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KULTUR UND FREIZEIT

DAS PERFEKTE HOBBY

Was pfeift da im Schilf? Tobias Lötscher, Rollstuhlfahrer und Mitarbeiter der Vogelwarte Sempach, ist seit Jahren als passionierter Ornithologe seltenen Vögeln auf der Spur. Von Gabi Bucher

Wenn am Sempachersee plötzlich ein Roll­stuhlfah­ rer aus dem Schilf kommt, Kame­ra auf dem Schoss und grossen Feldstecher um den Hals, dann ist das mit grösster Wahrscheinlichkeit Tobias Lötscher, der sei­nem Hobby, der Vogelbeobachtung, nach­geht. Tobi, wie man ihn nennt, war schon als Bub mit seinem Rollstuhl gerne in der Na­tur unterwegs. Als Jugendlicher begegnete er auf einem seiner Ausflüge einer Gruppe des Ornithologischen Vereins Sursee und wur­ ­de kurz darauf selber Mitglied. «Da hat es mich endgültig gepackt», erinnert er sich. Mit seiner Anstellung bei der Vogelwarte Sempach vor zehn Jahren hat sich dann noch sein grösster Wunsch erfüllt: Sein Hob­by wurde zum Beruf, schon beinahe zur Berufung, denn Tobi ist wann immer möglich unterwegs zu seinen Vögeln.

Ornithologischer Hype Wie jeder Ornithologe freut sich Tobi, wenn er einen sel­tenen Vogel sieht. Beim Hagimoos in der Nähe von Mau­ensee ha­­be er mal einen Schreiadler entdeckt. «Ich habe Fotos gemacht und sie sofort an Bekannte und Freunde geschickt, um mich ab­zusichern, dass es sich wirklich um einen Schreiadler handelt», erzählt er. «Es gibt eine Plattform, auf welcher man solche Sichtungen veröffentlichen kann, sowie zusätzlich ei­ nen SMS-Service.» Wenn jemand eine seltene Sichtung veröffentliche, könne durch­ aus eine kleine Hysterie ausbrechen. «Wenn da steht: «Raubmöve in Oberkirch», packen Ornithologen aus der ganzen Schweiz ihre Feld­stecher und reisen an.» Bei ganz seltenen Exemplaren muss oder sollte eine solche Sichtung protokolliert werden. Das bringe schon ein bisschen Ruhm, meint Tobi. Tobi Lötscher ganz nah dran

«Das ist aber nicht mein Antrieb, ich freue mich einfach, wenn ich wieder neue Vögel entdecke.» Wie jeder Ornithologe hat er auch seine eigene Liste von Spezies, die er gerne noch sehen möchte. Sein grösster Wunsch? Zuerst winkt er ab, es gebe noch so viele, fügt dann aber mit leuchtenden Augen an: «Eine Harpyie, ein grosser Greif­ vogel, der in Mittel- oder Südamerika lebt, das wär schon was.» Hobby als Trainingskiller Tobi verbringt so ziemlich die ganze Freizeit mit «seinen» Vögeln, auch seine Ferien. «Ich war bereits in Ungarn, in Texas und zwei Mal in Georgien auf Vogelreisen», erzählt er. Dabei reist er in Gruppen, aber mittlerweile auch privat. Er erkundige sich jeweils beim Reiseveranstalter, ob die Rei­ se für Rollstuhlfahrer machbar sei. «Ich er­kläre, worauf zu achten ist bei Transport und Unterkunft, das hat bis jetzt ganz gut geklappt.» Manchmal komme ihm sei­ne Leidenschaft auch fast etwas in die Quere, meint er lachend. «Wenn ich mit dem Hand­bike auf Trainingsfahrt bin und ei­nen seltenen Vogel höre oder sehe, wird es schwierig, mich nicht ablenken zu lassen.» Natur pur Natürlich sei es nicht das einfachste Hobby für Rollstuhlfahrer. «Es gibt Grenzen, aber man findet immer einen Weg und vor allem in der Gruppe ist viel möglich, da wird ei­ nem bei unwegsamen Stellen geholfen.» Das Hobby lasse sich ganzjährig ausführen, einziger Nachteil sei das schlechte Wet­ ter. «Vögel sind halt oft dort unterwegs, wo es auch matschig werden kann. Wenn ich am Ende eines Ausflugs meinen völlig verdreckten Rollstuhl ins Auto laden muss, ist das nicht immer angenehm.» Trotzdem kann er dieses Hobby nur empfehlen. Man müsse zwar etwas fit sein, anfänglich vielleicht auch ein bisschen mutig. «Aber man ist an der frischen Luft, bewegt sich, tauscht sich aus und es ist immer wieder so spannend, man weiss nie, was man antreffen wird», schwärmt er. «Und wenn man dann ein seltenes Exemplar gesehen hat, ist man einfach nur glücklich.» Buchempfehlung Vögel beobachten in der Schweiz ISBN 978-3-7225-0068-3

Paracontact I Frühling 2020

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