Siegessäule 11 2017

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Zündstoffe Queere Positionen und Kritik

Sercan Aydilek ist Auszubildender und politischer Aktivist. Seine Themenschwerpunkte sind Strategien gegen Antisemitismus, Homophobie und Islamismus

Sprechorttheorie in queerfeministischen Kreisen. Die Theorie besagt, dass nur die sprechen sollen, die auch betroffen sind. Aus dieser Logik heraus beschränkt sich die Debatte auf das Narrativ der wenigen, bleibt dort hängen und bringt keinerlei Erkenntnisgewinn für die Kämpfe, die wir als FeministInnen und Queers noch zu bestreiten haben. Wer darf zu welchem Thema sprechen? Darf zum Beispiel das verbrecherische Vorgehen der Mullahs im islamistischen Iran gegen Schwule kritisiert werden? Wenn nein, warum nicht? Und wenn ja, wer darf Kritik äuTeile der queerfeministischen Szene setzen sich seit geraumer Zeit damit auseinander, ßern? Nach der Logik derer, die die „Sprechortwer in Diskursen berechtigt ist zu bestimmten Themen zu sprechen. Gerade wenn es theorie“ verfechten, dürfen das nur die, die auch um die Belange marginalisierter Gruppen geht, verjüngt sich die Debatte so immer betroffen sind. wieder auf die eine Frage: Dürfen nur die Personen zu einem Thema sprechen, die Kritische Fragen, Argumente oder Erfahrungsbevon eben diesem Thema betroffen sind? Nein, findet Sercan Aydilek richte entfesseln den stark ausgeprägten autoritären und antiemanzipatorischen Charakter der m Februar 2017 saß ich bei einer Veranstaltung, in der VerfechterInnen der „Sprechorttheorie“ und werden nicht gedules um den „Pinkwashing“-Vorwurf gegen den Staat Israel ging. det. Online entfernt man kritische Kommentare, offline droht man Unter „Pinkwashing“ ist eine Vermarktungs- beziehungsweise mit Gewalt. Kritische Stimmen werden aus Diskursen und Kreisen eine politische Strategie zu verstehen, die Menschen, Staaten verbannt, niedergebrüllt, diffamiert und körperlich angegangen. oder Organisationen positiv darstellen soll, indem diese sich zur Für mich sind das keine Umgangsformen einer zivilisierten GeLGBTTIQ*-Bewegung bekennen. In dem Fall heißt es konkret: Israsellschaft, sondern die Verrohung und Barbarisierung des Debatel gesteht LGBTTIQ* nur Rechte zu, um von der Unterdrückung tenraums. Menschen aufgrund ihrer berechtigten Kritik die der AraberInnen abzulenken. Dieser Vorwurf gegen Israel sagt Teilhabe an einer Debatte zu verwehren und ihnen vorzuwerfen, aber auch noch etwas anderes aus. Er sagt, dass man die Errundass ihre Kritik zu „weiß“ sei, ist der Versuch, bestimmte Meinungenschaften der LGBTTIQ*-Bewegung in Israel nicht anerkennt gen zu verdrängen und sich nicht mit ihnen auseinandersetzen und die Kämpfe, die dahinter stehen, als inszeniert erachtet. zu müssen. Aber wenn man nicht kritisieren kann, wenn nicht Die Veranstaltung wurde durch Zwischenrufe und Lacher von Mitmehr kritisiert wird, wie soll dann eine Veränderung bestehender gliedern der Gruppe „Berlin against Pinkwashing“ gestört. Bei der Verhältnisse zustande kommen? anschließenden Fragerunde meldeten sich VertreterInnen der Zu lange haben VordenkerInnen und VorkämpferInnen der Gruppierung zu Wort. Sie warfen allen im Raum und vorneweg LGBTTIQ*-Community dafür gestritten, dass die Anliegen der Mindem Referenten vor, zu weiß, nicht queer genug und nicht betrofderheit, wie beispielsweise die Öffnung der Ehe, das Adoptionsfen zu sein. Damit hätten sie kein Recht, zum Thema der Veranrecht für Schwule und Lesben oder die Sichtbarkeit von trans* staltung zu sprechen. Sie begannen ihre Redebeiträge damit, zu Personen im alltäglichen Leben, von der Gesamtgesellschaft ernst erzählen, woher sie kommen, welche sexuellen und geschlechtligenommen werden, als dass man jetzt alles für die Irrsinnigkeit chen Identitäten sie haben und inwiefern diese sie berechtigen zu der „Sprechorttheorie“ über Bord werfen kann. Jetzt, da es den Anreden. Als ich eine Frage einbringen wollte, fühlte ich mich genöschein erweckt, als hätte man all das, wofür man die letzten Jahrtigt, meinen Redebeitrag so zu beginnen: „Hi, ich bin Sercan, ich zehnte gekämpft hat, erreicht, wird der Versuch einiger Gruppen bin schwul und Muslim, ich hoffe, ich darf eine Frage stellen.“ Ich unternommen, die LGBTTIQ*-Bewegung zu diskreditieren und fühlte mich dazu gedrängt, zunächst meine „Betroffenheit“ darzuhinter diese Errungenschaften zurückzuwerfen. Nicht mit mir! legen, bevor ich nach der Situation von LGBTTIQ* in arabischen Der Sammelband „Beißreflexe – Kritik an queerem Aktivismus, auLändern fragte. Aufgrund dieser Frage allein wurde mir ein vertoritären Sehnsüchten, Sprechverboten“ von Patsy l’Amour laLove zerrtes, rassistisches und „islamophobes“ Bild der Situation von hat einen guten Aufschlag zu dem gemacht, wofür ich plädiere, LGBTTIQ* in arabischen Ländern vorgeworfen – jegliche Kritik und was wir seit Beginn der LGBTTIQ*-Bewegung tun. Kritisieren, an deren Situation war undenkbar. hinterfragen, Erfahrungsberichte teilen und die Meinung äußern. Ich glaube, diese Erfahrung zeigt, dass etwas in diesem Diskurs Lasst uns einen Wandel der Verhältnisse unter anderem durch offalsch läuft. Die Rede ist von der Debatte um die sogenannte fene Diskussionen und Debatten herbeiführen. <

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