Schmerzen und das neonatale Gehirn: Geschichte, Folgen und Verbesserungsstrategien

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Schmerzen und das neonatale Gehirn: Geschichte, Folgen und Verbesserungsstrategien

Patienten auf der NICU gehören zu den verletzlichsten im Krankenhaus. Studien zufolge werden dennoch täglich bis zu 17 schmerzhafte Eingriffe an Frühgeborenen vorgenommen.1

Viele schmerzhafte Eingriffe sind mit Blutentnahmen für Laboruntersuchungen zur Patientenüberwachung und der Einstellung der Beatmungsunterstützung verbunden. Häufigere Blutentnahmen führen jedoch zu vermehrten Schmerzen, welche in negativen Kurzund Langzeitfolgen für diese empfindlichen Patienten resultieren können.

Für die Lebensqualität und die langfristige Perspektive dieser Frühgeborenen ist es unerlässlich, dass ein ganzheitlicher Ansatz angewendet wird, um Schmerzen auf der NICU zu adressieren.

Neugeborene und Schmerzen: Ein geschichtlicher Überblick2

Vor dem 21. Jahrhundert war das Schmerzempfinden bei Neugeborenen unter Medizinern weitgehend verkannt und sogar bestritten. Zu jener Zeit wurde weithin angenommen, dass Säuglinge weniger entwickelte Menschen seien und deshalb Schmerzen nicht in derselben Stärke wie eine erwachsene Person wahrnehmen. Aufgrund dieser lang gehegten Überzeugung herrschte Skepsis gegenüber Daten, die darauf hindeuteten, dass Säuglinge Schmerzen spüren. Die Reaktionen von Säuglingen auf Schmerzen wurden als physiologische oder verhaltensbezogene Reflexe abgetan, anstelle von legitimer schmerzhafter Wahrnehmung durch das Kind. Diese Ansicht war so weit verbreitet, dass Operationen an Säuglingen bis Ende der 80er-Jahre routinemässig ohne eine Anästhesie durchgeführt wurden.

Diese Einstellung wandelte sich erst mit Änderung der Faktenlage. Kliniker beobachteten Weinen und andere Reaktionen, wenn Säuglinge und Neugeborene schmerzhaften Stimuli ausgesetzt wurden, und begannen, diese zu dokumentieren. Für invasive Eingriffe zeigten gesammelte Daten, dass hormonelle metabolische Schmerzreaktionen erheblich reduziert waren, wenn den Neugeborenen eine geringfügige Betäubung verabreicht wurde. Die Anerkennung von neonatalen Schmerzen führte zu weiteren Beobachtungen der Folgen von frühzeitigen Schmerzen und ebneten den Weg für Fortschritte in der neonatalen Schmerzbehandlung.

Wie oft werden Frühgeborene Schmerzen ausgesetzt?

NICU-Patienten benötigen umfassende Untersuchungen und häufige Behandlungen, die sie belasten, erschöpfen und mit erheblichen Schmerzen verbunden sein können. Es wurde nachgewiesen, dass Neugeborene durchschnittlich 12 oder mehr schmerzhafte Eingriffe pro Tag erleben, wobei die Patienten in Einzelfällen bis zu 51 schmerzhafte Eingriffe an einem Tag erleiden.3 Fersenblutentnahmen sind für 61-87 % der invasiven Eingriffe verantwortlich, die an Säuglingen durchgeführt werden.4 Sie werden überwiegend zur Messung der Blutgas- und pH-Werte verwendet, mithilfe welcher Kliniker die Patientenbehandlung und die Beatmungsunterstützung einstellen können.

Fersenblutentnahmen machen 61% bis 87 % der invasiven Eingriffe aus, die an kranken Säuglingen durchgeführt werden.4

Wie verarbeiten Neugeborene Schmerzen?

Es ist wichtig anzumerken, dass häufige Schmerzerfahrungen bei neonatalen Patienten langfristige Auswirkungen haben können - jenseits der unmittelbaren Schmerzempfindung. Wenn sie Schmerzen erleiden, können Säuglinge erhöhte oder schwankende Herzfrequenz, Blutdruckschwankungen, eine Abnahme der Sauerstoffsättigung und einen erhöhten Ausstoss an Stresshormonen aufweisen. 5 Obwohl zahlreiche Mediziner vor dem 20. Jahrhundert das Auftreten von Schmerzen bei Säuglingen negiert haben, kam eine Studie von M. Fitzgerald zu dem Schluss, dass Säuglinge sogar empfindlicher auf Schmerzen reagieren, da es ihnen an Entwicklungskompetenzen zur Selbsttröstung während eines schmerzhaften Ereignisses mangelt.6 Betrachten wir die Langzeitfolgen von Schmerzen bei Neugeborenen, ergibt sich

Es gibt zunehmend Hinweise darauf, dass Schmerzen ein zentraler Faktor sind, der Reifungsstörungen prognostiziert, insbesondere bei extrem Frühgeborenen und bei jenen, die frühzeitig häufig Schmerzen ausgesetzt sind.12

weiterer Anlass zur Besorgnis. Schmerzen in den ersten Lebenstagen verstärken nachweislich die Schmerzreaktion auf spätere Stimuli.7

Frühzeitige Hautverletzungen und andere schmerzhafte Erfahrungen sind mit einer Vielzahl an negativen Folgen assoziiert. Bei Tests im Alter von 8 und 18 Monaten zeigten Neugeborene mit einer hohen Anzahl von neonatalen Hautverletzungen niedrigere Werte im Mental Development Index.8 Eine grössere Anzahl von invasiven Eingriffen in den ersten Lebenstagen war mit einer Reduktion der weissen Substanz und einem niedrigeren IQ9 verbunden . Kumulativer schmerzbedingter Stress war mit Änderungen in der Hirnaktivität assoziiert und korrelierte negativ mit der visuellen Wahrnehmung im Schulalter.10

Im Allgemeinen waren vermehrte invasive Verfahren bei Neugeborenen mit kleineren Volumina der Amygdala und des Thalamus assoziiert, was wiederum mit schlechteren Testergebnissen im Bereich kognitiver, visueller und motorischer Fähigkeiten sowie dem Verhalten der Kinder korrelierte.11 In einem Übersichtsartikel von 2020, der im Pediatric Research veröffentlicht wurde, vermerken die Autoren: „Es gibt zunehmend Hinweise darauf, dass Schmerzen ein zentraler Faktor sind, der Reifungsstörungen prognostiziert, insbesondere bei extrem Frühgeborenen und bei jenen, die frühzeitig häufig Schmerzen ausgesetzt sind.“12

Was kann man tun?

Wie von Hall et al. 2 beschrieben, umfasst die Lösung des Schmerzproblems und der verbundenen Folgeerkrankungen in der NICU zwei Hauptpfeiler: die Reduzierung schmerzhafter Ereignisse und ein Qualitätsansatz bei neonatalen Schmerzen. Die Mehrzahl der Massnahmen, die notwendig sind, um hier erfolgreich zu sein, ist proaktiv und nicht reaktiv.

Die Autoren vermerken: „Vielleicht die effektivste Methode, neonatalen Schmerz zu beseitigen, besteht darin, die Anzahl der durchgeführten Eingriffe, sowie die Episoden, in denen der Patient gestört wird, zu reduzieren.“ Sie empfehlen sechs Ansätze zur Schmerzreduzierung:

• Maximal mögliche Reduzierung der Störungen am Krankenbett durch die Bündelung von Pflegemassnahmen (Cluster-Pflege),

• Antizipation von Laboruntersuchungen zur Minimierung von Blutentnahmen,

• Verwendung von Geräten, die mehrere Analysen mit einer einzigen Blutprobe durchführen können,

• Anlegen von peripheren arteriellen Kathetern oder zentralen Venenkathetern (unter Verwendung entsprechender Schmerzmittel) bei Patienten, die pro Tag mehrere Fersenblutentnahmen benötigen,

• Anwendung nicht-invasiver Überwachung wie transkutanes PaCO2 und/oder NIRS, um die Notwendigkeit von Blutentnahmen zu vermeiden,

• Erwägung nichtinvasiver therapeutischer Ansätze zur Analgesie. Die meisten NICUs haben eine oder mehrere dieser Strategien bereits integriert. Es ist jedoch ein umfassender Ansatz notwendig, um eine tatsächliche Wirkung zu erzielen.

Vielleicht die effektivste Methoden, neonatalen Schmerz zu beseitigen, besteht darin, die Anzahl der durchgeführten Eingriffe, sowie die Episoden, in denen der Patient gestört wird, zu reduzieren.

Schmerzprotokolle sollten in die Pflegeplanung aufgenommen und strengstens eingehalten werden, um sowohl kurz- als auch langfristige Auswirkungen zu vermeiden, die frühzeitige Schmerzen auf sich entwickelnde Säuglinge haben können. Der Erfolg eines Schmerzprotokolls bedingt Schulungen, Dokumentationen und proaktive Ansätze. Kliniker müssen Schmerzen als einen berechtigten Sachverhalt erkennen und routinemässige Bewertungen mit validierten Instrumenten durchführen, die Schmerzen bei Neugeborenen erfassen. Der Ansatz sollte das gesamte Pflegeteam einbeziehen und kontinuierliche Überwachung verlangen, um angemessene Schmerzbehandlungen zu

1. Cignacco E, et al. Neonatal procedural pain exposure and pain management in ventilated preterm infants during the first 14 days of life. Swiss Med Wkly. 2009;139:226-232

2. Hall Richard W, et al. Pain Management in Newborns. Clin Perinatol. October 7, 2014.

3. Carbajal R, et al. Epidemiology and Treatment of Painful Procedures in Neonates in Intensive Care Units. JAMA. 2008;300(1):60–70.

4. Kapellou O. Blood Sampling Infants (Reducing Pain and Morbidity). BMJ Clin Evid. 2009.

5. Lina Kurdahi Badr. Pain in Premature Infants: What is Conclusive Evidence and What is Not. Newborn and Infant Nursing Reviews. Volume 13, Issue 2, 2013, Pages 82-26.

6. Fitzgerald M. The Development of Nociceptive Circuits. Nat Rev

RF-012572-a

Erscheinungsdatum: 2024-03

Ref-Masterkopie: RF-012567-_

bestimmen. Durch den Einsatz der oben beschriebenen Tools und Ansätze waren Hall und sein Team von NICU-Fachkräften in der Lage, die Anzahl der schmerzhaften Eingriffe bei Neugeborenen im Alter von 27 bis 32 Wochen auf weniger als zwei pro Tag zu reduzieren.2

Die Bedeutung der transkutanen CO2-Überwachung

Die Reduktion schmerzhafter Ereignisse ist der effektivste Weg, Schmerzerfahrungen auf der NICU zu verringern. Die häufigsten schmerzhaften Ereignisse, denen Neugeborene ausgesetzt sind, sind Blutentnahmen. Da die meisten Blutentnahmen zur Messung von Blutgasen durchgeführt werden, bie-tet die transkutane CO2-Überwachung eine Möglichkeit, wichtige Parameter kontinuierlich im Auge zu behalten und gleichzeitig schmerzhafte Ereignisse zu reduzieren13 – und negative Folgen für diese empfindlichen Patienten weitmöglichst zu vermeiden.

Neurosci 6, 507-520 (2005).

7. Gokulu G, et al. Comparative Heel Stick Study Showed That Newborn Infants Who Had Undergone Repeated Painful Procedures Showed Increased Short-Term Pain Reponses. Acta Paediatr. 2016.

8. Grunau RE, et al. Neonatal Pain, Parenting Stress and Interaction, In Relation To Cognitive And Motor Development At 8 And 18 Months In Preterm Infants. Pain. 2009;143(1-2), 138-146.

9. Vinall et al. Invasive Procedures In Preterm Children: Brain And Cognitive Development At School Age. Pediatrics. 2014;133(3):412421.

10. Doesburg et al. Neonatal PainRelated Stress, Functional Cortical Activity and VisualPerceptual Abilities In SchoolAge Children Born At Extremely Low Gestational Stage. Pain

Für weitere Informationen zu transkutaner Überwachung kontaktieren Sie uns bitte. sentec.com

2013;154(10):1946-1952.

11. Chau et al. Hippocampus, Amygdala, and Thalamus Volumes in Very Preterm Children at 8 Years: Neonatal Pain and Genetic Variation. Front Behav Neorosci. 2019;13:51. Published 2019 Mar 19.

12. McPherson C, et al. The influence of pain, agitation, and their management on the immature brain. Pediatr Res 88, 168–175 (2020).

13. Mukhopadhyay S, et al. Neonatal Transcutaneous Carbon Dioxide Monitoring—Effect on Clinical Management and Outcomes. Respir Care. 2016;61(1):90-97.

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