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In der Küche ihres Hauses bereden Marlene und Jakob G. die neusten Akten – und hören, wie Nachbar Z. nebenan seine Wiese mäht.

Text Erwin Koch Fotos Kurt Reichenbach

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r trat in die Küche, steckte das Handy ein, verliess das alte nied­ rige Haus, es war kühl, längst hell, G. sah sich nicht um und ging, vom Schlaf benommen, vorbei am Garten­ zwerg, am Flieder, stieg hinunter in den Keller, wo die Heizung steht, Jakob G. dachte nichts und tat, was er seit Jahren tut kurz nach halb sechs, er zog die Stiefel an, die Melkerbluse, trat wieder ins Freie, der Bauer knöpfte die Bluse zu und ging seinen Weg, wie alle Morgen, hinüber zum Stall, 8. Juni 2010. Seither gilt eine andere Vernunft, sagt Jakob am Küchentisch. Irgendwie. Man steht anders auf, geht anders ins Bett. Das Leben sei verrupft, sagt die Frau, die

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schweizer illustrierte

neben ihm sitzt, kurzes Haar, ernstes Gesicht. Seit Generationen lebt die Familie G. am Rand von Rehetobel, Appenzell Aus­ serrhoden, und bauert, seit sieben Jahren führt Jakob den Hof – Jakob hiess schon der Vater –, vierzig Hektar zwischen Wagenrank und Schlatt, vierzig Kühe im Freilaufstall mit Melkstand, computer­ gesteuert, zweitausend Legehennen, biologisch gehalten, auf tausend Meter über dem Meer, Jakob geht selten ins Gasthaus, er ist Mitglied des Landwirt­ schaftlichen Vereins und der Viehzucht­ gemeinschaft, ein kleiner Mensch, fünf­ unddreissig, über dem linken Auge eine Narbe, eine Narbe an der rechten Hand, vier Kinder, das jüngste auf dem Arm der Frau, die jetzt sagt: Man ist nicht mehr so daheim, wie man vorher daheim war. An Jakobs Kuhstall, Richtung Geissegg, hängen kleine Schilder aus Kunststoff,

100 000 kg Lebensleistung: Melitta CH 110.1801.2330.6; 85 000 kg Lebensleis­ tung: Medusa CH 110.1801.3079.3. Im Gehen knöpfte Jakob G. die Bluse zu, 8. Juni 2010, öffnete die metallene Tür zum Stall und sagte, was er jeden Morgen sagt: Guten Morgen, Kühe!, drehte sich, wie immer, zu den Lichtschaltern, ange­ bracht in zwei Reihen, drückte den mitt­ leren Schalter der oberen Reihe, um das Licht zu löschen, das er den Tieren nachts leuchten lässt, weisses Neon, damit sie, von keiner Kette gehalten, Weg und Platz finden – als ihn über der linken Braue der erste Schlag traf, Jakob dachte, es sei ihm etwas auf den Kopf gefallen und schaute hinauf zur Decke, da brach ihm jemand die Nase, er sah zwei Männer, beide dun­ kel und vermummt, Jakob schrie: E nüü­ nitge druurige Sauchöge!, mit Stöcken hieben sie auf ihn ein, Jakob hob die Hän­ de vors Gesicht, drehte sich zur Tür, fiel


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