möglichkeit, gegen den Schädiger den oftmals beschwerlichen Rechtsweg einzuschlagen.
Das direkte Forderungsrecht hingegen bedeutet eine erhebliche Verbesserung für die geschädigte Person. Diese kann nun direkt an die Haftpflichtversicherung der schädigenden Person gelangen. Falls notwendig können Geschädigte zudem direkt die Haftpflichtversicherung einklagen. Künftig ist es deshalb nicht mehr nötig, sich widersetzende Schädiger dazu zu bringen, den Schadenfall überhaupt erst bei ihrer Versicherung anzumelden.
Das direkte Forderungsrecht ist ausserdem besonders relevant bei schädigenden Personen, die über keine oder nur über ungenügende finanzielle Mittel verfügen. Dies kann vor allem bei Konstellationen mit grossem Schaden, beispielsweise bei dauerhafter Invalidität oder Tod einer Versorgerin oder eines Versorgers, rasch der Fall sein. Neu kann die geschädigte Person direkt an die Haftpflichtversicherung gelangen, ohne zuerst gegenüber dem Schädiger ein betreibungsrechtliches Verfahren mit anschliessender Abtretung der Forderung gegenüber der Versicherung durchzuführen.
Das direkte Forderungsrecht ist folglich eine deutliche Entlastung für geschädigte Personen. Nicht unerwähnt bleiben soll an dieser Stelle jedoch, dass auch Schädiger von dessen Einführung profitieren können. So sind sie durch das direkte Forderungsrecht nicht mehr das unmittelbare Ziel der Geschädigten, weil der Schaden direkt zwischen geschädigter Person und der Haftpflichtversicherung reguliert wird. Wenn sich die geschädigte Person und Versicherung nicht einigen können, muss nun nicht mehr der Schädiger eingeklagt werden.
Übergangsrecht
Nach erfolgter Lektüre zu den revidierten Bestimmungen drängt sich die Frage auf, ob diese für bereits bestehende, allenfalls bereits vor längerer Zeit abgeschlossene Versicherungsverträge Gültigkeit haben. Die VVG-Revision gilt für alle Verträge, die ab dem 1. Januar 2022 abgeschlossen oder angepasst wurden. Die Bestimmungen zur digitalen Kommunikation und zum gesetzlichen Kündigungsrecht gelten auch für bestehende Verträge. Wenn Ihr Vertrag vor dem 1. Januar 2022 abgeschlossen und seither nicht mehr angepasst wurde, gelten für diesen die revidierten Bestimmungen mit Ausnahme der erwähnten Ausnahmen grundsätzlich nicht.
VERSICHERUNGSVERTRÄGE Verbesserung
Die Teilrevision hat die Stellung der Versicherten massgeblich verbessert und die Kommunikation zwischen der Versicherung und ihrer Versicherten deutlich vereinfacht. Dennoch wird das VVG für viele Versicherte wohl ein komplexes Feld bleiben, zumal sich durch die Teilrevision nichts an den in der Regel langen, sprachlich ungewohnten und dadurch schwer verständlichen allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) ändert.
Es wird deshalb auch inskünftig zu empfehlen sein, sich bei konkreten Fragen und Problemen im Zusammenhang mit Versicherungsverträgen juristisch beraten zu lassen.
Das Team des Instituts für Rechtsberatung (IRB) der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung steht Ihnen dabei gerne zur Verfügung.
Informationen Telefon 032 322 12 33 lex@spv.ch Paracontact I Herbst 2023 17
Forschung mitten im Alltag
Eine neue Studie untersucht die Druckentlastung im Alltag – dank Sensoren unter dem Sitzkissen. Ursina Arnet, Leiterin der Gruppe Schultergesundheit und Mobilität an der Schweizer Paraplegiker-Forschung, führt die Studie durch.
Von Johannes Kinast, Verantwortlicher Kommunikation Schweizer Paraplegiker-Forschung
Ursina, du startest schon bald eine neue Studie. Kannst du uns etwas darüber erzählen?
Unsere Studie untersucht den Zusammenhang zwischen der alltäglichen Druckentlastung im Rollstuhl und dem Auftreten von Druckstellen und Schulterbeschwerden bei Menschen mit Querschnittlähmung. Wir arbeiten dabei eng mit allen vier Schweizer Paraplegiker-Zentren zusammen.
Bei welchem Problem setzt die Studie an?
Druckstellen und Schulterbeschwerden sind zwei häufige Komplikationen bei Personen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Sie stellen für Betroffene eine erhebliche Belastung dar und verursachen hohe Kosten für das Gesundheitswesen und die Gesellschaft. Um Druckstellen zu vermeiden, gelten regelmässige Entlastungsübungen als wirksame Massnahme. Doch gewisse Techniken zur Druckentlastung stehen im Verdacht, Schulterschmerzen zu verursachen. Immer mehr Fachpersonen empfehlen deshalb zum Beispiel, den Entlastungsstütz zu reduzieren und stattdessen den Oberkörper für kurze Zeit nach vorne zu beugen oder zur Seite zu lehnen. Doch welche Entlastungstechniken tatsächlich welche Auswirkungen haben, da-
zu fehlen noch fundierte Erkenntnisse. Ein Grund dafür ist, dass wir gar nicht wissen, wie oft und auf welche Weise Personen im Rollstuhl ihre alltäglichen Entlastungsübungen durchführen. Die meisten vorhandenen Studien basieren entweder auf experimentellen Studien im Bewegungslabor oder ausschliesslich auf den eigenen Angaben von Studienteilnehmenden. Doch wir wissen aus anderen Forschungsprojekten, wie schwierig es ist, die eigene Druckentlastung genau zu quantifizieren. Unsere Erkenntnisse aus dem Bewegungslabor sind zwar präzise, aber die Ergebnisse sollen jetzt auch im sogenannten «reallife setting» erfasst werden. Das heisst, wir sammeln die Daten nun auch in der Alltagssituation von querschnittgelähmten Menschen und erfassen über den gesamten Tag alle Aktivitäten des täglichen Lebens und die Druckentlastung im Rollstuhl.
Welche Bedeutung hat die Studie für Menschen mit Querschnittlähmung?
Unsere Studie soll Einblicke in den Alltag ermöglichen. Wir möchten Erkenntnisse darüber erhalten, wie sich Entlastungsübungen tatsächlich auf Schulterschmerzen und Druckstellen auswirken. So können wir fundierte wissenschaftliche Empfehlungen zur Erhaltung und Verbesserung
der Gesundheit im Alltag von Betroffenen entwickeln. Die Vermeidung von weiteren zusätzlichen Gesundheitsproblemen nach einer Querschnittlähmung ist ein zentrales Anliegen unserer Forschung.
Wie wird die Studie durchgeführt?
Ab Anfang 2024 werden wir 70 Personen mit Querschnittlähmung über einen Zeitraum von einem Jahr beobachten. Mit Hilfe von neuartigen Messmatten mit speziellen Sensoren messen wir die Art und Dauer der Druckentlastung im Alltag. Ausserdem sehen wir uns an, welche Studienteilnehmenden im Beobachtungszeitraum Druckstellen und/oder Schulterschmerzen entwickeln. Die Teilnehmenden für diese Studie werden wir über das SwiSCI Study Center rekrutieren. Wir sind aber froh um viele weitere Interessierte, denn unser Ziel von 70 Teilnehmenden ist ambitioniert. Je mehr Personen an der Studie teilnehmen, desto besser ist die Datenlage und die Evidenz. Interessierte dürfen sich gerne bei mir melden: ursina.arnet@paraplegie.ch.
Was ist das für eine neuartige Technologie?
Die Messmatten ermöglichen es uns, zu sehen, wie die Studienteilnehmenden im Alltag tatsächlich die Druckentlastung im Rollstuhl durchführen. Die flexiblen Messmatten beinhalten Drucksensoren und werden unter dem eigenen Sitzkissen platziert.
MEDIZIN UND WISSENSCHAFT HILFSMITTEL
18 Paracontact I Herbst 2023
Die Messmatten lernen und speichern das individuelle Bewegungsmuster und erkennen so, welche Art der Druckentlastung die jeweilige Person durchführt. Die Messmatten wurden ursprünglich an der ETH Zürich entwickelt, um Rollstuhlfahrer an die Ausführung der Druckentlastung zu erinnern. Nun wurde die Hard- und Software speziell für unsere Studie angepasst.
In früheren Studien hat sich eure Forschungsgruppe vor allem auf detaillierte Messungen im Labor spezialisiert. Die neue Studie hat nun einen anderen Fokus, nämlich die Messung von Bewegungsverhalten im Alltag. Wie kommt ihr zu diesem Wechsel?
Das stimmt, in unseren bisherigen Studien haben wir uns vor allem mit der Anatomie der Schulterbelastung beschäftigt. Um diese mittels mathematischen Muskel-Knochen-Modellen zu berechnen, ist eine präzise Erfassung der Bewegungen und Kraftanwendung der Versuchspersonen unter Laborbedingungen nötig. So konnten wir zum Beispiel die akute Schulterbelastung im Rollstuhl und im Handbike vergleichen. Wir haben uns auch bestimmte Einstellungen der Fortbewegungsmittel angesehen, beispielsweise die Neigung der Rückenlehne oder die Kurbelposition beim Handbike. Auch die Auswirkungen der Ermüdung durch das Rollstuhlfahren haben wir untersucht. So haben wir wichtige Erkenntnisse über die Schulterbelastung in unterschiedlichen Situationen erhalten.
Diese Belastung erhöht theoretisch das Risiko für Schulterschmerzen – aber ob sie im täglichen Leben wirklich zu Schmerzen führt, das wissen wir noch nicht. Deshalb ist es wichtig, zu erfassen, was die Personen im Alltag machen, denn dort entstehen die Schulterbeschwerden. Dafür benötigen wir andere Messmethoden als zuvor: Wir nutzen vermehrt Wearables, also tragbare, alltagstaugliche Sensoren, wie zum Beispiel die genannte Messmatte oder Beschleunigungssensoren, die am Rollstuhl befestigt oder am Handgelenk getragen werden.
Bringen solche Wearables auch etwas für die Betroffenen?
Ja. Einerseits geben sie Einblicke in eigene Fitnessaktivitäten und die eigene Gesundheit. Andererseits sind sie für medizinische Konsultationen interessant. Sie ermöglichen es Gesundheitsfachpersonen, fundierte Entscheidungen auf Grundlage von
Daten aus dem Alltag zu treffen. Es besteht auch die Möglichkeit, automatisiert Feedback an den behandelnden Arzt zu geben. Zudem können gewisse Wearables die Unabhängigkeit und Sicherheit im Rollstuhl erhöhen: Sie erkennen Stürze oder Unfälle und senden automatische Notrufe, falls man nicht mehr selbst reagieren kann.
Was können Wearables noch nicht?
Aktuell gibt es noch nicht viele geeignete kommerzielle Tools für Menschen im Rollstuhl. Doch die Technologie und die damit verbundene Forschung entwickeln sich schnell weiter und wir wollen unsere Erkenntnisse so schnell wie möglich für Betroffene nutzbar machen.
In einem weiteren laufenden Projekt entwickeln und validieren wir Algorithmen, die verschiedene Alltagsaktivitäten erkennen können. Mit einem Sensor am Rad des Rollstuhls können wir in Zukunft neben der täglichen Distanz und Geschwindigkeit auch erfassen, wie viele Antriebstösse dazu notwendig waren und wie viele Drehungen gemacht wurden. Mit einem zusätzlichen Sensor am Handgelenk können Aktivitäten wie Transfers, Heben von Lasten oder Druckentlastung erkannt werden. Von diesen Aktivitäten werden wir dann ein Belastungsprofil der Schulter ableiten können. Dieses Profil erlaubt uns Rückschlüsse auf Risikofaktoren für Schulterbeschwerden im Alltag.
Paracontact I Herbst 2023 19
Informationen über Wearables für Menschen im Rollstuhl
Ursina Arnet präpariert einen Rollstuhl mit der Messmatte
Entlastungsübungen helfen, Druckstellen zu verhindern
Geschichte ohne Hindernisse
Archäologische Fundstätten sind nicht nur Orte des historischen Erbes, sondern dienen auch als Austragungsorte für Messen, Märkte und Events. Doch sind diese für alle zugänglich?
Ausgrabungen sind voller Hindernisse. Und so meist auch Veranstaltungen, die in historischen Stätten stattfinden. Zeugen unserer Geschichte sollten jedoch für alle Interessierten erreichbar sein. Einmal mehr ist es wichtig, für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung einzustehen und Institutionen entsprechend zu sensibilisieren. Wie ein vielfältiges und inklusives Kulturerlebnis entstehen kann, zeigt das Beispiel der Römerstadt Augusta Raurica in Augst BL.
Das ZHB in Augusta Raurica
Am 14. Juni 2023 durften wir vom Zentrum für hindernisfreies Bauen (ZHB) zusammen mit Cynthia Dunning von ArchaeoConcept und Jessica Meier, Projektleiterin Inklusion von Augusta Raurica die Anlage besuchen. ZHB-Mitarbeiter Micha Wäfler gab seine Eindrücke als Direktbetroffener direkt an die Verantwortlichen weiter. Aus dem Austausch ergaben sich wichtige Hinweise für die Betreiber von archäologischen Fundstätten und Veranstaltungen:
– Hindernisfreie Parkplatzsituation inklusive Zahlstellen für Veranstaltungen
– Berücksichtigung von Steigungen und topografischen Gegebenheiten der Anlage und Wahl der richtigen rollstuhlgängigen Beläge
– Kommunikation und Information vor Ort mit Piktogrammen und Zugangshilfen
– Zugänglichkeit von Gebäuden wie Museen und temporären Bühnen
– Detailgestaltung von Ausstellungsinformationen mit Zugänglichkeit zu Modellen und Aussichtsplattformen
– Zugang für Menschen mit Behinderung zu Toilettenanlagen und Cafeterias
– Sensibilisierung von Veranstaltern und Mitarbeitenden
– Integration neuer Technologien für verbesserte Zugänglichkeit
– Kooperation zwischen Archäologen, Veranstaltern und Interessengruppen
Römisches Spektakel
Augusta Raurica ist eine der bedeutendsten römische Fundstätten der Schweiz. Dieses reiche Erbe wird von zahlreichen Veranstaltungen begleitet. Am 26. und 27. August 2023 findet das Römerfest statt. Das schweizweit grösste Fest seiner Art lockt jährlich zahlreiche Besuchende von nah und fern an. Für die diesjährige Austragung haben sich die Verantwortlichen mit dem Behindertenforum Basel für einen
20 Paracontact I Herbst 2023 HINDERNISFREIES BAUEN
ZUGÄNGLICHKEIT
Von Felix Schärer und Micha Wäfler
Das Amphitheater von Augusta Raurica
Zugang zu archäologischen Fundstellen
Von Dr. Cynthia Dunning, ArchaeoConcept
Sie interessieren sich für Geschichte, Archäologie und für die Vergangenheit der Menschheit? In der Schweiz sind über 300 archäologische Fundstellen öffentlich. Jedoch sind längst nicht alle Ausgrabungsstätten für die breite Allgemeinheit zugänglich. Besonders für Menschen mit Behinderung und ältere Personen sind die Orte oft schwierig oder gar nicht zu erreichen.
Das Unternehmen ArchaeoConcept befasst sich mit der Umsetzung archäologischer Projekte und verfolgt das Ziel, einen Leitfaden zu entwickeln, der die Zugänglichkeit zu archäologischen Fundstellen verbessert. Als Basis dienen bisherige Erfahrungen in den Bereichen Tourismus und Kultur in der Schweiz und im nahen Ausland.
Sensibilisieren
Das Unternehmen beabsichtigt, das Bewusstsein für Barrierefreiheit bei den verantwortlichen Institutionen und Personen zu stärken. ArchaeoConcept fördert dabei die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Akteuren in den Bereichen Tourismus, Kultur- und Naturerlebnisse sowie den Behindertennetzwerken.
Die Arbeit begann mit der Kontaktaufnahme mit zahlreichen Partnern. Die Diskussionen halfen, um die Bedürfnisse aller Beteiligten zu definieren. Diese Diskussionen bilden die Grundlage für eine Dokumentation und Schulungen, die wir den Verantwortlichen archäologischer Stätten anbieten. Positive Beispiele aus der Schweiz und anderen Ländern zeigen auf, wie Barrierefreiheit an archäologischen Ausgrabungsstätten realisiert werden kann.
Pilotprojekte
Diese guten Beispiele beziehen sich nicht nur auf die Sicherstellung der notwendigen Infrastruktur, sondern auch auf den Inhalt und die Form der Informationen, die man dem Publikum vermitteln möchte. Die Kommunikation ist ein wesentliches Element der Zugänglichkeit und muss angepasst werden, um einer Vielzahl von Menschen einen möglichst selbstständigen Zugang zu archäologischen Stätten zu ermöglichen. Ein grosser Teil der Überlegungen konzentriert sich darauf, wie man Menschen sensibilisieren und ausbilden kann, um Menschen mit einer Behinderung auf möglichst angemessene Weise empfangen zu können.
Schliesslich sollen in Zusammenarbeit mit den achäologichen Diensten, mit verschiedenen Behindertenverbänden und Institutionen Pilotprojekte an archäologischen Fundstätten entstehen. So nehmen wir uns ein Beispiel an Augusta Raurica oder dem Park und Museum des Laténiums in Neuenburg. Beide Orte nehmen im Hinblick auf den hindernisfreien Zugang eine Vorreiterrolle ein. Wir hoffen, dass bald weitere Ausgrabungsstätten in allen Landesteilen dazukommen.
Mehr erfahren
www.archaeoconcept.com
barrierefreien Testlauf getroffen – mit Erfolg. Es entstand ein wertvoller und angeregter Austausch mit Anpassungen für die Austragung 2023. Auf dem Gelände werden erreichbare, funktionale und vor allem zahlreiche Behindertentoiletten aufgestellt. Die Hauptattraktionen werden auf zugänglicheres Gelände verschoben und auch ein Podest für Rollstuhlfahrerinnen installiert. Zudem werden die Spektakel in Gebärdensprache übersetzt.
Ausgrabungen
Während beim Römerfest das Spektakel im Vordergrund steht, dreht sich am Tag der Archäologie alles um die aktuellen Ausgrabungen. Archäologinnen berichten am
Ausgrabungsort, welche historischen Hinterlassenschaften gefunden wurden. Natürlich ist es schwierig, Ausgrabungsstätten hindernisfrei zugänglich zu machen. Denn an solchen Orten wird in natürlichem Umfeld gegraben, es werden Mauern und Gegenstände freigelegt. Dennoch sollte auch bei solchen Veranstaltungen das Ziel sein, dass alle Interessierten daran teilnehmen können.
Die Schaffung von barrierefreien Veranstaltungen in archäologischen Fundstätten und Parks ist von entscheidender Bedeutung, um eine inklusive Gesellschaft zu fördern und allen Besuchenden die Teilhabe am kulturellen Erbe zu ermöglichen.
Die Beispiele aus Augusta Raurica und das Projekt von ArchaeoConcept (siehe Kasten) zeigen, wie Zusammenarbeit mit Behindertenorganisationen, Sensibilisierung und die Berücksichtigung konkreter Punkte wie Parkplatzsituation, Zugänglichkeit von Wegen, Kommunikation und Einrichtungen für Menschen mit Behinderung eine erfolgreiche Umsetzung ermöglichen. Trotz Herausforderungen sind Fortschritte möglich, wenn Betreiber, Veranstalter und Interessengruppen gemeinsam an der Schaffung barrierefreier Veranstaltungen arbeiten und die Bedeutung der Zugänglichkeit in den Vordergrund stellen.
Paracontact I Herbst 2023 21
PARAREISEN
Machen Sie Ferien mit uns!
Wir nehmen Sie mit auf Safari, an Traumstrände, in Naturparadiese und hippe Städte.
Von
Nadja Venetz
Sie streifen gern durch europäische Städte? Oder liegen Sie lieber am Strand und hören das Meer rauschen? Mögen Sie ferne Länder oder schätzen Sie es, wenn immer etwas läuft? Eines garantieren wir Ihnen: Unser Ferienkatalog «ParaReisen 2024» bedient alle Interessen.
Ein paar Neuerungen haben wir uns ausgedacht. So bieten wir neu 2024 auch Wochen-
endtrips an und mehr Aktivferien sowie Reisen für jüngere Mitglieder.
Gönnen Sie sich eine Auszeit vom Alltag. Unsere Reisen sind ab dem 5. November 2023 online buchbar. Haben Sie Fragen zu einer bestimmten Reise? Wir sind gerne für Sie da.
Kontakt reisen@spv.ch
DESTINATIONEN 2024
Aktivferien für alle Mitglieder Festival Greenfield 13.–16.6.2024
Lausanne Sommerplausch 20.–27.7.2024
Swiss-Trac Südeifel 15.–22.9.2024
Mallorca aktiv 21.–28.9.2024
Rundreise für alle Mitglieder
Südafrika 2.–16.11.2024
Regionenreisen für alle Mitglieder
Toskana 6.–13.4.2024
Korsika 8.–15.6.2024
Städtereisen für alle Mitglieder
Dublin 23.–26.5.2024
Lissabon 17.–20.10.2024
Weihnachtsmarkt
Budapest 5.–8.12.2024
Badeferien für alle Mitglieder Ägypten 16.–23.3.2024
Badeferien für Mitglieder mit Tetraplegie
Teneriff a 2.–9.3.2024
Mallorca U30 6.–13.7.2024
Grado 7.–14.9.2024
Regionenreisen für Mitglieder mit Tetraplegie
15.–22.6.2024
Städtereisen für Mitglieder mit Tetraplegie
* Anmeldung mit fi xer Betreuungsperson
Paracontact I Sommer 2023
Kreta
5.–12.10.2024
Gardasee
Mittelrhein
Schweden
Spezialwoche Lobbach*
18.–25.5.2024
1.–8.6.2024
10.–17.8.2024
Lyon
25.–28.4.2024 München 29.8.–1.9.2024
22 Paracontact I Herbst 2023 FREIZEIT
RUNDREISE SÜDAFRIKA
Für alle Mitglieder
Bestimmt stockt Ihnen der Atem, wenn eine Elefantenherde nahezu lautlos die Naturstrasse überquert oder Sie eine Löwenfamilie beim Mittagsschlaf entdecken.
Löwen, Nashörner, Elefanten, Leoparden und Büffel bilden die sogenannten Big Five, die grossen fünf Säugetiere. Südafrika beheimatet aber noch eine viel grössere Artenvielfalt. Über 200 Säugetierarten, nahezu 2000 Fischarten, über 800 verschiedene Vögel und unzählige Reptilien und Insekten sind hier zu Hause. Damit dieser Schatz erhalten bleibt, gibt es 21 Nationalparks und zahlreiche Schutzgebiete.
Einer der bekanntesten Parks ist der Krüger Nationalpark. Über mehrere Tage streifen wir mit den Geländewagen durch die grenzenlose Wildnis. Es braucht etwas Geduld, um die wilden Tiere zu erspähen, die kleinen wie die grossen.
Datum 2.–16.11.2024
Gruppe max. 5 Rollstuhlfahrer
Inklusive Direktflug ab Zürich (Economyclass), Inlandflug Kapstadt – Johannesburg (Economyclass), 12 Übernachtungen im Zweibettoder Doppelzimmer mit Frühstück, 8 Mittagessen, 7 Abendessen, Ausflüge und Transfers, lokaler englischsprachiger Reiseführer
Highlights 2024
REGIONENREISE MALLORCA AKTIV
Für alle Mitglieder
Sie lieben den Nervenkitzel und probieren gerne neue Sportarten aus? Dann kommen Sie mit uns nach Mallorca.
Die Baleareninsel ist eines der beliebtesten Ferienziele im Mittelmehr. Die einen zieht es hierher, um zu entspannen, andere, um wilde Partys zu feiern und uns, um sportlich die Umgebung zu entdecken. Jeden Tag wartet eine neue Aktivität auf Sie und das bei sommerlich angenehmen Temperaturen und bester mediterraner Küche.
In der Bucht von Palma paddeln wir mit dem Kajak dem Ufer entlang. Anderntags steigen wir ins Wasser und schwimmen mit Stachelrochen. Ihr Puls schlägt sicherlich nicht nur bei der Begegnung mit den flachen Fischen höher, sondern auch beim
REGIONENREISE SCHWEDEN Für Mitglieder mit Tetraplegie
Stockholm ist trendy und doch traditionsbewusst, urban und doch naturnah. Entdecken Sie mit uns die Stadt und ihre Umgebung.
Blokart. Diese neuartige Sportart ist eine Mischung aus Gokart und Segeln, quasi Segeln an Land. Der Wind gibt das Tempo vor. Etwas Ruhe ist hingegen beim Golf gefragt. Neben den sportlichen Aktivitäten machen wir Ausflüge und erkunden die Region.
Datum 21.–28.9.2024
Gruppe max. 8 Rollstuhlfahrer
Inklusive Direktflug (Economyclass) ab Zürich, 7 Übernachtungen im Familienzimmer (Zweierbelegung) mit Frühstück, Ausflüge und Transfers
Die schwedische Hauptstadt erstreckt sich über 14 Inseln. 50 Brücken schaffen Verbindungen und egal, wo man hingeht, das Wasser ist immer präsent. Durch die Verteilung auf mehrere Inseln hat jedes Viertel seinen ganz eigenen Charakter. Das Herz von Stockholm bildet die Altstadtinsel Gamla Stan mit ihrem Schloss, den jahrhundertealten, ockerfarbenen Gebäuden und den engen Gassen.
In Stockholm haben Sie es nie weit bis ins Grüne beziehungsweise Blaue. Der Stockholmer Schärengarten erstreckt sich mit seinen 30 000 Inseln, Felsen und Schären direkt vor der Stadt in die Ostsee. Einige von ihnen sind bewohnt; manche von Menschen, manche von Seehunden.
Datum 15.–22.6.2024
Gruppe max. 6 Rollstuhlfahrer
Inklusive Direktflug (Economyclass) ab Zürich, 7 Übernachtungen im Zweibettzimmer mit Frühstück, Ausflüge und Transfers
Anmelden
Ab dem 5. November 2023 nehmen wir Ihre Buchung entgegen.
Paracontact I Herbst 2023 23
WINTERKURSE 23/24
Vorfreude
auf den Schnee
Bereits Mitte September 2023 schalten wir im Eventkalender alle Daten für unsere beliebten Winterkurse auf. Melden Sie sich frühzeitig für Skikurse in Sörenberg oder der Westschweiz, die zwei Skiwochen in Arosa oder Grimentz/Zinal oder eines der Langlauf-Weekends an. Unsere erfahrenen Ski- und Langlauflehrer freuen sich auf Sie!
Eventkalender www.spv.ch
REISEN
ParaReisen Day 2024
Nicht nur der Name «ParaReisen Day» ist neu, auch ein neu gestaltetes Programm erwartet Sie. Wie gewohnt blicken wir auf das Reisejahr 2023 zurück. Anschliessend lüften wir die Reisedestinationen 2024, die wir Ihnen auch kulinarisch schmackhaft machen.
Haben wir Ihre Reiselust geweckt? Dann treffen wir uns am 5. November 2023 ab 11.00 Uhr in der Aula des SPZ Nottwil.
PROLOG GIRO SUISSE 2024
slowUp Zürichsee 2023
Am 24. September 2023 findet am rechten Zürichseeufer der alljährliche slowUp statt.
Von 10.00 bis 17.00 Uhr sind die Strassen zwischen Zürich und Schmerikon für den motorisierten Verkehr gesperrt. Im Zeichen des Giro Suisse nehmen wir teil und fahren mit unseren Handbikes, Vorspannbikes, Velos usw. von Rapperswil nach Zürich und zurück.
WANDERTOUR
Höhenmeter
Alle sind herzlich willkommen, sich von Anfang an oder ab einem beliebigen Ort anzuschliessen. Am Abend treffen wir uns zum Nachtessen und gemütlichen Beisammensein in der Strandbeiz Stampf in Rapperswil-Jona.
Ich bin mit dabei! Infos und Anmeldung
YOGA-KURS
Namaste
Vom 8. Mai bis 19. Juni 2023 fand jeweils am Montagabend der Yogakurs mit Karin Roth im Hotel Sempachersee in Nottwil statt. Die Matten wurden nicht nur vor Ort ausgerollt, einige Teilnehmende konnten sich auch von zu Hause bequem online dazuschalten.
Am Sonntag, 4. Juni traf sich eine wanderlustige Gruppe mit Anita Panzer als Leitung zur Wandertour im Jura-Berggebiet.
Von Corcelles (655 m ü. M.) aus führte die Wanderung durch die wunderbare JuraLandschaft bis zum höchsten Punkt des Kantons Jura, dem Mont Raimeux (1302 m ü. M.). Im Naturfreundehaus Jura wurde für kulinarische Stärkung gesorgt, bevor der Abstieg bzw. die Abfahrt anstand. Fazit: ein abenteuerlicher Tag mit wunderschöner Aussicht.
«Mehr Energie und weniger Stress – eine Auszeit vom Alltag.» Unter diesem Motto haben sich die Teilnehmenden eine Stunde aktiv dem Yoga gewidmet. Neben Kraft- und Beweglichkeitsübungen wurden spannende Informationen zum Ursprung des Yogas gegeben. Unterschiedliche Atemtechniken wurden geübt und geschaut, wie diese im Alltag integriert werden können.
Weitere Yogakurse sind in Planung. Infos und Anmeldemöglichkeiten werden zeitnah auf www.spv.ch aufgeschaltet.
RUBRIK 24 Paracontact I Herbst 2023
FREIZEIT
Über Stock und Stein
Andreas Gautschi führte am 10. Juni die Teilnehmenden des Handbike-Trails von Willisau über Hügel, Kreten und steile Anstiege hoch hinaus ins Luzerner Hinterland.
Von Simone von Rotz
Wir fuhren über Waldwege, Singletrails, abenteuerliche Wiesenabfahrten und genossen die wunderbare Natur der Napfregion gemeinsam mit einer grossartigen Gruppe bei perfektem Wetter. Organisiert hat die Ausfahrt Andreas Gautschi zusammen mit der SPV. Zwölf Handbikerinnen und Handbiker sowie zehn Helfende auf Mountainbikes hatten Lust auf dieses Outdoor-Abenteuer. Unter ihnen war Rudolf Weiler, der seine erneute Teilnahme folgendermassen begründet: «Ich lerne gerne Leute kennen, ausserdem liebe ich es, unbekannte Ecken der Schweiz zu entdecken. Für mich als begeisterter Handbiker sind die Handbike- Trails die perfekte Mischung aus Spass und Sport in der Gruppe. Die Möglichkeit, ein MTB-Handbike zu leihen und damit Orte zu erreichen, die mir sonst verwehrt blieben, und Strecken zu fahren, die ich mich allein nicht getrauen würde, sind unschlagbare Argumente.»
technische Vielfalt der Sportgeräte hätte grösser nicht sein können. Die Teilnehmenden beäugten die Gerätschaften der anderen. Gespräche entstanden über Schaltungen, Motoren, Sitzpositionen und weitere technische Finessen.
Strom sei Dank
Nach kurzer Info ging es los und der Tross setzte sich in Bewegung. Der Einstieg verlief sanft über Felder und dem Fluss entlang. Doch dann ging es den Berg hoch und ich war heilfroh um meine elektrische Unterstützung, die mir das Hochkraxeln erleichterte. So war ich auch während den Aufstiegen in der Lage, mit anderen Bikerinnen und Bikern zu plaudern, ohne kurzatmig zu werden. Bewundernd schaute ich zu den Helfenden, die die Strecke aus eigener Muskelkraft bewältigten. Nachdem wir Höhe gewonnen hatten, wechselten sich Aufstiege und Abfahrten ständig ab. Passagen führten über Hochebenen, wo wir wunderschöne Fahrminuten mit Blick ins Luzerner Hinterland genossen. Immer wieder zeigte sich ein Berg mit einer grossen Felswand. Der Napf, wie die anderen mir auf die Sprünge halfen.
Wir warteten aufeinander, sodass niemand verloren ging. Zum Schluss wurden wir mit einer abwechslungsreichen und anspruchsvollen Abfahrt über Wiesen und steile Schotterwege belohnt. Einige wurden gar übermütig und nahmen schliesslich dankbar meine Pflaster an. Nach fünf Stunden fanden wir uns wieder beim Startpunkt in Willisau ein. Müde, aber zufrieden liessen wir den erlebnisreichen Tag im Restaurant
Der grosse Parkplatz beim Sportcenter füllte sich mit allerhand Fahrzeugen. Gar die Kennzeichen «I», «D», und «FL» waren vertreten. Emsig wurde Material entladen, montiert, eingestellt und begutachtet. Die
Auf einer Anhöhe gab es einen Verpflegungsstopp aus dem Rucksack, bevor wir eine lange und temporeiche Abfahrt in Angriff nahmen: 45 km/h zeigte mein Tacho! Andi Gautschi hatte zuvor angekündigt: «Danach machen wir nochmals so viele Höhenmeter wie vor der Abfahrt.» Hier setzten sich unsere Sportlerinnen und Sportler ab und zogen das Tempo an. Es zeigte sich, dass es nicht einfach ist, eine so grosse Gruppe mit unterschiedlichen sportlichen Levels zusammenzuhalten.
ausklingen. «Ich bin öfters mit meinem Mountainbike in der Natur unterwegs, aber es war sehr besonders, nach vielen Jahren wieder einmal in die schöne Napfregion zu kommen, wo wir in meiner Kindheit häufig wandern waren. Das E-Mountainbike eröffnet eine völlig neue Welt. Ob steile Wege hoch oder Singletrails runter; der Spassfaktor ist sehr hoch», erklärt die begeisterte Teilnehmerin Manuela Schär.
Bereits am Samstag, 19. August 2023 veranstaltete Andreas Gautschi die nächste Tour, dieses Mal in der Region Fribourg. Sie können sich freuen, denn auch 2024 werden wir Sie über erlebnisreiche Trails führen.
FREIZEIT MOUNTAINBIKE
Paracontact I Herbst 2023 25
FREIZEIT
Miteinander den Berg hoch
Die Aussicht entschädigt für alles
Lebensfreude bei 36 Grad
Gregor Sonderegger bereist Sertão, eine Region in Nordbrasilien, schon seit über 20 Jahren. Zum Jahreswechsel 2022/2023 erstmals im Rollstuhl.
Von Nadja Venetz
Seit zweieinhalb Stunden wartet Gregor Sonderegger im Flugzeug am Flughafen Lissabon. Er würde gerne aussteigen. Längst ist die Maschine gelandet, alle Passagiere sind weg – bis auf ihn. Ihn hat man vergessen. Seinem Anschlussflieger nach Fortaleza sieht er beim Abheben zu. Die Crew an Bord darf ihm nicht helfen, denn sie darf das Flugzeug erst verlassen, wenn keine Passagiere mehr in der Maschine sind, aber mit Gregor Sonderegger ist noch einer da. Vorschriften sind Vorschriften. Selbst als der 51-Jährige ihnen erklärt, wie einfach das wäre, ihm in seinem Rollstuhl die steile Treppe hinunterzuhelfen. Die Piloten telefonieren wild mit den Dienststellen des Flughafens, Gregor Sonderegger macht eine Flasche Wein auf. Denn es dauert, bis ein Caddy mit Lift verfügbar ist. Auf Kosten der Fluggesellschaft verbringt er eine Nacht in der portugiesischen Hauptstadt, Stadtrundfahrt mit Privatchauffeur inklusive. Mit einem Tag Verspätung schafft er es doch noch nach Brasilien.
Zweites Zuhause
Gregor Sonderegger kennt den Nordosten Brasiliens. Seit mehr als 20 Jahren kommt er regelmässig hierher. Die Region ist ein
Mekka für Paraglider. Hier hat er als Teil der Schweizer Nationalmannschaft unzählige Langstreckenflüge absolviert. Hier hat er vor 15 Jahren eine Dorfschule mit Kindergarten gegründet. Hier hat er Freunde gefunden. Und hier ist er Ende 2021 mit dem Ultraleichtflieger verunglückt.
Sechs Monate verbringt er im Schweizer Paraplegiker-Zentrum in Nottwil. Noch in der Reha bucht er in einer schlaflosen Nacht den Flug nach Fortaleza. Erzählt hat er das lange niemandem. Erst als die Reise näher rückt, informiert er sein Umfeld. «Viele haben mich für verrückt erklärt. Nach Brasilien. Allein. Im Rollstuhl», erinnert sich Gregor Sonderegger. Er lässt sich nicht davon abbringen. Mit Geduld und Flexibilität wird das schon machbar sein. Er ist kein Freund minutiöser Planung. Zusätzlich zum Flugticket bucht er einen Mietwagen und die erste Unterkunft. Er schätzt, wie viel Katheterisierungsmetarial er in etwa verbrauchen wird, packt einen zusammenklappbaren Duschsitz und, wie in einem Reisekurs des SPZ gelernt, zwei Ersatzpneus für seinen Rollstuhl ein, denn Velomechaniker sind im Land kaum zu finden. Damit sind die Vorbereitungen abgeschlossen.
Gregor Sonderegger bittet einen guten Freund, ihn nach Zürich an den Flughafen zu fahren, denn er hat unhandliche 96 kg Gepäck dabei, verteilt auf drei Säcke: Schulmaterial, Weihnachtsgeschenke, Fondue, Schokolade, Cervelats, Sauerkraut usw. «Das wäre mit dem Zug etwas anstrengend geworden», kommentiert er lachend. Bis auf den ungeplanten Aufenthalt in Lissabon verläuft die Flugreise wie vorgesehen. Am Flughafen Fortaleza nimmt ihn ein Angestellter in Empfang. Der ältere Herr beharrt darauf, dass er Gregor Sonderegger schiebt, das sei sein Job. Dem Schweizer ist das unangenehm, seinen Rollstuhl kann er selber antreiben. Für die Passkontrolle sind nur zwei Schalter offen. Es bilden sich lange Schlangen. «Der Flughafenangestellte hat mich einfach an all den Wartenden vorbei direkt an den Schalter geschoben. Das hat mir sicher zwei Stunden Wartezeit erspart.»
Die ersten Tage verbringt er 75 km entfernt von Fortaleza in einer Pousada, der landestypischen Unterkunft. Der Berner Roland Zgraggen ist der Betreiber der Pousada Lua del Sol in Paracuru. Er war es, der viele der kulinarischen Mitbringsel bestellt hatte. Gregor Sondereggers Gepäck reduziert sich
26 Paracontact I Herbst 2023 FREIZEIT
EINE REISE MIT HINDERNISSEN
merklich. In der Pousada stellt er sich auf den brasilianischen Lebensstil ein und gewöhnt sich an die 36 Grad. Wenn eine Unterkunft mehr als zehn Zimmer hat, ist es in Brasilien Vorschrift, dass mindestens ein Zimmer breitere Türen und grössere Masse hat. Geklappt hat das mit der Rollstuhlgängigkeit der Zimmer bis auf zwei Mal immer. «Man muss sich einfach wehren», rät Gregor Sonderegger, der Portugiesisch spricht. Als in einem 200-ZimmerKomplex keines für ihn nutzbar ist, ob-
wohl ihm am Telefon das Gegenteil versichert wurde, diskutiert er so lange mit der Hotelleitung, bis er die Suite erhält.
Vom Meer ins Landesinnere
Den Jahreswechsel verbringt der im Emmental wohnhafte Appenzeller an der Atlantikküste, geniesst das Meer, das Ambiente, das Essen und die Strandpromenaden. Anschliessend fährt er 450 km ins halbwüstenartige Binnenland, Sertão genannt. «Es ist eine der ärmsten Regionen Brasiliens»,
klärt mich Gregor Sonderegger auf. Im Dorf Juatama hat er vor 15 Jahren eine Schule errichtet. «Ich habe die Schule entworfen, das Baumetarial gekauft und finanziere nun den Unterhalt; ausser den Lehrbetrieb, den muss die Dorfgemeinschaft organisieren.» 132 Kinder gehen hier zur Schule oder in den Kindergarten. Als er mit dem Mietwagen ins Dorf fährt, rennt ein kleiner Junge freudig auf ihn zu. Er hat den Schweizer wiedererkannt. «Der Junge stieg mir auf den Schoss und ich fuhr mit ihm durchs Dorf. Immer mehr Kinder kamen hinzu und am Schluss war das Auto so voll, dass ich kaum noch fahren konnte.» Das Wiedersehen mit Freunden und Bekannten ist herzlich und sehr emotional. Endlich kann das Einweihungsfest für den Anbau nachgeholt werden, das im letzten Jahr nicht stattfinden konnte, weil Gregor Sonderegger im SPZ lag.
Der Besitzer des Hotels, in dem sich Gregor Sonderegger einquartiert, wenn er im Ort ist, hat eigens für den Rollstuhlfahrer die Türen verbreitert. Anders als in den touristischen Küstenorten, wo die Strassen und Gehwege asphaltiert oder sauber gepflastert waren, kämpft Gregor Sonderegger mit hohen Absätzen und den aus Gesteinsbrocken bestehenden Strassen. «Ich bin überall so nah wie möglich mit dem Auto hin, sodass ich wirklich nur die letzten Meter mit dem Rollstuhl zurücklegen musste.» Diese Art des Unterwegsseins ist anstrengend. Bereits als Gleitschirmflieger hatte er einen Fahrer, der ihn von den Landestellen abholte. «Ich fragte Belo Peixato
Paracontact I Herbst 2023 27
Besuch in der von Gregor Sonderegger finanzierten Schule
Holprig Der Zugang zur Schule
an, ob er Zeit hätte, mit mir durch die Gegend zu fahren.» Während zehn Tagen erkunden die beiden die Region. «Wir waren auf dem Startgelände meines Unfallflugs und in der Wildnis, ich habe in Naturseen gebadet und viel in der Hängematte gelegen», fasst er diese Zeit zusammen. Nur die Absturzstelle besuchen sie bewusst nicht. Die beiden machen zudem einen Ausflug in Richtung Amazonas und sind begeistert von der tropischen Tier- und Pflanzenwelt.
Wie eine Schildkröte
Auch unterwegs hält sich Gregor Sonderegger diszipliniert an seine Trainingsroutine: eine Stunde Wassergymnastik pro Tag. Swimmingpools gibt es überall. Diese sind meist von einer kleinen Mauer umgeben. Vom Rollstuhl lässt sich auf den Rand transferieren und von dort ins Wasser. «Rein geht super, raus weniger», lacht Gregor Sonderegger. Wie für jedes Hindernis, das sich ihm unterwegs in die Quere stellt, findet er auch hier eine Lösung. Da er über ein wenig Beinfunktion verfügt, stösst er sich ab, um mit dem Oberkörper auf der Mauer zu landen. Dann dreht er sich, bis die Beine hinten auf den Boden gleiten. «Ich sehe aus wie eine Schildkröte.» Manchmal filmen ihn Passanten, auch wenn er aus dem Auto transferiert. «Chefe em uma cadeira de rodas» nennen sie ihn, der Chef im Rollstuhl. In all den Wochen sieht er keinen anderen Menschen im Rollstuhl. Er fragt Einheimische, wo denn diese Leute seien. Diese würden nicht rausgehen und in ihren Häusern verkümmern, erhält er zur Antwort. Organisationen wie die SPV gäbe es schon, aber nur in den Städten und
nur für die Reichen. «Wenn du hier auf dem Land eine Rückenmarkverletzung erleidest, ist dein Schicksal besiegelt. Das hat mich schon sehr nachdenklich gemacht.»
Barrierefreier Strand in Fortaleza
Vor seiner Rückreise verbringt der 51-Jährige nochmal ein paar Tage in der Grossstadt Fortaleza. «Über die sozialen Medien hatte ich von einem spannenden Projekt gehört, einem barrierefreien Badestrand. Das wollte ich ausprobieren.» Jeden Dienstag und Donnerstag von 9 bis 14 Uhr wird allen ermöglicht, im Meer zu baden. Zehn Rettungsschwimmer, ein Bademeister und ein Arzt sind vor Ort. Gregor Sonderegger wird zunächst zu seinem Gesundheitszustand befragt. «Die Leute haben sich gefreut, ich sei der erste Schweizer und erst der dritte Ausländer, der sich den Strand anschaue.» Er transferiert auf ein Dreirad mit grossen gelben Rädern und zwei Rettungsschwimmer schieben ihn ins Meer, wo er über zwei Stunden im 28 Grad warmen Wasser schwimmt. Das Projekt gibt es in fünf brasilianischen Grossstädten und ist für Badewillige kostenlos.
Bereits unterwegs fasst Gregor Sonderegger den Entschluss, bald wiederzukommen. Das nächste Mal für mehrere Monate. «Ich bin auf 100 000 Hindernisse gestossen, aber es ging immer irgendwie», zieht er sein Fazit. Zwar hat er die Unbeschwertheit und Spontaneität früherer Reisen vermisst, dennoch fällt das Resümee positiv aus. «Es war toll, an all die Orte zurückzukehren, all die Leute wiederzusehen und ein Stück weit auch den Unfall zu verarbeiten.» Und immer war jemand da, der helfen wollte. «Manchmal war mir das zu viel. Ich bin selbstständiger Unternehmer, mir muss niemand helfen. Aber die Brasilianer sind sehr offen und sozial. Das war ungewohnt. In der Schweiz wirst du selten gefragt, ob man dir helfen kann.» Er möchte anderen Rollstuhlfahrerinnen und -fahrern Mut machen, selbstständig zu reisen. «Die Angst vor Flugreisen ist völlig unbegründet», erklärt er und fügt lachend an, «ausser man wird vergessen.» Weitere Reisepläne hat Gregor Sonderegger jedenfalls zur Genüge.
28 Paracontact I Herbst 2023
Strassenverhältnisse Manchmal wirds eng
Action Spass mit Freunden in den Dünen
Gelungene Premiere
Angelika Rosko begleitete zum ersten Mal eine Tetraplegikerin auf einer Städtereise. Sie erlebte sieben anstrengende, aber auch wunderbare Tage.
Von Peter Birrer
Sie hat schon manchen Flecken der Welt gesehen, ist während Wochen, ja Monaten unterwegs gewesen, oft mit dem Rucksack, und immer mit grossem Interesse für Neues. Jetzt ist Angelika Rosko 59, und weder Spon taneität noch Abenteuerlust haben nachgelassen.
Vor sechs Jahren legt die gelernte Pflegefachfrau Angelika Rosko ihre Arbeit nieder. Nach dem Tod ihres Mannes sagt sie sich: «Ich will bewusst mein Leben leben und geniessen.» Die gebürtige Norddeutsche aus der Lüneburger Heide, die 1986 in die Schweiz zog und mittlerweile im luzernerischen Hellbühl wohnt, nimmt sich Zeit für Dinge, die sie für sinnvoll hält. Als eine Kollegin ihr erzählt, dass die SPV für ihre Reisen immer wieder Begleitpersonen sucht und Ausbildungskurse anbietet, meldet sie sich an. Ihre Motivation: «Ich möchte mithelfen, dass diese Leute reisen können, wie ich das schon oft tun durfte und immer noch darf.»
Das Kennenlernen vor der Reise Dank ihres beruflichen Hintergrundes bringt sie bereits ein grosses Wissen mit. Nun lernt sie Spezifisches im Umgang mit Menschen, die im Rollstuhl sitzen. Zum Beispiel das richtige Transferieren.
Nach dem Kurs lässt sie sich auf unsere Liste der freiwilligen Pflegepersonen (Laienpflegende genannt) für Tetrareisen setzen. Auf einmal erhält Angelika Rosko einen Anruf. Eine SPV-Kundin fragt, ob sie sich vorstellen könne, sie einmal auf einer Reise
zu begleiten. Und ob sie allenfalls bereit wäre für eine Begegnung, um herauszufinden, ob die Chemie zwischen den beiden überhaupt stimmt. Die beiden treffen und verstehen sich. Die Kundin schlägt Madrid als Destination vor – es kann losgehen. Im April 2023 erlebt Angelika Rosko ihre Premiere als «Laienpflegende».
Sie freut sich auf die faszinierende spanische Hauptstadt, verzichtet aber bewusst darauf, sich vorgängig über Sehenswürdigkeiten zu informieren, weil sie sagt: «Es geht nicht um mich, sondern um die Frau, die ich begleite. Sie und ihre Wünsche stehen im Zentrum.»
Angelika Rosko ist präsent, sieben Tage lang und während 24 Stunden. Sie hilft, wo sie kann, und fühlt sich bestens aufgehoben in der Gruppe. Zwei junge Pflegefach-
frauen gehören auch zur Delegation, und sie sind so etwas wie eine zusätzliche Sicherheit, falls ein gravierendes Problem auftritt. «Sie haben uns allen ein gutes Gefühl gegeben», lobt Angelika Rosko, die aber ohne deren Support durchkommt. «Ausserdem konnte ich nichts falsch machen: Die Frau leitete mich sehr exakt an, ich wusste stets, was ich tun musste.»
Die Dankbarkeit der Teilnehmenden Das Programm ist höchst abwechslungsreich, Langeweile kommt nie auf. «Es war toll organisiert, und toll war auch unser Hotel», sagt sie, «die Reiseleitung hat alles unternommen, damit sich die Gruppe nicht nur wohlfühlt, sondern auch viel erlebt.»
Die Woche in Madrid ist intensiv und kostet Substanz, so sagt es Angelika Rosko. Nach der Landung in der Schweiz bringt sie die Frau, um die sie sich gekümmert hat, nach Hause. Als sie selbst wieder in Hellbühl ist, spürt sie die Anstrengungen und denkt: «Ich könnte nicht gleich wieder eine solche Reise mitmachen.»
Aber das ändert sich. Sie realisiert, wie gut die Erfahrung war, und sie erinnert sich an die Dankbarkeit der Teilnehmenden, denen etwas Wunderbares ermöglicht wurde. «Mir ist wieder einmal sehr bewusst geworden, wie gut es mir geht», sagt sie, «und eine grosse Bereicherung war der Austausch mit den Menschen.» Darum steht ausser Frage: Angelika Rosko stand nicht das erste und einzige Mal als Freiwillige im Einsatz.
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In der Gruppe viel erlebt
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Bergspinne
Ein Elektrogefährt bietet Menschen mit eingeschränkter Mobilität ein einzigartiges Bergerlebnis. Sechs SPV-Mitglieder wagten den Versuch.
Von Nadja Venetz
Val-d’Illiez ist eine beschauliche Walliser Gemeinde am Fusse des Bergmassivs Dents du Midi. Im Winter locken Skipisten, in der warmen Jahreszeit ein dichtes Netz an Wanderwegen. Sommergästen quert dabei manchmal ein spinnenartiges Gefährt den Weg, ein sogenannter Swincar. Das vierrädrige Elektromobil bewegt sich lautlos durch die Landschaft. Dank der Einzelradaufhängung ist das Fahrzeug optimal gefedert. Alle Bedienelemente befinden sich am Lenkrad und können auch von Menschen mit eingeschränkter Handfunktion bedient werden. Vorausgesetzt sind lediglich eine gute körperliche Verfassung, ein Führerschein der Kategorie B sowie eine Haftpflichtversicherung.
Einmalig in der Schweiz
Pascal Borrat-Besson, selbst inkompletter Tetraplegiker, brachte den Swincar in die Schweiz. Er suchte zunächst für sich eine Lösung, um wieder in die geliebten Berge gehen zu können. Im Internet stiess er auf den Swincar. Er schaffte sich Fahrzeuge an und gründete die Firma Rando E-motion, um auch anderen Menschen Streifzüge durch alpine Landschaften zu ermöglichen.
Gemeinsam mit Rando E-motion organisierte die SPV am 1. Juli die erste SwincarTour für SPV-Mitglieder. Da nur drei Fahrzeuge zur Verfügung stehen, wurde die Tour mit zwei Gruppen geführt, eine am Vor- und eine am Nachmittag. «Ich bin sehr abenteuerlustig und probiere gerne Neues aus», begründet Karin Wiget ihre Anmeldung und nahm die weite Anreise in Kauf. «Wenn man auf den Rollstuhl angewiesen ist, gibt es nicht so viele Möglichkeiten, aktiv in den Bergen unterwegs zu sein.»
Und so fand sich am Vormittag des 1. Juli eine kleine Gruppe Naturbegeisterter auf einem Parkplatz der Unterwalliser Gemeinde. Mitarbeiter von Rando E-motion erklärten die Fahrzeuge. Um den Transfer zu erleichtern, kann das Gefährt zur Seite hin geöffnet und der Fahrersitz nach aussen gedreht werden. Alle hatten wie empfohlen ihr Sitzkissen dabei.
Kurze Testfahrt
Auf dem Parkplatz ging es eine kurze Strecke hin und her. «Die Einführung hätte ausführlicher sein dürfen. Ich bin sicher, dass die Fahrzeuge noch viel mehr können. Ich hätte das Potenzial des Swincar gerne ausgereizt», sagt Karin Wiget. Dass die Einführung nur auf Französisch erfolgte, erschwerte das Verständnis zusätzlich. SPVMitarbeiter Claude Siegenthaler half bei der Übersetzung.
Die drei Lenkenden folgen dem Routenvorschlag, der über Wanderwege führt. «Ich hätte gern getestet, wie sich der Swincar abseits der Wege verhält», kommentiert Karin Wiget risikofreudig. Nur ab und zu beehrte die Sonne das Dreiergespann. Dass sich der
Himmel verhangen zeigte, störte niemanden. Spass war auch so reichlich gegeben. Wie schnell sie denn unterwegs gewesen seien? «Immer Vollgas!»
Karin Wigets Fazit fällt positiv aus: «Es war definitiv ein Abenteuer und die Gelegenheit, sich selbstständig über Stock und Stein zu bewegen, einmalig.» Und fügt eine kleine Kritik an: «Ich wäre wirklich gern nach dem Mittagessen nochmal hinters Steuer. Anderthalb Stunden waren einfach zu kurz.»
Die SPV wird 2024 erneut eine SwincarTour anbieten. Wir informieren Sie rechtzeitig. Die Fahrzeuge können auch bei Rando E-motion stundenweise gemietet werden.
Paracontact I Herbst 2023 31 FREIZEIT SWINCAR
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Abenteuerlustig Karin Wiget
Perle des Jura
SPV-Mitglied Yves Tendon und seine Frau Nadine nehmen uns mit in die Region von Saint-Ursanne. Die beiden sind sich sicher, dass auch Sie sich verlieben werden.
Von Nadja Venetz
Saint-Ursanne ist ein Schmuckstück. Die mittelalterliche Kleinstadt am Ufer des Doubs schmiegt sich sanft an dicht bewaldete Hügel. Die Brücke Saint-Jean Népomucène und die drei Stadttore sind die einzigen Zugänge in die historische Altstadt. Enge, von Häuserzeilen gesäumte Strassen führen zur Stiftskirche mit ihrem markanten Glockenturm. Teile des Kreuzgangs sollen aus dem 10. Jahrhundert stammen. Unter dem Altar der Stiftskirche befinden sich die Überreste des heiligen Ursicinus. Der Legende nach geht der Ort auf den irischen Mönch zurück, der sich als Eremit hier niederliess.
Reise ins Mittelalter
Yves Tendon ist Jurassier durch und durch. «Ich bin hier aufgewachsen, bin hier zur Schule gegangen und habe hier meine Frau Nadine gefunden.» Die Ortschaft Saint-
Ursanne lernte er durch die Arbeit kennen. «Jahrelang führt ich hier einen Betrieb. Da habe ich mich in das Städtchen verliebt.» Seither kommen sie immer wieder hierher, er und seine Frau Nadine. Denn zu entdecken gibt es viel. Im Rollstuhl sei das meiste, wenn auch nicht ganz alles zugänglich. Wer Saint-Ursanne besucht, begibt sich auf eine Zeitreise. Diese kann man allein unternehmen, Yves Tendon empfiehlt jedoch, sich im Tourismusbüro eine Führung zu organisieren, um all die historischen Anekdoten zu erfahren, die sich zwischen den alten Gemäuern verstecken. In den warmen Monaten laden zahlreiche Sonnenterrassen auf ein Eis oder ein kühles Bier ein. Mit einem Zuggerät rollt es sich einfacher über die Pflastersteine. Irgendjemand helfe immer, falls es ein Hindernis zu überwinden gäbe, sagt Yves Tendon und schiebt grinsend hinterher, «aber ich bin halt im-
mer mit meiner Frau unterwegs.» Das wiederum lässt Nadine Tendon nicht gelten: «Yves kommt in ganz Saint-Ursanne wunderbar allein zurecht.»
Gaukler und Boliden
«In Saint-Ursanne kann man fast jedes Wochenende eine Veranstaltung besuchen», bemerkt Yves Tendon. Interessen werden dabei viele bedient. Der Jurassier erwähnt etwa das jährliche Klavierfestival «Piano à St-Ursanne» oder ein internationales Autorennen, dessen einzige Schweizer Etappe von Saint-Ursanne nach Les Rangiers führt.
FREIZEIT 32 Paracontact I Herbst 2023 AUSFLUG
Ein Highlight findet nur alle zwei Jahre statt. Wenn der Geruch von Spanferkel durch die Gassen zieht, das Gehämmer von Schmieden und die Klänge von Lauten zu hören sind und Menschen in Kettenhemden und langen Roben umherlaufen, findet gerade das dreitägige Mittelalterfest «Les Médiévales» statt. Der Anlass zieht jeweils grosse und kleine Neugierige an. Um den Überblick über den Veranstaltungskalender zu behalten, empfiehlt Yves Tendon die App «St-Ursanne – Perle du Jura». So habe man alle Events und Sehenswürdigkeiten stets auf dem Smartphone.
Handbike-Himmel
Wenn Yves Tendon von Saint-Ursanne erzählt, gerät er ins Schwärmen. Nicht nur vom Städtchen, sondern auch von der Umgebung. Das Ehepaar Tendon liebt seine Bikes. An jeder Austragung des Giro Suisse, der inklusiven Handbiketour der SPV, fuhren die beiden bisher mit; natürlich stets alle Etappen. «Die Region um Saint-Ursanne ist grossartig, um mit dem Handbike unterwegs zu sein. Man folgt dem Doubs und findet sich im Nu in wilder Natur wieder», erklärt der Vizepräsident des Rollstuhlclubs Jura, der sich auch im
Club engagiert, um seine liebste Sportart unter die Leute zu bringen. Wer Routenvorschläge benötige, dürfe sich gerne melden.
Anlaufstelle und Ruheoase
Nach einer schweisstreibenden Runde auf dem Handbike genehmigt sich Yves Tendon gerne ein Bier auf der Terrasse des «Maison du Tourisme». Die private Initiative organisiert Freizeitaktivitäten, ist aber zugleich auch ein Restaurant, das ausschliesslich Produkte aus der Region serviert. Geführt wird das Maison du Tourisme von Frédéric Lovis. Die Barrierefreiheit seiner Angebote liegt ihm sehr am Herzen. «Gleitschirmfliegen, Kanufahrten auf dem Doubs, Bogenschiessen oder Velotouren – wir bieten viele Aktivitäten an, die auch von Gästen im Rollstuhl ausgeführt werden können. Interessierte melden sich am besten direkt bei mir, dann kann ich konkrete Vorschläge machen», rät Frédéric Lovis. Yves Tendon sei eine treibende Kraft in der Realisierung des Maison du Tourisme gewesen, führt dessen Direktor aus und fügt an, «Nadine und Yves sind ein unglaubliches Paar.»
Schauen Sie sich den Ausflug an
Paracontact I Herbst 2023 33
Saint-Ursanne Zeitreise ins Mittelalter
Kurbel und Pedale Das Ehepaar Tendon kennt unzählige Biketrails in der Region
Unbeschwert und auf Augenhöhe
Das Kids Camp 2023 bot den Kindern ein Programm voller Abwechslung und den Eltern die Gelegenheit für einen intensiven Austausch – und um Energie zu tanken.
Von Peter Birrer
Als es auf das Ende zugeht, kommt Wehmut auf. «Am liebsten würde ich gleich hundert Jahre hierbleiben», sagt Leon. Und Marin fragt: «Warum können es nicht wenigstens drei Tage sein?»
Leon und Marin sind zwei Buben, die das Kids Camp 2023 ausgekostet haben und mit ihren Voten wohl für alle Kinder im Alter von sechs bis zwölf Jahren sprechen, die das Wochenende des 17. und 18. Juni in Nottwil verbrachten – gemeinsam mit ihren Eltern und Geschwistern.
Best-of-Movie
Manege frei fürs Kids Camp! Hier gehts zu den Highlights
Der Austausch ist wertvoll Das Camp ist ein traditionelles Angebot der SPV mit einer reichen Geschichte, die ihren Ursprung Anfang der Neunzigerjahre hat. Die Kinder lieben den Anlass, weil er ihnen ein Programm voller Abwechslung bietet, die Erwachsenen schätzen ihn nicht zuletzt, weil sich immer wieder Gelegenheiten für einen wertvollen Austausch ergeben. Wer einmal dabei war, kommt meist wieder.
Viele Familie zählen zu den Stammgästen, wie etwa die Familie Kovac Maric aus Brunnen. «Für uns ist das Kids Camp ein Fixpunkt im Jahreskalender», sagt Liliana Kovac Maric, die mit ihrem Mann Kristijan sowie den Söhnen Marin (9) und Filip (6) teilnimmt – die einjährige Tochter Elin ist
noch Zuschauerin. Es gehört zu den Besonderheiten, dass die Kinder ohne Beeinträchtigung ebenfalls im Rollstuhl sitzen und sich auf gleiche Weise bewegen wie ihre Geschwister.
Kaum ist das Gelände in Nottwil erreicht, setzt sich Filip in einen Rollstuhl, und am Abend nimmt er ihn auch mit ins Hotelzimmer. «Für ihn ist das eine Selbstverständlichkeit», sagt Liliana Kovac Maric und erzählt davon, wie gut das Wochenende nicht nur Filip tut, sondern natürlich auch Marin, der mit Spina bifida geboren wurde: «Wir merken jedes Mal, was für einen Einfluss die zwei Tage auf sein Selbstwertgefühl haben. Er legt seine Zurückhaltung ab und traut sich jetzt sogar, mit Gspänli abzumachen, was er vorher nicht getan hat.»
34 Paracontact I Herbst 2023 ROLLSTUHLSPORT
KIDS CAMP
«Wie eine grosse Familie»
Diesmal feiert Marin ein besonderes Erfolgserlebnis: Bei einem Unihockeyspiel gelingt ihm ein entscheidender Treffer, von dem er danach natürlich ausführlich den Eltern erzählt und am Tag danach in der Schule. «Im Kids Camp kommt man sich vor wie in einer grossen Familie», sagt Liliana Kovac Maric, «man begegnet oft den gleichen Leuten, mit denen man freundschaftlich verbunden ist, man redet über Themen, die allen vertraut sind, man teilt die gleichen Sorgen. Und oft bekommt man die Bestätigung: Doch, es ist richtig, wie wir mit Marin umgehen und was wir tun.»
Ihre Schilderungen decken sich mit denen von Manuela Hui, die mit ihrem Mann Remo Gisler und Tochter Amélie (9) aus dem Thurgau angereist ist. «Das Camp ist für uns alle eine Bereicherung», sagt sie, «unsere Tochter findet es cool, mit Kindern zusammen zu sein, die auch im Rollstuhl sitzen – auch wenn sie ihn oft beiseite schiebt, weil sie lieber gehen will.» Zum vierten Mal ist das Trio in Nottwil dabei, und auch diesmal endet das Camp mit einem Kind, das am Sonntagabend auf der Heimfahrt «nudelfertig, aber glücklich ist», wie Manuela Hui es formuliert.
Nottwil als Kraftort
Für Sabine Gassmann aus Wikon ist es wichtig, dass im Camp die Geschwister der Kinder im Rollstuhl miteinbezogen werden. «So bewegen sich alle auf Augenhöhe», sagt sie. Ihre Tochter Ronja (8), die wie Marin mit Spina bifida zur Welt kam,
Proben für die grosse Zirkusshow
wird von ihrer älteren Schwester Luana (9) und ihrem jüngeren Bruder Jorin (3) begleitet – und geniesst eine unbeschwerte Zeit. Unbeschwert ist sie auch deshalb, weil auf dem Campus niemand ihrem Kind im Rollstuhl hinterher starrt, wie das sonst oft vorkommt. «Hier sind alle gleich», sagt sie, und darum dient Nottwil für sie immer auch wieder als Kraftort, an dem sie nicht nur Energie tanken können, sondern auch neue Impulse erhalten. Und: Sabine Gassmann nutzt die Chance auch, sich selber beim Rollstuhl-Basketball zu versuchen. «Das schärft das Bewusstsein, was es bedeutet, mit dem Rollstuhl eine solche Sportart auszuüben.»
Die Kinder im Rollstuhl und ihre Geschwister gönnen sich kaum eine Verschnaufpause. Bei der Ausgabe 2023 sind sie in drei Gruppen unterwegs und kommen in den Genuss von drei Workshops. In der Turnhalle ist Unihockey angesagt: Sie lernen den Umgang und die Technik mit dem Schläger, bevor sie gegeneinander antreten. Gecoacht und motiviert werden sie von Petra Sesink und Stefan Kaufmann, die beide mit beeindruckender Hingabe bei der Sache sind. Auf dem Eyhof findet das Reiten statt, das so beliebt ist, dass es aus dem Kids-Camp-Programm längst nicht mehr wegzudenken ist. Und eine grosse Attraktion ist zweifellos auch der Zirkus-Workshop mit Clown Jeanloup. Mit ihm wird in der Aula des SPZ eine Zirkusaufführung einstudiert und am Abend den Eltern präsentiert.
Ein perfektes Gesamtpaket
Helferinnen und Helfer machen es überhaupt erst möglich, dieses Angebot zu stemmen – ein Angebot, bei dem Ursula Basler erneut eine wichtige Rolle übernimmt. Sie ist seit der zweiten Austragung Jahr für Jahr im Organisationskomitee dabei und kümmert sich routiniert um die Infrastruktur.
Und da ist Martina Meyer, Koordinatorin Breitensport – Freizeit – Gesundheit bei der SPV, die das Wochenende in leitender
Funktion erlebt. Nach den zwei Tagen schwärmt sie sowohl von den Teilnehmenden als auch allen Involvierten, die mit viel Herzblut einmal mehr zum Erfolg des Kids Camp beigetragen haben. «Die Stimmung war grandios», sagt sie, «die vielen glücklichen Gesichter zu sehen, haben das Gesamtpaket perfekt gemacht.»
Das ist auch das, was Remo Gisler hervorhebt. «Man kann den Menschen, die dieses Camp möglich machen, nicht genug danken», sagt der Mann von Manuela Hui aus dem Thurgau, «es ist immer wieder faszinierend zu sehen, wie all die Leute mit den Kindern umgehen. Das ist grossartig.»
Remo Gisler beobachtet, wie seine Tochter mit Eifer Unihockey spielt, am Abend schaut er ihr stolz bei der Zirkusnummer zu. Und darum ist für ihn wie auch für seine Frau Manuela Hui klar: Die Anmeldung für das Camp 2024 ist beschlossene Sache.
Paracontact I Herbst 2023 35
Unbeschwerte Familienzeit
Spass mit Freunden
«Spirit of Sport»
Der Podcast «Spirit of Sport», präsentiert von Swiss Olympic, ist on air!
In der ersten Staffel steht das Thema «Ethik im Sport» im Fokus, und gemeinsam mit Fachkräften werden Themen wie Nähe und Ideale im Sport sowie die Funktionen der Meldestelle «Swiss Sport Integrity» beleuchtet.
Die Podcast-Folgen richten sich an sportaffine Personen und sind insbesondere für Funktionäre, Trainerinnen, Athleten und ihr Umfeld spannend – sowohl im Leistungs- wie auch im Breitensport. Weitere –auch französischsprachige – Episoden zu «Ethik im Sport» folgen im Herbst 2023. Nehmen Sie sich die Zeit und hören Sie in die Podcast-Folgen rein – es lohnt sich!
PARATHLETICS 2023
Drei Rekordtage
An den ParAthletics Nottwil werden normalerweise rund 300 Athletinnen und Athleten erwartet. Nicht so in diesem Jahr: Das OK wurde mit einer Rekordzahl von Anmeldungen überrascht.
Über 500 Teilnehmende haben sich ursprünglich für den Leichtathletik-GrandPrix angemeldet – fast doppelt so viele wie geplant. Angereist sind schliesslich 430 Athletinnen und Athleten sowie 300 Begleitpersonen. Rekorde knackte allerdings nicht
nur die Teilnehmerzahl: ganze zehn Weltund 27 Kontinentalrekorde wurden am letzten Mai-Wochenende gebrochen.
Die neunte Ausgabe gehört mit 55 Nationen aus sechs Kontinenten zum grössten Event in der ParAthletics-Geschichte.
Highlight-Video Rückblick auf drei packende Wettkampftage
HANDBIKE
Para-cycling WM 2024
Der Grossevent Rad- und Para-cycling WM 2024 rundum und in Zürich, rückt in grossen Schritten näher!
Viele Bedenken bezüglich dem Verkehrskonzept der WM, welches in der nationalen Presse für Schlagzeilen gesorgt hatte, konnten inzwischen durch das OK mit Unterstützung des Stadtpräsidiums aus dem Weg geräumt werden.
Im Rahmen der Begleitmassnahmen konnte jüngst eine Koordinationsstelle geschaffen werden, welche sich der Sportund Veloförderung sowie Inklusion widmet. Weiter wurde der «Züri Velo Cup» lanciert, der bis Oktober auf elf Streckenabschnitten zum «digitalen» Kräftemessen einlädt.
Das «One Year to Go» wird am 24. September 2023 anlässlich des «slowUp» entlang des Zürichsees zu einem weiteren grossen Festanlass.
Der Streckenabschnitt zwischen Meilen und dem Sechseläutenplatz in Zürich ist auch hervorragend für Para-cycler geeignet.
www.zurich2024.com
ROLLSTUHLSPORT 36 Paracontact I Herbst 2023 Informationen
SWISS OLYMPIC
LEICHTATHLETIK
Schweiz dominiert
Vom 8.–17. Juli fand im Charléty-Stadion in Paris die Leichtathletik-WM 2023 statt.
Insgesamt neun Gold- und vier Silbermedaillen konnten sich die Schweizer Rollstuhl-Leichtathletinnen und -athleten in Paris sichern. Einen brillanten Auftritt gab es von Catherine Debrunner (4 × Gold, 1 × Silber) und Manuela Schär (2 × Gold, 2 × Silber). Auch Marcel Hug dominierte die Bahn
mit dreimal Gold. Für eine Überraschung sorgte Fabian Blum, der sich die Silbermedaille über 100 m T52 holte. Doch nicht nur Edelmetall bringt die Schweizer Delegation nach Hause. Insgesamt konnten sechs Quotenplätze für die Paralympics 2024 gesichert werden, auch dank einem tollen vierten Rang von Patricia Eachus. Wir gratulieren allen Schweizer Athletinnen und Athleten zur erfolgreichen WM.
Alena Küng, Med. Praxisassistentin
Geballtes Wissen an einem Ort. Die Experten des Nationalen Leistungszentrums für Rollstuhlsport (NLR) begleiten unsere Athletinnen und Athleten auf dem Weg an die Spitze. Alena Küng sorgt als MPA dafür, dass bei Planung und Umsetzung alles rund läuft.
BOGENSCHIESSEN
WM in Tschechien
Der diesjährige Höhepunkt der Bogenschützen war die Weltmeisterschaft, welche vom 17. bis 23. Juli in Pilsen (CZE) stattfand.
Pascal Héritier qualifizierte sich nach seiner erstmaligen Teilnahme an der EM im letzten Jahr dank einer positiven Entwicklung als einziger Schweizer Athlet für diesen Titelwettkampf.
Leider schied der gebürtige Walliser nach einem Match mit schwierigen Windverhältnissen aus.
SPORTSCHIESSEN
WM im Visier
Neben der WM im letzten Jahr gehört für die Sportschützinnen und -schützen die diesjährige Weltmeisterschaft im peruanischen Lima vom 17. bis 29. September zu den wichtigsten Wettkämpfen in Hinblick auf Paris 2024.
Die Gewehr-Sportschützin Nicole Häusler hat bereits vor mehr als einem Jahr als erste Athletin der Schweiz einen Quotenplatz für die Paralympics 2024 gesichert. Wohingegen Stefan Amacker dieses Ziel in seiner Paradedisziplin über 25 m Pistole im Visier hat. Die Selektion der Schweizer Delegation erfolgte Mitte Juli.
Bei der Sportmedizin Nottwil seit?
Januar 2021.
Deine Aufgabe im NLR?
Ich kümmere mich ums Administrative, plane Patienten oder eben Sportlerinnen, weiter zapfe ich ihnen Blut ab oder verkable sie für RuheEKG-Kurven.
Lieblingstätigkeit im Job?
Als MPA gefällt mir die abwechslungsreiche Arbeit. Hier in der Sportmedizin gehören Untersuchungen wie Blutentnahmen, Ruhe-EKG, Lungenfunktionen oder Grundumsatzmessungen dazu.
Was ist deine Superpower? Aufgeben gibt es für mich nicht. Egal ob Freizeit oder Arbeit, es gibt immer einen Weg zum Ziel.
Deine Lieblings-App?
FOOBY – gibt Ideen zum Kochen nach der Arbeit.
Paracontact I Herbst 2023 37 NLR-EXPERTENGRUPPE
Nächster Halt: Berufstrainerin
Sandra Graf gehört zu den Pionierinnen im Rollstuhlsport. Ihr Wissen aus über 20 Jahren Spitzensport im Rollstuhl gibt sie nun an die nächste Generation weiter.
Von Nicolas Hausammann
Sandra Grafs Leben ist und bleibt der Sport. Tokyo 2020 war ihr letzter grosser internationaler Auftritt nach über 20 Jahren Leistungssport. Am Ursprung dieser langen Karriere stand die Leidenschaft für den Sport, und zwar in all seinen Facetten.
Bereits zu Beginn ihrer Karriere zeigte Sandra Graf, dass Familie und Sport vereinbar sind. Im selben Jahr, in dem sie in Lillehammer im Riesenslalom an ihren ersten Paralympics teilgenommen hatte, wurde sie Mami. Danach folgten drei Paralympics-Teilnahmen als Leichtathletin mit einer Bronzemedaille im Marathon von Peking. Doch damit nicht genug, denn ihren grössten Erfolg feierte sie mit dem Handbike, wo sie in London 2012 im Zeitfahren die paralympische Goldmedaille gewann. Hinzu kam erneut eine bronzene Auszeichnung im Leichtathletik-Marathon. Dass Tokyo 2020 ihr letzter grosser internationaler Auftritt sein würde, war lange klar, umso schöner, dass sie ihr Wissen nun gerne weitergeben will als Trainerin: «Was mir der Sport gegeben hat und ich hinsichtlich der Vorbereitung und des Trainings gelernt habe, ist etwas Wunderbares. Dies möchte ich unbedingt weitergeben, denn Sport ist und bleibt mein Leben – meine Leidenschaft.» Daher hat RSS sie nach ihrer Karriere als Nachwuchsverantwortliche und Assistenztrainerin angestellt.
Trainerberuf in der Schweiz
«Die Schweiz hat unglaublich viele, gut ausgebildete Leute auf allen Trainerstufen. Dies hat auch mit den guten Strukturen im Fussgänger-Sport zu tun. Als Athletin hatte ich viele Coaches um mich herum, die mir ihr
Wissen auf hervorragende Art vermittelt haben. Nun bin ich dran, mein Wissen weiterzugeben», beschreibt Sandra Graf ihre Einstellung zum Trainerberuf. Zum Glück ist ihre Sportverrücktheit ihrem nahen Umfeld bekannt. Als ihre Kinder noch kleiner waren, stand sie als Leiterin im Geräteturnen in der Halle – der Rollstuhl war dabei kein Hindernis. Noch als Fussgängerin war die Appenzellerin als Skilehrerin tätig. Ihre Freunde wissen also: Sandra gibts nur mit Sport und unterstützen sie bei ihrem Werdegang.
Ausbildungsweg RSS, Swiss Cycling und Berufstrainer-Lehrgang Sandra Graf brachte bereits Vorbildungen als Coach in verschiedenen Sportarten mit. Dann hat sie schon als Athletin begonnen mit dem RSS-Ausbildungsweg vom «Basismodul» über die «esa-Kurse» bis hin zur «Stufe 3». Parallel dazu hat sie im Ausbildungssystem von Swiss Cycling ein Modul zu Physiologie und Trainingslehre absolviert, das mehr auf den Leistungssport aus-
gerichtet war. «Ich kann diese Kurse der Fussgängerverbände – sofern es dann die Sportart analog im Rollstuhlsport gibt –sehr empfehlen. Die Parallelen in Technik und Training sind offensichtlich und gut kombinierbar mit dem eigenen Knowhow aus dem Rollstuhlsport. Zudem ist der Austausch mit Trainerinnen und Trainern grossartig. Dank des Sports begegnet man sich auf Augenhöhe und kriegt Einblick in andere Ideen und Projekte.»
Im Gegensatz dazu sei der RSS-Ausbildungsweg sehr breit angelegt und auf die Kurse in den Rollstuhlclubs ausgerichtet, was sie durchaus berechtigt findet. Man müsse dieses Wissen allerdings mit spezifischem Inhalt zum Leistungssport ergänzen für ihren Job. Daher hat sie sich nun für den Berufstrainer-Lehrgang von Swiss Olympic entschieden. «Man hat ja nie ausgelernt und ich erwarte viel Spannendes bezüglich Athletenbetreuung auf Wettkämpfe hin zu lernen», meint die Handbike-Trainerin mit Blick auf ihre weitere Trainerbildung.
ROLLSTUHLSPORT 38 Paracontact I Herbst 2023 TRAINERAUSBILDUNG
Sandra Graf (2. v. r.) coacht den Handbike-Nachwuchs
Nachhaltige und ethische Spiele
Vom 28. August bis zum 8. September 2024 werden 400 der weltbesten paralympischen Athletinnen und Athleten in 22 Sportarten an den Start gehen. In Paris soll der Anteil an Athletinnen erstmals bei 50 % liegen.
Von Roger Getzmann
Swiss Paralympic dürfte mit etwa 20 bis 25 Athletinnen und Athleten vertreten sein. Die Sportstätten der Schweizer Delegation werden alle sehr zentral in Paris liegen. Lediglich Sportschiessen, die Sportart, in der Swiss Paralympic den einzigen schon jetzt sicheren Quotenplatz besitzt, wird in Châteauroux stattfinden, 270 km südlich von Paris. Die fast drei Stunden Fahrt wären zu viel und entsprechend wurde ein separates Paralympic Village definiert.
Das Hauptvillage befindet sich direkt an der Seine in Saint-Denis. Dies ist nicht das Pariser Quartier mit dem besten Ruf. Analog wie Stratford in London 2012 erhofft man sich durch die Spiele eine Modernisierung und einen Aufschwung des Quartiers. Das Paralympic Village wird sehr kompakt sein, es wurde mit grosser Priorität auf kurze Wege geachtet. Die Trainingsanlagen befinden sich für alle Teilnehmen-
den weniger als 20 Minuten entfernt, und 60% der Athletinnen und Athleten werden die Trainingsanlagen sogar innerhalb des Village vorfinden. Auch die Wettkampfstätten werden für die meisten Sportarten vom Village in weniger als 30 Minuten erreichbar sein.
Fans von zu Hause Dies sind hervorragende Voraussetzungen und für Swiss Paralympic gibt es, neben den Befürchtungen von möglichen Streiks, eine grosse Herausforderung: Es ist zu erwarten, dass sehr viel Publikum aus der Schweiz den Weg an die Spiele finden wird. Es wird für die Athletinnen und Athleten wichtig sein, sich von zu viel Aufmerksamkeit und Terminen mit Familien und Freunden abgrenzen zu können. Darauf werden sie frühzeitig vorbereitet und auch die Angehörigen werden entsprechend sensibilisiert. Schliesslich ist die Teilnahme an
den Paralympics ein Highlight in der Karriere und der Fokus liegt darauf, die optimale Leistung zu zeigen.
Das Organisationskomitee POGOC hat hohe Ziele. Paris 2024 soll klimaneutral sowie in ethischen Fragen sehr nachhaltig sein und nicht nur in Frankreich positiv wirken. Aus diesen Gründen werden 95% der Bauten für die olympischen und paralympischen Spielen bestehende oder temporäre Bauten sein. Das Paralympic Village kommt komplett ohne Klimaanlagen aus und die Kühlung soll durch andere Massnahmen und cleveres Bauen erreicht werden. Verschiedene weitere Projekte sollen den ökologischen Fussabdruck minimieren und alles, was trotzdem anfällt (inklusive der Anreisen aller Zuschauer), soll mit CO2-Kompensationsprojekten abgedeckt werden. Die kurzen Reisewege werden auch für diesen Aspekt helfen.
Das POGOC hat mit dem Pride House ein weiteres Projekt gestartet: Dieses wirbt gegen jegliche Form von Diskriminierung. Das Projekt gilt als Start für komplett diskriminierungsfreie Spiele. Paris 2024 hat also hohe Ziele und zeigt auf, in welche Richtung Grossevents jetzt und in Zukunft gehen müssen, um Paradebeispiel für einen sorgsamen Umgang mit der Welt und ihren Lebewesen zu sein.
Wir dürfen uns auf Paris 2024 freuen!
ROLLSTUHLSPORT Paracontact I Herbst 2023 39 PARALYMPICS PARIS 2024
Mehr über die
Offizielle Website www.paris2024.org
Spiele
Paris 2024 Ein Event der Superlative
Sport- und Freizeitcamp
Insgesamt 18 Teilnehmende konnten verschiedene Sport- und Freizeitaktivitäten kennenlernen oder wiederentdecken. Aber was hat es mit dem «move on» in Yverdon-les-Bains auf sich? Tauchen wir doch einfach in die Veranstaltung ein.
Von Sophie Gnaegi
Am Freitag, 9. Juni 2023 um 11 Uhr nahm
Tagesleiter Roger Baumann in Romanelsur-Lausanne die Teilnehmenden in Empfang – sogar die Romands waren überpünktlich! Tennis (in der Halle) eignete sich bestens für den Start, denn die Sportart lässt sich problemlos durchführen, selbst wenn das Wetter nicht mitspielt. Am Samstag und Sonntag fand das Camp in der Schule Rives in Yverdon und in der näheren Umgebung (Neuenburgersee, Skatepark, Strand) seine Fortsetzung.
Manche kommen zum ersten Mal …
Bei der Anmeldung erstellten die Teilnehmenden eine Liste der Aktivitäten, für die sie sich besonders interessieren. Delphine Clavien, die erstmalig am «move on» und sogar überhaupt zum ersten Mal an einer SPV-Aktivität dabei war, wählte RollstuhlSkaten (WCMX), Tischtennis, Kajak und Badminton. «Die anfänglichen Bedenken waren schnell verflogen, als wir von den Organisatorinnen und Sportlern vor Ort
sehr herzlich empfangen wurden.» Das Einfühlungsvermögen der Betreuenden und ihre Fähigkeit, sich an die Bedürfnisse jedes und jeder Einzelnen anzupassen, hat der Neuenburgerin am besten gefallen.
und andere kommen wieder Myriam Vuillermet, die in der Region Échallens wohnt, fuhr allein für die Sportart Orientierungslauf erneut ans «move on». Für sie ist es immer wieder schön, Bekannte zu sehen und sich an der frischen Luft sportlich zu betätigen. Ihr ElektroRollstuhl verschaffte ihr einen leichten Vorteil, um die Posten schneller zu erreichen, sofern sie vor lauter Geschwindigkeit beim Kartenlesen nichts übersah.
Sandra Laube reiste gar aus dem Kanton Schwyz an, um in Yverdon dabei zu sein. Sie war 2022 bereits am «move on» in Nottwil und freute sich, dort geknüpfte Kontakte wieder zu treffen. Denn mit einigen von ihnen ist sie inzwischen befreundet.
Sandra Laube schätzt es sehr, neue Bekanntschaften zu schliessen, sich mit anderen Menschen im Rollstuhl auszutauschen und ganz verschiedene Aktivitäten auszuprobieren.
Kulturelle Durchmischung
Die Teilnehmenden hatten unabhängig von Kanton und Muttersprache keine Berührungsängste. Beim Sport rückte der legendäre Röstigraben schnell in weite Ferne. Nicht weniger als sieben Kantone waren an diesem Camp vertreten. Dieselbe Vielfalt zeigte sich auch beim angebotenen Programm: Wassersport mit Kajak oder SUP, Salsa, Ballspiele mit Unihockey oder Boccia, Fechten und Entspannung mit Yoga oder Meditation und nicht zuletzt Go-Tryke oder der Mobilitätskurs. Alle hatten viel Spass und konnten verschiedenste Sport- und Freizeitaktivitäten kennenlernen. Meist wurde der Tag beim gemütlichen Zusammensein – oft auch «dritte Halbzeit» genannt – abgeschlossen. Bisweilen fiel sogar der neue Veranstaltungsname «move welsch». Denn ab einer bestimmten Zeit hatte es an der Bar tatsächlich nur noch Romands. Ein bisschen kulturelle Tradition darf man doch pflegen, nicht wahr?
Alle freuen sich schon jetzt auf ein Wiedersehen bei einem kommenden «move on» oder einer Clubaktivität.
www.spv.ch (Breitensport)
40 Paracontact I Herbst 2023 Mehr Informationen
ROLLSTUHLSPORT «MOVE ON»
Gruppenbild «move on» Yverdon 2023
Zurück an die Spitze
Nach über 15 Jahren kehrt das «nationale Turnier» am 30. September und 1. Oktober als Startpunkt der neuen Basketballsaison zurück ins Tessin. Für die Ticino Bulls der Anfang einer langen Reise.
Von Nicolas Hausammann
Der letzte Grosserfolg der Ticino Bulls liegt bereits eine Weile zurück. 1999 holten die Ticinesi der Gruppo Paraplegici Ticino (GPT) den Schweizer Cup in die Sonnenstube. Zuvor in den Achtziger- und Neunzi-
Spielerinnen und Spieler anzuziehen sowie Ex-Fussgängerbasketballer zum Rollstuhlsport zu motivieren, die wegen Verletzungen nicht mehr im Stehen spielen können», erklärt Remo Semmler, Teamleader der
ert. Das Tourismus-Büro von Bellinzona vermarktet den Abendevent öffentlich zusammen mit dem Turnier. Neben der erhöhten Aufmerksamkeit erhofft sich der Club auch einen Zustupf in die Clubkasse für die kommende Saison im Hinblick auf die hochgesteckten Ziele.
Der Dreijahresplan
Sportlich wollen die Ticino Bulls sich in der Master League etablieren, nach dem Sieg in der Challenge League von vergangener Saison. Man will sich oben festbeissen und in die Playoffs vorstossen: «Unser Ziel ist Rang drei in der Meisterschaft. Die ersten beiden Teams sind wohl noch eine Nummer zu gross für uns», beschreibt Remo Semmler die Aussichten seines Teams. Aber wer weiss, vielleicht ist ja im Cup etwas möglich, wo es nur ein Spiel braucht, um eine Überraschung zu schaffen. Für die Bulls zählt vorerst nicht der unmittelbare Erfolg beim Heimturnier oder in der bevorstehenden Saison. Vielmehr wollen sie in den nächsten drei Jahren ein stabiles Fundament gestalten, worauf sich langfristig Erfolge aufbauen und die Integration in die sportbegeisterte Region rund um Bellinzona ermöglichen lassen.
gerjahren gewann das Team aus Bellinzona gar ganze sechs Schweizer Meistertitel. Nun hat sich der Club zum Ziel gesetzt, an diese glorreichen Zeiten anknüpfen zu können und mit jungen Spielerinnen und Spielern ein neues solides Fundament aufzubauen.
Gesprächsstoff in der Region
Um die hochgesteckten Ziele zu erreichen, soll auch die Präsenz im Sport- sowie Veranstaltungsprogramm der Region gestärkt werden. «Wir wollen Rollstuhl-Basketball im Tessin endlich zurück aufs Tapet bringen und in der Öffentlichkeit für mehr Aufmerksamkeit dieser grossartigen Sportart sorgen. Davon erhoffen wir uns, junge
Bulls und Mitglied des Organisationskomitees des Turniers. Im OK hat Remo Semmler neben arrivierten Kräften bereits eine neue engagierte Clique um sich geschart.
Grosses Basketball-Fest
Das «Palasport» Bellinzona ist ein Traditionsort des Tessiner Basketballs, wo die Fussgänger Titel feierten und auch so manche heisse Partie der Rollstuhl-Basketballer ausgetragen wurde. Ende September soll dort nicht nur der Start in die neue Saison eingeläutet, sondern auch ein Fest für die Basketballszene und die gesamte Region gefeiert werden. Im «Espo Centro» gleich neben der Basketball-Halle wird am Abend zu Livemusik gegessen und gefei-
Paracontact I Herbst 2023 41 ROLLSTUHLSPORT BASKETBALL
TORNEO NAZIONALE
www.gpticino.ch BELLINZONA COMPETIZONI DALLE 9.30 PALASPORT EVENTO FESTA SERALE DALLE 20.00 ESPO CENTRO CON LE BAND LARALBA E ALTO VOLTAGGIO Nationales Turnier Sementina 30.9.–1.10.2023 Infos unter www.gpticino.ch oder www.basketball.spv.ch
WHEELCHAIR BASKETBALL 2023 10 SQUADRE
30.9 1.10
Ticino Bulls Ein Team mit grossen Zielen
Motion fordert kürzere IV-Verfahren
Die von Patricia von Falkenstein (FDP) eingereichte Motion «IV-Verfahren beschleunigen und finanzielle Absicherung der Versicherten während des Verfahrens sicherstellen» fordert den Bundesrat auf, Massnahmen zu ergreifen, um die Dauer des Abklärungsverfahrens zur Berechtigung von IV-Leistungen zu verkürzen.
Die Prüfung von IV-Ansprüchen nimmt häufig sehr viel Zeit in Anspruch. Allfällige Krankentaggeldleistungen sind dann meist schon seit Langem ausgeschöpft und das persönliche Vermögen ist aufgebraucht, die Betroffenen verschulden sich und sind schliesslich auf Sozialhilfe angewiesen. Die finanziellen Sorgen führen in vielen Fällen zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustands der Betroffenen. Es braucht also Massnahmen, welche die IV-Verfahren beschleunigen und die finanzielle Absicherung der Betroffenen sicherstellen.
SAHB
Umfrage
Die Berner Fachhochschule führt im Auftrag der SAHB voraussichtlich Mitte September 2023 eine Befragung von versicherten Personen durch. Sollten Sie eine Einladung zur Teilnahme erhalten, bitten wir Sie, diese auszufüllen. Nur so erhält die SAHB wertvolle Rückmeldungen.
Weltweit arbeiten Forschende verschiedener Disziplinen daran, Rückenmarkverletzungen zu heilen.
Am 26. Oktober 2023 bringen wir in Nottwil Forschende, Betroffene und Personen aus dem pflegerischen oder privaten Umfeld zusammen und zeigen, wo die Forschung heute steht. An der Tagung, die von der Berner Fachhochschule gemeinsam mit
der Schweizer Paraplegiker-Stiftung organisiert wird, erhalten Sie Inputs zu den Themen Wiederherstellung des natürlichen Gehens, Funktionelle Elektrostimulation, Exoskelette, nicht-invasive Rückenmarkstimulation und klinische Studien. Die Teilnahme ist kostenlos.
Informationen und Anmeldung bfh.ch/forschungsstand-paraplegie
EMPFANG
Bundesrätin ehrt Athleten
Am 19. Juni empfingen Sportministerin Viola Amherd und Nationalratspräsident Martin Candinas erfolgreiche Schweizer Athletinnen und Athleten.
Ins Bundeshaus eingeladen waren alle Sportlerinnen und Sportler, die im vergangenen Jahr an Welt- oder Europameisterschaften Medaillen erkämpft hatten. Unter ihnen
waren auch Athletinnen und Athleten von Rollstuhlsport Schweiz. Sie seien Leuchttürme für eine inklusive Schweiz, sagte Swiss-Paralympic-Präsident Laurent Prince in seiner Rede. Jürg Stahl, Präsident von Swiss Olympic, rühmte die grossartigen Erfolge der Schweizer Sportfamilie und gratulierte herzlich zu den tollen Leistungen.
42 Paracontact I Herbst 2023 VERMISCHTES
POLITIK
TAGUNG Stand der Forschung
Jahreskongress in Griechenland
Vom 31. Mai bis 3. Juni trafen sich die Mitglieder des gesamteuropäischen Verbands der Querschnittgelähmten ESCIF in Thessaloniki.
Die griechische Mitgliedsorganisation PASPA organisierte die diesjährige Jahrestagung. Der Kongress bot ein reiches Programm an Referaten und ausreichend Gelegenheit für den Austausch untereinander. Die Teilnehmenden aus verschiedenen europäischen Ländern diskutierten das The-
ma der persönlichen Assistenz. Ein weiterer Tagungsschwerpunkt widmete sich dem barrierefreien Tourismus. Der dritte Fokus lag auf den durch den Klimawandel zunehmenden Wetterextremen und ihren Folgen für Menschen mit Querschnittlähmung.
2024 wird Deutschland Gastgeberin sein und den Kongress in Berlin austragen.
Mehr über den ESCIF-Kongress escif.org
Walliser Verfassung
Der Kanton Wallis legt mit seiner neu entworfenen Kantonsverfassung den Grundstein für die in Bezug auf Menschen mit Behinderung wohl progressivste Kantonsverfassung der Schweiz.
Am 25. April 2023 hat der Walliser Verfassungsrat den Entwurf mit 87 zu 40 Stimmen verabschiedet. Bemerkenswert ist insbesondere, dass der Verfassungsentwurf in Art. 43
keine Einschränkung der politischen Rechte aufgrund einer Behinderung mehr vorsieht. Komplett neu ist zudem der Art. 16 zu den Rechten von Menschen mit Behinderungen. In diesem Artikel wird unter anderem das Recht auf angemessene Vorkehrungen für die Ausübung der Grundrechte festgeschrieben. Der Entwurf wurde nun dem Staatsrat übergeben. Das nächste Wort hat das Volk.
FACHAUSTAUSCH
Berner Fachhochschule in Nottwil
Anfang Juli hat das Team von PART – Kompetenzzentrum
Partizipative Gesundheitsversorgung der Berner Fachhochschule das Schweizer Paraplegiker-Zentrum besucht.
PART setzt sich ein für die Mitbestimmung und Mitwirkung von Menschen mit Krankheitserfahrung oder Behinderung in Forschung, Lehre und Praxis. Dank einer Einladung von Danielle Pfammatter, Leiterin Peer Support und Angehörigenarbeit im SPZ, und der dynamischen und eindrücklichen Führung von Peer Nadia Dell’ Oro hat das PART-Team viel gelernt, unter anderem wie wichtig die richtige Versorgung nach einem Unfall ist, wie viel (mehr) Zeit Menschen mit Querschnittlähmung oder einer Krankheit bzw. Behinderung brauchen für alltägliche Handlungen. Auch das Thema Alter wurde besprochen. Die Offenheit und das Engagement der Peers waren beeindruckend.
Das Gelernte nimmt das Team von PART auf jeden Fall mit für seinen weiteren Einsatz für mehr Partizipation im Gesundheitswesen.
Paracontact I Herbst 2023 43
POLITIK
ESCIF
Botschafter der Freude
Auf der Bühne spricht Stephan Freude von der Verantwortung, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Uns erzählt er von seinem Weg dorthin.
Von Nadja Venetz
Ist dein Name auch eine Verpflichtung?
Ich liebe meinen Namen und sehe ihn eher als wundervolle Aufgabe. Im Namen der Freude unterwegs zu sein, ist für mich zur Berufung geworden. Es erfüllt mich, Menschen zu inspirieren, sie zu begeistern und zu ermutigen. Natürlich kenne ich auch Momente, an denen ich unmotiviert bin und etwas nicht so läuft, wie ich es mir wünsche. Das gehört zum Menschsein dazu. Wichtig ist, dass wir Strategien haben, da wieder rauszukommen. Nach meinem Unfall vor 26 Jahren war das ein langer, lehrreicher Weg, bei dem anfangs auch viele Tränen flossen. Aber ich sehe in allem, was passiert, einen Sinn – auch in meinem Unfall. Um es in einem Satz zu sagen: Freude ist meine Lebensphilosophie.
Du sagst, es sei ein langer Weg gewesen. Wie sah der aus?
Nach meinem Unfall habe ich schnell erkannt, dass mein Leben nicht vorbei ist. Ich kann trotzdem etwas daraus machen und das war und ist eine bewusste Entscheidung. Vor dem Unfall habe ich viel Sport gemacht. Mir Ziele zu stecken und darauf hinzuarbeiten, entsprach meinem Mindset. Das hat mir sehr geholfen. In der Reha hatte ich zwei übergeordnete Ziele: Meine Selbstständigkeit wiederzuerlangen und mein Leben wieder mit Freude zu geniessen. Ich war Schreiner, somit war klar, dass ich diesen Beruf nicht mehr ausüben kann. So studierte ich Wirtschaftsingenieurwesen. Ich suchte mir neue sportive Hobbys und ging Beziehungen ein. Vor allem in der ersten Zeit nach meinem Unfall stellte ich fest, wie oft ich in Schubladen gesteckt wurde – weil ich im Rollstuhl sitze. Das war hart, erschreckend und ernüchternd.
Was waren das für Schubladen?
Die Gesellschaft sagt mir als Rollstuhlfahrer, was ich kann und was nicht. Das hat mich stark beschäftigt. Ich war an der Fachhochschule der erste Student im Rollstuhl, welcher ein Auslandspraktikum machen wollte, herrje. Verrückte Sachen zu machen, war voll mein Ding. Zwei Jahre nach dem Unfall wollte ich Fallschirm springen. Immer wieder hörte ich «Das geht nicht, das ist zu gefährlich, du sitzt im Rollstuhl».
Mein Ziel war klar, und ich habe so lange gesucht, bis ich einen entsprechenden Tandempiloten gefunden habe. Und es hat funktioniert. Wenn du willst, gibt es eine Lösung; wenn du nicht willst, findest du eine Ausrede. Ich verstand, dass viele von diesen Glaubenssätzen gar nichts mit dem Rollstuhl zu tun haben. Sie begegnen uns auch bei Menschen, die keine gesundheitlichen Probleme haben. Es ist ein Thema unserer Gesellschaft. Ich reflektierte, was
44 Paracontact I Herbst 2023 FOKUS IM GESPRÄCH
Stephan Freude Der Name ist Programm
mir wichtig ist im Leben, und habe so meinen Weg gesucht. Auch in der Arbeitswelt. Ich wollte mich als junger Mann profilieren und aufzeigen, dass ich trotz Rollstuhl Leistung erbringen kann.
Wie ging es beruflich nach dem Unfall für dich weiter?
Nach dem Studium war ich als Projektmanager in der Automobilzulieferindustrie tätig und habe dort Karriere gemacht. Ich hatte lange den Eindruck, mich der Gesellschaft beweisen zu müssen. Ich habe viel gearbeitet und war erfolgreich, aber es hat mich nicht glücklich gemacht. Zu der Erkenntnis brauchte ich allerdings einige Zeit. Schon kurz nach dem Unfall ermutigte mich mein Umfeld, mit Menschen zu arbeiten. In der damaligen Zeit habe ich mich darin nicht gesehen. Heute würde ich sagen, ich war dafür noch nicht reif. Aber wie das Leben so spielt: Während einer Coachingausbildung fand ich mich auf der Bühne wieder. Dank der vielen Feedbacks merkte ich, wie sehr ich die Menschen durch meine Geschichte, meine Einstellung zum Leben und meinem Weg berühre und gleichzeitig ermutige.
Du bist heute Speaker, Dozent und Botschafter. Was ist deine Botschaft? Wir brauchen Freude in unserem Leben. Bei der Arbeit, in unseren menschlichen Beziehungen, in unseren Hobbys, überall. Freude gibt unserem Leben Sinn. Ich lade die Menschen ein, ihr Leben anzuschauen und zu hinterfragen, ob sie damit glücklich sind. Freude ist pure Potenzialentfaltung. Sie führt Menschen in ihre Brillanz.
Das ist mein Thema auf der Bühne, egal ob in Unternehmen, bei Kongressen, in Schulen, Sozialverbänden oder in Rehakliniken. Meine Geschichte inspiriert die Menschen. Die mir meist gestellte Frage ist die Basis meiner Arbeit: «Wie hast du es trotz deines intensiven Handicaps geschafft, so viel Freude in deinem Leben zu haben?» Mein Weg begeistert und ermutigt die Menschen. Manchmal geht es auch um Diversität, ein hochaktuelles Thema. Ich wünsche mir dabei immer, dass wir mit Respekt und Würde miteinander umgehen. Dann wird es nämlich egal, welche Hautfarbe wir haben, welche sexuelle Orientierung oder was für ein Handicap.
Was sind das für Leute, die im Publikum sind?
Es gibt verschiedene Beweggründe. Bei Unternehmen sind es Mitarbeitende und Führungskräfte, bei Kongressen kommen die Menschen, weil sie neugierig auf meine Geschichte und meinen Weg sind. Sie wollen wissen, wie ein Leben im Rollstuhl ist, aber genauso, was sie von mir lernen können, zum Beispiel, wie man mit Krisen umgeht. Die Menschen wollen in ihrem Leben weiterkommen und sich ihrer Potenzialentfaltung widmen.
Du arbeitest auch mit angehendem medizinischen Fachpersonal sowie mit Frischverletzten. Was machst du da? Es sind Studierende, Pflegekräfte, Ärztinnen und Therapeuten aus medizinischen Fachrichtigen (Medizin, Physiotherapie, Gesundheitswissenschaften). Da geht es um das alltägliche Leben mit Handicap. Wir
stellen Situationen nach, zum Beispiel eine Visite oder alle setzen sich in einen Rollstuhl und machen einen Transfer. Situationen sollen erfahren und erfühlt werden. Ich vermittle aber auch spezifisches Wissen über Querschnittlähmung. Was bedeutet das gesundheitlich, für die Wohnund Arbeitssituation, für das soziale Leben? Mir ist der Austausch wichtig. Es gibt keine Tabus, seien es Fragen zu Blase, Darm oder Sexualität. Dies ist auch meine Maxime in der Arbeit mit Frischverletzten,
wenn ich als Peer tätig bin. Sie sollen sehen und hören, wie es nach der Reha weitergehen kann. Dabei geht es um Inspiration für das «neue» Leben, aufzuzeigen, dass das Leben weitergeht. Mut machen. Tipps und Tricks mitgeben. Mit meiner Geschichte zeige ich auf, dass wir alle die Möglichkeit auf ein Leben mit Freude haben. Es ist eine Entscheidung, die jeder Mensch für sich selbst treffen darf.
Du möchtest dein Publikum inspirieren. Was inspiriert und motiviert dich? Mein noch nicht gelebtes Potenzial. Da geht noch so viel mehr! Es ist die Verbindung vom Ziel, das immer auch der Weg ist, und dem Weg, der zum Ziel führt. Also einerseits motivieren mich Ziele, aber andererseits geniesse ich auch den Weg und somit das Leben. Denn darin liegt so viel Schönheit – ich darf sie nur sehen und mir bewusst machen.
Paracontact I Herbst 2023 45
Potenzialentfaltung Den eigenen Weg gehen und Neues wagen
«Wir brauchen mehr Freude im Leben»
Du hast Ziele erwähnt. Bist du jemand, der sich Ziele steckt?
Ja. Ziele sind für mich essenziell, um eine klare Ausrichtung zu haben. Sie fokussieren mich auf das, was für mich wichtig und wesentlich ist. In meiner Rehazeit war mein erstes Ziel, wieder selbstständig zu werden. Ich bin gewaschen worden, angezogen, gefüttert, man hat mir bei der Körperpflege geholfen und bei der Toilette. All das, was man eigentlich nicht will. Dort in der Physiotherapie musste ich unzählige Übungen machen. Zum Beispiel gab es dort ein ganz tiefes Sofa gefüllt mit Styroporkügelchen, ähnlich einem Sitzsack. Superbequem bis zu dem Moment, wo du wieder rausmusst, erst recht als Paraplegiker. Ich habe meine Physiotherapeutin gehasst für diese Transferübung. Im späteren Verlauf der Reha durfte ich immer wieder mal über das Wochenende nach Hause. Eines Abends war ich mit meinen Kollegen im Kino. Ich sah dem Kinosessel an, dass er sehr viel bequemer sein würde als mein Rollstuhl. Meine Kollegen fragten hilfsbereit, was sie machen sollten, aber ich beharrte darauf, dass ich das allein könne, auch wenn ich keine Ahnung hatte, ob es funktionieren würde. Es klappte. Gleichzeitig war mir bewusst, dass ich wieder zurück in den Rollstuhl musste. Der Film war fertig, alle Blicke waren auf mich gerichtet. Wieder klappte es. Ich war unheimlich stolz. Da habe ich gemerkt, wie sehr sich mein Training gelohnt hatte. Dieser Erfolg hat mich motiviert, an meinem Ziel dranzubleiben.
Was ist ein aktuelles Ziel, das du verfolgst?
Schon immer wollte ich ein Buch schreiben. Viele Menschen haben mich nach meinen Vorträgen danach gefragt. Jetzt endlich habe ich das Projekt gestartet. Vor ein paar Wochen habe ich mir dafür eine Schreibauszeit genommen. Das Thema des Buches ist natürlich Freude. Aktuell suche ich dafür einen Verlag. Zugleich bin ich dabei, meine Selbstständigkeit weiter aufzubauen. Das ist beruflich und privat herausfordernd – aber es ist toll. Meine Frau ist mir eine extrem gute Sparringspartnerin und hilft mir, Dinge zu reflektieren. Wir fordern und fördern uns auf eine liebevolle Art und Weise. Ein tragendes Umfeld ist essenziell. Ich bin überzeugt, dass wir generell als Team stets mehr erreichen wie als Einzelkämpfer.
Was würdest du heute deinem 22-jährigen Ich im Spitalbett sagen?
Die Frage berührt mich grad. Ich würde ihm sagen: Es kommt alles gut. Du darfst vertrauen. Go for it! Es ist dein Leben und deine Entscheidung. In einer solchen Situation geht es darum, Mut zu machen und Zuversicht aufzuzeigen. Negative und angstverbreitende Menschen gibt es genug. Das kann man in einem solchen Moment nicht gebrauchen. In meinen Gesprächen mit Frischverletzten erlebe ich oft eine gewisse Ausweglosigkeit. Mir zog es damals anfangs auch den Boden unter den Füssen weg. Ich verlor meinen Beruf als Schreiner,
meine ganzen sportlichen Hobbys konnte ich nicht mehr ausüben. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich jemals wieder eine Partnerin finden würde. Ich bin in ein Loch gestürzt, weil ich nur sah, was ich verloren hatte. Wenn du willst, gibt es einen Weg, wie auch immer der aussieht. Dieses Vertrauen und den Mut besass ich zum Glück schon immer. Das hat mir damals sehr geholfen, genauso wie der Sport. Rückblickend kam auch alles gut. Ich führe ein glückliches Leben. Natürlich hat der Rollstuhl einen Einfluss auf meinen Alltag, trotzdem habe ich ein erfülltes Leben. Klar habe ich auch Momente, in denen die Sonne nicht scheint. Das ist menschlich und völlig in Ordnung. Wichtig ist, die eigenen Bedürfnisse zu spüren und zu berücksichtigen. Ich meditiere jeden Morgen. Das ist für mich ein wichtiger Schlüssel. Es gibt mir Energie und richtet mich aus.
Was macht Stephan Freude Freude? Lachen, leckeres Essen, ein Feuer machen und ihm zuschauen, laut Musik hören, Tanzen, ein gutes Gespräch, eine Atemmeditation, in die Sauna gehen, Sport machen, ein inspirierender Austausch mit meiner Frau oder Freunden, ein gutes Buch lesen, ein gutes Glas Rotwein, in die Natur gehen oder kindischen Quatsch machen. Ich habe mir mit diesen Dingen eine sogenannte Freudenliste kreiert. Sie hängt bei mir im Schlafzimmer und ist auf meinem Handy abgespeichert, sodass ich sie immer hervorholen kann. Das hilft mir, wenn es mir nicht gut geht, denn in solchen Momenten komme ich nicht drauf, was mir helfen könnte. Ebenso helfen mir diese Dinge, Unangenehmes wie Steuererklärung, Putzen usw. zu erledigen. Mit guter Musik putzt es sich leichter oder nach der Buchhaltung gibts einen feinen Kaffee zur Belohnung. Auch wenn meine To-do-Liste viel zu lange scheint, nehme ich mir an einem schönen Tag frei und flitze über kurvige Bergstrassen. Das tut meiner Seele einfach gut. Freude macht einen solchen Unterschied im Leben. Für mich ist sie einer der stärksten Motivatoren. Und ich weiss, dass wir Menschen Freude brauchen. Denn wenn wir Freude in unserem Tun haben, haben wir Sinn in unserem Leben. Das erfüllt uns. Darum macht Freude den Unterschied.
46 Paracontact I Herbst 2023
Die kleinen Freuden des Lebens geniessen
Im Rollstuhl über den Gotthard
In der fünfteiligen Abenteuerserie «SRF ohne Limit» treten Menschen mit und ohne Querschnittlähmung zur Herausforderung ihres Lebens an.
Von Nadja Venetz
Neun Personen überwinden aus eigener Kraft in Dreierteams den Gotthard. Fünf Tage haben sie Zeit. Das Team, das zuerst in Airolo ankommt, gewinnt eine Reise. Nebst vielen Höhenmetern wartet täglich eine Challenge auf die Teilnehmenden. Das Team, das eine Challenge für sich entscheidet, erspielt sich einen Vorteil in Form von Essen oder einem Zeitbonus. Pro Team mit dabei: eine Person im Rollstuhl. Das Konzept von «SRF ohne Limit» verspricht eine wilde Abenteuerreise für alle Beteiligten. Die Schweizer Paraplegiker-Stiftung unterstützt die Produktion als Sendungspartnerin mit ihrem Know-how.
«Dass SRF mit diesem Format auf die Themen Querschnittlähmung und Inklusion aufmerksam macht, ist eine grosse Chance», erklärt Viviane Speranda von der Schweizer Paraplegiker-Stiftung. Ein Jahr Vorbereitung ging den Dreharbeiten voraus. «Das Projektteam hat sorgfältig abgeklärt, unter
welchen Bedingungen Querschnittgelähmte mitmachen können; und Abenteuerlustige gesucht, die über sich hinauswachsen wollen», fügt Viviane Speranda an.
An einem Casting wurden die neun Teilnehmenden ausgewählt. Unter ihnen waren Gianmarco Di Leonardo (21), Walter Eberle (61) und Michaela Vogler (34). Walter Eberle brachte zwei Begleiterinnen aus seinem Bekanntenkreis mit, während die anderen beiden ihre Reise mit Fremden antraten. «Wir haben ganz gut harmoniert, mussten die ersten Tage aber austüfteln, wie wir Hindernisse am besten überwinden. Wenn ich mich nicht wohlgefühlt habe, haben wir das geklärt und sind als Team immer schneller geworden», erinnert sich Gianmarco Di Leonardo.
Auf Herz und Nieren geprüft Bevor der Wettlauf über den Gotthard losging, mussten sich alle neun Teilnehmenden einer medizinischen Untersuchung im Schweizer Paraplegiker-Zentrum unterziehen. Nur wer körperlich sehr fit ist, kann dieses Abenteuer bestehen. In Frage kamen deshalb auch nur Personen mit einer niedrigen Lähmungshöhe. Björn Zörner, Chefarzt Paraplegiologie am SPZ, hat die Dreharbeiten medizinisch begleitet. Viviane Speranda stellt klar: «Die Überquerung hat alle an ihre Grenzen gebracht, egal ob zu Fuss oder im Rollstuhl.» Im Begleitfahrzeug wurden Ersatzteile für die Rollstühle und medizinisches Material wie Katheter mitgeführt. Die Teilnehmenden haben eine rudimentäre Grundausrüstung und Ver-
pflegung erhalten. Übernachtet haben sie im Freien. Moderiert wird die Sendereihe von Kiki Mäder (Happy Day) und Christoph Kunz (mehrfacher Paralympicsgewinner).
«Den Start fand ich noch easy. Am ersten Tag waren wir viel auf Asphalt unterwegs. Als wir jedoch am zweiten Tag ins Gelände gingen, wurde es mental schwierig für mich. Ich hatte Angst, im unwegsamen Gelände aus dem Rollstuhl zu fallen. Aber ich habe mich dann gefangen. Die fünf Tage waren eine coole Erfahrung», bilanziert Gianmarco Di Leonardo. «Als Rollstuhlfahrer an Orte zu kommen, die für mich sonst nicht zugänglich sind, war mein persönliches Highlight. Am vierten Tag hatten wir einen atemberaubenden Ausblick auf Airolo. Auch draussen in der Natur aufzuwachen, war schön.» Er gewöhnte sich rasch an die Kameras, die jede Handlung und jede Gemütsregung festhielten.
«SRF ohne Limit» will zeigen, dass als Team alles möglich ist. Ob das gelingt, können Sie sich selbst überzeugen.
FOKUS
Moderation Kiki Mäder, Christoph Kunz
Gotthard Aufwendige Produktion
FERNSEHEN
Gianmarco Di Leonardo Coole Erfahrung
Paracontact I Herbst 2023 47
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Eine Studie von REHAB Basel und formative works, finanziert durch die Schweizer ParaplegikerStiftung
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Der Besuch der alten Dame
Die Seelsorge des SPZ vermittelt auf Wunsch Freiwillige an Patientinnen und Patienten, welche wenig oder keinen Besuch empfangen während ihres Klinikaufenthaltes.
Von Gabi Bucher
Es fing an bei einem Glas Wein nach einer Lesung in der Bibliothek des Schweizer Paraplegiker-Zentrums (SPZ). Ich sprach mit Seelsorger Stephan Lauper über sinnvolle Beschäftigungen für Pensionierte, darauf erzählte er mir vom Besuchsdienst. Einmal die Woche verbringe man eine Stunde mit einem Patienten, der sich etwas Gesellschaft wünsche. Die Besuchszeiten könnten zusammen mit der Therapieplanung des SPZ festgelegt werden. Die Idee gefiel mir. Ich rede gerne, ob mir das Zuhören auch liegt, würde sich zeigen, also meldete ich mich kurz nach unserem Gespräch bei der Seelsorge als Freiwillige.
Unglaubliche Geschichten
Mein erster Patient war Alfred. Er machte mir den Einstieg leicht, denn er erzählte gerne, sehr direkt und teilweise durchaus humorvoll von seinen Lebensumständen. Für mich fast unvorstellbar waren dabei
seine seit 21 Jahre dauernde künstliche Ernährung und deren Auswirkungen. Keine Chance auf ab und zu ein kühles Bier, auch Einladungen seien nicht angesagt, sein Essen fliesse ja pausenlos. Das schränke soziale Kontakte ein. Und im Sommer könne er bei grosser Hitze nicht nach draussen, da die Nahrung im Beutel sonst verderbe. Nein, einfach sei es nicht. Aber es gebe nur zwei Optionen; annehmen oder aufgeben. Er hat angenommen und beschäftigt sich in seiner Freizeit mit Lesen und Sockenstricken. Nach vier Besuchen und etlichen unglaublichen Geschichten aus seiner früheren Tätigkeit als Rettungssanitäter verabschiedeten wir uns voneinander und er kehrte nach Hause zurück.
Zwei Grossmütter unter sich Bald darauf folgte die Anfrage von Ruth. Anfänglich war sie noch sehr müde, da war es an mir, mich einzubringen. Dank
des Austausches mit anderen Freiwilligen merkte ich aber, dass es nicht darum ging, sie zu unterhalten, sondern gemeinsame Themen zu finden. Die fanden wir schnell, eins davon ein Lieblingsthema unter Grossmüttern: die Enkel! Aber wir sprachen auch über ihre Bedenken, nach ihrer Rückkehr in ein Seniorenheim ziehen zu müssen, oder über die schlechte Nacht nach etwas zu viel Raclette, über Opern, übers Wetter, übers Fotografieren, die gute Betreuung auf ihrer Station und über die verschiedenen Zugkompositionen, die sie von ihrem Fenster aus beobachtet. Oft war die Stunde viel zu schnell um, mehr war wegen anstehenden Therapien auch nicht möglich. Es waren schöne Momente und ich verabschiedete mich mit etwas Wehmut von ihr nach fünf Monaten.
Rattenplage in Paris
Mit Michel war die Situation nochmal eine andere: Wegen eines Dekubitus musste er die ersten Wochen liegen, und so traf ich ihn an, eingepackt in Bettlaken bis zum Hals. Es fühlte sich anfänglich seltsam an, nur diesen Kopf auf dem Kissen anzusprechen, es war, als fehlte etwas. Aber mit jedem weiteren Besuch schälte sich seine Persönlichkeit heraus. Wir sprachen über Genf, Kulturperlen, Charles Aznavour, übers Reisen und über die Weltlage im Allgemeinen. Bei gewissen Themen konnte ich mithalten, auch noch bei der aufkommenden Rattenplage in Paris. Bei der Résistance, der Schwarzarbeit und Trump wurde es schwieriger. Mein Wortschatz in Französisch wäre zwar dagewesen, das Wissen aber nicht vertieft genug. Auf meine Bemerkung, er habe sich wohl eher jemanden gewünscht, der besser hätte mitdiskutieren können, lachte er und sagte: «Ach komm, das läuft doch gut mit uns!»
Der Besuchsdienst ist eine spannende, aber auch herausfordernde Aufgabe, denn keine der beiden Parteien weiss, auf wen sie sich einlässt. Aber für mich als Besuchende ist sie sehr befriedigend, denn eins war bis anhin gleich: Alle dankten immer herzlich für den Besuch und für die Zeit, die ich mir für sie genommen hatte. Und Ruth fügte anfänglich immer noch ein berührendes «aber gäu, du chunnsch wieder» an.
Paracontact I Herbst 2023 49 FOKUS
UNSERE HELFER
FÜR
Weltenbummlerin
Monserrat Thalmann arbeitet bei der SPV als Fachfrau Reisen. Die 46-Jährige mit spanischem Blut liebt das Meer, den Norden und die Idylle von Hergiswil am Napf.
Von Peter Birrer
Abschalten vom Alltag, eintauchen in eine andere Welt und Neues entdecken – wer braucht das nicht? Mitglieder der SPV, die Lust auf ein Abenteuer haben, ihre Ferien aber nicht selber buchen wollen, sind bei ihr an der richtigen Adresse: Monserrat Thalmann, Fachfrau Reisen mit reicher Erfahrung. Seit November 2021 bemüht sie sich drei Tage pro Woche darum, den Bedürfnissen ihrer Kundschaft gerecht zu werden und bleibt hartnäckig – etwa dann, wenn die Infrastruktur eines Hotels nicht optimal ist oder Schwierigkeiten beim Transport auftauchen.
Dieser Sektor ist für sie kein Neuland. Die in Rohrbach aufgewachsene Bernerin hat ihre kaufmännische Ausbildung einst in einem Reisebüro des Verkehrs-Clubs der Schweiz in Herzogenbuchsee absolviert und danach in einer Bergschule gearbeitet, die Kletterkurse und Skitouren anbot. Und immer wieder ist sie nach León ge-
reist, in die Heimatstadt ihrer Mutter im Nordwesten Spaniens. Womit auch gleich geklärt ist, woher ihr wunderbarer Vorname stammt.
Sie lebt auf einem Bauernhof Für Monserrat ist die Abwechslung wichtig. Sie zieht es immer wieder in die Ferne. Sie mag fremde Kulturen und liebt Ausflüge in grosse Städte, aber sie geniesst genauso gern die Ruhe ihrer Oase in Hergiswil am Napf. Dort lebt sie mit ihrem Mann Reto und den drei Kindern Hana (15), Timo (14) und Levin (11) auf einem Bauernhof, auf dem sie 20 Mutterkühe halten. Wenn sie sich um den Garten kümmern darf, ihr kleines, buntes Reich mit vielen Blumen, ist sie glücklich.
Langeweile ist für sie ein Fremdwort. Bevor sie ihre Stelle bei der SPV in Nottwil antrat, engagierte sie sich in der Gemeinde als Präsidentin der Bildungskommission.
Und nach Möglichkeit sind die Thalmanns mit ihrem Wohnmobil dreimal jährlich irgendwo in Europa unterwegs, vor einem Jahr ging es nach Schweden, zuletzt nach Nordfrankreich.
Nordlichter als Energiespender Abstecher ans Meer gehören zu Monserrats Favoriten. «Das geht immer», sagt sie. Was ebenfalls immer geht, sind Reisen in den Norden, nach Finnland zum Beispiel, das zu ihren Lieblingsländern zählt und in dem für sie Piroggen ein kulinarisches Muss sind: Teigtaschen, vorzugsweise mit Milchreis gefüllt. Die Nordlichter haben es ihr besonders angetan. «Sie wirken auf mich wie Energiespender», sagt sie.
Um noch besser zu verstehen, welche Wünsche zum Beispiel Tetraplegikerinnen und Tetraplegiker auf Reisen haben, begleitete sie unlängst eine Gruppe nach Madrid. «Mega spannend und lehrreich» seien diese Tage gewesen, sagt sie, nicht zuletzt deshalb, weil man vor Ort oft auf Details achten müsse, die man in der Planung noch nicht weiss.
Die Mehrheit der Kundinnen und Kunden sind Stammgäste, das vereinfacht das Zusammenspiel. Wenn es einmal doch nicht ganz reibungslos läuft, lässt sich Monserrat nicht aus der Ruhe bringen. «Ich bin sehr verständnisvoll», sagt sie, «ich gehe auf die Menschen ein. Bis jetzt haben wir gemeinsam noch jedes Problem aus der Welt geschafft.»
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