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Auf der Rückreise dürften Sie etwas weniger Zeit zum Lesen haben: Stimmt es, dass Sie mit dem Bundesratsjet zurückfliegen? Ja. Aus zeitlichen Gründen drängt sich das auf. Ausserdem habe ich immer betont, dass es sich bei der Zugfahrt mit dem Klimaexpress um einen symbolischen Akt handelt. Und die Politik braucht solche Symbole.

In «heiliger» Mission Zusammen mit seinem Informationschef Dominique Bugnon (r.) macht sich Moritz Leuenberger auf den Weg vom Bahnhof Kopenhagen zum Konferenzzentrum.

schmecken. «Es ist höchste Eisenbahn, etwas fürs Klima zu tun», findet Erste­ rer. «Selbstverständlich retten wir mit dem Klimazug nicht die Welt», meint Letzterer etwas pragmatischer. Später mischt Gygi sich «unters Volk», scheint die Fahrt zu geniessen. Kollege Meyer steigt aus Zeitgründen in Mannheim aus. Den Stopp nutzen einige Jung­ politiker für eine Rauchpause. Und ein Nationalrat merkt, dass der Halt zu kurz ist fürs Pfeife-Rauchen. Moritz Leuenberger zeigt Ausdauer und meint in einer Ansprache, er habe noch lange nicht genug vom Zugfahren … Bis Kopenhagen dauert es noch mehr als zehn Stunden, und Sie sagen, es könnte ruhig noch ein bisschen länger dauern. Ist Ihnen denn gar nicht langweilig? Nein, ich bin ja permanent am Arbeiten. Meine Mappe ist voll, unter anderem will ich nochmals die Rede durchgehen, die ich morgen an der Klimakonferenz halten werde. Für den Fall, dass vor dem Schlafengehen noch Zeit bleibt, habe ich auch noch ein Buch im Gepäck – «Der Koch» von Martin Suter.

Am Donnerstagmorgen nähert sich der Klimaexpress Kopenhagen, ein Schneesturm peitscht gegen die Fensterscheiben. Die Reisenden kom­ men aus ihren Schlafkabinen in den Speisewagen. Ulrich Gygi fühlt: «Ich bin ausgeruht, obwohl ich eigentlich das Gefühl habe, die ganze Nacht wach gewesen zu sein.» Anders JusoPräsident Cédric Wermuth: Das «Klima»-Gipfeli zum Frühstück isst er mit dem Tempo, das einem die Müdigkeit einer durchzechten Nacht aufbrummt, und erklärt, das Zugperso­ nal habe ihn morgens um halb vier Uhr freundlich, aber bestimmt aufgefordert, doch jetzt ins Bett zu gehen. Munter wirkt Moritz Leuenberger. Er wird kurz nach der Ankunft in Kopenhagen zum Konferenzzentrum gefahren, wo er von der bereits anwesenden Schweizer Delegation gebrieft wird über den Stand der Dinge. Zwei Tage lang diskutiert und verhandelt er gemeinsam mit anderen Staatsvertretern fast ununter­ brochen. Das Resultat ist hochum­ stritten (siehe Box): Lippenbekenntnis und fauler Kompromiss oder doch ein erster, wichtiger Schritt in die richtige Richtung? Die Zukunft wirds zeigen. Wenn einer Ihrer Nachfolger in 50 Jahren zurückschaut auf Ihre Tätigkeit – was wird er dann hoffentlich sagen? «Er hat das Maximum getan, was damals möglich war.» Aber wahr­ scheinlich wird er auch sagen: «Heute würden wir alles ganz anders machen.» Wie meinen Sie das? Wir alle leben im gegenwärtigen Irrtum, in dem wir uns befinden. Künftige Generationen wissen es immer besser. Denken Sie nur an die Röntgenstrahlen: Als ich jung war, konnte man in jedem Schuhgeschäft minutenlang durch ein Röntgengerät schauen, das einem zeigte, ob der Schuh gut sitzt. Die gesundheits­ schädigende Wirkung der Röntgenstrah­ len war kein Thema. Heute zieht mir die Zahnarztgehilfin eine dicke Schürze an, wenn ich röntgen muss. Auch unsere Nachfahren werden sich wohl in gewissen Belangen fragen: «Waren die denn wahnsinnig?» 

Leuenbergers Witze am Gipfel «Bei rund 45 000 Teilnehmern muss man ständig Schlange stehen. Aber als Verkehrsminister kennt man ja solche Verstopfungen …» HHH Bei der Ankunft im Bahnhof Kopen­ hagen zu den im Klimaexpress Mitgereisten: «Wir haben eine ge­ meinsame Nacht hinter uns – das ist immer etwas Besonderes!» Und: «Es gibt doch keinen schöneren Empfang als ein Bahnhofbuffet.» HHH «In Kopenhagen fliegen die Fetzen. Klimagipfel sind keine Schönwetter­ veranstaltungen.» HHH Auf die Frage eines Journalisten, ob Moritz Leuenberger Verständnis habe für die Demonstranten: «Ich werde nicht ins Gefängnis gehen, um mit ihnen zu plaudern, wenn Sie das meinen …» HHH Zu Viktor Christen, Schweizer Botschafter in Kopenhagen, bei der Ankunft: «Sogar schneien lassen haben Sie es für uns! In der Schweiz hat es wegen der Klimaerwärmung nicht so viel Schnee – deshalb sind wir hier hochgekommen!»

Kopenhagen 2009: minimaler konsens Ernüchterndes Ende nach einem dramatischen Finale: Nachdem am Freitagabend 25 Staaten – darunter auch die USA und China – eine politische Erklärung zum Klimaschutz ausgehandelt hatten, wurde diese Schlusserklärung von der Vollversammlung lediglich «zur Kenntnis genommen» und bleibt damit unverbindlich. Die zentralen Forderungen: Die Erwärmung der Erde soll auf weniger als zwei Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit begrenzt werden. Ausserdem versprechen die Industrieländer den Entwicklungsländern finanzielle Unterstützung für den Klimaschutz. Bis 2020 leisten sie jährlich einen Beitrag von rund 100 Milliarden Franken. Die USA, China, Indien, Japan und die EU haben sich zusätzlich zu einer konkreten Verringerung des CO2-Ausstosses verpflichtet. Während Umweltorganisationen und Klimaexperten grösstenteils enttäuscht sind vom vagen Ergebnis, bezeichnen andere – so auch Bundesrat Moritz Leuenberger – Kopenhagen 2009 als einen Schritt in die richtige Richtung. schweizer illustrierte

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