Nr. 1 Saison 21/22 - Dialog

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DIALOG 1./2. SEPT. 2021 19.30 UHR STADTCASINO BASEL

PROGR AMM-MAGAZIN NR. 1 SAISON 21/22

Sinfonieorchester Basel Gabriela Montero, Klavier Rudolf Lutz, Orgel Ivor Bolton, Leitung


ENDLICH WIEDER ZEIT FÜR MUSIK, KUNST UND REISEN Peter Potoczky | Malzgasse 7a | 4052 Basel | Tel. +41 61 281 11 88 | pp@divertimento.ch

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SINFONIEKONZERT

INH A LT

DI A LOG Liebes Konzertpublikum Herzlich willkommen zur neuen Konzertsaison. Wir haben uns viel vorgenommen. Mit dem Kompass als Signet und einem zuversichtlichen Blick nach vorne verzichten wir bewusst auf den Passus der vergangenen Wochen ‹unter Vorbehalt›. Unser Saisonmotto heisst ‹Herkunft›, und wir möchten mit Ihnen gemeinsam zurückblicken und in einen musikalischen Dialog treten. Rudolf Lutz, Spezialist für historische Aufführungspraxis und Improvisation, eröffnet unsere Saison auf der neuen Metzler-Orgel des Stadtcasinos Basel. Sie werden mit der Pianistin Gabriela Montero und in einem Dialog mit Mozart von Péter Eötvös unsere ‹Artistin› und unseren ‹Composer in Residence› kennenlernen. Ganz im Zeichen des Volkstons steht die 3. Sinfonie von Johannes Brahms. Er selbst hat über die Ursprünge des Werks nur eines verraten: dass das erste Thema «dem Berchtesgadener Jodler wörtlich abgelauscht» sei. Mehr über die Werke und Programme der nächsten Wochen sowie Neuigkeiten aus dem Orchester vor ­und hinter den Kulissen finden Sie in ­dieser neuen Ausgabe unseres Programm-Magazins. Wir freuen uns sehr, dass wir die Münchner Schriftstellerin Eva Gesine Baur, die auch unter dem Pseudonym Lea Singer mancher Leserin und manchem Leser bekannt sein dürfte, unter dem Kürzel EGLEA als neue Kolumnistin gewinnen konnten. Wir wünschen Ihnen bei der Lektüre viel Vergnügen und freuen uns auf Ihren Konzertbesuch.

Hans-Georg Hofmann Künstlerischer Direktor

Ivor Bolton Chefdirigent

PROGR A MM

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IN TERV IE W Tobit Schäfer, Stiftung Sinfonie­ orchester Basel

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N EU IM PROGR A MM

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RU DOLF LU TZ Präludium – Orgelimprovisation

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PÉTER EÖT VÖS Dialog mit Mozart, Da Capo für Orchester 16 WOLFG A NG A M A DÉ MOZ A RT Konzert für Klavier und Orchester Nr. 24 c-Moll

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IN TERV IE W Gabriela Montero

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JOH A N N ES BR A HMS Sinfonie Nr. 3 F-Dur

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ORTSGESCHICHTEN von Sigfried Schibli

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VORGESTELLT Yulia Kopylova, 2. Konzertmeisterin 28 FR AGEN DE ZEICHEN von EGLEA

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IN ENGLISH

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V ER EIN ‹FR EU N DE SIN FON IEORCHESTER BASEL› 39 IM FOK US

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DEMNÄCHST

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VORV ER K AUF

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© Benno Hunziker

Ivor Bolton, Chefdirigent

VORV ER K AUF, PR EISE U ND INFOS VORV ER K AU F

Bider & Tanner – Ihr Kulturhaus in Basel Aeschenvorstadt 2, 4010 Basel +41 (0)61 206 99 96 ticket@biderundtanner.ch Billettkasse Stadtcasino Basel Steinenberg 14 / Tourist Info 4051 Basel +41 (0)61 226 36 00 Sinfonieorchester Basel +41 (0)61 272 25 25 ticket@sinfonieorchesterbasel.ch www.sinfonieorchesterbasel.ch Z UG Ä NGL ICHK EIT

Das Stadtcasino Basel ist rollstuhl­­gängig und mit einer Induktionsschleife ­versehen. Das Mitnehmen von Assistenz­hunden ist erlaubt.

PR EISE

CHF 105/85/70/55/35 ER M ÄSSIGU NGEN

• Studierende, Schülerinnen und Schüler sowie Lernende: 50% • AHV/IV: CHF 5 • KulturLegi: 50 % • Mit der Kundenkarte Bider & Tanner: CHF 5 • Begleitpersonen von Menschen mit Behinderung: Eintritt frei (Reservation über das Orchesterbüro)


PROGR A MM

DI A LOG Mi, 1. Sept. 2021, 19.30 Uhr Do, 2. Sept. 2021, 19.30 Uhr Stadtcasino Basel, Musiksaal

ca. 5’ ca. 15’ ca. 30’

18.30 Uhr: Konzerteinführung mit Gabriela Montero und Hans-Georg Hofmann

Rudolf Lutz (*1951):

Präludium – Orgelimprovisation

Péter Eötvös (*1944):

Dialog mit Mozart, Da Capo für Orchester (2016)

Wolfgang Amadé Mozart (1756−1791):

Konzert für Klavier und Orchester Nr. 24 c-Moll, KV 491 (1786) 1. Allegro 2. Larghetto 3. Allegretto PAUSE

ca. 35’

Johannes Brahms (1833−1897): Sinfonie Nr. 3 F-Dur, op. 90 (1883) 1. Allegro con brio 2. Andante 3. Poco Allegretto 4. Allegro

Sinfonieorchester Basel Gabriela Montero, Klavier Rudolf Lutz, Orgel Ivor Bolton, Leitung

Konzertende: ca. 21.30 Uhr

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INTERV IE W TOBIT SCH Ä FER im Gespräch

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TOBIT SCH Ä FER IST NEUER STIFTU NGSR ATSPR ÄSIDENT

VON H A NS-GEORG HOF M A N N

Als Nachfolger der bisherigen Präsidentin des Stiftungsrats ­Barbara Schneider nimmt Tobit Schäfer am 1. August 2021 seine Arbeit als Präsident auf. Er ist für eine Amtszeit von drei Jahren ­gewählt. Durch seine langjährige politische Erfahrung als Mitglied des Grossen Rats Basel-Stadt von 2005 bis 2018 sowie durch sein breites Wirken im kulturellen Bereich ­ ist Tobit Schäfer hervor­ ragend vernetzt. Der künstlerische Direktor des Sinfonieorchesters Basel Hans-Georg Hofmann hat sich mit Tobit Schäfer zum Gespräch getroffen.

HGH Tobit

Schäfer, herzliche Gratulation zur Wahl zum Stiftungsratspräsiden­ ten! Geschäftsleiter des RFV Basel, Vorstandsmitglied des Kammer­ orchesters Basel, Vorstandsmitglied der Casino-Gesellschaft Basel – auf­ grund Ihrer früheren Engagements sind Sie in der Basler Kulturszene ja kein Unbekannter. Was hat Sie dazu bewogen, Stiftungsrat bei einem Or­ chester mit über hundert Festange­ stellten zu werden? TS Vom Popförderer über ein freies Orchester bis hin zum Sinfonieorchester Basel habe ich mich immer für die gesamte Breite der vielseitigen Musikstadt Basel engagiert. Das Sinfonieorchester Basel spielt dabei eine herausragende Rolle und trägt eine besondere Verantwortung. Ich fühle mich geehrt, einen Beitrag für diese Institution und damit für die qualitätsvolle Musikstadt Basel zu leisten. HGH Der

Stiftungsrat ist das strategische Organ des Orchesters. Was bedeutet das gesellschaftliche Umdenken bei Diversität, Migration oder Digita­ lisierung für das Orchester und sein Publikum? TS Gerade in diesen Bereichen ist es wichtig, sich verstärkt darum zu bemühen, ein neues Zielpublikum anzusprechen. Gleichzeitig muss aber darauf geachtet werden, dass man bei all diesen Veränderungen


I N T ERV I E W

TOBI T SCH Ä F ER

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das bestehende Publikum nicht vernachlässigt. Der kultur- und bildungspolitische Kanon des Sinfonie­orchesters Basel, klassische Werke in grosser Besetzung auf die Bühne zu bringen, sollte erhalten bleiben. Das bedeutet, man muss einen Spagat zwischen traditionellen Aufführungen und neuen Formaten wagen.

HGH Geniessen

Sie in Konzerten lieber den Zustand der Unerreichbarkeit oder lassen Sie sich Musik gerne er­ klären? TS Ich gehöre klar letzterer Gruppe an und informiere mich im Vorfeld eines Konzerts über Programmhefte oder über Einführungsgespräche. Ich bin interessiert daran, unter welchen Einflüssen und in welchen Verhältnissen Musik zu einer bestimmten Zeit geschaffen wurde. Gleichzeitig verstehe ich gut, wenn man ein Konzert ganz unvoreingenommen ­geniessen möchte. HGH Welche

Rolle spielt für Sie die Ver­ mittlung von Musik? Welche Mög­ lichkeiten gibt es, Musik zu den Leu­ ten zu bringen? TS Das Sinfonieorchester Basel hat durch seine Ressourcen eine gewisse Verantwortung, neue Formate auszuprobieren und an ein neues Publikum heranzutreten, was kleineren Institutionen oft nicht möglich ist. Darum soll das Orchester auch aus dem Orchestergraben des Theater Basel heraus und von der Bühne des Stadtcasinos Basel herab näher zu den Leuten gehen. Die Oper und die sinfonischen Konzerte bleiben jedoch nach wie vor der Hauptauftrag des Sinfonieorchesters Basel. HGH Besten

Dank für das Gespräch, Tobit Schäfer!

© Dominik Plüss

«Man muss einen ­Spagat zwischen ­traditionellen Aufführungen und neuen ­Formaten wagen.»


© Milagro-Elstak

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19.30 UHR, STADTCASINO BASEL, MUSIKSAAL

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CONCERT LOUNGE

Drei Mal verwandeln sich Musiksaal und Foyer des Stadtcasinos Basel in der neuen Saison in eine Concert Lounge mit spannenden Live-Acts – ein Konzerterlebnis bis in die späte Nacht. Ein neues Format nicht nur für ein junges Publikum. Eine aussergewöhnliche Begegnung zwischen Klassik, Pop, Jazz, Electro, Orchester und Bands in Zusammenarbeit mit dem Nordstern und dem Off beat Jazzfestival Basel. Die detaillierten Programme finden Sie auf ­unserer Website: www.sinfonieorchesterbasel.ch

1. CONCERT LOU NGE

Sa, 18. Sept. 2021, 20 Uhr Stadtcasino Basel, Musiksaal In Zusammenarbeit mit Nordstern 2. CONCERT LOU NGE

Sa, 16. Okt. 2021, 20 Uhr Stadtcasino Basel, Musiksaal In Zusammenarbeit mit Nordstern 3. CONCERT LOU NGE

Mi, 25. Mai 2022, 20 Uhr Stadtcasino Basel, Musiksaal In Zusammenarbeit mit Off beat Jazzfestival Basel

Die Konzerte der Reihe ‹Concert Lounge› werden unterstützt durch den Verein ‹Freunde Sinfonieorchester Basel›.

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N EU I M PROGR A M M

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ENTDECKER­ PROGRAMME

A N NÄ HERU NGEN A N DAS A BEN DPROGR A M M

Die Entdeckerprogramme richten sich an Neugierige und Musik­hungrige, die rund um die Werke des abendlichen Konzerts noch mehr erfahren möchten. Sie be­ stehen aus kleinen Konzerten, Podiumsgesprächen, Ausstellungen ­­oder kurzen Einführungen. Sie finden zwei Mal pro Saison statt und beginnen jeweils zwei Stunden vor dem entsprechenden Konzert. Ein drittes Entdeckerprogramm ‹extra› findet im Anschluss an unser Volks­­ musik-Fest ‹Vo Bärg und Tal› statt. Der Eintritt zu den Entdeckerprogrammen ist im Konzertticket enthalten.

‹Hans Huber und das Musik­ leben in Basel um 1900› Do, 9. Dez. 2021, 17.30 Uhr Stadtcasino Basel, Musiksaal ‹Péter Eötvös – Composer in Residence› Mi, 16. Feb. 2022, 17.30 Uhr Stadtcasino Basel, Musiksaal ‹Volksmusik, quo vadis?› Do, 31. März 2022, ca. 19.30 Uhr Stadtcasino Basel, Musiksaal


Erhältlich ab 27. August 2021 bei Bider & Tanner oder unter www.sinfonieorchesterbasel.ch


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ZUM W ER K RUDOLF LU TZ Präludium – Orgelimprovisation

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EINIGE GEDA NK EN ZUR ORGELIMPROV ISATION

VON RU DOL F LU TZ

Seit es Orgeln gibt, gibt es auch Orgelimprovisation; sicher auch schon mit Wasserorgeln bei der musikalischen Begleitung der Gladiatorenkämpfe im alten Rom. Auch in der Messe geht es darum, an der richtigen Stelle das Stück zu beenden oder auf den Höhepunkt zuzuschreiten, beim tödlichen Biss durch den Löwen die scharf schreienden Akkorde zu setzen, beim Sanctus das euphorische ‹Heilig, heilig, heilig› zu intonieren,­bei der Kommunion die Gemeinde in Andacht zu versetzen – und dies während einer vorher nicht abzuschätzenden Dauer.

Natürlich kann man auch versuchen, komponierte Stücke in der Länge anzupassen, was dann gerne klingt wie eine Amputation. Geschickt improvisierende Organistinnen oder Organisten bringen es hingegen im besten Fall (und mit der nötigen Ausbildung und Fertigkeit) ‹auf den Punkt›. Es sind wunderbare Momente – wie im Zirkus, wenn nach einem mehr oder weniger lang andauernden Trommelwirbel das Zirkusorchester den ersehnten Tusch punktgenau zum erhofften Gelingen einer halsbrecherischen Performance auf dem Trapez setzt. HISTOR ISCHE ORGEL I MPROV ISATION

Nun, im Laufe der Jahrhunderte hat sich auch in der lutherisch-reformierten Welt eine hohe Kunst der Orgelimprovisation herausgebildet. Für die Bestallung einer wichtigen Orgelstelle im 17. und 18. Jahrhundert mussten sich die Bewerber in dieser Kunst ausweisen, und nicht etwa im Literaturspiel! So wurden modulierende Präludien, Doppelfugen mit gegebenen Themen, Choralvorspiele in diversen Formen und Registrierungen verlangt – ich denke da zum Beispiel an die Aufgabe, die Choralmelodie nicht nur im Sopran, sondern auch im Bass oder in einer Mittelstimme erklingen zu lassen. Auch das Generalbassspiel und das Spielen auf ostinaten Bässen (Chaconne und Passacaglia) wurde ex tempore geprüft, das heisst nur


mit einer kurzen Vorbereitungszeit von fünf bis zehn Minuten. Allerdings mussten die Kandidaten die improvisierten Stücke innerhalb einiger Tage schriftlich nachliefern. Natürlich gibt es auch in anderen Ländern eine grosse Tradition der komponierenden und improvisierenden ‹Titulaires›; denken wir nur an Frankreich, zum Beispiel an Olivier Messiaen, Marcel Dupré oder auch an César Franck. Diese jahrhundertealte Tradition der Orgelimprovisation ist nie gänzlich ausgestorben. In Basel durfte sie sogar seit den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts eine erfreuliche Renaissance erleben, und zwar durch die Ausweitung des Kursangebots an der Schola Cantorum Basiliensis. Es war dem Schreibenden vergönnt, dort die historische Improvisation zusammen mit dem ehemaligen Direktor Peter Reidemeister zu einer neuen Blüte zu bringen. Derzeit unterrichten fünf Kollegen zahlreiche Studentinnen und Studenten in Improvisation auf den verschiedensten Instrumenten! So hat vor Kurzem eine Flötistin bewiesen, dass auch Fugen solissimo erfunden werden können. ViolinMasterabschlüsse gibt es alle paar Jahre, auch in anderen Fächern wie Cello, Laute und Cembalo. Alle Studierenden müssen den Grundkurs besuchen. Besteht eingehenderes Interesse, können sie sich für weiterführende Angebote entscheiden und eine Prüfung zum ‹Specialized Master› ablegen. Klassenvorspiele und Konzerte ergänzen das Angebot. I MPROV ISATION Ü BER VOL KSL IEDER

Die Improvisation über Volkslieder hat einen speziellen Zauber: Es sind allgemein bekannte Melodien, welche durch das Hineinversetzen in ungewohnte stilistische und formale Umgebungen einen ganz besonderen Reiz erfahren, so zum Beispiel eine barocke Fuga über Vo Luzern gäge Weggis zue, ein Ragtime über Z’Basel an mym Rhy oder auch die Verbindung des Themas aus dem 1. Satz von KV 491 mit dem doch eigentlich bereits volkstümlichen Thema der Beethoven’schen Elise. Die Improvisation über Volkslieder hat eine lange Tradition. Denken wir zum Beispiel an die letzte Variation der Bach’schen Goldberg-Variationen mit dem höchst kunstvollen Quodlibet zweier handfester

RU DOL F LU TZ

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© Tibor Nad, Visual Moment

Z U M W ER K

Volksgesänge («Kraut und Rüben fressen meine Buben, hätt’ meine Mutter Fleisch gekocht, wäre ich geblieben» und «Ich bin so lang nicht bei dir gwest»). Wohl noch von ganz anderer Bedeutung ist die Verwendung bekannter Choralgesänge der Gemeinde in Choralkantaten, in Passionen und Oratorien. Dies war – nebst Luthers Bibelübersetzung – die Muttermilch der Bach’schen Gemeinde. Das Erklingen einer bekannten Choralmelodie gab ihr dieses sichere Gefühl von ‹Zu-­ Hause-Sein›.


ZUM W ER K PÉTER EÖT VÖS Dialog mit Mozart, Da Capo für Orchester

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DI A LOG MIT MOZ A RT

Die erste Fassung d ­ ieser Komposition hiess ursprünglich Da Capo – Mit Fragmenten aus ­ W.A. Mozarts Fragmenten. Das für Cimbalom-Solo und Ensemble konzipierte Stück komponierte ich im Jahr 2014 für das ­Dialoge-Festival der Stiftung Mozarteum Salzburg. Im Rahmen dieses ­Festivals bekommt jedes Jahr ein Komponist ­ den Auftrag, einen Dialog mit einem bedeutenden Komponisten der Vergangenheit zu führen.

© Szilvia Csibi

VON PÉTER EÖT VÖS


Matthias Schulz, der damalige Leiter des Mozarteums, zeigte mir dreiundsechzig Fragmente von Mozart, aus denen ich elf auswählte, welche ich in neun eigenen ‹Fragmenten› aufarbeitete. Nach der gelungenen Erstaufführung schrieb ich das Stück 2016 für das Mozarteumorchester Salzburg um und adaptierte es für Grossorchester, indem ich den Solistenpart des Cimbaloms in das Orchesterwerk integrierte. Während des Komponierens am Klavier spielte ich zunächst alle Fragmente durch. Ich war sehr belustigt darüber, dass Mozart viele Kyrie-Sätze begonnen, diese aber auch bald wieder aufgegeben hatte. Ich glaube, er fing sie immer samstags an, konnte sie aber wohl bis Sonntag früh nicht fertigstellen. Es gibt auch sehr bemerkenswerte Fragmente, wie zum Beispiel den Bardengesang auf Gibraltar, welcher ziemlich spät – im Jahr 1782 – entstand. Der Dialog mit Mozart beginnt mit einer Ouvertüre, die wohl auch von Mozart stammen könnte, gefolgt vom ersten Fragment, dem Anfang eines Kyrie. Jedes neue Original-Fragment wird mit einem Signal von fünf Crotales eingeleitet. Manchmal befragte ich Mozart, worauf er mir antwortete, mal war es umgekehrt. Ich habe nicht versucht, Mozarts Stil zu übernehmen, aber ich habe seine Musik manchmal adaptiert. Eines der aufregendsten MozartFragmente hob ich mir für den Schluss auf. Das Finale ist ein Jagdtrio für Streicher, dem eine Trommelstimme mit lauten Schüssen zugefügt wurde. Diese ‹treffen› den gejagten Hasen mal, ein andermal dann wieder nicht. Ein sehr unterhalt­ samer Dialog, rückblickend auf zweihundertfünfzig Jahre.

PÉT ER EÖT VÖS

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© Wikimedia Commons

Z U M W ER K

Wolfgang Amadé Mozart (1756–1791)

Dialog mit Mozart, Da Capo für Orchester BESETZ U NG

Piccolo, Flöte, Oboe, Englischhorn, Klarinette, Bassklarinette, Fagott, Kontrafagott, 2 Hörner, 2 Trompeten, Posaune, Schlagzeug, Streicher EN TST EH U NG

2014 im Rahmen des Dialoge-Festivals der Stiftung Mozarteum Salzburg, 2016 überarbeitet für Orchester im Auftrag des Mozarteumorchesters Salzburg U R AU F F Ü H RU NG

15. Dezember 2016 in Salzburg mit dem Mozarteumorchester Salzburg unter der Leitung von Mirga Gražinytė-Tyla DAU ER

ca. 15 Minuten


ZUM W ER K WOLFG A NG A M A DÉ MOZ A RT Konzert für Klavier und Orchester Nr. 24 c-Moll, KV 491

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INSTRUMENTA LE DR A MEN

VON H A R A L D HODEIGE

Die c-Moll-Tonart, von der E.T.A. Hoffmann seinen Kapellmeister Kreisler sagen liess, sie greife wie der Tod «mit glühender Kralle» nach dem Herzen, ist in Mozarts Instrumentalwerken selten vertreten. Ihre Wahl ist daher ein besonderes Indiz für den Charakter der jeweiligen Musik – etwa in der Serenade KV 388, deren «finstere Tonart ein Unikum unter Mozarts Gesellschaftsmusik» ist, wie schon Alfred Einstein in seinem 1947 erschienenen Mozart-Buch bemerkte.

Die ausserordentliche Dramatik des c-Moll, dem Ferdinand Hand im ersten Teil seiner Aesthetik der Tonkunst von 1837 einen «Ausdruck der Wehmuth, der Trauer» bescheinigte, ist im Mozart-Konzert ­K V 491 besonders ausgeprägt. Bereits die ersten Takte des Kopfsatzes führen dem Hörer eine düstere Expressivität vor Ohren, die bei späteren Generationen Assoziationen an den ‹Heroen› Beethoven weckte. Es ist Mozarts grösstbesetztes Werk dieses Genres überhaupt, wobei sich die klangliche Dichte nicht nur durch das Hinzufügen eines Oboenpaars zu den Klarinetten sowie durch die beiden Trompeten und Pauken manifestiert, sondern auch durch das massive Tutti, dessen Kontrastierung mit dem Soloinstrument gelegentlich an das Satzbild der ersten Takte aus Beethovens Klavierkonzert Nr. 5 denken lässt: Beide ‹Akteure›, Solist und Orchester, treten in einen Dialog, der an Spannung kaum zu überbieten ist. Dass der Pianist und Musiktheoretiker Charles Rosen die «grundlegende Erregung, ja fast Panik» im einleitenden Allegro hervorhob, mag verdeutlichen, in welch aussergewöhnliche Aus­drucksbereiche diese Musik vordringt. NEUAUSRICHTUNG DES ­KONZERT­G ENRES

Wie sehr Mozart an seinem unmittelbar vor der Oper Le nozze di Figaro am 24. März 1786 vollendeten c-Moll-Konzert­ KV 491 gefeilt hat, zeigt ein Blick in das


Z U M W ER K

WOL FG A NG A M A DÉ MOZ A RT

Autograf: Die Partitur ist übersät mit Korrekturen, Verbesserungen und neu komponierten Abschnitten. Hierin unterscheidet sich das Manuskript deutlich von denen der übrigen Mozart-Konzerte: Tatsächlich wollte dem Komponisten, dem sonst Melodien und Harmonien so leicht von der Hand gingen, die Vollendung dieses Werks erst nach mehrfacher Überarbeitung gelingen. Neben zahlreichen Verbesserungen und Alternativ-Vorschlägen gibt es im 3. Satz in einigen Takten vierfach übereinandergeschriebene Korrekturen sowie vereinzelte Inkonsequenzen in der Notation von Phrasierungen und Notenwerten – eine Besonderheit, die Friedrich Blume besonders hervorhob, «weil Mozarts Handschriften sonst so pedantisch genau zu verfahren pflegen». Neben dem Umstand, dass der Komponist wohl hauptsächlich mit Korrekturen und Proben seiner neuen Oper beschäftigt gewesen sein dürfte, mag der besondere dramatische Charakter dieses Werks die Ursache für die untypischen Korrekturen gewesen sein. Dabei ist es bezeichnend, dass sich Mozart gerade während seiner grössten Erfolge beim Publikum erlaubte, der ‹gesellschaftlichen› Gattung des Solokonzerts eine neue, ungewohnte Seite abzugewinnen. Bereits der Unisono-Beginn des einleitenden Allegro lässt an zwei bedeutende Mozart-Werke in c-Moll denken, die einem anderen Gattungsbereich angehören, nämlich an die Klavier-Fantasie KV 475 und die Klaviersonate KV 457. Der weitere Verlauf der Orchesterexposition gestaltet sich dann nach Präsentation des zweiten Themas als spannungsvoller Wechsel von Tutti- und kammermusikalischen Episoden, wobei das Solo-Klavier nicht mit einem gefälligen ‹Entrée› ins musikalische Geschehen eingreift, sondern mit einem neuen, ureigenen Thema, dem noch zwei weitere folgen. Bedeutsamer als die komplexe und nicht leicht überschaubare Satzanlage ist die besondere Spannung zwischen chromatischer und diatonischer Motivik, von der die Musik geprägt ist. Am Ende verzichtet Mozart auf eine glanzvolle Schlussgeste und lässt das musikalische Geschehen wie zufällig im Pianissimo verklingen – ein geschickter Schachzug, durch den das ausserordentliche dramatische Potenzial dieses Kopfsatzes auf

­ emerkenswerte Weise in der Schwebe b gehalten wird. Wirkte im einleitenden Allegro das Orchester als kompaktes Ganzes, verlangt Mozart im Larghetto (in dem Trompeten und Pauken pausieren) den Holzbläsern ein hohes Mass an kammermusikalischer Transparenz ab. Die instrumentale Disposition dieses Rondos ist äusserst übersichtlich, wobei in den Refrains Solo-­ Klavier und Orchester in differenzierter Weise zusammenwirken. Das Finale, dessen fatalistisches Moll-Thema eine Reihe von Variationen durchläuft, nannte Alfred Einstein treffend einen «revolutionären, unheimlichen Geschwindmarsch»: Bis zum Erklingen der einzigen Dur-Variation zeichnet sich die Musik hier durch einen düster-beunruhigenden Charakter aus. Die harmonische Aufhellung ist allerdings nur von kurzer Dauer, da der von chromatischen Linien und unvermittelten Modulationen geprägte Satz kompromisslos in Moll ausklingt.

Klavierkonzert Nr. 24 c-Moll, KV 491 BESETZ U NG

Klavier solo, Flöte, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 2 Hörner, 2 Trompeten, Pauke, Streicher EN TST EH U NG

Winter 1785-1786 in Wien U R AU F F Ü H RU NG

Vermutlich am 7. April 1786 im Wiener Burgtheater mit Mozart als Solist DAU ER

ca. 30 Minuten

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INTERV IE W G A BR IEL A MONTERO im Gespräch

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G A BRIEL A MONTERO IM GESPR ÄCH

VON CHR ISTA SIG G

Die Musikalität steckt ihr in den Genen. Das ist ein Geschenk, kann aber auch ziemlich nervig sein, bekennt Gabriela Montero. Dauernd rauschen ihr Melodien durch den Kopf, ja selbst komplette Sonaten und Konzerte. Dabei ist die Pianistin ganz von dieser Welt, sie pendelt lässig zwischen Klavier, Familie und ihren Kompositionen. Und jault zwischendrin der Hund nach Aufmerksamkeit, bringt sie auch den humorvoll zur Ruhe, um dann wieder leidenschaftlich über Talent und Arbeit, über die schwierige Beziehung zu ihrer Heimat Venezuela und die Lust auf Basel zu sprechen.

CS Frau

Montero, Sie werden fast im­ mer als Improvisationskünstlerin angekündigt. Das klingt ein bisschen nach Zirkus und Artistik, stört Sie das? GM Ja, schon. Dabei war das zu Zeiten von Mozart, Beethoven, Liszt oder Chopin ganz normal. Wenn sie am Klavier improvisiert haben, wurde das als Weiterführung ihrer Komposition angesehen. Das sind keine Tricks oder Trapeznummern, da entsteht eine spontane Komposition nur für den Moment. Man sollte diese durchaus komplexe Sache nicht unterschätzen. CS Viele

klassische Musikerinnen und Musiker haben regelrecht Panik vor einer Improvisation. GM Unser Konzertverständnis sieht diese Freiheiten auch nicht vor. In der Welt des Jazz ist das völlig anders, deshalb mag ich ihn ganz besonders. Improvisieren hat aber auch viel mit Veranlagung zu tun, und wie soll man etwas lernen oder lehren, das noch gar nicht existiert? Wenn man über die geschriebene Partitur hinausgeht, wird die Sprache sehr persönlich, ja intim. CS Wann

haben Sie damit angefangen? Ich improvisiere von klein auf, für mich war das so selbstverständlich wie zu gehen. Am Klavier begann ich dann zu GM


I N T ERV I E W

G A BR I EL A MON T ERO

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erzählen, wie ich mich fühle, wie mein Tag war, dass mich mein kleiner Bruder geärgert hat. Auf der anderen Seite habe ich eine Partitur immer so gespielt, wie sie geschrieben ist. Ich respektiere die Absicht des Komponisten. Bei den Kadenzen ist das dann etwas anderes, da darf und soll man fantasieren. Es gibt keine Regeln – genau das gefällt mir! ie gehen auf Ihr Publikum ein. In S Basel erinnert man sich jeden­falls gerne an Ihre Variationen über ­Z’Basel­an mym Rhy. GM Wenn mir das Publikum ein typisches lokales Lied vorschlägt, ist das sehr berührend. Ich weiss ja nicht, worum es da geht. Aber wenn ich anfange zu improvisieren, stellt sich eine tiefe emotionale Verbindung mit den Menschen ein. Ich spüre, dass ich an eine Tradition rühre, und es kann sein, dass am Ende etwas völlig anderes herauskommt. Ich bin eben ein Girl aus Venezuela!

«Ich hatte schon ein paar Mal das Glück solcher ‹Residences›, das sind die inten­ sivsten Momente in einer Musikerinnenkarriere.» CS Kennen

Sie Basel? Kaum. Vor der Pandemie war mein Konzertleben so verrückt, dass ich für nichts Zeit hatte. Aber das wird sich jetzt hoffentlich ändern. Die Stadt ist schön, das habe ich immerhin mitbekommen. GM

CS

as bedeutet es, ‹Artist in Residence› W zu sein? GM Das ist die Gelegenheit, ein Publikum besser kennenzulernen, auch die Musikszene einer Stadt – und natürlich das Orchester. Ich hatte schon ein paar Mal das Glück solcher ‹Residences›, das sind die intensivsten Momente in einer Musikerinnenkarriere. Egal, ob ich am Klavier sitze oder mich meinem Publikum im Gespräch stelle. Man darf mich dann auch als Menschenrechtsaktivistin erleben.

© Anders Brogaard

CS

CS Rock-

und Popmusiker sind häufig politisch engagiert, in der Klassik­ szene ist das eher die Ausnahme. GM Stimmt, man spricht nicht gerne über Politik. Aber was in Venezuela passiert, geht weit über die Politik hinaus und ist ein menschliches Desaster. Wenn das eigene Land Opfer einer Polit-Mafia ist und alles zusammenbricht, gibt es keine Entschuldigung mehr, sich nicht einzumischen. Ich bin Künstlerin und Musikerin, ­­aber zuallererst ein Mensch. Über fünf Millionen meiner Landsleute sind bereits aus Venezuela geflohen. Familien zerbrechen, die Wirtschaft liegt am Boden, das ist die grösste Katastrophe in Lateinamerika. CS Das

Publikum von klassischen Kon­ zerten kennt vor allem die jungen leidenschaftlichen Talente, die mit dem Simón Bolívar Youth Orchestra durch die Welt touren. CS Aber genau so entsteht der Eindruck, in Venezuela sei alles okay. Gut, sie sind vielleicht arm, denkt man hier, aber der Spirit ist doch grossartig. Dieses Orchester ist das beste Beispiel, wie sich die


I N T ERV I E W

G A BR I EL A MON T ERO

Kunst bereitwillig in eine Propaganda­ maschinerie einfügt. Das dürfen wir nicht akzeptieren.

als hätte ich im Kopf ein Radio, das dauernd läuft. Nachts wache ich davon auf – besonders in Konzertperioden. Es wäre schön, ein bisschen Ruhe zu haben, aber ich kann meinen Kopf doch nicht abschrauben.

CS Sie

engagieren sich selbst mit Ihrer Musik. GM Mit Ex patria habe ich 2011 ein ziemlich heftiges Stück geschrieben, das genauso ist wie das Land. Ich habe es den vielen Opfern in meiner Heimat gewidmet. In Basel spiele ich allerdings mein Latin Concerto von 2016. Es erzählt von der Schönheit und Sinnlichkeit Lateinamerikas, aber es gibt auch einige dunkle Stellen. Alles hat zwei Seiten. CS Stimmt

es, dass Sie mindestens so wenig üben wie Artur Rubinstein? GM Es gibt solche Phasen. Aber vor Konzerten bleibt mir gar nichts anderes übrig, als das Repertoire intensiv zu üben. Damit wissen Sie, was ich die letzten Monate gemacht habe ... Allerdings habe ich auch die Zeit zum Komponieren genutzt und war viel mit der Familie zusammen. ­A bstand vom Instrument tut zwischendurch gut. Man kommt mit neuer Energie wieder zurück. Es kribbelt schon.

«Ich bin aber nicht verrückt, sondern ziemlich normal. Es ­ ist wirklich, als hätte ich im Kopf ein Radio, das dauernd läuft.» CS Was

komponieren Sie gerade? Ich arbeite an Präludien fürs Klavier. Der Rhythmus spielt eine grosse Rolle – wie überhaupt bei allem, was ich komponiere. Doch, die Präludien sind echt verrückt. GM

CS Wird

man sie in Basel hören? Wir werden sehen, ich schreibe ja noch. Das geht im Kopf immer weiter, auch die Musik, die ich gerade spiele. GM

CS Macht

diese Endlosschleife im Kopf nicht wahnsinnig? GM Und wie! Ich bin aber nicht verrückt, sondern ziemlich normal. Es ist wirklich,

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ZUM W ER K JOH A N NES BR A HMS 24 Sinfonie Nr. 3 F-Dur, op. 90

FRUCHT EINES SOMMERS

VON TOBI AS BL EEK

«Ich wohne hier reizend», schreibt Johannes Brahms im Juni 1883 an den befreundeten Wiener Chi­ rurgen Theodor Billroth: «Ursprünglich als Atelier gebaut, ist es nachträglich zum hübschesten Landhaus geworden, und so ein Atelier gibt ein herrliches, hohes, kühles, luftiges Zimmer! Unsere Gesellschaft hier würde Dir ungemein behagen!» Wie fast jedes Jahr hatte der Naturliebhaber Brahms auch 1883 seiner Wahlheimat Wien für die Sommermonate den Rücken gekehrt. Auf Vermittlung deutscher Freunde schlug er sein Sommer­ domizil diesmal am Rande der Kurstadt Wiesbaden auf. Während die Nachmittage und Abende mit langen Wanderungen im Umland und allerlei geselligen Aktivitäten gefüllt waren, konnte sich der 50-Jährige in den Morgenstunden und an den Vor-

mittagen in der Kühle des Atelierhauses oder auf einsamen Spaziergängen ungestört der Arbeit widmen. Welche Frucht in diesem Wiesbadener Sommer langsam heranreifte, hielt der in Schaffensdingen so schweigsame Komponist selbst vor den engsten Freunden lange geheim. Erst nach seiner Rückkehr in die Donaumetropole offenbarte er, dass er über den Sommer eine neue Sinfonie fertiggestellt hatte. Nach zwei privaten Voraufführungen der Klavierfassung im Freundeskreis wurde die 3. Sinfonie am 2. Dezember 1883 in Wien mit grossem Erfolg uraufgeführt. Mit ihren vier konzentrierten Sätzen und einer Gesamtspieldauer von ungefähr einer halben Stunde ist die Dritte die kürzeste der vier Brahms-Sinfonien. Dass sie bei den meisten Zeitgenossen auf vorbehaltlose Begeisterung stiess, liegt an der gelungenen Verbindung von musikalischer Komplexität und Zugänglichkeit. So schreibt der berühmte Wiener Kritiker und Brahms-Apologet Eduard Hanslick in seiner Uraufführungskritik: «Von klarer unmittelbarer Wirkung beim ersten Hören, wird sie beim zweiten, dritten und zehnten für jedes musikalische Ohr noch reicheren Genuss aus immer feineren und tieferen Quellen strömen lassen.» Was Hanslick hier meint, lässt sich an der Anfangspassage des 1. Satzes erläutern. Sie beginnt mit drei vollen Bläserakkorden, die auf wirkungsvolle Weise


© akg-images / A lbum

Z U M W ER K

Johannes Brahms (1833–1897)

den Werkanfang markieren. Zugleich exponieren sie ein aufsteigendes dreitöniges Motiv (in seiner ersten Formulierung fas-f), das den gesamten Kopfsatz wie ein roter Faden durchzieht und auch im Finalsatz wiederkehrt. Auf dem letzten Bläserakkord setzt in den Geigen dann das dramatische Hauptthema des Allegro con brio ein, das über drängenden Synkopen in den Bratschen und zunächst von tiefen Posaunenklängen geerdet unerbittlich nach vorne treibt. Hörerinnen und Hörer, die mit dem Werk noch nicht vertraut sind, werden sich vermutlich zunächst von der dramatischen Kraft, von der klanglichen und emotionalen Intensität der Musik hinwegtragen lassen. Bei einem zweiten oder dritten Hören entdecken sie dann vielleicht, dass Brahms das am Anfang exponierte dreitönige Motiv auf kunstvolle Weise auch als kontrapunktische Gegenstimme zum Hauptthema verwendet. Beim Einsatz der Geigen erklingt es zunächst in den Bassinstrumenten des Orchesters und wandert dann nach und nach in höhere Klangregister. In den beiden kurzen Mittelsätzen kommt die bereits von Brahms’ Zeitgenossen bewunderte «instrumentale Schönheit» der 3. Sinfonie zu voller Entfaltung. So beginnt das an zweiter Stelle stehende Andante mit einem ­liedhaften Thema in den Klarinetten und Fagotten. Am Ende jeder Phrase treten nahezu unmerklich die

JOH A N N ES BR A H MS

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Hörner und Flöten hinzu und geben dem sich wunderbar mischenden Klang eine neue Färbung und gesteigerte Intensität. Durch den Eintritt der tiefen Streicher wird die subtile Klangfarbenkomposition der Anfangspassage noch erweitert. Sie greifen die Schlussfigur jeder Bläserphrase auf und wiederholen sie echoartig in einer ganz anderen Klanglichkeit. Die innere Spannungskurve der 3. Sinfonie kulminiert in ihrem dramatischen Finale. In der ausgedehnten Coda des Allegro kehren nicht nur die wichtigsten Themen des 4. Satzes wieder, sondern auch musikalisches Material aus den vorangehenden Sätzen. Nach der kunstvollen kontrapunktischen Kombination des dreitönigen Kernmotivs aus dem 1. Satz mit dem Themenkopf des Finales greift Brahms in den Schlusstakten das Hauptthema des Eröffnungssatzes nochmals auf. Die inneren Konflikte und Spannungen, die dem Thema am Anfang des Werks innewohnen und das sinfonische Entwicklungsgeschehen erst in Gang setzen, werden bei seinem letzten Erscheinen aufgelöst. Umhüllt von reinen ­F-Dur-Akkorden in den Bläsern erklingt es in gewandelter Gestalt leise tremolierend in den Streichern. Dieser Text entstand für ein Konzert der Stiftung Berliner Philharmoniker in der Saison 2008/09.

Sinfonie Nr. 3 F-Dur, op. 90 BESETZ U NG

2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, Kontrafagott, 4 Hörner, 2 Trompeten, 3 Posaunen, Pauke, Schlagzeug, Streicher EN TST EH U NG

Sommer 1883 in Wiesbaden U R AU F F Ü H RU NG

2. Dezember 1883 im Musikverein Wien unter der Leitung von Hans Richter DAU ER

ca. 35 Minuten


ORTSGESCHICHTEN

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MOZ A RTK UGELN

VON SIGF R IED SCHIBL I

Es ist schon fast ein unvermeidlicher Reflex: Wer ‹Salzburg› sagt, denkt ‹Mozart›. Dort wurde am 27. Januar 1756 ein Knäblein geboren, das einen Monat und einen Tag s­ päter im Dom auf den Namen Johannes Chrysostomus Wolfgangus Theophilus getauft wurde. Und nach Salzburg pilgern alljährlich Tausende ouristinnen und Touristen, strömen durch die enge Getreidegasse an Mozarts Geburtshaus vorbei, lauschen den Strassen­ musikerinnen ­und -musikern mit ihren Mozart-Perücken, besuchen die Zauberflöte im Marionettentheater

und lassen sich das ­‹Tanzmeisterhaus› zeigen. In diesem lang gestreckten Gebäude am heutigen Makartplatz auf der anderen Seite der Salzach wohnte Mozarts Familie von 1773 bis 1787; heute ist es ein viel besuchtes Museum. Es hiesse Eulen nach Athen (oder Mozartkugeln nach Salzburg) tragen, wollte man alle Stätten benennen, die in dieser Stadt mit dem Leben und Schaffen Wolfgang Amadé Mozarts verbunden sind – vom Geburtshaus an der Getreidegasse 9 bis zum Sebastiansfriedhof, auf welchem nicht nur Paracelsus, sondern auch Mozarts Vater Leopold und seine aus Zell im Wiesental stammende Frau Constanze begraben liegen. Mozart selbst starb am 5. Dezember 1791 nicht in Salzburg, sondern in Wien. Dort war auch sein im heutigen Konzert erklingendes Klavierkonzert in c-Moll,­ KV 491, entstanden und vom Komponisten am Piano uraufgeführt worden. Seither müssen sich Salzburg und Wien den Ruf als ‹Mozart-Städte› teilen.


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© Wikimedia Commons

ORTSGESCH ICH T EN MOZ A RT K UGEL N

Mozartplatz in Salzburg

Zwischen Salzburg und Wien gibt es eine durch die Tradition gut befestigte und bis heute spürbare Rivalität, die sich immer wieder entzündet – auch und gerade an der sogenannten Hochkultur. So lässt sich jedes Jahr bei den Salzburger Festspielen ein offensichtlicher Wettstreit zwischen den beiden Musikstädten beobachten. Die Wiener Musikkritik ist häufig gegenüber den Premieren in Salzburg ein Quäntchen (oder mehr) kritischer als der Rest der Weltpresse. Für Besucherinnen und Besucher aus Wien gehört es nachgerade zum guten Ton, über die bisweilen stark dem modernen ‹Regietheater› verpflichteten Opernproduktionen an der Salzach die Nase zu rümpfen: Solches wäre doch in Wien mit seiner konservativen Staatsoper nicht denkbar! Hier die Festspielstadt Salzburg nahe der Grenze zu Deutschland, da weiter im Osten die Metropole Wien, die ganzjährig für Höchstleistungen gut ist – wenigstens in ihrem Selbstbild. Wer wäre da objektiv genug, die Bedeutung der beiden Städte gegeneinander abzuwägen? Unbestritten ist, dass Salzburg mit dem ‹Mozarteum› über eine höchst renommierte Musikhochschule verfügt, die auch als Konzertort erstrangig ist. Bis 1910 sprach man in der Planungsphase vom ‹Mozarthaus›, seit der Eröffnung des Gebäudes 1914 vom ‹Mozarteum›. Im grösseren, 800 Plätze zählenden Konzertsaal der Stiftung

­ ozarteum finden seit über hundert JahM ren Konzerte mit internationaler Ausstrahlung statt. Darunter befinden sich immer wieder Aufführungen von Auftragswerken des Mozarteumorchesters. Zu diesen zählt die Komposition Dialog mit Mozart. Da Capo für Orchester, des gebürtigen Ungarn Péter Eötvös, uraufgeführt 2016 im Mozarteum Salzburg. Äusserer Anlass dafür war das 175-jährige Bestehen des Orchesters. Und um den Reigen der Salzburg-Bezüge im heutigen Programm abzurunden: Das Mozarteumorchester ernannte den Briten Ivor Bolton 2004 zu seinem Chefdirigenten; das blieb er bis 2016. Heute ist Bolton ‹Ehrendirigent› dieses Orchesters, das gleichermassen der ‹historisch informierten› Aufführungspraxis und der musikalischen Gegenwart verpflichtet ist. Mit dem Sinfonieorchester Basel, dessen Chefdirigent er heute ist, gastierte Bolton am vergangenen 26. und 27. Mai in Salzburg.


VORGESTELLT Y ULI A KOPY LOVA im Gespräch

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«MOZ A RT IST ZU LEICHT FÜR K INDER U ND ZU SCH W ER FÜR ERWACHSENE» VON L E A VATER L AUS

Yulia Kopylova stammt aus der sibirischen Metropole Nowosibirsk und kam für das Musikstudium zunächst nach Hannover und dann nach Berlin. Im angesehenen Gustav Mahler Jugendorchester, das einst unter der Leitung von Claudio Abbado stand, wurde sie 2013 zur Konzertmeisterin gewählt. Seit 2018 ist sie nun 2. Konzertmeisterin beim Sinfonieorchester Basel. Im Interview spricht die junge Geigerin über ihre Rolle als Konzertmeisterin im Orchester, die Beständigkeit von Mozarts Musik und ihre Liebe zur Kulturstadt Basel.

LV Yulia

Kopylova, das erste Sinfonie­ konzert dieser Saison steht ganz im Zeichen eines musikalischen Aus­ tauschs mit Mozart. Was macht Mo­ zarts Musik aus? Y K Mozart ist einer der wichtigsten Komponisten, die wir haben. Es ist ein Glück, dass er in seiner kurzen Lebenszeit so viel geschrieben hat. Mozarts Musik ist immer modern, immer frisch und passt somit in jede Zeit. Ich liebe Mozart sehr, denn seine Musik ist lebendig, liebevoll und energiegeladen. Allerdings heisst es nicht umsonst: «Mozart ist zu leicht für Kinder und zu schwer für Erwachsene», denn seine Musik ist auch zerbrechlich und transparent. Von den meisten Musikerinnen und Musikern werden deshalb Werke von Mozart als Referenzstücke verlangt, beispielsweise bei Probespielen für die Aufnahme in ein Orchester. Ein paar Takte reichen aus, um viel über den Musiker oder die Musikerin auszusagen. LV Als

Konzertmeisterin bist Du an der Schnittstelle zwischen dem Dirigen­ ten oder der Dirigentin und dem Or­ chester. In diesem Programm kommt zusätzlich noch eine Solistin dazu. Wie hält ein Konzertmeister oder eine Konzertmeisterin diese ver­ schiedenen ‹Dialoge› zusammen? Y K Wir Konzertmeister transportieren die Bewegungen und damit die physische


Y U L I A KOPY LOVA

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© Pia Clodi / Peaches & Mint

VORGEST EL LT


VORGEST EL LT

Y U L I A KOPY LOVA

Energie des Dirigenten und des Solisten ins Orchester und auch ins Publikum. Das erfordert von uns eine klare Körpersprache. Ein grosser Teil unserer Arbeit beinhaltet auch den sozialen und psychologischen Aspekt, denn man muss mit ­unterschiedlichen Persönlichkeiten gut umgehen können. In einer Konzertsituation, in der Dirigent, Orchester und Solist involviert sind, kommunizieren am besten alle mit allen.

zigen Handbewegung das Orchester leitet, so kann auch der Konzertmeister durch ein bestimmtes Auftreten viel entscheiden.

«Alle Musikerinnen und Musiker tragen dazu bei, den Klang des Orchesters zu verändern.» LV In

welchen Momenten greifst Du in das Probegeschehen ein? Y K Wenn es etwas zu sagen gibt, ist es meine Aufgabe, dies zu übernehmen. Der Konzertmeister oder die Konzertmeisterin vermittelt auch Vorschläge aus den hinteren Reihen des Orchesters, damit die Kommunikation ein wenig organisierter ist. Wir Konzertmeister treffen dann eine gemeinsame Entscheidung und geben diese an den Dirigenten oder die Dirigentin weiter. Dirigenten bringen oft ihr eigenes Notenmaterial mit, und es ist ihnen wichtig, dass alles so umgesetzt wird, wie es dort vorbereitet ist. Als Quintett – also jeweils die Stimmführer aus erster und zweiter Geige, Bratsche, Cello und Kontrabass – können wir die Bogenstriche aber meistens noch ändern. LV Herbert

von Karajan, eine Koryphäe des Dirigierens, sagte einmal: «Or­ chester haben keinen eigenen Klang, den macht der Dirigent». Wie beein­ flusst Du als Konzertmeisterin den Klang des Orchesters? Y K Alle Musikerinnen und Musiker tragen dazu bei, den Klang des Orchesters zu verändern – der Dirigent aber natürlich am meisten, was diesen Beruf so besonders schwer macht. Eine Person kann den Klang von hundert Menschen ändern! Als Stimmführerin oder Stimmführer entscheidet man ebenfalls viel über den Klang. So wie der Dirigent mit einer ein-

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LV Du hast

als Konzertmeisterin bereits viel Erfahrung, unter anderem 2013 als Konzertmeisterin beim Gustav Mahler Jugendorchester. Was ist Dir wichtig, wenn Du einen neuen Diri­ genten oder eine neue Dirigentin zum ersten Mal triffst? Y K Mir ist es wichtig, dass die Kommunikation von Beginn an rund läuft. Ich mag es zudem, wenn ein Dirigent oder eine Dirigentin eine klare musikalische Vorstellung hat und diese gut vermittelt. Alles ist dann logisch und klar. Dabei ist es manchmal auch schön, wenn eine Herangehensweise der eigenen Idee widerspricht und man etwas Neues vom Dirigenten oder der Dirigentin lernen kann.

«Ich mag es zudem, wenn ein Dirigent oder eine Dirigentin eine klare musikalische Vorstellung hat und diese gut vermittelt.» LV Du

stammst ursprünglich aus Russ­ land und hast lange Zeit in Deutsch­ land studiert. Wie kamst Du nach Basel? Y K Ein sehr persönlicher Weg führte mich nach Basel, denn mein Mann bekam eine Orchesterstelle beim Konzert Theater Bern. Ich war damals noch in München, und es war einfach zu schwierig, diese beiden Städte miteinander zu verbinden. So meldete ich mich für das Probespiel beim Sinfonieorchester Basel – und es hat geklappt!

«Es gibt keinen Ort in der Schweiz, der nicht schön ist.»


VORGEST EL LT

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LV Wie

lenkst Du Dich in Deiner Frei­ zeit sonst vom Musikeralltag ab? Y K Ich liebe es zu reisen. Die CoronaZeit war in dieser Hinsicht extrem schwierig. Wenn ich von einer Reise nach Hause komme, plane ich normalerweise immer gleich die nächste, was in letzter Zeit nicht möglich war. Dafür war ich im letzten Jahr viel in der Schweiz unterwegs, war wandern und bin Ski gefahren – beides als Anfängerin! LV Das

neue Saisonprogramm beschäf­ tigt sich stark mit dem Thema der ‹Herkunft› und den Ursprüngen des Konzertlebens im Musiksaal. Wo­ rauf freust Du Dich besonders, wenn Publikum und Orchester wieder auf­ einandertreffen? Y K Ich freue mich auf den Energietausch, den Austausch von Emotionen und auf die Geräusche aus dem Publikum, sogar auf das Husten (lacht). Jedes Konzert ist anders, und wir als Orchester fühlen die Energie, die Stimmung im Saal. Wir wissen dann, ob die Musik gut ankommt oder nicht. LV Yulia

Kopylova, herzlichen Dank für das Gespräch!

© Pia Clodi / Peaches & Mint

gefällt Dir an der Schweiz und an Basel besonders gut? Y K Die Schweiz ist wunderschön. Es gibt keinen Ort in der Schweiz, der nicht schön ist (lacht). Zudem ist die Kulturszene in der Schweiz sehr stark, viele der wichtigen Festivals finden hier statt. Ich stamme aus einem riesigen Land und finde es deshalb fantastisch, dass es in der Schweiz so viele gute Orchester auf so kleinem Raum gibt! Die Kommunikation innerhalb der Schweiz ist wahnsinnig gut. Die Stadt Basel nimmt in der Schweizer Kulturszene eine besonders wichtige Rolle ein. Es gibt hier zahlreiche berühmte Museen und bedeutende Kunst. Ausserdem gefällt mir die Nähe der Stadt zur Natur. Der Weg von der Orchesterprobe im Stadtcasino Basel bis zur Erholung in der Natur dauert gerade mal zehn Minuten!

Y U L I A KOPY LOVA

LV Was


KOLUMNE

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FR AGENDE ZEICHEN

VON EGL E A

Schon wenn ich vorfuhr, sah ich es durch die klar verglaste Haustür und durch die klar verglaste Tür zum Esszimmer meiner Eltern: Da sassen Leute um den Tisch, die ich nicht kannte. «Die haben in der Jugendherberge keinen Platz mehr bekommen», hiess es dann. Oder: «Wir konnten sie mit ihren Geigenkästen nicht im Platzregen an der Strasse stehen lassen.» Offen, dieses Wort, das in fast allen Sprachen der westlichen Welt mit einem offenen Vokal beginnt, hat einen magischen Klang bekommen während der Pandemie, als eines allgegenwärtig war: Zugang verboten. Dahinter hören wir das Ausrufezeichen, doch auch ohne ein Verbot davor versperrt das Ausrufezeichen meistens den Weg. Wer einen Text liest, in dem sich die Ausrufezeichen häufen, sogar Lattenzäune bilden, findet schwer Zugang zu ihm. Das Fragezeichen hingegen öffnet. Und dieses Programm des Sinfonieorchesters Basel ist voll der fragenden Zeichen. Dialog mit Mozart, hat Péter Eötvös ein Werk genannt, das auf seiner Auseinandersetzung mit Mozarts Fragmenten gründet, und damit auf der umfangreichsten Bruchstück-Sammlung dieser Art: Mozart ist der grösste FragmentKomponist aller Zeiten. Seinen etwas über 600 vollendeten Werken stehen mehr als 160 Fragmente gegenüber, wobei das ­Requiem nicht darunter verbucht ist. Wie

viele Fragmente im Papierkorb gelandet sind, wissen wir nicht. Wie viele vermeintlich komplette Werke sich noch, wie bereits geschehen, angesichts wieder aufgefundener Originale als postum angestückte Fragmente enthüllen, wissen wir genauso wenig. Das Fragment selbst stellt bereits eine Frage: Wie wäre es weitergegangen? Hinter ihm steht eine andere: Warum blieb das Werk Fragment? Die beliebteste Antwort macht das Geld dafür verantwortlich. Mozart hatte sogar Opern ins Hoffnungsblaue komponiert, dann kam ein golden glänzender Auftrag. Die zweite Antwort gibt uns im Fall Mozart die Tatsache, dass er leidenschaftlicher Gelegenheitskomponist war. War die Gelegenheit vorbei, schwand mit ihr auch seine Lust, das Werk fertigzustellen. Die dritte Antwort wagen wir nicht auszusprechen, Ulrich Konrad jedoch, der als Erster Mozarts Schaffensweise bis in die hintersten Winkel der Fragmente durchleuchtete, lieferte dafür den Indizienbeweis: Mozart hat sich auch mal verkomponiert. Das konnte geschehen, weil Mozart keineswegs der harmoniebeseelte Vollender war, dazu schminken ihn nur manche Interpreten. Er war ein Aufbrecher, ein Dissonanzenjäger, ein Experimentierlüsterner, offen für alles Neue. Das Ausrufezeichen soll Gewissheit signalisieren, das Fragezeichen kündet von


Zweifeln. Es gibt Musikerinnen und Musiker, die spielen Mozart mit einem Ausrufezeichen; mancher Schlussakkord klingt­ wie ‹Jawoll!› Doch nur Künstlerinnen und Künstler, die Zweifel hörbar machen, bringen uns jenen Mozart näher, den wir gerne überhören, der seinem Vater sagte, mit welchen Skrupeln er komponiere, dass er spekuliere und räsoniere. Mozart hat in vielen Werken radikal gestrichen und verändert, besonders im c-Moll-Konzert; einem Konzert, in dem Orchester und Solistin oder Solist sich unablässig in so intensivem Dialog befinden wie bei Mozart zuvor nicht. Und dieser Dialog öffnet die Musik auch zum Publikum hin. Vor allem brüskiert das Konzert bereits zu Beginn mit einer Frage, die unheimlich klingt. Unheimlich war vielen Besorgten, dass meine Eltern noch mit achtzig offen waren für Neues, für fremde Gäste, die meisten blieben über Nacht. Gabriela Montero ist für ihre Improvisationen berühmt, wie Mozart, der öffentlich über vorher Unbekanntes fantasierte. Sie lebt wie er das Risiko. Rudolf Lutz wird sich ihm auf dem riesigen Gelände der Orgel ausliefern. Ohne Risiko ist die Offenheit nicht echt und das fragende Zeichen nicht glaubwürdig. Es ist dann, als stünde dahinter zur Absicherung ein Ausrufezeichen. Wozu? Nicht das Scheitern zerstört uns, nur die Angst davor.

© Jacques Schumacher

KOLU M N E EGL E A 33

EGLEA

EGL E A = 2, W EIL SIE GEBOR EN E A MBIDE X TR A IST, BEIDH Ä N DER I N

1. Eva Gesine Baur, promovierte Kulturhistorikerin, die ihren Zweitwohnsitz in der Bayerischen Staatsbibliothek hat & Sachbücher schreibt, zuletzt Biografien von Mozart, Genius und Eros, und Marlene Dietrich, Einsame Klasse (beide bei C.H. Beck). 2. Lea Singer, römische Strassenhündin, die in allen Hinterhöfen der Geschichte schnuppert & Romane schreibt, zuletzt über Horowitz, Der Klavierschüler, und über eine venezianische ResilienzIkone in Tizians Venedig, La Fenice (beide im Kampa-Verlag). Wenn sie nicht liest, schreibt, radelt oder kocht & Freunde bewirtet, hört sie klassische Musik.



Sie schwingen den Taktstock. Wir bleiben im Rhythmus.

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© Pia Clodi / Peaches & Mint


IN ENGLISH

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IMPROV ISATION A ND ACCEP TA NCE

BY BA RT DE V R IES

During the pandemic 2020/21 season many concerts had to be canceled. To remain in touch with its audience, the orchestra had to improvise. Events were dramatically limited in terms of length, number of musicians and the size of the audience, so that small-scale and digital events often had to be organised at short notice. Although the pandemic may not be fully over yet and the number of visitors could still be restricted, the program for the new season demonstrates the orchestra can’t wait to return in full force. Given what we learned in the past season, it feels appropriate to start the season with an improvisation. However, the real reason to invite the Swiss organist, improvisor and musical jack-of-all-trades Rudolf Lutz is the inauguration of the Musiksaal’s new organ. In earlier times, improvising was a much more common part of classical music praxis than it is now. Bach, Mozart, Duruflé and others were known for their ability to improvise. The improvisation could be based on an existing theme or chord, or consist of completely new material. The best-known occasion for musicians to display their talents was the cadenza of a solo concerto, which was ori­ ginally not written down, giving the instrumentalist the opportunity to freely improvise on the concerto’s musical material. However, by the time of Mozart it was not uncommon for the composer to write a cadenza for his own or other’s use. Mozart’s Piano Concerto No. 24 is an exception, probably because it was the composer himself who premiered the piece in Vienna in 1786. Brahms, himself a gifted pianist, who held this concerto in very high esteem, composed his own. In ge­ neral, the soloist’s part of the original score of the concerto lacks detail, indicat-

ing that Mozart must have improvised not only in the cadenza, but also in many other parts. The concerto is exceptional too for the fact that it is written in a minor key, c minor in this case. Although the minor key is most often associated with a mood of melancholy or pathos, the Mozart concerto is at times rather ominous. But then, Mozart is seldomly predictable. The famous British musicologist Tovey sums up it as follows: “Tell me that a mature […] work of Mozart is in a minor key, and I will confidently assert that […] it is very likely that much of the work will border on the sublime.” Brahms would have agreed. Brahms’ Third Symphony, which concludes the concert, may be his shortest and least played, according to some it is also his finest. The piece met with great public success after its first performance, but it had its detractors too. Herbert Blomstedt, the youthful éminence grise of all conductors and a great admirer of the piece, quotes the late Hans Schmidt-­ Isserstedt, founder of the German NDR Orchestra, saying: “It is impossible to perform it, it ends pianissimo.” As a matter of fact, all movements end softly, depriving the audience of the opportunity to burst into tumultuous applause after a spectacular final climax. However, these climaxes are elsewhere woven into the musical fabric, which also contains immensely beautiful melodic lines. The sense of acceptance the contemplative endings convey and the desire to cheer for our musicians again after a turbulent year are a suitable reflection of the state of mind most of us are in.


V ER EIN ‹FR EU NDE SINFONIEORCHESTER BASEL›

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en & z t ü rst Unte n iessen ge

MUSIK V ERBINDET – FREU NDSCH A FT AUCH

Der Freundeskreis ist eine engagierte Gemeinschaft, die Freude an klassischer Musik sowie eine hohe Wertschätzung gegenüber dem Sinfonieorchester Basel verbindet.

Wir unterstützen die Arbeit der Musikerinnen und Musiker des Sinfonieorchesters Basel mit konkreten Projekten und finanziellen Beiträgen. Darüber hinaus tragen wir dazu bei, in der Stadt und der Region Basel eine positive Atmosphäre und Grundgestimmtheit für das Sinfonieorchester Basel und das kulturelle Leben zu schaffen. Unser Verein bietet seinen Mitgliedern ein reichhaltiges Programm an exklusiven Anlässen mit dem Sinfonieorchester Basel sowie über ausgewählte Veranstaltungsformate exklusive Möglichkeiten des direkten Kontakts zu Musikerinnen und Musikern. Wir fördern das gemeinschaftliche musikalische Erleben sowie den Austausch unter unseren Mitgliedern.

© Benno Hunziker

Möchten Sie mehr erfahren? Besuchen Sie unsere Website www.sinfonieorchesterbasel.ch/freundes­ kreis oder nehmen Sie direkt Kontakt mit uns auf: freunde@sinfonieorchesterbasel.ch


IM FOK US

E X T R A KONZ ERT

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TÖNENDES LICHT

Aussergewöhnliche Klang- und Raum-Erlebnisse gehören zu den erklärten Zielen des 2015 gegründeten Festivals ZeitRäume Basel. Gemeinsam laden das Sinfonie­ orchester Basel und die vierte Ausgabe der Biennale für neue Musik und Architektur erstmals in die Pauluskirche – und wir trauen uns, Ihnen hier ein unvergess­ liches Klang- und Raum-Erlebnis zu versprechen: Die architektonische Synthese von Jugendstil, Neoromanik und Stadtentwicklung des 21. Jahrhunderts schafft mit zwei visionären Raum-Orchester-Kompositionen ein vieldimensionales Klangbad. Unter der Leitung von Clemens Heil und mit Sebastian Bohren als Solist erklingt zunächst das Violinkonzert Seven des ‹Composers in Residence› Péter ­Eötvös: «49 Musiker sind in 7 Gruppen aufgeteilt, neben der Sologeige gibt es 6 weitere Violinen, die im Saal verteilt sind. Sie sind wie sieben Satelliten oder Seelen, die klingend im Raum schweben.» Der österreichische Komponist Klaus Lang sitzt dann selbst als Solist an der Orgel bei der Schweizer Erstaufführung seines Orgelkonzerts tönendes licht. Aus dem Nachdenken über mittelalterliche Philosophie, Architektur, Kunst und Musik entsteht eine «Reise in einen zeitlosen Zustand» und eine berührende, entschleunigende Meditation über Schönheit.

Seven (Memorial for the Columbia Astronauts) für Violine und Orchester (2006/07)

Klaus Lang (*1971):

tönendes licht für Orgel und räumlich verteiltes Orchester (2020) Sinfonieorchester Basel Sebastian Bohren, Violine Klaus Lang, Orgel Clemens Heil, Leitung

© Bernhard Günther

Koproduktion mit ZeitRäume Basel – Biennale für neue Musik und Architektur

Péter Eötvös (*1944):

Klaus Lang

© Marco Borggreve

So, 12. Sept. 2021, 11 Uhr Pauluskirche Basel

Sebastian Bohren


I M FOK US E X T R A KONZ ERT

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L ATIN CONCERTO

Sa, 25. Sept. 2021, 19.30 Uhr Stadtcasino Basel, Musiksaal Koproduktion mit Culturescapes www.culturescapes.ch

Gabriela Lena Frank (*1972): Three Latin American Dances für Orchester (2003)

Gabriela Montero (*1970):

Klavierkonzert Nr. 1, Latin Concerto (2016)

Alberto Ginastera (1916−1983):

Vier Tänze aus Estancia, op. 8a (1943)

Leonard Bernstein (1918−1990):

Sinfonische Tänze aus West Side Story (1957)

© Anders Brogaard

Sinfonieorchester Basel Gabriela Montero, Klavier Elim Chan, Leitung

Gabriela Montero

© Willeke Machiels

Mit feurigen lateinamerikanischen Tanzrhythmen wie Samba, Tango oder Mambo strotzt dieses Konzert vor Energie und Bewegungsfreude. Neben Franks und Ginasteras orchestralen Tanzstücken und einem Ausschnitt aus dem Musical-Hit West Side Story führt die virtuose Improvisatorin und Komponistin Gabriela Montero ihr temperamentvolles Klavierkonzert Nr. 1 auf. Dieses Konzert findet im Rahmen des Festivals Culturescapes statt.

Elim Chan


DEMNÄCHST

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SCHU LE Do, 2. September 2021, 10 Uhr Stadtcasino Basel, Musiksaal

ERSTES SCHU LKONZERT Sinfonieorchester Basel, Gabriela ­Montero, Rudolf Lutz, Ivor Bolton

E X TR A KONZERT ZEITR ÄU ME BASEL So, 12. September 2021, 11 Uhr Pauluskirche Basel

TÖN EN DES LICHT Sinfonieorchester Basel, Sebastian ­Bohren, Klaus Lang, Clemens Heil

G ASTSPIEL Fr, 17. September 2021, 20.30 Uhr Pfarrei San Francesco, Locarno

Z U G AST IN LOCA R NO Sinfonieorchester Basel, Plamena Mangova, Ivor Bolton

W EITER E KONZERTE Sa, 18. September 2021, 10 Uhr Theater Basel, Foyer

U N V ERGESSLICH! Mitglieder des Sinfonieorchesters Basel und des Theater Basel

N EU IM PROGR A MM Sa, 18. September 2021, 20 Uhr Stadtcasino Basel

1. CONCERT LOU NGE In Zusammenarbeit mit Nordstern

VORV ER K AU F (falls nicht anders angegeben):

Billettkasse Stadtcasino Basel Steinenberg 14 / Tourist Info 4051 Basel +41 (0)61 226 36 00 info@stadtcasino-basel.ch

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Dieses Werk wird zum Teil auf h ­ istorischen Instrumenten gespielt

Diese Institution verfügt über eine Höranlage

Manuskript in der Paul Sacher Stiftung

I MPR ESSU M

Sinfonieorchester Basel Picassoplatz 2 4052 Basel +41 (0)61 205 00 95 info@sinfonieorchesterbasel.ch www.sinfonieorchesterbasel.ch Möchten Sie das Programm-Magazin abbestellen? Schreiben Sie eine E-Mail an marketing@sinfonieorchesterbasel.ch

Orchesterdirektor: Franziskus Theurillat Künstlerischer Direktor: Hans-Georg Hofmann Redaktion Programm-Magazin: Katrin Oesteroth & Lea Vaterlaus Korrektorat: Ulrich Hechtfischer Gestaltung: Atelier Nord, Basel Druck: Steudler Press AG Auflage: 5000 Exemplare


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