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DER UNVOLLENDETE AUFBRUCH

DIE REVOLUTION UND IHRE GEGENWART

Andre Bartoniczek

Der unvollendete Aufbruch

Die Revolutionund ihre Gegenwart

Schwabe Verlag

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Coverabbildung: Friedlicher Protest in Leipzig 1989, © ullstein bild-dpa

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ISBN Printausgabe978-3-7965-5425-4

ISBN eBook (PDF)978-3-7965-5426-1

DOI 10.24894/978-3-7965-5426-1

Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt.

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III.7

III.8

III.4.1Der

III.4.2 Der Freitagskreis.

IV.2

IV.3 Die tragische Geschichte eines Kühlschranks:

Foron im Erzgebirge.

IV.3.1 Kühlschrankbau in der DDR

IV.3.2 Die erste Begegnung

IV.3.3 Der Durchbruch

IV.3.4 Der Niedergang

IV.3.5 Fazit

IV.4 Ein alternatives Bild: Der unternehmerische Weg Manfred Riedels

V. Perspektiven und Aufgabenstellungen

VI. Schluss

VII. Anhang

VII.1 Literatur

VII.2 Filme

VII.3 Abbildungen.

VII.4 Ergänzung:Die «Idee der sozialen Dreigliederung».

VII.5 Personenregister

«Als wir sie schleiften, ahnten wir nicht, /wie hoch sie ist /inuns»– mit diesen Zeilen beginnt 1998 Reiner Kunze seinGedicht Die Mauer. Inzwischen ist schon wieder ein Vierteljahrhundertvergangen, und Kunzes Feststellung wird immer aktueller. Vielleicht ist es gerade der Umstand, dass jene «Schleifung»bereits mehr als 30 Jahre zurückliegt, der die Wahrnehmung jener inneren Mauer so bedrängend macht. DieFremdheiten, Verwerfungen oder Bruchlinien zwischen Ost- und Westdeutschland verweisen auf Konfliktlagen, die unsere historische Gegenwart und zuletzt auch unsereZukunft prägen –die Bewältigung der Spaltung bildet eine Grundlage für dieGestaltbarkeitdeutscher und internationaler Geschichte.

Steffen Mau hat in seiner soziologischen Diagnose in Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft auf das ambivalente Phänomen hingewiesen, dass Ost und West sich vordergründig angenähert hätten, die Spuren der DDR «fast flächendeckend»getilgt und Freiheitsgewinne sowie der Anstieg ökonomischen Wohlstands enormseien, bei näherem Hinsehen aber gravierende Probleme offenkundigwürden:Produktivitätsrückstände, Benachteiligungen und Deklassierungserfahrungen (Mau 2019:12),wesentliche Unterschiede

beim Vertrauen in die politischen Institutionen und der Unterstützung für Marktwirtschaft und Demokratie. Laut einer Allensbach-Umfrage sehen nur 42 Prozent der Ostdeutschen die Demokratie alsdie beste Staatsform an;imWesten sind es 77 Prozent. Nur knapp über ein Viertel der West-, aber über die Hälfte der Ostdeutschen hält den Umstand, ob man aus Ost- oder Westdeutschland stammt, für eine der wichtigsten Trennlinien in der Gesellschaft (ebd.: 13).

Der DDR-Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk resümiert:

Drei Jahrzehnte sind vergangen, und fast jeder zweite Ostdeutsche fühlt sich immer noch als Bürger zweiter Klasse. […]Fast flächendeckend breiteten sich in Ostdeutschland öffentlich Wut, Ablehnung, Hass und Gewaltaus. «Pegida»und «AfD»sind Synonyme füreine rassistische, antidemokratische, nationalistische, autoritäre und antifreiheitliche Haltung, die weiter verbreitet ist, alsesWahlprognosen oder Wahlanalysen allein erfassen können (Kowalczuk 2019:17f.).

Mit jedem Wahlerfolg der AfD und jeder neonazistischen Aktion erneuern die Medien dieses Bild einer unzufriedenen ostdeutschen Bevölkerung und eines Ungleichgewichts zwischen zwei deutschen Gesellschaften, und zugleich erheben sich in Reaktion darauf dieStimmen, diesichüber eine inzwischen unangemessene, nie endende politische und finanzielle Rücksichtnahme auf die jammernden Ostdeutschen beklagen –und umgekehrt über die Ignoranz der arroganten Westdeutschen.

Viel zu wenig wird in diesen reflexhaften Debatten thematisiert, dass die in Ostdeutschland regelmäßigaufbrechenden Konfliktlinien kein ostdeutsches, sondern ein deutsches Problem sind. Historisch verdankt sich der Erfolg der Bundesrepublik politischen Weichenstellungen am Ende des Zweiten Weltkrieges, die zeigen, dass sich dieSpaltung Deutschlands aus einer geschichtlichen Gesamtdynamik heraus ereignete, an dem diesowjetischen und US-amerikanischen Repräsentanten des Kalten Krieges als Vertreter1 der beiden gegnerischen weltanschaulichen Hemisphären gleichermaßen beteiligt waren. Der ideologisch vereinseitigte Staatssozialismus der DDR entstand nicht im luftleeren Raum, sondern in Beziehung zu dem ebenso einseitigen ökonomisch-politischen Erfolg des kapitalistischen Westens. Wenn 1989 dieBürgerinnen und Bürger auf die Straßen gingen, um für eine nicht nur freie, sondern auch gerechte Gesellschaft zudemonstrieren, so stellten siedie Frage nach einer sozialen Zukunft menschlichen Zusammenlebens überhaupt. DieForderungen der Oppositionsgruppen in ihren Aufrufen und Grundsatzpapieren zieltendarauf ab,Sozialismus und Kapitalismus zusammen zugunsten einer modernen, freiheitlich-solidarischen Ordnung zu überwinden. Der revolutionäreUmbruch von 1989 war nicht nur eine ostdeutscheAngelegenheit, sondern ein Aufruf an das gesamte Deutschland –dementsprechend mischte sich diewestdeutsche Regierung ja auch bereits im November in Form des Zehn-Punkte-Programms Helmut Kohls aktiv in die Ereignisse ein und ergriffetwas später durch die Beauftragung der Treuhandanstalt die Initiative zur Verwaltung der DDR-Wirtschaft.Wenn in Ostdeutschland heute also die erwähnten sozialpolitischen Phänomene auftreten, dann ist dies letztlichein Symptom fürden von beiden Seiten zu verantwortenden Umgang mit den sich schlagartigeröffnenden historischen Möglichkeiten des Jahres 1989 und für dieaktuellen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse auch in Westdeutschland bzw. international. So ist es vielleicht zu erklären, dass, so dieKultursoziologin Monika Wohlrab-Sahr, «die Ereignisse im Herbst 1989 momentanzum symbolischen Anker-

1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Hauptwörtern die männliche Form verwendet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für alleGeschlechter. Die verkürzte Sprachform beinhaltet keine Wertung.

punkt für ein politisches Selbstverständniszuwerden [scheinen]»2 –immer wieder kehren die geschichtliche Analyse, aber auch die privaten Erinnerungen zurück zu diesem kurzen geschichtlichen Augenblick, als würde in den Ereignissen und Weichenstellungen dieser Monate eine Auskunft zu finden sein für unsere heutigen gesellschaftlichen und persönlichen Fragestellungen. Es muss Gründe geben, warum diese Ereignisse den Charakter eines «symbolischen Ankerpunktes» tragen. Hier begegnet uns sicherlich ein Aspekt jenes Herbstes, der weiter reicht als die oft schon angeführten Faktoren einer maroden Wirtschaft oder einer stagnierenden politischen Verfasstheit:Mit dem Umsturz des alten Systems gingen 1989 Ideen, Haltungen, Handlungen einher, die grundsätzlich die Sinnfragen der menschlichen Existenz, dieallgemeinmenschlichen Dimensionen des gesellschaftlichen Lebens betrafen. Hier geschah etwas, dasnicht nur einevon vielen historischenVarianten des Aufbegehrens und der politischen Veränderung ausmachte, sonderneinzigartigwar. Ein großes Vorbild für die AntiapartheitskämpfeinSüdafrikaunter Nelson Mandela war die «Leipzig-option»3 :Weit entfernt von der Stadt in Sachsen, orientierte sich die dortige Protestbewegung an dem Entwurf eines so entschlossenen wie selbstbeherrscht-gewaltfreien Umbruchs –ähnlich wie die«samtene Revolution»inPrag. Von vielen Orten gibt es Schilderungen, wie dieMenschen mit Kerzen in den Händen auf den Straßen und Plätzen standen und spürten, für einen Moment sei der «Himmel offen»gewesen. DieRevolution von 1918/1919 hatte zwar noch radikaler die alten politischen Systeme weggefegt, aber es war nicht ohne blutige Bürgerkriegsgefechte abgegangen. Außerdem markierte dieses Datum nicht die Auflösung, sondern den Beginn des zerstörerischen Gegensatzes zwischen kapitalistischer und sozialistischer Welt. DieInstallation bolschewistischer Herrschaft in Russland war erst einJahr zuvor vollzogen worden. 1989 war der Moment, in dem dieserweltgeschichtliche Konflikt nach 70 Jahren überwunden zu seinschien, und so waren mitihm große Hoffnungen und neue Perspektiven verbunden, die ihm seine Bedeutung und atmosphärische Aufladung verliehen –bis hin zu einer moralischen Diktion,die sich von den Revolutionen seit 1789 unterschied.

Wenn Rolf Henrich bei seinen Auftritten für das Neue Forum in Kirchen, Gemeinderäumen oder Küchen unzählige Menschen erlebte, die erstaunt seiner Vision einer zukünftigen Gesellschaft –von freien Schulen bis zu gewählten Richtern –folgten,sichinden Wohnzimmernder Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern plötzlich Leute einfanden, dieeinander gar nicht kannten, aber glücklich waren, sich artikulieren zu können, oder wenn auf den Demonstrationen und in Gesprächsrunden Worte verwendet wurden, die schon die Zeitge-

2 Pressemitteilung der Universität Leipzig 2019/116, 12.06.2019

3 Adam, Heribert/Moodley, Kogila:The Negotiated Revolution. Society and Politics in Post-Apartheid South Africa, Johannesburg 1993, S. 101 ff.

nossen zu der Feststellung veranlassten, dieSprache habe «ihre Kraft wiedergefunden»(Henke 2009:32),sodrücktsich inallen diesen Momenten ein nicht nur politischer, sondernvor allem existenzieller Aufbruch zu einem neuen Verständnisdes Menschen und seines gesellschaftlichen Handelns aus. Klaus-Dietmar Henke schreibt in dem Zusammenhang:

Die Bürgerrechtler hatten in einer außergewöhnlichen Phase der deutschen Geschichte gerade wegen ihrer Unangepasstheit und Realitätsverachtung, wegen ihrer Spontaneität, Phantasie und kühnen Bereitschaft, das Unmögliche zu fordern, maßgeblich dazu beigetragen, das eben noch Undenkbare zu realisieren (Henke 2009:43)

Genau dies gehörte für viele Beteiligte zu den prägendsten Erfahrungen:Eine scheinbar für alle Zeiten zementierte Staatsformation löste sich in einem Augenblick auf, und die Lebensverhältnisse waren plötzlich gestaltbar.

Im ersten, ursprünglichen Moment des Aufbruchs ging es bekanntlich nicht um die Übernahme des altbewährten bundesrepublikanischen Systems, sondern um elementaregesellschaftliche Innovationen. Dazu gehörte nicht nur eine solidarische Wirtschaftsordnung, sondernauch eine Neuformulierung von Demokratie:

Bei aller Vielfaltund speziellen Ausprägung im Einzelnen verfolgte die Bürgerrechtsbewegung einen Politikansatz, der sich von dem bundesrepublikanischen Modell der repräsentativen Demokratie, der sozialen Marktwirtschaft und der Westbindung fundamentalunterschied. Ihr mag ein «idealistisch überhöhtes moralisierendes Politikverständnis» zugrunde gelegen haben, ihre «zivilgesellschaftliche Vision»lief jedenfalls, grob gesprochen, auf eine selbst organisierte «Gesellschaft jenseits von Kapitalismus und Sozialismus», letztlich auf eine konsensuale, basisdemokratische und weitgehend herrschaftsfreie Gesellschaft hinaus (ebd.: 42).

Die neuen, demokratischen Vorstellungen waren für die Bürgerrechtler nicht zu trennen von ethischen Haltungen. Wirstoßen in der Aufarbeitung von «1989» auch auf die Debatte um dieSubstanz und Wirklichkeitsfähigkeit des Idealismus: DieEreignisse konfrontieren unsereGegenwart mit der Frage, ob Idealismus zur Realitätgehört oder –soder aktuelle Konsens –eine Sache der Schwärmer und Naiven ist. Dass überhaupt eine solche Frage gestellt werden kann, ist ein Ergebnisder Ereignisse dieses außerordentlichen Jahres.

Die skizzierten Qualitäten des historischen Umbruchs von 1989 lassen diesen Moment wie einen Schlüssel erscheinen, ein geschichtliches Zeichen, das das erinnernde Bewusstseinimmer wieder auf diese Zeit zurückführt, um Grundlagen für die Orientierung, für eine Suche nach modernen Formen politischer, kultureller und wirtschaftlicher Gesellschaftsgestaltung zugänglich zu machen. Steffen Mau schreibt:

Die Auseinandersetzung mit der ostdeutschen Transformation ist nur auf den ersten Blick eine Einladung zur innerdeutschen Nabelschau. Man könnte meinen, im Zeitalter globaler Turbulenzen, europäischer Krisen, transnationaler Migrationsströme und digitaler Transformationen sei der Vorgarten deutsch-deutscher Probleme doch recht klein. Wer möchte sich angesichts vermeintlicher oder tatsächlicher Bedrohungen des westlichen Erfolgsmodellsmit den Befindlichkeiten einer zwar vernarbten, aber im internationalen Vergleich letztlich privilegierten Gesellschaft beschäftigen?Einerseits. Andererseits ist das ThemaOstdeutschland auch ein offenesDeutungsfeld, das den lange Zeit triumphierenden Geist des Westens herausfordert. Die Fortschritts- und Modernitätserzählung der westlichen Modellgesellschaft wirktangekratzt, verschiedene Autoren sprechen schon von einer «großen Regression», einem schrittweisen Aufweichen institutioneller wie normativer Errungenschaften der sozialen Moderne (Mau 2019:16)

Ganz ähnlich meint Ilko-Sascha Kowalczuk (2019:16):

Die Finanz- und Bankenkrise ab 2007 veränderte meine Sicht. Ich bemerkte, dass das Vokabular, das sich durch meine Sozialisation in der DDR fürimmer und ewig kontaminiert anfühlte, das mir buchstäblich mit Panzerketten ausgetrieben worden war, immer nützlicher und treffender erschien. Begrifflichkeiten wie Kapitalismus, Imperialismus, Finanzkapital, «Heuschrecken», systembedingte soziale Ungerechtigkeit, Basis und Überbau, Klasse, Ausbeutung und Verelendung klangen plötzlich nicht mehr wie von gestern, wie Worthülsen, die nur den politischen Standort markieren sollten, sondern wieder wie nützliche Hilfsmittel,umdie gesellschaftliche Gegenwart zu analysieren. Und nicht nur das. Sogar die Idee vom Sozialismus erfuhr eine unerwartete Renaissance, die eines demokratischen Sozialismus.

Die von Kowalczukangesprochene Finanzkrise veranlasste sogar hartgesottene Vertreter des marktwirtschaftlichen Prinzips wie die beiden Wirtschaftsnobelpreisträger Robert J. Shiller und Paul Krugman oder den deutschen Wirtschaftswissenschaftler Hans-Werner Sinn zu dem Ruf nach einer stärkeren

Rolle des Staates (z.B.durchsubventionierte Finanzberatungen oder Regulierungen der Banken)4 –plötzlichwar da wieder der Rückgriff auf eine Verantwortungsinstanz außerhalb der ökonomischen Mechanismen.Dieser Widerspruch hätte eine grundsätzlicheInfragestellungdes kapitalistischen Wirtschaftssystems auslösen können –was den genannten Experten fernlag. Die Aporien unserer Wirtschafts- und Finanzordnung, vor allem natürlich auch die existenziellen Krisenerscheinungen dieser Ordnung im Zeitalter der Globalisierung mit ihrenArmuts-, Unrechts- undKriegsszenarien dokumentieren die Notwendigkeit, über alternative Konzepte von Politik, Kultur und Ökonomienachzudenken –darin erweist sichdie Aktualität der bürgerrechtlichen Intentionen von 1989.

4 Siehe die Publikationen bereits unmittelbar nach der Finanzkrise:Robert J. Shiller:The Subprime Solution, Princeton 2008 (2. Auflage 2013); Paul Krugman:Die neue Weltwirtschaftskrise, Frankfurt/M. 2009;Hans-Werner Sinn:Kasino-Kapitalismus,Berlin 2009

Zum ersten Mal sollen mitder vorliegenden Schrift im Kontext wissenschaftlicher Forschung anthroposophische Initiativen innerhalb der Bürgerrechtsbewegung untersucht und dargestellt werden, die direkt in die Ereignisse involviert waren. Dies geschieht nicht, um den Nachweis einer Urheberschaft der 1989er-Revolution bei den Anthroposophen zu erbringen oder um endlich auch den anthroposophischen Protagonisten den ihnen gebührenden Platz in den Geschichtsfolianten zu «1989»zusichern, sondern um im Sinne historischer Empirie einennicht unerheblichen, aber bisher unbeachteten Zusammenhang herauszuarbeiten und in seiner geschichtlichen Relevanz ansichtig zu machen. Rolf Henrichs 1989 im Westen bei Rowohlt veröffentlichter Essay Der vormundschaftliche Staat.Vom Versagen des real existierenden Sozialismus,der eine direkte Darstellung der sozialpolitischen Ideen Rudolf Steiners enthält, setzte ein Zeichen und «sorgte für Furore» (Jessen2009:169). Drei der Mitbegründer desNeuenForums in Grünheide waren Anthroposophen, die sich dort auch zu Wort meldeten, einvierter Teilnehmer,Martin Klähn, setzte sich ebenfalls intensiv mit den Ansätzen Rudolf Steiners auseinander und spielte eine zentrale Rolle für dieWirksamkeitdes Neuen Forums in Schwerin. Undauch an anderen Stellen begegnet uns die Anthroposophie im Zusammenhang mit der Bürgerrechtsbewegung in der DDR. Dies ist bislang noch nie aufgearbeitet worden, obwohlgerade die Aktivitäten Rolf Henrichs von der Gründung des Neuen Forums bis zu seiner MitarbeitamRunden Tisch ein wesentlicher Faktor für die Vorgänge waren und diese anthroposophische Perspektive für eine Erkenntnis der aktuellen Bedeutung von «1989»relevant seinkönnte.

Während der Ausarbeitung dieser Zusammenhänge ist mir deutlich geworden, dass ein Verständnis der Ansätze Rolf Henrichs und seiner anthroposophischen Mitstreiter erst möglich wird durch eine etwas ausführlichere Darstellung der «Idee der sozialen Dreigliederung», die zum ersten Malvon Rudolf Steiner Anfang des 20. Jahrhunderts formuliertwurde. Insofern musste die am Ende der Schrift angehängte «Ergänzung»auf den historischen Kontext von 1918/ 1919 und die späteren, an verschiedenen Orten internationaldurchgeführten «Dreigliederungs»-Initiativen ausgreifen.

Ebenso ungeplant war die zunehmende Fokussierung der Darstellung auf das Neue Forum. Das erste Interview führte ich im November 2021 mit Wolfgang Templin, der an dem Gründungsprozess des Neuen Forums nicht beteiligt war. Erst später hat sich gezeigt, dass ein Schwerpunkt auf einer Untersuchung des Neuen Forums liegen würde, weilhier –bei aller notwendigen Berücksichtigung und Würdigung auch der anderen oppositionellen Initiativen –entscheidende Prozesse festzustellen waren, diesichvon den anderen Gruppen durchaus unterschieden und zugleich sehr wirksam geworden sind.

Die Darstellung der Bürgerrechtsinitiativen geschieht nicht aus nostalgischen Gründen oder um damaligeEntwürfe als Modelle für aktuelle politische Lösungen wiederzubeleben, sondernumnach tieferliegenden Intentionen zu

fragen, die in verwandelter Form noch auf ihre eigentliche Umsetzung warten.

Ilko-Sascha Kowalczuk schreibt:

Es geht nicht nur um harte Fakten. Die eigentlichen Probleme stellen weiche, zum Teil schwer fassbare, nur unzulänglich formulierbare, ja, wohl sogar unbekannte Phänomene dar. Wenn man zuspitzt, heißt das auch, es gibt vieleFragen, aber längst nicht alle Antworten. Ich denke, wir alle müssen es erlernen, Fragen zu stellen, ohne gleich immer Antworten parat zu haben (Kowalczuk 2019:22f.).

Eine solche Frage stellt dievorliegende Schrift: Welche Chancen einer konkretenNeugestaltung der deutschen Gesellschaftlagen 1989 vor –auch wenn sie ein Stück weit unsichtbar blieben?Der Bürgerrechtsbewegung gelang der Durchbruch –und dennoch scheiterte sie mit ihren eigentlichen Anliegen. Retrospektiv stellen sich dieses Scheiternund dietatsächliche politische Entwicklung als unvermeidlich dar. Dies hat damitzutun, dass sich immer wieder die Wirtschaftsentwicklung der Sowjetunionund des «Ostblocks», die 1989 noch einmal anschwellende Ausreisewelle und diemaroden politischen Strukturen als Gründe für den Aufbruch, den Sturz des Regimes und schließlich auch den Beitritt zur Bundesrepublikinden Vordergrund drängen. Viel zu wenig ist gefragt worden:Welcherealen Möglichkeiten hätten vorgelegen, tatsächlich neue gesellschaftlicheImpulse zu initiieren?Gab es vielleicht doch Ansätze zu einer solchen Neugestaltung? Wie sahen sieaus?Diese Fragen führen zu der Publikation von Rolf Henrichund zu den Hintergründen ihrerEntstehung. Sie enthält nicht nur eine umfassendeAnalyse über das Versagen des real existierenden Sozialismus, sondern sie ist auch dieeinzige gründliche Darstellung alternativer wirtschaftlicher, politischer und kultureller Konzepte. Sie wurde von einigen wesentlich an der Bürgerrechtsbewegung beteiligten Persönlichkeiten rezipiert: unter anderem von EhrhartNeubert, MartinBöttger und Bärbel Bohley, die von der Schrift begeistertwar und sich selber daran beteiligte, das Manuskript in den Westen zu schmuggeln. Henrich diskutierte seine Ideen auf zahlreichen Veranstaltungen, aber auch in anderen Kreisen wurden sie bearbeitet. Auch in die Gespräche in Grünheide, diezur Ausformulierung des ersten Aufrufs des Neuen Forums führten, wurden sieeingebracht. Sie stehen letztlich in dem erwähnten historischen Kontext, der vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zu sozialpolitischen Initiativen im 21. Jahrhundertreicht.

Ein Motiv, das immer wieder dieDiskussionen um eine Überwindung sowohl des Kapitalismus als auch des Sozialismus durchzog, ist die Idee eines «dritten Weges». Es begegnet uns nicht erst imZusammenhang mit dem Prager Frühling –schon 1957 sprach beispielsweise diespätere Bürgerrechtlerin Erika Drees, die wesentlich daran beteiligt war, Bärbel Bohley und Katja Havemann mit Rolf Henrich zusammenzubringen und damitdas Neue Forum zuinitiieren, von einer solchen Idee (siehe Ahrberg 2011:33).Heute ist der Begriff verbraucht oder wird von rechtsextremen Gruppierungen vereinnahmt. Ursprüng-

lich stand hinter der Perspektive eines «dritten Weges»aber eine über Jahrzehnteregelmäßig erneuerte Tradition seriöser wirtschaftspolitischer Ausarbeitungen, deren bekannteste sicherlich von dem tschechischen Ökonomen Ota Šik stammt. Im Gründungsaufruf des Neuen Forums, der eine Verbindung von wirtschaftlicher Initiative und Sozialität, Freiheitund Gemeinschaftsbewusstsein forderte, findet sich schließlich ein sichtbarer Niederschlag des Motivs. Allerdings konstatiert Klaus-Dietmar Henke zu Recht:

Die verbreitetenHoffnungen auf einen Dritten Weg in der Volkswirtschaft scheiterten historisch nicht nur an den Forderungen der Straße und der Dynamik des Einigungsprozesses, «sondern auch an dem ökonomischen Erbe der DDR und der Unmöglichkeit, die DDR-Wirtschaft ohne Unterstützung aus der Bundesrepublik rasch zu modernisieren» (Henke 2009:39, unter Verwendung eines Zitats von André Steiner).

Daraus ergibt sich dieFrage:Welche Ansätze artikulierten sich 1989 bezüglich einer modernisierten Fassung eines «dritten Weges», die sich äußerlich historisch gar nichtdurchsetzen konnten bzw. dienoch nicht einmalöffentlich klar zur Erscheinung kamen?

Charakteristisch für dieAufarbeitung der Ereignissevon 1989 im Ganzen ist die Diskussion zwischen Detlef Pollack und Ilko-Sascha Kowalczuk –sie entzündete sich an der Fragenach den tatsächlichen Ursachen der Revolution.5 Pollack hatte anlässlich ihres 30. Jahrestages in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 12. Juli 2019 einen Artikel veröffentlicht, in dem er darlegte, die Vorgänge seiendas Ergebnisder Ausreisewelle gewesen, nicht aber der oppositionellen Protestbewegung, deren wesentlichen Beitragzum Sturz der DDRRegierung er als «Mär»bezeichnete. Daraufhin antwortete Kowalczuk in derselben Zeitung mit einer Gegendarstellung, diePollack entgegenhielt, dass die Bürgerbewegungen durchaus von entscheidender Bedeutung für die Revolution gewesen seien, derUmbruch sei einWerk von wenigen gewesen. Auf diesen Schlagabtauschfolgten eine weitere Entgegnung Pollacks und –eine Antwort Kowalczuks wurde nicht zugelassen –eine Reihevon Leserbriefen.

Abgesehen von einigen inhaltlichen Unstimmigkeiten auf Seiten Pollacks wie der weitgehenden Ineinssetzung der Oppositionsbewegung mit den Kirchenkreisen und von seiner merkwürdigpolemischen und moralisch fragwürdigen Herabsetzung der Leistungen dieser Opposition enthält die Debatte einen symptomatischen methodischen Kern, der einLicht auf unser Thema wirft: Werden historische Bewegungen von Individuen verursacht oder lassen sie sich nur aus komplexen, anonymen und oft mitökonomischen Prozessen identifi-

5 Dokumentiert im digitalen Archiv der Havemann-Gesellschaft:https://www.havemanngesellschaft.de/themen-dossiers/streit-um-die-revolution-von-1989/ Auf die Angabe von Abrufdaten wurde verzichtet. Mit zwei jeweils markierten Ausnahmen waren bis zum aktuellen Zeitpunkt (03.09.2025)alle angegebenen Seiten zugänglich.

zierten Kausalgeflechten herleiten?Bezeichnenderweiseist Detlef Pollack Soziologe, Kowalczuk Historiker.Die Auseinandersetzungerinnert an eine Neuauflage der alten Debatte, dieschon in den 1970er Jahren durch die Forschungen Hans-Ulrich Wehlers, Jürgen Kockas, Hans Mommsens, Wolfgang J. Mommsens und anderer eingeleitet wurde. Sie richteten sich programmatisch auf sozialgeschichtliche Strukturen und Systeme, dieals die Grundlagen für die historischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts angesehen wurden. Biographische Ansätze wurden als unerlaubte Personalisierung, also Privatisierung aufgefasst. Schon Mitte der 1970er Jahreerfuhr dieser Diskurs allerdings eine Differenzierung, indem der Historiker Immanuel Geiss postulierte:«Das Individuum [ist] als alleinige oder wichtigste Kategorie fürjede Erkenntnismit wissenschaftlichem, d. h. objektivierbarem Anspruch untauglich» (Geiss1977:17).Andererseits räumte er aber ein, dass Gesellschaftund Individuum als notwendige Pole und keineswegs als «einander ausschließende Gegensätzlichkeit»aufgefasst werden dürften (ebd.: 16). Auch Jürgen Kocka betonte:

[Z]um Begreifen von Ereignissen [ist es]unabdingbar, auf die ihnen vorgegeben und in sie eingehenden Strukturen zu rekurrieren, wenn auch daran festzuhalten ist, dass weder inder Erfahrung noch in der wissenschaftlichen Analyse die Ereignisse voll aus ihren strukturellen Bedingungen erklärbar, ableitbar sind (Kocka 1977:163).

Einerseits sei es unbestreitbar,dass z. B. dieStruktur des absolutistischen Staates oder des späteren Industriekapitalismus dem Individuum Bedingungen vorgeschrieben habe, die es in einen kollektiven, kausalen Rahmen eingebunden habe, man könne «eher den Absolutismus ohne Friedrich II. als Friedrich II. ohne den Absolutismus begreifen»(ebd.: 164). Andererseits gerate «durch das Abblenden der Handlungen leicht auch der Veränderbarkeitsaspekt historischer Wirklichkeit aus dem Blick»und es entstehe das (auch politisch)fragwürdige Bild eines «von Menschen bewusst nicht zu beeinflussenden Geschichtsprozesses»(ebd.: 164 f.). Man tue also gut daran, «eine dichotomische Entgegensetzung»von Struktur- und Personengeschichte zu vermeiden (ebd.: 165).

Diesen dichotomischen Erklärungsmusternkönnen auch die Ereignisse von 1989 zum Opfer fallen. Es gibt einstrukturelles Bedingungsgeflecht wirtschaftlicher und politischer Faktoren, die in dieVorgänge des Umbruchs wesentlich hineinspielen. Sind siedeshalb aber schon Ursachen, wie Pollack mit seiner geradezu monokausalen Argumentation, seiner Fokussierung auf die Ausreisewelle suggeriert? Hier scheint die Frage bereits falsch gestellt:Auch wenn man die kausalen Auswirkungen der Ausreisewelle und den damit verbundenen Druck auf dieSED-Leitung anerkennt, istdavonüberhaupt nicht die Ebene berührt, dienach der Bedeutung derBürgerrechtsbewegung fragt, die sichnicht danachbeurteilenlässt, ob sieder Grund für den Fall der Mauer war. Abgesehen vonder Frage, ob die Ausreisedynamik an sich schonohne den Pro-

test, (sehr gut besuchte)Versammlungen, daraus hervorgehende aktive Eingaben oder schriftliche Forderungen wirklich diebetreffenden Vorgänge hätte auslösen können, bleibt zu reflektieren, welche historische Relevanz einer ideell und politisch aktiven Bewegung zukommt, auch wenn sie vordergründig ohne Erfolg bleibt. Auchder Begriffdes «Kristallisationspunktes»des Umbruchs,den Detlef Pollack für die Bürgerrechtsinitiativen verwendet, bringt zu wenig zum Ausdruck, welche Bedeutung es für dieMenschen hatte, dass da eine Gruppe von Zeitgenossen zum Sprachrohr –und nicht nur zur Sammlung –von Enttäuschung, Widerständigkeit, Aufbegehren und auch Veränderungsideen wurde. Die Frage, welche Bedeutung einem historischen Impuls zukommt, auch wenn ersich nicht durchsetzt, berührt eine viel grundsätzlichere Dimension geschichtlicher Wirksamkeitals dieder kausalen Abfolge materieller Faktoren. Etwas zugespitzt formuliert: War der Widerstand der Geschwister Scholl angesichts der erfolgreichen Vernichtung durch Hitler umsonst und historisch ohne Folgen?Unabhängigvon dem äußeren Bedingungsgefüge von «1989»gilt es, die Frage zu beantworten, was dieProtestbewegung eigentlich wollte, welche Ansätze sie hatte und welche Relevanz ihre Impulse für unsere Zeit heute haben könnten.

Die Debatte in den 1970er Jahren um Kocka, Wehler, Mommsen und andere verdeutlicht, dass es erst dieMenschen sind, die strukturelle Gegebenheiten zuhistorischen Tatsachen machen –und Veränderung herbeiführen. Insofern schließe ich mich KowalczuksEinschätzung an:

Jene, die mahnten, Demokratie und Freiheit seien nicht nur durch Institutionen abzusichern, sondern Lebensformen, für die jeder und jede einzutreten habe, wurden oft als Sonntagsrednerinnen belächelt. Heute zeigt ein auch nur flüchtiger Blick auf Deutschland, Europa und die Welt, dass sie Recht hatten (Kowalczuk 2019:22)

Ich möchte mit der vorliegenden Schrift dieindividuellen Aspekte der geschichtlichen Vorgänge –die biographischen Hintergründe, Ideenentwicklungen, Begegnungen und diedaraus hervorgehenden Bildungen gemeinschaftlicher Initiativen –und deren Einfluss auf die kollektiven Prozesse genauso berücksichtigen wie diestrukturellen, sozialgeschichtlichen Faktoren, weil geradediese Dimension des Aufbruchs von 1989 zwar im Einzelnen vielfach dargestellt, aber nur wenigimZusammenhang betrachtet wurde.

Ausdruck dieses Ansatzes sind 18 Interviews mit Persönlichkeiten, von denen die meisten direkt mit den Revolutionsereignissen verbunden waren. Ich führte Gespräche mitIrena Kukutz (FreundinBärbelBohleys, Mitbegründerin des Netzwerks Frauen für den Frieden und Autorin der bislang einzigen zusammenhängenden Darstellung zum Neuen Forum), dem Gründer der Initiative Frieden und Menschenrechte (IFM)Wolfgang Templin, mit Jutta und Eberhard Seidel, Martin Böttger, Hagen Erkrath, Manfred Riedel, Uta Loheit und Martin

Klähn (Neues Forum, Loheitund Klähn aus der eigens porträtierten Gruppe in Schwerin), Dietlind-MariaStropahl und PetraZiebig (aus dem mit Henrich in Verbindung stehenden Cäcilienchor)sowie mit dem Berliner Architekten Christian Michael Küssner (erbeförderte eines von Henrichs Manuskripten in den Westen). Den inzwischen verstorbenen Winfried Kulas, Volkmar Künne, Heiko Mähnert(Kyffhäuserhütte Artern),Albrecht Meyer (Foron-Kühlschrankbau) und Wolfgang Lohbeck (Greenpeace)habe ich im Rahmen einer Untersuchung der ökonomischen Situation der Nachwendezeit interviewt. Für die Verhältnisse in derUckermark konnte ich auf einfrüheres Interview mit dem Filmemacher Andres Veiel zurückgreifen. Ich verzichte darauf, die Interviews vollständig hier abzudrucken, da sieden Rahmen dieser Arbeit gesprengt hätten. Die Gespräche eröffneten mir die Möglichkeit, unmittelbar an den Erfahrungen, Gedanken und Motiven der an den Ereignissen Beteiligten teilzuhaben und einen tiefgehenden Einblick in das Zusammenhangsgeflecht der historischen Prozesse der DDR zu gewinnen. Neben einer Untersuchung der ereignisgeschichtlichen Gesten und Signaturen der Umbruchszeit und einer Aufarbeitung der Entstehung der Bürgerrechtsinitiativen –vor allem des Neuen Forums –unter der erwähnten Einbeziehung anthroposophischer Perspektiven galt es für mich zugleich nachzuvollziehen, welche konkreten Folgen die Überwältigung der oppositionellen Bewegung durch die Dynamik des Beitritts der DDR zur Bundesrepublikseit 1990 mitsich brachte. Es sollen die Ursachen der aus der «Nachwendezeit»resultierenden Problemlagen Ostdeutschlands aufgezeigt werden, die eng mitdem Nichtergreifen der Chancen von 1989 verbunden sind –zugleich,umdaraus dieaktuellen Herausforderungen erkennen zu können und abschließend den Blick auf zukünftige Perspektiven einer konstruktiven Gesellschaftsentwicklung zu weiten. Zu diesem Zweck werden einzelne Projekte in Ostdeutschland porträtiert, dievon verschiedenen Autoren in dem von Christoph Links und Kristina Volke herausgegebenen Buch Zukunft erfinden. Kreative Projekte in Ostdeutschland (2009), aber auch in anderen Publikationen vorgestellt werden.

Die in dieser Schrift beschriebenen Phänomene und Zusammenhänge beruhen nicht auf theoretischer Systematik, sondern aufindividuellen Erfahrungen und ihren zum Teilsehr persönlichen Interpretationen. Ich selber habe durch meine Arbeit in Weimar, später durch meine Tätigkeit in einer Bildungseinrichtung in Jena sowiedurch Erlebnisse mitder Verwandtschaft meiner in Thüringen aufgewachsenen Frau Erfahrungen gemacht, die den Ergebnissen wissenschaftlicher Feldforschung sehr direkt entsprechen. Seit meinen ersten Berührungen mit der deutsch-deutschen Geschichte durch ein Unterrichtsreferat in derelften Klasse über den Bau der Berliner Mauer und einer Reise mit einem Freund 1984 vom Ruhrgebiet nach Ostberlin treibt mich das Anliegen an, dieses Verhältnis zwischen Ost und West und dieGründe für die Trennung zu verstehen –aber auch, dieMöglichkeiten einer Neugestaltung auf den Grundla-

gen der Erfahrungen von 1989 auszuleuchten. Hierbei haben mir die vielen GesprächeimRahmen dieser Arbeitsehr geholfen. Und so gilt mein Dank all den Menschen, die bereitwaren, mitmir zu sprechen und mich bis in persönlichste Erlebnisse, Fragen und Gedanken hineinzunehmen in ihre Biographien und Einsichten. Immer wieder habe ich in diesen Momenten erfahren, dass es ein großes Anliegen gibt, dieEreignisse von 1989 nicht einem musealen Vergangenheitsblick zu überlassen, sonderndie Reflexionen einer produktiven Gestaltung gesellschaftlicher Zukunft zugutekommen zu lassen –gleich, ob es um Umwelttechnologie und Kühlschränke, Erziehung, politische Partizipation oder wirtschaftliche Solidarität geht.

II. Ereignisgeschichtliche Signaturen

Vom 24. bis 26. Februar 1989 fand inGreifswald unter dem Dach der Evangelischen Kirche das Seminar Konkret für den Frieden VII statt. Rund 200 Delegierte aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Initiativen der DDR, darunter Friedens-, Umwelt-, Menschenrechts-, Frauen- und Eine-Welt-Gruppen, kamen zusammen, um übersozialpolitische Themen zu debattieren. Eine der treibenden Kräfte der auch kurz Frieden konkret genannten Veranstaltung war der Magdeburger Pfarrer Hans-Jochen Tschiche, der schon bei den vorangegangenen Treffen maßgeblich dazu beigetragen hatte, dem Seminar inhaltliche Substanz und Verbindlichkeitzuverleihen. Seitseiner Gründung im März 1983 fand es jährlich statt, verhalf damiteinem wachsenden Netzwerkoppositioneller Basisgruppen zu mehr Sichtbarkeitund ermöglichte eine offene Diskussionsplattform. Tschiche trat bei diesem siebten Treffen nun mit der Intention an, die vielen Einzelinitiativen zu einer «Vereinigung zur Erneuerung der Gesellschaft» zusammenzuführen und ihr eine dezidiert politische Stoßrichtung zu geben. Das Ergebnis war enttäuschend:Der Antrag wurde von der Mehrheit der Delegierten abgelehnt. Markus Meckel, der auf ähnliche Weise mit dem Versuch scheiterte, auf dem Treffen eine sozialdemokratische Partei zu gründen (Neubert 1997:799), konstatierte, es sei offensichtlich nicht möglich, den «sobreit ausdifferenzierten Haufen»(Interview in Herzberg/von zur Mühlen 1993:119) «in eine gemeinsame, handlungsfähigeVereinigung zu transformieren»(Timmer 2000:129). Noch Ende Februar 1989 erschien es also den maßgeblichen Repräsentanten der Opposition als eine ganz unwahrscheinliche, geradezu verstiegene Idee, vereint eine politische Bewegung auf den Weg zu bringen. Stattdessen traf man sich am 1. Juli,umden Entwurf für ein Grundsatzpapier für das nächste Treffen im Frühjahr 1990 zu verabschieden. Der Theologe Joachim Garstecki bemerkte insofernschon im Oktober zu dem Entwurf, er wirke «inder Dynamik der […]Entwicklungen wie von einem anderen Stern kommend» (zit. in Neubert1997:799). DieVorgängezeigen auf eklatante Weise, dass die als so wichtig angesehene Plattform in gar keinemZusammenhang stand mit den sich kurze Zeit später beschleunigenden Prozessen eines revolutionären Aufbruchs. Zwar darf nicht vergessen werden, dass die Veranstaltung natürlich

gezielt durch verdeckte staatliche Maßnahmen unterlaufen wurde.6 Dennoch fehlte es auch unabhängig davon an einer klaren, explizit artikulierten Willensbildung hin zu einer faktischen Veränderung, geschweige denn zu einem Umsturz der bestehenden Verhältnisse. «[E]sgab immer noch sehr viel Hemmungen und Ängstlichkeiten unter den Delegierten, die politische Rolle auch anzunehmen»(ebd.: 798).

Noch unwirklicher wirkte dieSzenerie in Cottbus ein Jahr zuvor. Durch die massiven staatlichen Angriffeauf dieOppositionund die Repressalien gegen das Seminar (ebd.: 700)war deutlich geworden, dass dessen Aufgabe politischer zu werden hatte. Auch hier unternahm Hans-Jochen Tschiche einen Vorstoß, der diesem Anspruch gerecht werden sollte. Er trug in einem Impulsreferat, zu dem ersogar beauftragt worden war, seinPositionspapier Teilhabestatt Ausgrenzung –Wege zu einer solidarischen Lebens- undWeltgestaltung vor. Für seine allgemeinen Aussagen zu Umwelt, Abrüstung und wirtschaftlicher Gerechtigkeit erntete er Zustimmung, die Schilderung konkreter politischer Konsequenzen löste aber Ängste aus, sodass nicht nur dieverdeckt agierenden Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit(MfS)dagegen stimmten, sondern auch zahlreicheandere Teilnehmer,die nicht mitdem MfS in Verbindung standen (ebd.). Die Auseinandersetzung endete in einem Kompromiss,der jeder Veränderungsdynamik den Boden entzog: Es wurdeeine Redaktionsgruppe eingesetzt, diedie Ergebnisse der Diskussionsgruppen sammeln und verschicken sollte, damit man ein Jahr später daran weiterarbeiten könne. Aber schon in den Arbeitsgruppen waren Tschiches Thesen zum Teil abgeschwächt und nur in den wenigsten Fällen zu einem verbindlichen Ergebnisgebracht worden. Es ist frappierend, wie wenigsich der herannahende Umbruch im Bewusstsein gerade jener niederschlug, dieschon lange Teil der Opposition waren. Das Jahr 1989 wird oft durch dieKenntnisder Ereignisse ab Oktober als eine lineare, sich kontinuierlichanstauende Eskalation vorgestellt, die schließlich notwendig zueiner Entladungdes Protestes habe führen müssen. Dies verdeckt die Tatsache, dass die aufbegehrenden Kräfte der DDR in diesen Monaten keineswegs einen Umsturz der Verhältnisse vorbereiteten. Die oftmals angeführte Überprüfung der Kommunalwahlen –immerhinschon am 7. Mai des Jahres –durch oppositionelle Komitees und diedabei nachgewiesenen massiven Wahlfälschungen lösten zwar kurzzeitigeine allgemeine Empörung aus. Letztlich mündete diese aber in die resignative Stimmung ein, dass sich nur bestätige, was man ohnehin immer schon gewusst habe:

In der Mehrheit der Bevölkerung aber hatte [dies]nur eine geringe Resonanz. Die Zahl der Eingaben, die Inkorrektheiten während der Wahl ansprachen, belief sich in der gan-

6 Siehe die MfS-Dokumente zu dem Treffen:https://www.ddr-im-blick.de/jahrgaenge/jahr gang-1989/report/konkret-fuer-den-frieden-vii-24-262-greifswald-1/

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