Ein Basler Tapezierer in Paris

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EIN BASLER TAPEZIERER IN PARIS Ein junger Basler am Wendepunkt seines Lebens : Vor der Verehelichung unternimmt Joachim Weitnauer (1785–1848 ) eine Geschäfts- und Bildungsreise nach Paris und heimwärts durch die Schweiz. Sein Tagebuch dokumentiert diese Reise im Frühjahr 1807, in einer Zeit des Umbruchs, als Napoleon sich auf dem Zenit seiner Macht befindet. Weitnauers Beschreibungen sind ihrer Detailliertheit und emotionalen Färbung wegen von besonderem Wert. Zahlreiche Kommentare geben Hintergrundinformationen über Personen, Orte und Ereignisse. Die Einleitung gibt einen Überblick über die Handschrift, be-

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SELBST-KONSTRUK TION — TÉMOIGNAGE S — SCRIT TURE DEL SÉ BAND 7

leuchtet Weitnauers familiären und beruflichen Hintergrund und

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verortet ihn im Basler Kontext der Sattelzeit und des Pietismus.

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Sein Reiseverhalten, der spätere Lebensverlauf und die Einord-

Kevin Heiniger studierte Geschichte und Germanistik in Basel und Berlin und assistierte anschliessend am Historischen Museum Basel. Sein Forschungsschwerpunkt liegt im Schweizer Fürsorgewesen und Sozialstaat des 20. Jahrhunderts. 2015 promovierte er zur Geschichte der Erziehungsanstalt Aarburg.

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nung des Reisetagebuchs als Textgattung sind weitere Themen.

Joachim Weitnauer und sein Reisetagebuch von 1807


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Selbst-Konstruktion – Témoignages – Scritture del sé Herausgegeben von Lorenz Heiligensetzer, Alfred Messerli, Miriam Nicoli, Danièle Tosato-Rigo, Roberto Zaugg Band 7

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Kevin Heiniger

Ein Basler Tapezierer in Paris Joachim Weitnauer und sein Reisetagebuch von 1807

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Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Claire Sturzenegger-Jeanfavre Stiftung, Basel. Die Open-Access-Publikation wurde durch Beiträge der Universität Zürich und der Université de Lausanne ermöglicht.

Erschienen 2022 Schwabe Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, Schweiz Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Attribution-NonCommercialNoDerivatives 4.0 International (CC BY-NC-ND 4.0) Abbildung Umschlag: Porträt von Joachim Weitnauer (Universitätsbibliothek Basel, Portr BS Weitnauer J 1785); Reisetagebuch von Joachim Weitnauer, S. 113 (Historisches Museum Basel, Inv. 1962.93.) Korrektorat: Schwabe Verlag, Berlin Cover: icona basel gmbh, Basel Layout: icona basel gmbh, Basel Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Karten (S. 137, S. 138, Abb. 16, 17): © Peter Palm, Berlin Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN Printausgabe 978-3-7965-4512-2 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-4513-9 DOI 10.24894/978-3-7965-4513-9 Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt. rights@schwabe.ch www.schwabe.ch

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Doch wer den edlern Sinn, den Kunst und Weisheit schärfen, Durch’s weite Reich der Welt, empor zur Wahrheit schwingt; Der wird an keinen Ort gelehrte Blicke werfen, Wo nicht ein Wunder ihn zum Stehn und Forschen zwingt. Albrecht von Haller (1708–1777), aus: Die Alpen (1729).

Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen, und die Gesinnungen ändern sich gewiss in einem Lande, wo Elefanten und Tiger zu Hause sind. Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), aus: Die Wahlverwandtschaften (1809).

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Inhalt Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung

Zeugnis eines Übergangs: Das Reisetagebuch von Joachim Weitnauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Résumé des Reisetagebuchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alltag eines Basler Tapezierers der Sattelzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weitnauer und die Zeitgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spätere Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einordnung in eine Epoche des Übergangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Dokument und seine Gattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Reisetagebuch: Joachim Weitnauer, 1807 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personen- und Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dank Zum ersten Mal in Berührung kam ich mit Weitnauers Reisetagebuch gegen Ende meiner Assistenzzeit am Historischen Museum Basel (HMB). Meine damalige Vorgesetzte Dr. Margret Ribbert beauftragte mich im Hinblick auf die Ausstellung «In der Fremde – Mobilität und Migration seit der Frühen Neuzeit» im Frühjahr 2009 mit der Transkription und Auswertung des Schriftstücks. Dafür und auch für die weitere Unterstützung etwa bei der Zusammenstellung der Bebilderung gegen Ende der redaktionellen Phase gebührt ihr mein herzlicher Dank. Ebenso sei hier dankend erwähnt, dass das HMB das Bildmaterial zum Teil neu anfertigte und unentgeltlich zur Verfügung stellte. Für die Aufnahme des Editionsprojekts in die Reihe «Selbst-Konstruktion» des Schwabe Verlags, für die inhaltliche und formale Begleitung desselben seit dem Frühjahr 2016 bin ich der Herausgeberschaft und zuvorderst Dr. Lorenz Heiligensetzer, Prof. Dr. Roberto Zaugg und Prof. Dr. Alfred Messerli zu grossem Dank verpflichtet. Auf Seiten des Schwabe Verlags danke ich Harald S. Liehr M. A. und Ruth Vachek M. A. für die umsichtige Koordination der Buchproduktion und die fachkundige Betreuung der Publikation. Die finanzielle Unterstützung durch die Claire Sturzenegger-Jeanfavre Stiftung ermöglichte den erfolgreichen Abschluss des Unterfangens. Die Stiftung und namentlich meine Fürsprecherin Dr. Sabine Söll-Tauchert versichere ich hiermit ebenfalls meines aufrichtigen Dankes. Nicht zuletzt seien die Wanderungen auf Weitnauers Spuren vom Frühjahr und Sommer 2020 erwähnt, die streckenweise «frevel» waren. Ich danke Patrick als meinem unerschrockenen Begleiter. Basel, im Oktober 2021 Kevin Heiniger

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Einleitung Zeugnis eines Übergangs: Das Reisetagebuch von Joachim Weitnauer Es ist ein Glücksfall, dass das Reisetagebuch von Joachim Weitnauer (1785−1848) überhaupt entstanden ist und bis in unsere Zeit erhalten blieb. Im Prolog berichtet der junge Mann von zwei älteren Tagebüchern, die er jeweils vernichtet habe aus Furcht, sie auf Reisen zu verlieren. Dass es ein drittes, bis heute erhaltenes gibt, verdankt sich Weitnauers Glauben an den «grössten Nutzen» für sich selbst, den er darin sah, dass er mit dem Abfassen seiner Erlebnisse einen «Unparteiischen Richter über [seine] Handlung zu haben» glaubte. Das Reisetagebuch war für ihn also eine Art Rechenschaftsbericht über seine Erlebnisse und Handlungen im Verlauf der Monate, die er fern von seiner Heimat, der Familie und vor allem seiner «Freundin» und zukünftigen Ehefrau zubrachte. Es ist vorstellbar, dass er das Geschriebene nach seiner Rückkehr gewissen ihm nahestehenden Menschen zur Lektüre überliess, quasi als Beleg für seine Rechtschaffenheit, seine «Tugend», wie er es nannte. Im Grunde war das Tagebuchschreiben für Weitnauer in typisch pietistischer Weise eine Art moralischer Rückversicherung, die davon ausging, dass die Textproduktion bei aller Subjektivität unter der ständigen Kontrolle Gottes geschah und dadurch an Objektivität gewann. Nur so lässt sich sein Glaube an die «Unparteilichkeit» oder Neutralität seiner Aufzeichnungen erklären. Er fühlte sich auf seiner Reise von Gott geleitet und geprüft, gemäss der feierlichen Präambel, die auf den Prolog folgt.1 Gemäss dieser Sichtweise wachte Gott darüber, dass nur Wahres – bei allen möglichen Weglassungen – schriftlich festgehalten wurde. Diese Schreibintention und der Glaube an mögliche Objektivität spiegeln eine religiöse Grundhaltung, die bei Weitnauer tief verwurzelt war, aber dennoch viel Platz für Weltliches liess. Als Hintergrundfolie lässt sie Weitnauers Moralismus in Erscheinung treten, der sich zuweilen mit sexistischen, antikatholischen, antisemitischen und – avant la lettre – homophoben Äusserungen und Taten Bahn brach. Mit dieser Geisteshaltung dürfte er im Basel des anbrechenden 19. Jahrhunderts allerdings nicht weiter aufgefallen sein. Nicht zuletzt in mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht liegt damit aber eine überaus reichhaltige Quelle vor.

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Einleitung

Abb. 1: Eine exemplarische Manuskriptseite (S. 12).

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Résumé des Reisetagebuchs

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Résumé des Reisetagebuchs Teil 1: Basel Das Tagebuch setzt am 29. Januar 1807 zu einem Zeitpunkt ein, als Weitnauer in den Vorbereitungen zu seiner bevorstehenden Reise steckte. Aus verschiedenen Gründen verschob sich die Abreise bis zum 5. März. – Die Fastnachtstage (16. bis 18. Februar) kamen dazwischen, Formalitäten im Zusammenhang mit den Reisepapieren zogen sich in die Länge. In diese Wochen des gespannten Wartens und Organisierens fielen ausserdem Geselligkeiten, Weitnauers 22. Geburtstag, zwei Hochzeiten von Bekannten und regelmässig Besuche von Freunden, Verwandten und Nachbarn. Weitnauers Schilderungen vermitteln einen lebendigen Eindruck des mittelständischen Alltagslebens im Basel des frühen 19. Jahrhunderts.2 Aufgrund eines Formfehlers – Weitnauers Reisepass war irrtümlich nur bis Colmar ausgestellt worden – musste er von dort nochmals nach Basel zurückkehren. Das ist insofern bemerkenswert, als die Schweiz damals ein napoleonischer Satellitenstaat und damit Teil des Empire war. Von einem freien Reiseverkehr zwischen den verschiedenen Territorien konnte dennoch nicht die Rede sein. Die zweite Abreise fand schliesslich am 13. März statt. Damit füllen die Basler Tage 59 Seiten oder ziemlich genau ein Drittel des Tagebuchs. Teil 2: Hinreise Die Reiseroute führte über das an Basel grenzende Saint-Louis, das von 1793 bis zum Ende der napoleonischen Ära (1815) Bourglibre hiess, erneut nach Colmar (13. März). Nach einem eintägigen Aufenthalt ging die Fahrt mit der Diligence (Postkutsche) weiter bis nach Saint-Dié-des-Voges (15. März), wo man übernachtete. Am Abend des Folgetags (16. März) langte Weitnauer in Nancy an. Die ehemalige Residenzstadt des Herzogs von Lothringen (bis 1766) bildete einen ersten touristischen Höhepunkt, so dass sich Weitnauer für deren Besichtigung immerhin einen ganzen Tag Zeit nahm. In den frühen Morgenstunden des 18. März ging die Fahrt weiter zum Nachtquartier in Bar-le-Duc und von dort nach Châlons-enChampagne (19. März). Die letzte Etappe war ein Kraftakt, startete um 4 Uhr früh 2

Zu Basler Selbstzeugnissen der Sattelzeit vgl. etwa: Hagenbuch, Bernadette (Hg.): «Heute war ich bey Lisette in der Visite». Die Tagebücher der Basler Pfarrersfrau Ursula BrucknerEglinger, 1816–1833 (Selbst-Konstruktion, Bd. 6). Basel 2014; Boutellier, Helen et al. (Hg.): «O Herr, erbarme dich mein». Die Tagebücher von Carl Brenner-Sulger im Kontext des Basler Pietismus (Selbst-Konstruktion, Bd. 4). Basel 2010; Goldenberger, Mirjam et al.: Der Lebenslauf von Eduard Ochs / His-La Roche (1792–1871), in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde (111/2011), S. 77–113; Piller, Gudrun: Private Körper. Spuren des Leibes in Selbstzeugnissen des 18. Jahrhunderts. Köln 2007.

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Einleitung

(20. März), unterbrochen von einem Frühstück in Épernay und einer Mahlzeit am späten Nachmittag, dauerte die ganze Nacht über und endete mit der Ankunft in Paris am 21. März um halb 10 Uhr morgens.3 Rechnet man die nächtliche Etappe als Tagesreise, benötigte Weitnauer für die Fahrt von Basel nach Paris insgesamt sieben Tage, abgesehen von den Aufenthalten in Colmar und Nancy. Sie füllt die Seiten 60 bis 74 des Tagebuchs. Teil 3: Paris Der Aufenthalt in Paris dauerte bis zum Morgen des 16. April und umfasst damit 26 Tage und 55 Tagebuchseiten (75 bis 130). Die ersten zwei Nächte verbrachte Weitnauer in einem Hotel an der Rue du Mail, danach wechselte er in ein möglicherweise günstigeres Zimmer ein paar Schritte entfernt in der Rue Montmartre 93.4 Dank Empfehlungen durch Bekannte in Basel hatte Weitnauer vom ersten Tag an Anschluss an ortskundige Personen. Ein junger Deutscher namens Humler, der offenbar in Paris lebte, und ein gewisser Cofin, wohl eine Pariser Geschäftsverbindung, waren seine wichtigsten Kontakte in dieser Zeit.5 Während sich Humler meist während der Feierabendstunden als Fremdenführer und Gesellschafter anerbot, übernahm Cofin tagsüber diese Rolle und begleitete Weitnauer auf ausgedehnten Erkundungstouren. Ob Weitnauer, abgesehen von der Verpflegung, Cofins Dienste vergütete, geht aus dem Tagebuch nicht hervor. Für Humler scheint es ein reiner Akt der Gastfreundschaft gewesen zu sein. Mit den Herren Burckhardt (Fischmarkt)6 und Von der Mühll7 waren auch Basler anwesend, die dem Besucher aus der Heimat regelmässig Gesellschaft leisteten. Über die Gründe ihres Aufenthalts in Paris berichtet Weitnauer nichts. An mehreren Tagen unternahm Weitnauer ausgedehnte Rundgänge in der Stadt und besuchte die bedeutendsten Museen und Bauwerke. Öfters erkundete er 3 4 5

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Tagebuch, S. 82. Vgl. Stadtplan S. 100. Eine Identifikation der beiden Männer war aufgrund der spärlichen Angaben nicht möglich. Bei Humler handelte es sich um einen Bekannten von Warneck, vgl. Tagebuch, S. 83 sowie S. 52, FN 16. Das Basler Adressbuch von 1806 nennt drei Herren Burckhardt am Fischmarkt. Der Zuckerbäcker Isaak Burckhardt (1734–1813) (Liegenschaft Nr. 1523) entfällt wohl aufgrund seines Alters und Berufs. Stadtrat Johann Konrad Burckhardt (1747–1814) (Liegenschaft Nr. 1524) hatte einen Sohn, Emanuel (1776–1844), Bandfabrikant, der für einen längeren geschäftlichen Aufenthalt in Paris in Frage kommt. Der Goldschmied Friedrich Burckhardt (1784–1844) (Liegenschaft Nr. 1528) erfüllt dieses Kriterium eher nicht. Vgl. Adressbuch 1806. Verschiedene Möglichkeiten: Christof Von der Mühll (1783–1841) oder sein Bruder Leonhard (1786–1856), Johann Georg Von der Mühll (1781–1855) oder sein Bruder Emanuel (1785–1875).

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Résumé des Reisetagebuchs

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die Stadt auch auf eigene Faust und liess sich beispielsweise vom Treiben auf dem Obst- und Kräutermarkt von Les Halles beeindrucken. Orte, die es ihm besonders angetan hatten, etwa das Musée Napoléon im Tuilerien-Palast, besuchte er mehrmals. Cofin verschaffte dem jungen Mann ausserdem Zugang zu Werkstätten von Posamentierern, also Herstellern von schmückenden Textilien wie Zierbändern, Borten, Kordeln und Quasten, führte ihn in Geschäfte für Seidenstoffe und Möbel, in eine Papierfabrik, wo unter anderem Tapeten hergestellt wurden, und zu Berufskollegen, also örtlichen Tapezierern. Auch die renommierten ehemals königlichen, nunmehr imperialen Manufakturen für Gobelins und Teppiche besuchten sie. Bei diesen verschiedenen Gelegenheiten knüpfte Weitnauer Kontakte für seine berufliche Zukunft, liess sich inspirieren und deckte sich mit Musterbeispielen ein.8 Das «Journal des Dames et des Modes», eine der ersten Mode­ illustrierten, abonnierte er direkt beim Verleger. Was Innenausstattungen betraf, war Weitnauer im Paris des frühen 19. Jahrhunderts am Puls der Zeit. Diesen kostspieligen Aufenthalt wollte er möglichst gewinnbringend nutzen und seinen sowohl beruflichen als auch kulturellen Horizont erweitern. Dazu gehörte auch der Besuch von Versailles, von Schloss Malmaison, dem damaligen Privatsitz der Kaiserin Joséphine (1763–1814), oder des Hospizes zu Charenton, wo zu jener Zeit der berühmt-berüchtigte Marquis de Sade (1740–1814) interniert war. Dank Cofins Geschäftsverbindungen gelangte der junge Basler zudem in Privathäuser wie jenes des General Beaumont oder des Duc de Luynes, wo er die Ausstattung bewunderte und Skizzen anfertigte.9 Neben diesen weiterbildenden Aktivitäten pflegte Weitnauer zusammen mit seinen Bekannten gewisse Geselligkeitsrituale. So traf man sich mehrere Male abends in einem Café, man spielte Domino und der Verlierer hatte jeweils die Rechnung zu begleichen. Die ortskundigen Herren führten den Besucher ausserdem in Lokale im Umkreis des Palais Royal, der damals mit seinen Arkaden um einen weitläufigen Innenhof das Zentrum des Pariser Nachtlebens der Rive Droite darstellte.10 Dort und in den umliegenden Altstadtgassen machte Weitnauer nächtliche Bekanntschaften: Einmal wird er von einer Prostituierten übers Ohr gehauen, ein anderes Mal spielt er einer solchen Dame einen groben Streich. Und 8

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Tagebuch, S. 119. In der Sammlung des Historischen Museums Basel findet sich eine Kollektion von Bändern, Rosetten und Quasten, die Weitnauer womöglich auf dieser Reise besorgte. Vgl. Heiniger, Kevin: Tagebuch einer facettenreichen Geschäftsreise nach Paris, in: Historisches Museum Basel (Hg.): In der Fremde. Mobilität und Migration seit der Frühen Neuzeit. Basel 2010, S. 80  f. Vgl. Tagebuch, S. 101, FN 196 sowie S. 104, FN 210. Während die elitären Kreise überwiegend im Quartier Saint-Germain-des-Prés an der Rive Gauche verkehrten, trafen im Palais Royal seit den 1780er Jahren unterschiedliche Bevölkerungsschichten aufeinander. Vgl. etwa: Juratic, Sabine: Mobilités et populations hébergées en garni, in: Roche, Daniel (ed.): La ville promise. Mobilité et accueil à Paris (fin XVIIe–début XIXe siècle). Paris 2000, S. 175–288, hier: S. 271–274.

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Einleitung

als ihm eines Abends unter den Arkaden ein unbekannter Mann «gar zu innig» die Hand drückte, keimte in ihm der Verdacht, es handle sich um einen «Gauner oder noch mehr, [um einen] von den Bekanten Sodomiten».11 Weitnauer war auch dem Theater zugetan und besuchte, stets in Begleitung, verschiedene Häuser wie die Opéra-Comique, die Comédie-Française, das Théâtre des Variétés, ein Marionettentheater sowie das Café des Variétés. Für die meisten Darbietungen fand er anerkennende Worte, aber die «Comedie» in letzterem Etablissement empfand Weitnauer als «Scandal». Als dort ein Zuhälter ihm und seinen Begleitern ausserdem «Mädchen» und «etliche die Menschheit entehrende Bücher» anbot, wurde Weitnauer in seiner negativen Meinung bestärkt, dass in keiner anderen Stadt «die Ausschweifung so unterhalten wird als hier».12 Nachdem die Grossstadt und ihre Umgebung erkundet, die Geschäftsbeziehungen geknüpft, die neuste Einrichtungsmode inspiziert und die Besorgungen für sich, für Freunde und Bekannte erledigt waren, gab es für Weitnauer keinen Grund mehr für ein längeres Verweilen. Einen Teil des Gepäcks schickte er in einem plombierten Koffer voraus nach Basel. Für den Rest der Reise genügte ihm ein «Ranzen». Er empfahl sich reihum bei seinen Bekannten, spielte zum letzten Mal Domino mit den neu gewonnenen Freunden und reiste am nächsten Morgen um 7 Uhr ab. Teil 4: Rück- und Schweizerreise Weitnauers Rückreise dauerte vom 16. April bis zum 13. Mai und erstreckte sich damit über einen Zeitraum von 28 Tagen. Im Tagebuch füllt sie die Seiten 130 bis 169 und damit fast ein Viertel. Die ersten Etappen waren mit zwei rund dreissigstündigen Kutschenfahrten sogleich eine Tour de Force und führten über Auxerre (Frühstück) und Lucy-le-Bois (Übernachtung am 17. April) nach Châlon-surSaône. Dort wurde auf ein Schiff gewechselt, das auf der Saône über Mâcon (Übernachtung am 19. April) nach Lyon fuhr. Mit der Ankunft am Nachmittag des 20. Aprils dauerte die recht zügige Reise Paris – Lyon also viereinhalb Tage, inklusive zwei Übernachtungen. Hatte auf der Hinreise Nancy einen touristischen Höhepunkt gebildet, tat dies auf der Rückreise Lyon. Hier verbrachte Weitnauer immerhin zwei ganze Tage und schaute sich die wichtigsten Attraktionen an wie die öffentliche Kunstsammlung und Bibliothek oder den Zusammenfluss von Rhône und Saône. Das Lyoner Theater allerdings kam ihm, der nun vom hauptstädtischen Kulturangebot verwöhnt war, «klein, aber artig» vor. Weitnauer interessierte sich stets auch für das

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Tagebuch, S. 105. Vgl. Tagebuch, S. 89.

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Résumé des Reisetagebuchs

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Gemeinwesen und die sozialen Einrichtungen.13 Während er etwa in Paris das Hôtel des Invalides mit den Kriegsversehrten in Augenschein genommen hatte, waren es in Lyon das Spital (Hôtel-Dieu) und das Armen- und Waisenhaus (Hôpital de la Charité). Ausserdem fällt auf, in welchem Mass der Basler während seines Lyoner Aufenthalts die Ereignisse der Französischen Revolution reflektierte, was in Paris nicht der Fall war. Womöglich waren in Lyon die Spuren jener gewaltsamen Umwälzungen noch sichtbarer oder Weitnauer war mangels Ablenkung in dieser Hinsicht aufmerksamer. Die Weiterreise nach Genf dauerte vom 23. April morgens die Nacht über bis zum Folgetag. Die damals zu Frankreich gehörende Hauptstadt des Département Léman hatte Weitnauer zwar bald besichtigt. Weil er aber Briefkorrespondenz abzuwarten hatte, gab er sich einem Tag der Musse hin, flanierte, bewunderte die Gegend und sinnierte über den neuen Lebensabschnitt, der ihm mit der baldigen Eheschliessung bevorstand. Am 26. April führte die Reise per Kutsche, mit einer Mittagsrast in Rolle, weiter nach Lausanne. Dort traf er zufällig auf Basler Bekannte, die er am nächsten Tag (27. April) in Vevey wiedersah und die ihm anschliessend in Ouchy ein spontanes Mittagsmahl bei Wein und Gesang ausrichteten. Nach einer Übernachtung in Vevey ging’s per pedes nach Aigle, wo Weitnauer in die Salinen von Bex hinunterstieg (29. April). Zusammen mit der Etappe des Folgetags war dies der vielleicht abenteuerlichste Abschnitt seiner Reise. Am 30. April stieg der junge Basler über den Col des Mosses (1445 m. ü. M.), einen Passübergang, der das Rhônetal bei Aigle mit dem Pays-d’Enhaut um Châ­teaud’Œx verband. An die Schneewanderung auf dem Hochplateau würde er sich Zeit seines Lebens erinnern, notierte Weitnauer am Abend in Rougemont.14 In den nächsten Tagen schlug Weitnauer ein hohes Tempo an und legte zu Fuss täglich gut vierzig Kilometer zurück, zuerst nach Erlenbach im Simmental (1. Mai), von dort nach Brienz (2. Mai) und weiter nach Stans (3. Mai). Nachdem er die Kapelle des Niklaus von Flüe (1417–1487) gesehen und mit dem Nidwaldner Landschreiber zu Abend gegessen hatte, bestieg er in Stansstad einen Kahn (4. Mai), um auf dem Wasserweg nach Luzern zu gelangen. Dort war für ihn die Hauptattraktion das «Relief der Urschweiz» von Franz Ludwig Pfyffer von Wyher (1716–1802). Mehr als eine Nacht blieb er auch in Luzern nicht, sondern bestieg am 5. Mai bei stürmischem Wetter ein Boot nach Küssnacht. Zu Fuss durch die Hohle Gasse, an der Tellskapelle vorbei, ging’s über Immensee nach Arth. Das schlechte Wetter hielt ihn davon ab, ein weiteres Boot zu besteigen. Wegen Nebels liess er am nächsten Tag auch die Rigi aus und begab sich stattdessen direkt durch das Bergsturzgebiet bei Goldau (1806) nach Lauerz. Das schlechte Wetter erschwerte die Wei-

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Ein Hinweis auf dieses spezifische Interesse findet sich auch in Weitnauers Beerdigungspredigt von 1848, vgl. unten S. 40, FN 100. Tagebuch, S. 125.

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Einleitung

terreise, so dass Weitnauer an diesem Tag (6. Mai) nur bis Schwyz gelangte und am folgenden bis nach Einsiedeln. Als Protestant besuchte er den katholischen Wallfahrtsort mit Skepsis und auch einer gewissen Respektlosigkeit, wie er in seiner Schilderung durchscheinen lässt. So mokierte er sich über zwei Kapuziner, die angeblich jungen Frauen nachgegafft hatten, nahm im Beinhaus die Schädel in die Hände und ebenso das Marienbild an einem Wegstock. Diese Herablassung des reformierten Reisenden gegenüber der anderen Konfession und ihren Vertretern manifestiert sich auch in Berichten früherer Jahrhunderte, so etwa bei Thomas Platter (1499–1582), Augustin Güntzer (1596–nach 1657) oder Johann Peter Oettinger (1666–1746).15 Die Diffamierung der sexuellen Enthaltsamkeit Geistlicher als Bigotterie und die Karikierung von Verehrungs- und Glaubensritualen hatten dabei eine gewisse Tradition.16 Ursprünglich sollten diese Bekenntnisse in Selbstzeugnissen belegen, dass der Reisende in der Fremde nicht nikodemisch gehandelt, seinen Glauben also nicht verleugnet hatte. Weitnauer scheint dies ebenfalls ein Anliegen gewesen zu sein. Weil ihn das schlechte Wetter Zeit gekostet hatte, entschloss sich Weitnauer, die Reise abzukürzen und den Bodensee sowie Schaffhausen auszulassen. So reiste er am 8. Mai über Richterswil per Schiff nach Zürich, wo er während zweier Nächte im Gasthof zum Raben am Hechtplatz bei der Schifflände logierte. Der Tapezierer Bleuler17, ein Geschäftsfreund des Vaters, nahm sich in der Limmatstadt des jungen Reisenden an, führte ihn herum und brachte ihn am 10. Mai mit einer Kutsche bis ins aargauische Baden. Nach einer kurzen Erkundungstour setzte Weitnauer seinen Weg ins 16 Kilometer entfernte Lenzburg zu Fuss fort. Dort hatte die Familie Weitnauer offenbar Verwandte, denn es ist die Rede von einem Vetter Müller und einer Base. Er quartierte sich im Gasthof Löwen ein, nahm die Mahlzeiten aber am Tisch der Familie Müller zu sich. Die Korrespondenz, die an diese Adresse gesandt worden war, steigerte seine Vorfreude auf ein Wiedersehen mit seiner Freundin und der Familie. Am 12. Mai brach Weitnauer zur letzten Etappe seiner Reise auf und wanderte in Begleitung eines Bediensteten nach Aarau. Dort hielt ihn ein alter Bekannter,

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Hartmann, Alfred (Hg.): Thomas Platter. Lebensbeschreibung. Zweite Auflage, durchgesehen und ergänzt von Ueli Dill, mit einem Nachwort von Holger Jacob-Friesen. Basel 1999, S. 62–66, 91, 113–115; Brändle, Fabian; Sieber, Dominik (Hg.): Augustin Güntzer. Kleines Biechlin von meinem gantzen Leben. Die Autobiographie eines Elsässer Kannengiessers aus dem 17. Jahrhundert (Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 8). Köln/Weimar/Wien 2002, S. 35–38, 132; Koslofsky, Craig; Zaugg, Roberto (Ed.): A German Barber-Surgeon in the Atlantic Slave Trade. The Seventeenth-Century Journal of Johann Peter Oettinger. Charlottesville/London 2020. Vgl. etwa: Dykema, Peter A.; Oberman, Heiko A. (Ed.): Anticlericalism in Late Medieval and Early Modern Europe. Leiden/New York/Köln 1993. Nicht identifiziert.

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Alltag eines Basler Tapezierers der Sattelzeit

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der Verleger Heinrich Remigius Sauerländer (1776–1847)18, mit Speis und Trank auf. Weitnauer und sein Begleiter schafften es an diesem Tag bis nach Sissach, wo sie übernachteten. Am nächsten Tag holte ihn sein Freund Dietschy19 ab – wahrscheinlich mit einer Kutsche – und brachte ihn gegen Abend zurück nach Basel.

Alltag eines Basler Tapezierers der Sattelzeit Herkunft und Beruf Der Familienzweig, dem Joachim Weitnauer entstammte, lässt sich in Basel seit der Mitte des 17. Jahrhunderts nachweisen. Sein Urahn Jacob Weitnauer, ein «Kummetsattler», soll aus Oltingen (Baselland) zugezogen sein.20 Als Schuhmacher blieben die zwei Folgegenerationen dem Lederhandwerk treu. Joachim Weitnauers gleichnamiger Grossvater (1724–1787) war der Erste der Familie, der in den 1740er Jahren den Beruf eines Tapezierers ergriff. Nach heutigen Begriffen entspricht diese Berufsgattung am ehesten einem Innenarchitekten oder -dekorateur. Der Sohn Emanuel (1760–1814) führte das väterliche Geschäft fort und eben auch der Enkel Joachim. Dessen ältester Sohn Emanuel (1808–1860) war in der vierten Generation der letzte Vertreter der Familie in diesem Gewerbe. Joachim Weitnauers Herkunft lässt sich damit in einer genuinen Handwerkerfamilie verorten, die seit mehreren Generationen in Basel ansässig war. Das Besondere am Tapezierer war, dass er über seine Tätigkeit Zugang erhielt zu den Räumlichkeiten einer privilegierten Gesellschaftsschicht. Die ökonomische Elite machte einen wichtigen Teil seiner Kundschaft aus; diese konnte sich die kostspielige Ausstattung der Wohnräume nach der jeweiligen Mode leisten.21 Für Weitnauer war es daher essentiell, dass er in Paris Zugang zu den Palais des Adels erhielt, um den Dernier Cri der Wohnkultur studieren zu können. Mit den Handwerkern hatte der Tapezierer geschäftlich zu tun, sei es als Zulieferer oder als Angestellte (Gesellen), oder auch wenn es um die praktische Umsetzung von Ein18

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Heinrich Remigius Säuerländer hielt sich ungefähr zwischen 1800 und 1807 in Basel auf, bevor er nach Aarau umzog und seinen international beachteten Verlag begründete. In Basel hatte er die Liegenschaft Nr. 174 am Brunnengässlein bewohnt, nicht weit von der Familie Weitnauer. Vgl. Zehnder, Patrick: Heinrich Remigius Sauerländer, in: e-HLS, Version vom 16.2.2011, URL: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/029538/2011-02-16/ [10.5.2019]; Verzeichnis 1806. Wahrscheinlich: Leonhard Dietschy (1782–1851), Bäcker. https://www.stroux.org/patriz_f/stQV_f/gWtnf.pdf [17.5.2019]. Sowohl der Grossvater als auch der Vater von Joachim Weitnauer waren bspw. für Peter Ochs tätig, wie Rechnungen belegen. Vgl.: Rechnung Joachim Weitnauer an Doktor Ochs, Steinenvorstadt, 5.1.1781 (StABS PA 633b, A 1781: Se-Z); Rechnungen 16.12.1779, 14.2.1780 (StABS PA 633b, A 1781: Sche-Z); Rechnung Emanuel Weitnauer an Peter Ochs, 29.10.1797 (StABS PA 633b, A 25: L-Z).

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Einleitung

Abb. 2: Genealogische Tafel zu Weitnauers Familie.

richtungen oder Montagen ging. Auf diese Weise bewegte sich der Tapezierer zwischen den Gesellschaftsschichten. Er musste einerseits gewandt sein im Umgang mit der Oberschicht und über eine gewisse Etikette verfügen, andererseits war sein alltägliches Arbeitsumfeld durchaus hemdsärmelig und bodenständig. Wohnort Das Wohnhaus der Familie Weitnauer, «zum Schönenberg» genannt, befand sich am Herbrigberg – auch Herbergberg oder Petersberg genannt – und trug die historische Liegenschaftsnummer 190.22 Joachim Weitnauers gleichnamiger Grossvater hatte es 1773 erworben.23 Zur Zeit der Parisreise lebte der junge Weitnauer noch in diesem Haus zusammen mit seinen Eltern und den beiden Schwestern. 1810, also nach der Heirat und der Geburt der beiden ältesten Kinder, erwarb Weitnauer die Liegenschaft «zum Steglin» (Nr. 230), ebenfalls am Herbrigberg,

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Verzeichnis 1806, Nr. 190. Der ehemalige Petersberg hiess vor 1861 Herbergberg und wurde im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts noch Herbrigberg genannt. Vgl. Salvisberg, André: Die Basler Strassennamen. Basel 1999, S. 206. Kaufs Publicatio, 26.4.1773: Verkauf Liegenschaft Nr. 190 «zum Schönenberg» am Herbrigberg an Joachim Weitnauer, Tapezierer. Die Erbengemeinschaft veräusserte die Liegenschaft im Februar 1840, also drei Monate nach dem Tod der Mutter Weitnauer-Wick. Vgl. StABS Historisches Grundbuch der Stadt Basel, St. Petersberg, 190 / 23, zum Schönenberg.

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Abb. 3: Die Familie Weitnauer besass von 1773 bis 1840 das dritte Haus von rechts. Joachim Weitnauer wohnte dort zum Zeitpunkt der Tagebuchaufzeichnungen.

unweit des Elternhauses gelegen.24 Der junge Gatte und Familienvater, der im Tagebuch seine Elternliebe verschiedentlich betonte, blieb Vater, Mutter und den Schwestern also auch nach der Gründung eines eigenen Hausstands räumlich nah. Die Gebäude fielen, wie das gesamte Areal um den Petersberg, einem Neubauprojekt der späten 1930er Jahre zum Opfer. Sie befanden sich in der Gegend des heutigen Spiegelhofareals. Weitnauers Familie und Freunde Die Familie, Freunde und Bekannten hatten in Joachim Weitnauers Lebenswelt einen hohen Stellenwert. Mit der Familie lebte er unter demselben Dach; mit ihr teilte er sowohl persönliche Befindlichkeiten als auch geschäftliche Anliegen, dies 24

Kaufpublikation 11. Mai 1810: Notar und Gerichtsschreiber Samuel (Rudolf) Braun (1780– 1836) verkauft an Joachim Weitnauer die Liegenschaft «zum Steglin» am Herbrigberg. Der nächste Handwechsel erfolgte 1855 durch die Erbengemeinschaft Weitnauer. Vgl. Historisches Grundbuch der Stadt Basel, St. Petersberg, 230 / 27, zum Steglin. Zu Braun vgl. auch S. 75, FN 94.

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