Andreas Kistler. Die Kostenexplosion im Gesundheitswesen

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Andreas

DIE KOSTEN-

IM GESUNDHEITSEXPLOSION WESEN

Wie das System zum Patienten wird

Die Kostenexplosion im Gesundheitswesen

Wie das System zum Patienten wird

NZZ Libro

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II. Das Gesundheitswesen als Symptomträger

2. Der Wachstumszwang der Volkswirtschaft und seine Auswirkungen auf das Gesundheitswesen

3. Überproportional steigende Gesundheitsausgaben mit steigendem Wohlstand: Gesundheit als Luxusgut

Aufgaben

5. Kostenkontrolle im Gesundheitswesen – ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen?

III. Anreize, Fehlanreize und Marktwirtschaft im Gesundheitswesen

1. Intrinsische Motivation und äussere Anreize – barmherzige Medizin versus Gesundheit als Geschäftsmodell

4. Partikularinteressen, Kantönligeist und unkoordinierte

5. Gibt es doch einen Platz für Markwirtschaft im Gesundheitswesen?

IV. Bisherige politische Interventionen und neuere Entwicklungen im Gesundheitswesen: Gut gemeint, aber kontraproduktiv 77

1. KVG-Revision 2009 und Einführung der DRG in der Schweiz: Die Idee 77

2. KVG-Revision 2009 und Einführung der DRG in der Schweiz: Die Realität 78

3. Der neue Fokus auf Qualität, deren Messung und Kontrolle 86

4. Ausufernde Zertifizierungswut 89

5. Arbeitsteilung und «Industrialisierung» in der Medizin 95

6. Künstliche Intelligenz in der Medizin 99

7. Digitalisierung in der Medizin und elektronisches Patientendossier 102

8. Medizinische Forschung: Von der Unter- zur Überregulierung 106

9. Die wachsende Last der Administration im Gesundheitswesen 109

Zweiter Teil

Ein Gedankenexperiment: Wir entwerfen ein neues Gesundheitssystem

V. Was bedeutet eigentlich Gesundheit, was ist Krankheit und was das Gesundheitswesen? 125

1. Die WHO-Gesundheitsdefinition: Wohlklingend, aber praxisuntauglich 125

2. Ein vierdimensionales Krankheitsmodell 127

3. Krankheit, Patientin und Umfeld 134

4. Die Aufgaben des Gesundheitswesens 136

VI. Welche und wie viele Gesundheitsleistungen sollen solidarisch finanziert werden? 141

1. Brauchen wir ein öffentliches Gesundheitswesen? 142

2. Welche Abklärungen sind zielführend und welche Therapien wirksam? 145

3. Verhältnismässigkeit, Sinnhaftigkeit und wie viel wir uns leisten möchten und können 152

VII. Wie sollen die Gesundheitskosten innerhalb der Gesellschaft verteilt werden? 165

1. Wer bezahlt wie viel? 165

2. Wie soll die Kostenverteilung technisch bewerkstelligt werden? 171

3. Kostenverteilung im Gesundheitswesen: Der Ist-Zustand in der Schweiz 174

VIII. Wie erreichen wir, dass das Richtige richtig gemacht wird? 177

1. Steuerung durch Gebote und Verbote 177

2. Steuerung durch finanzielle Anreize 179

3. Steuerung durch Ausbildung, Weiterbildung und Feedback 190

4. Wie können wir die Effizienz steigern? 194

5. Verdienen Ärzte zu viel? 198

IX. Mögliche Organisationsstrukturen und finanzielle Architektur des Gesundheitswesens 205

1. Ein dysfunktionales System als Status quo: Wettbewerb zwischen staatlichen und privaten Anbietern bei gesetzlich festgelegten Preisen 206

2. Mehr Markt, Variante 1: Wettbewerb zwischen Gesundheitsorganisationen mit Pauschalpreisen 209

3. Mehr Markt, Variante 2: Wettbewerb zwischen Leistungserbringern mit variablen Marktpreisen 212

4. Mehr Markt, Variante 3: Gatekeeper-Modell mit Capitation 215

5. Weniger Markt, Variante 1: Staatliches Gesundheitssystem 216

6. Weniger Markt, Variante 2: Staatliches Gesundheitssystem mit einzelnen nichtstaatlichen Anbietern 223

7. Das Nebeneinander von öffentlichen und privaten Gesundheitsanbietern und die Rolle von Zusatzversicherungen 226

X. Lösungsansätze 229

1. Einheitliche, transparente und justierbare Finanzierung des Gesundheitswesens 231

2. Ein elektronisches Patientendossier, das seinen Namen verdient 231

3. Eine automatische, strukturierte und verpflichtende Datensammlung und einfache Regelungen für deren Verwendung zur Forschung, Qualitätskontrolle und Versorgungsplanung 233

4. Geringere administrative Hürden für die Forschung 233

5. Kantonsübergreifende nationale Versorgungsplanung statt unkoordiniertes «Wettrüsten» und Zertifizierungswut 234

6. Vorausschauende Planung auf Grundlage von soliden Daten 235

7. Abkehr vom DRG-System

8. Transparente, klare und nachvollziehbare Definition des Leistungsumfangs der öffentlichen Gesundheitsversorgung 237

9. Bedachter Umgang mit Spezialisierung und Arbeitsteilung 237

10. Aufheben der Überbezahlung technischer und manueller Leistungen

11. Delegation standardisierter Leistungen an nichtärztliches

12. Koordinierte und integrierte soziale Versorgung

13. Überbordende Administration bekämpfen

14. Plattformen und Lösungen statt Regeln und Auflagen

15. Vorbeugen statt heilen

16. Die Rolle der pharmazeutischen Industrie überdenken?

17. Fokus weg von den Kosten

18. «Primum non nocere»

Vorwort

Schweiz, im Herbst 2023: Der neuerlich markante Anstieg der Krankenkassenkassenprämien wird kommuniziert, und die nationalen Wahlen stehen an. Da dauert es nicht lange, bis die Kostenexplosion im Gesundheitswesen wieder in aller Munde ist. Mit dem Thema wird fleissig Wahlkampf betrieben und vielfältige, sich oft widersprechende Lösungsvorschläge werden propagiert. Auch nach den Wahlen beschäftigt die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen Bevölkerung und Politik, mehrere Abstimmungsvorlagen kamen seither vors Volk. Die Gesundheitskosten steigen derweil unbeirrt weiter und auch in den folgenden beiden Jahren lässt der Krankenkassenprämienanstieg nicht auf sich warten. Über die Krankenkassenprämien sind die Gesundheitskosten in der Schweiz für die Bevölkerung direkt spürbar. Sie belasten nicht nur den Staatshaushalt, sondern auch das private Budget. Kein Wunder, figurierte das Thema im Jahr 2024 bereits zum zweiten Mal in Folge an erster Stelle des UBS-Sorgenbarometers.1

Das Kostenwachstum im Gesundheitswesen scheint einem Gesetz zu gleichen, allen politischen Bemühungen zum Trotz. Gewiss, viele Wahlversprechen werden zuletzt nicht eingelöst, Lösungsvorschläge verwässern sich nach langem Tauziehen in Kompromissen. Böse Zungen behaupten, dass Lobbyisten von Pharmaindustrie, Ärzteschaft und Krankenkassen im Bundeshaus Reformvorlagen blockierten, da eine Begrenzung der Gesundheitskosten nicht im Interesse ihrer Mandatsgeber sei.2 Und doch wurden auch tiefgreifende Massnahmen umgesetzt, wie etwa die Revision des Krankenversicherungsgesetztes (KVG) im Jahr 2009 mit der Einführung von Fallpauschalen per 2012 – nur leider ohne dass der Kostenanstieg wirklich gedämpft werden konnte. Es drängt sich die Frage auf, ob schlicht die falschen Ansätze verfolgt wurden oder ob vielmehr der Anstieg der Gesundheitskosten einem Naturgesetz gleicht und vielleicht ohne diese Gegenmassnahmen noch viel markanter ausgefallen wäre.

Um ein Problem wirkungsvoll anzugehen, ist es ratsam, dieses zunächst einer vertieften Analyse zu unterziehen. So versuchen wir in der Medizin,

eine fundierte Diagnose zu stellen, bevor wir eine Therapie einleiten. Und der Mechaniker sucht den Defekt im Gerät, bevor er ihn reparieren kann. Im politischen Diskurs bleibt aber oft nicht ausreichend Raum für eine differenzierte Problemanalyse. Politikerinnen sind an Legislaturperioden gebunden, verschiedenen Mandatsgebern und der Wählerschaft verpflichtet, und die Wähler bevorzugen in der Regel patente Lösungsvorschläge gegenüber einer differenzierten Erörterung. Genauso erschwert wird das Unterfangen durch die ausserordentliche Komplexität des Themas. Umso mehr wäre eine differenzierte Analyse Grundvoraussetzung für konstruktive Lösungsansätze – oder auch nur um wenigstens die Auswirkungen möglicher Massnahmen vorhersehen zu können. Dafür bedarf es einer gewissen Weitsicht: eines fundierten medizinischen Wissens einerseits, eines makroökonomischen Verständnisses andererseits und schliesslich einer Kenntnis der aktuellen Organisation des Gesundheitswesens.

Genau hier möchte ich mit diesem Buch ansetzen. Es richtet sich an Politiker, die sich mit der Kostenentwicklung im Gesundheitswesen beschäftigen und sich diesem Thema fundiert annehmen möchten, an Entscheidungsträgerinnen und Führungskräfte im Gesundheitswesen, die ihre Innensicht durch eine systematische Analyse unter Einbezug makroökonomischer Aspekte erweitern möchten. Genauso richtet sich das Buch aber auch an alle interessierten Bürger, denen die Zukunft unseres Gesundheitswesens am Herzen liegt. Die Organisation und Finanzierung des Gesundheitswesens unterscheidet sich von Land zu Land, und dieses Buch hat einen starken Bezug zur Schweiz. Gleichwohl sind viele Grundsatzüberlegungen und Kernaussagen genereller Natur und gelten länderübergreifend – insofern hoffe ich, dass auch die Leserschaft unserer benachbarten deutschsprachigen Länder anregende Denkanstösse finden wird.

Das Buch ist in zwei Teile gegliedert. Im Ersten Teil werde ich versuchen, die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen von unterschiedlichen Seiten und auf verschiedenen Ebenen zu beleuchten. Dabei werden wir in Kapitel I zunächst einige Zahlen und Fakten kennenlernen, damit wir wissen, wovon wir sprechen. Anschliessend werde ich in Kapitel II grundlegende soziodemographische und makroökonomische Mechanismen aufzeigen, die als externe Faktoren zu einem Kostenanstieg im Gesundheitswesen führen und gegen welche sich wehren zu wollen einem Kampf gegen Windmühlen gleicht. In Kapitel III werden wir Anreize im Gesundheitswesen diskutieren, einige bekannte und einige bisher wenig beachtete Fehl-

anreize kennenlernen und den problematischen Mechanismus der Finanzierung des Gesundheitswesens in einer marktwirtschaftlichen Ökonomie beleuchten. In Kapitel IV schliesslich werde ich bisherige Massnahmen und neuere Entwicklungen betrachten, die zu einer Kostendämpfung und einer Qualitätssteigerung im Gesundheitswesen führen sollten, und wir werden erkennen, dass und weshalb sie gescheitert sind.

Im Zweiten Teil des Buches werden wir ein Gedankenexperiment wagen: Wenn wir unser Gesundheitswesen ganz neu entwerfen könnten, wie würden wir dies tun? Hierfür werde ich in Kapitel V zunächst zentrale Grundbegriffe aus einer philosophisch-soziologischen Perspektive beleuchten: Was bedeutet überhaupt Gesundheit und Krankheit, und was ist das Gesundheitswesen? Anschliessend werden wir das genannte Gedankenexperiment ergebnisorientiert angehen und dafür drei Grundfragen in den Kapiteln VI–VIII separat diskutieren. Welche Gesundheitsleistungen sollen solidarisch finanziert werden? Wie sollen deren Kosten innerhalb der Gesellschaft verteilt werden? Und wie erreichen wir, dass nur die solidarisch zu finanzierenden Leistungen erbracht werden, und zwar in einem optimalen Aufwand-Nutzen-Verhältnis? Vor diesem Hintergrund werde ich im zweitletzten Kapitel des Buches verschiedene Modelle für die Organisation des Gesundheitswesens diskutieren und im letzten Kapitel schliesslich einige konkrete Massnahmen skizzieren, mit denen wir unser Gesundheitswesen in eine gute Richtung entwickeln könnten. Dabei, so viel vorweg, werde ich keine Patentlösung präsentieren können. Vielmehr geht es mir darum, unseren Handlungsspielraum auszuloten: Welche Möglichkeiten haben wir überhaupt, und welche Konsequenzen müssten wir daraus tragen? Welche Erwartungen sind schlicht illusorisch und welche Massnahmen kontraproduktiv? Als eine unserer Haupterkenntnisse werden wir – so viel sei ebenfalls vorweggenommen – feststellen, dass die zunehmende Ökonomisierung der Medizin einerseits einen starken Wachstumsreiz gesetzt und die Kosten weiter in die Höhe getrieben hat, während sie andererseits dem Wesen der Medizin nicht gerecht wird.

Ich habe mich bemüht, dem komplexen Thema durch eine umfassende und vielschichtige Betrachtung gerecht zu werden. Dabei kann ich selbstverständlich meine eigene Perspektive – jene als Chefarzt in einem öffentlichen Spital – nicht leugnen und man möge mir verzeihen, wenn diese Innensicht gelegentlich durchscheint. Der hohen Komplexität des Themas geschuldet, ist aus dem ursprünglich geplanten Büchlein ein umfangreicheres Buch ge-

worden. Aber ist es nicht entscheidend, gerade bei dem Versuch, komplexe Probleme zu lösen, zunächst deren Komplexität anzuerkennen und genügend Energie auf ihre Analyse zu verwenden? Wer einfache Lösungen für komplexe Probleme propagiert, möchte uns entweder für dumm verkaufen oder ist selber töricht. In diesem Sinne hoffe ich, dass Sie, liebe Leserin, lieber Leser, sich nicht für dumm verkaufen lassen möchten und dass Sie sich von der Länge dieses Buches nicht abschrecken lassen.

Der Autor war bzw. ist während der Entstehung dieses Buches sowie zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung an einem öffentlichen Spital in der Schweiz tätig. Diese berufliche Erfahrung hat zahlreiche Gedanken inspiriert, die in das Manuskript eingeflossen sind. Die Arbeit am Buch erfolgte jedoch vollumfänglich in seiner Freizeit. Die darin enthaltenen Analysen und Schlussfolgerungen spiegeln ausschliesslich seine persönliche Perspektive wider und stehen in keinerlei Zusammenhang mit den Visionen oder der Strategie seines aktuellen Arbeitgebers.

Erster Teil

Diagnosestellung: Woran unser Gesundheitswesen

krankt

Wenn sich ein Patient mit einem Leiden an uns Mediziner wendet, dann versucht jede seriöse Ärztin zunächst, eine Diagnose zu stellen, bevor sie eine Therapie einleitet. Nur wenn wir die Symptome nicht erklären oder einer bestimmten Krankheit zuordnen können, versuchen wir es mit einer rein symptomatischen Behandlung. Dabei sollten wir allerdings grosse Vorsicht walten lassen, dass die symptomatische Therapie wenige Nebenwirkungen zeigt und nicht am Ende die Krankheit gar verschlimmert. Wesentlich erfolgversprechender und nachhaltiger ist in der Regel die Behandlung, wenn wir zu einer Diagnose gelangen konnten, eine Vorstellung über die Ursachen der Krankheit haben und diese gezielt behandeln können. Genauso sollten wir wohl die «Patientin Gesundheitswesen» einer genauen Untersuchung unterziehen und die Ursachen für die Symptome analysieren, bevor wir uns anschicken, ihr eine Therapie zu verordnen. Dieser Ursachenanalyse widmet sich der Erste Teil des Buches.

Lassen Sie mich zunächst drei Bemerkungen anfügen: Erstens sind die meisten Krankheiten nicht durch eine einzige Ursache, sondern durch ein Zusammenwirken mehrerer Faktoren bedingt – wir Ärzte und Ärztinnen sprechen dann von «multifaktoriellen» Erkrankungen. Wir werden sehen, dass dies in ganz besonderem Masse auf das Kränkeln des Gesundheitswesens zutrifft. Zweitens können gesellschaftlich-soziologische Phänomene immer auf mehreren Ebenen erklärt werden: auf der Mikroebene des Handelns einzelner Individuen und Akteure, der Mesoebene des Zusammenspiels verschiedener Institutionen und auf der Makroebene der Gesamtgesellschaft und des politischen Systems. Auf diesen drei Betrachtungsebenen werden wir verschiedene Faktoren erkennen, die einander viel mehr ergänzen und bedingen, als dass sie alternative Erklärungen darstellen würden. Und drittens lassen sich der diagnostische und der therapeutische Prozess nicht immer scharf trennen, auch wenn ich eben dafür plädiert habe, eine

Diagnose zu suchen, bevor wir eine Therapie einleiten. Oftmals stellen wir eine Verdachtsdiagnose und leiten erste therapeutische Massnahmen ein, während wir weiterführende Abklärungen veranlassen. Der Effekt einer Behandlung kann unsere Verdachtsdiagnose stützen oder uns daran zweifeln lassen. Genauso werden wir bei regulatorischen Eingriffen und anderen Massnahmen im Gesundheitswesen immer wieder ihre Wirkung überprüfen müssen und unsere Diagnosen hinterfragen. Und genauso lassen sich auch die beiden Teile dieses Buches nicht strikt trennen. Bereits im Ersten Teil werden Lösungsansätze anklingen und auch im Zweiten Teil werden wir immer wieder den Ist-Zustand reflektieren und weitere Mechanismen identifizieren, die zur Kostenentwicklung beitragen.

I. Zahlen, Fakten und Begriffe

1. Explodieren die Gesundheitskosten wirklich? Bevor wir uns an eine Analyse der Gründe für das Kostenwachstum im Gesundheitswesen wagen, möchte ich mich kurz den Zahlen und Fakten widmen – um wie viel sind die Gesundheitskosten tatsächlich in den letzten Jahren und Jahrzehnten gestiegen? Betrachten wir die vom Bundesamt für Statistik (BFS) veröffentlichten Zahlen,3 so sind die Gesamtkosten des Schweizer Gesundheitswesens, ausgedrückt in Schweizer Franken, zwischen 1960 und 2022 tatsächlich von zwei auf gut 90 Milliarden um den Faktor 45 gestiegen. Man braucht freilich weder Statistikerin noch Ökonom zu sein, um zu realisieren, dass diese Zahl in dieser rohen Form wenig Sinn ergibt. Was fehlt, ist die sogenannte Normierung der Kosten in verschiedener Hinsicht.

Zunächst hat im Zeitraum von 1960 bis 2022 auch die Schweizer Wohnbevölkerung zugenommen, nämlich um 64 %. Die Gesamtkosten müssen entsprechend durch die Anzahl der Einwohner geteilt, also auf die Bevölkerungszahl normiert werden, wonach sich noch ein Wachstum um den Faktor 28 ergibt. Eine zweite entscheidende Normierung betrifft die Teuerung. Die genannte Kostenentwicklung bezieht sich auf den Frankenbetrag (und wird daher auch «nominal» genannt). Die Teuerung von 1960 bis 2022 beträgt jedoch + 325 %.4 Um die reale Kostenentwicklung im Gesundheitswesen zu ermitteln, ist in einem nächsten Schritt also eine Korrektur für die Teuerung vorzunehmen.5 Korrigieren wir nun die nominale Verfünfundvierzigfachung der Gesundheitskosten auf den Bevölkerungsanstieg und auf die Teuerung, so bleibt noch etwas mehr als eine Versechsfachung.

Dies ist allerdings immer noch ein massiver Anstieg. Auch diese Zahl ist aber nur mässig sinnvoll, denn im betrachteten Zeitraum hat sich die gesamte Wirtschaft sehr stark entwickelt. Wenn sich die Wirtschaft und damit unser Lebensstandard generell entwickeln, wir also insgesamt mehr Geld verdienen und mehr Geld ausgeben, so ist es nur logisch, dass wir auch mehr Geld für das Gesundheitswesen ausgeben: einerseits, weil sich auch dieses

entwickelt, und andererseits, weil wir angesichts des wachsenden Wohlstands gewillt sind, mehr für unsere Gesundheit zu bezahlen. Als Kennzahl für die Wirtschaftsentwicklung wird in der Regel das Bruttoinlandsprodukt (BIP) herangezogen. Dieses ist für die Schweiz im Zeitraum von 1960 bis 2022 in absoluten Zahlen von gut 45 Milliarden auf gut 780 Milliarden Franken gewachsen, was einem Anstieg des Pro-Kopf-BIP von 8’403 auf 89’034 entspricht.6 Aufgrund dieser Überlegungen scheint es sinnvoll, die Gesundheitskosten in Relation zum BIP zu setzen.

Tatsächlich werden die Gesundheitskosten oft als Prozentsatz des BIP angegeben. Wenn wir dabei die absoluten (also weder hinsichtlich des Bevölkerungswachstums noch hinsichtlich der Teuerung normierten) Gesundheitskosten durch das absolute (hinsichtlich der beiden genannten Parameter ebenfalls nicht normierte) BIP teilen, so gleichen sich das Bevölkerungswachstum und die Teuerung im Zähler und im Nenner des Bruches aus und wir erhalten die Gesundheitskosten normiert nach Bevölkerungszahl, Teuerung und Wirtschaftsleistung eines Landes. Von 1960 bis 2022 findet sich nach diesen Normierungen ein Anstieg der Gesundheitskosten von 4.4 % auf 11.7 % des BIP.7

Damit bleibt zunächst der Befund bestehen, dass die Gesundheitskosten auch nach diesen drei essentiellen Normierungen über die betrachtete Zeitspanne markant gestiegen sind. Bemerkenswert ist, dass dieser Anstieg über die genannte Zeit – von gewissen Schwankungen abgesehen – relativ linear war. Zuletzt wurde zwar sowohl für die Schweiz von der Konjunkturforschungsstelle der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH)8 als auch international9 postuliert, dass sich die Gesundheitskosten nun auf diesem Niveau stabil einpendeln würden. Ob dem tatsächlich so sein wird, bleibt abzuwarten – es ist aber zumindest zu bezweifeln. Eine Projektion der Eidgenössischen Finanzverwaltung (EFV) kommt zu dem gegenteiligen Schluss und rechnet mit einem fortgesetzten, als Prozentsatz des BIP ausgedrückt in etwa linearen Wachstum der Gesundheitskosten.10 Auch die ETH Konjunkturforschungsstelle hat ihre jeweils auf vier Jahre angelegte Prognose mittlerweile bereits korrigiert.11 Der Ökonom William J. Baumol hat diese lineare Entwicklung der Gesundheitskosten als Prozentsatz des BIP bereits vor über 50 Jahren prognostiziert und liefert hierfür eine plausible Erklärung in seiner Theorie,12 die wir in Abschnitt II.1 kennenlernen werden. Eine weitere wichtige Normierung der Kosten haben wir bisher noch ausser Acht gelassen: Die pro Person verursachten Gesundheitskosten sind

stark altersabhängig – sie steigen mit zunehmendem Alter.13 Auch der ProKopf-Beitrag zum BIP ist altersabhängig, jedoch auf andere Weise: Er steigt zunächst bei Volljährigkeit mit Beginn der Erwerbstätigkeit sprunghaft an und nimmt im Verlauf des Berufslebens in der Regel aufgrund der wachsenden Berufserfahrung weiter langsam zu, fällt dann aber mit Erreichen des Pensionierungsalters meist abrupt auf null, da sich die Mehrheit der Personen ab diesem Alter nicht mehr aktiv an der wirtschaftlichen Wertschöpfung beteiligt. Durch die demographische Entwicklung insbesondere über die letzten zwei Jahrzehnte hat die Bevölkerung über 65 Jahre stetig zugenommen, ein Trend, der sich mindestens für die kommenden Jahrzehnte noch fortsetzen, ja gar akzentuieren wird. Dies sind genau jene Personen, welche in der Regel keinen Beitrag mehr zum BIP leisten, hingegen einen überproportionalen Anteil der Gesundheitskosten verursachen.14 Oder anders formuliert: Immer weniger Erwerbstätige müssen für einen immer grösseren Anteil an nicht mehr Erwerbstätigen, aber häufiger chronisch kranken älteren Menschen die Gesundheitskosten berappen.

Eine Normierung der Gesundheitskosten auf die Altersverteilung der Bevölkerung ist etwas aufwändiger zu bewerkstelligen als die drei vorher genannten Normierungen auf Bevölkerungszahl, Teuerung und Wirtschaftsleistung. Sie lässt sich aber basierend auf den durch das BFS veröffentlichten Zahlen ebenfalls vornehmen.15 Die Gesundheitskosten stiegen von 62’488 Millionen Franken bzw. 10.01 % des BIP im Jahr 2010 auf 91’482 Millionen Franken bzw. 11.71 % des BIP im Jahr 2022 an. Im gleichen Zeitraum nahm der Anteil der Bevölkerung über 65 Jahren von 16.38 % auf 18.54 % zu und jener der über 75-Jährigen von 7.71 % auf 9.00 % (der Anteil der betagten und hochbetagten Bevölkerung ist also gestiegen). Das BIP legte in diesem Zeitraum von 624’545 Millionen Franken auf 781’460 Millionen Franken zu, wobei der Anteil der 20- bis 65-Jährigen, also der sich im erwerbstätigen Alter befindenden Bevölkerung, in derselben Periode von 62.09 % auf 61.04 % leicht rückläufig war.

Wir können nun für das Jahr 2022 einerseits basierend auf den altersabhängigen Pro-Kopf-Kosten die hypothetischen Gesundheitskosten berechnen unter der Annahme, dass die Alters- und Geschlechtsverteilung der Bevölkerung gleich geblieben wäre (86’959 Millionen Franken). Andererseits können wir das hypothetische BIP berechnen unter der Annahme, dass der Anteil der 20- bis 65-Jährigen an der Bevölkerung gleich geblieben wäre (794’993 Millionen Franken). Wie wir sehen, hat die veränderte Altersstruk-

tur (die wir nun «herausgerechnet» haben) einerseits zu einer Zunahme der Gesundheitskosten beigetragen und andererseits einen negativen Effekt auf das BIP ausgeübt. Im Quotienten dieser beiden Zahlen akzentuiert sich der Effekt. Die so korrigierten Gesundheitskosten normiert auf das korrigierte BIP betragen 10.94 %. Mit anderen Worten: Ohne den Effekt der sich verschiebenden Alterspyramide der Bevölkerung wären die Gesundheitskosten gemessen am BIP von 2010 bis 2022 nur um 0.93 (von 10.01 auf 10.94 %) statt um 1.70 Prozentpunkte (von 10.01 auf 11.71 %) angestiegen. Fast die Hälfte des Gesamtkostenanstiegs lässt sich also durch die «Überalterung» der Bevölkerung erklären. Während die Abnahme der erwerbstätigen Altersgruppen an der gesamten Bevölkerung alle Wirtschaftszweige betrifft, ist der steigende Bedarf durch die demographische Entwicklung spezifisch für das Gesundheitswesen. Das Gesundheitswesen bzw. die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen ist hier also Symptomträger der demographischen Entwicklung.16

Wenn wir von Gesundheitskosten gesprochen haben, haben wir bis hierhin immer die jährlichen Gesamtkosten – bezogen auf die ganze Bevölkerung oder pro Person – betrachtet. Diese jährlichen Gesamtkosten können aus zwei verschiedenen Gründen zunehmen: Entweder, weil einzelne Gesundheitsleistungen teurer werden, oder weil pro Person mehr Leistungen beansprucht werden (oder beides). Gemäss einer kürzlich veröffentlichten Analyse von Avenir Suisse war während des letzten Jahrzehnts in der Schweiz nur der zweite Faktor für den Kostenanstieg im Gesundheitswesen verantwortlich – die Preise pro bezogener Leistung sanken sogar.17 Dies suggeriert, dass ein steigender Konsum von Gesundheitsleistungen die Gesundheitskosten in die Höhe treibt und nicht etwa ein Preisanstieg. Einen Teil der steigenden Nachfrage haben wir eben mit der Alterung der Bevölkerung erklärt, für den Rest werden wir noch verschiedene Faktoren identifizieren. Wie wir am Ende von Kapitel II.1 sehen werden, erweist sich die Darstellung von Avenir Suisse kritisch betrachtet allerdings als möglicherweise irreführend.

Fassen wir kurz zusammen, was wir bis hierhin feststellen konnten. Erstens ist beim Umgang mit Zahlen Vorsicht geboten: Wir können Kennzahlen erst dann sinnvoll interpretieren, wenn wir sie adäquat normiert haben. Zweitens haben wir mit der Altersstruktur der Gesellschaft einen ersten Mechanismus kennengelernt, über welchen das Gesundheitssystem und die dadurch verursachten Kosten zu einem Symptomträger einer gesamtgesell-

schaftlichen Entwicklung werden. Drittens bleibt auch nach allen Normierungen und Korrekturen ein Befund bestehen, der weiterhin einer Erklärung bedarf: Die jährlichen Gesundheitskosten pro Person sind über die letzten Jahrzehnte stetig gestiegen. Dieser Anstieg war jedoch weitestgehend linear und nicht exponentiell, wie der Begriff einer Kosten-«Explosion» suggeriert. Bevor wir in den folgenden Kapiteln weitere wirtschaftliche und gesellschaftliche Mechanismen diskutieren werden, die unweigerlich zu einem Kostenwachstum im Gesundheitswesen führen und dieses erklären, wollen wir zunächst den Begriff Gesundheitskosten etwas genauer unter die Lupe nehmen.

2. Was sind Gesundheitskosten?

Die Finanzierung des Schweizer Gesundheitswesens ist hochkomplex und nur mässig transparent. Wir werden dieses Problem später noch diskutieren. Für die oben zitierten Statistiken des BFS hinsichtlich der Gesundheitskosten bedeutet dies, dass die Zahlen aus verschiedenen Quellen zusammengetragen werden müssen18 und stets mit einer gewissen Unsicherheit behaftet bleiben. Das BFS unterteilt die Gesundheitskosten in seiner Statistik sodann nach verschiedenen Kriterien. Neben der weiter oben genannten Einteilung nach Alterskategorie und Geschlecht werden die Gesundheitskosten auch nach Leistungserbringer, nach erbrachten Leistungen und der Art der Leistungserbringung (ambulant oder stationär) unterteilt.19 Diese Zahlen werden häufig beigezogen, wenn man versucht zu eruieren, wer nun für den Kostenanstieg im Gesundheitswesen verantwortlich ist, oder noch viel häufiger, um die Verantwortung des eigenen Sektors von sich zu weisen. Ein Blick auf die Zahlen zeigt, dass sich bei den anteiligen Gesundheitskosten nur kleinere und punktuelle Verschiebungen ergeben haben. So haben Krankenhäuser (inkl. Psychiatrie, Rehabilitationskliniken etc.) als Leistungserbringer über die letzten zehn Jahre relativ konstant gut ein Drittel der Gesundheitskosten verursacht, Arztpraxen ca. 14 % (wovon nur etwa ein Drittel, also 5–6 % der gesamten Gesundheitskosten, auf die Grundversorgung entfällt), Pflegeheime ca. 13 % und Apotheken gut 7 %. Bei den Kategorien erbrachter Leistungen machen Medikamente (welche nicht nur durch Apotheken abgegeben werden, sondern auch in Praxen und Spitälern) ca. 12 % der Gesundheitskosten aus, die somatische Kurativpflege ca. 40 % und die psychiatrische Kurativpflege ca. 5 %. (Diese letzteren Begriffe sind etwas

irreführend: Sie umfassen nicht nur die Pflege im engeren Sinne, sondern auch die ärztliche Behandlung und die dabei anfallenden Verwaltungskosten von Spitälern und Arztpraxen.) Die Langzeitpflege verursacht ca. 15 % und Laboranalysen bzw. bildgebende Verfahren je gut bzw. knapp 3 % der Gesundheitskosten.

Bei genauer Betrachtung der Zahlen lassen sich einzelne Bereiche ausmachen, deren Kosten überproportional gewachsen sind, beispielsweise Laboranalysen (deren Anteil an den Gesundheitskosten aber insgesamt gering ist, siehe oben). Die Mehrheit der Kategorien von Gesundheitskosten scheint aber in etwa parallel zu wachsen, und das Fokussieren auf einzelne Bereiche gibt auch nur sehr begrenzt Aufschluss über die tieferliegenden Gründe, welche zum entsprechenden Anstieg beitragen. Des Weiteren werden die Gesundheitskosten vom BFS auch nach Finanzierungregime und Finanzierungsquelle aufgeschlüsselt. Hier ist vielleicht erwähnenswert, dass der Anteil der Gesundheitskosten, die über die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP, sogenannte Grundversicherung) finanziert werden, von 35.2 % im Jahr 2010 auf 37.7 % im Jahr 2022 zunahm – der Anstieg der Krankenkassenprämien, den wir alle spüren, ist also ausgeprägter als jener der gesamten Gesundheitskosten.

Wie oben erwähnt, ist die Berechnung der Gesundheitskosten mit gewissen Unsicherheiten und Unschärfen behaftet. Generell aber ist die Definition dessen, was wir als «Gesundheitskosten» benennen, und auch dessen, was wir unter «Gesundheitswesen» verstehen, nicht banal und in einem gewissen Grade willkürlich. Unter dem Gesundheitswesen verstehen wir in der Regel die Gesamtheit aller Einrichtungen, die der Behandlung von Krankheiten dienen (man könnte entsprechend auch von «Krankheitswesen» sprechen). Hier stossen wir bereits auf Unschärfen. Gewisse Krankheiten können behandelt und geheilt werden, bei anderen kann nur die Funktionseinschränkung verbessert werden, und wieder andere führen zu einer Langzeitpflegebedürftigkeit. Pflege wird teilweise institutionell in Alters- und Pflegeheimen organisiert, und die Kosten dieser Langzeitpflege werden den Gesundheitskosten zugerechnet. Werden pflegebedürftige Personen jedoch zu Hause durch Angehörige gepflegt, so entstehen dadurch keine direkten Kosten, die in eine Kostenrechnung einfliessen. Neuerdings können sich allerdings pflegende Angehörige durch eine Spitex anstellen und bezahlen lassen,20 was gemäss Angaben von Krankenversicherern einen nicht zu vernachlässigenden Teil des Kostenanstiegs in der OKP aus-

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