Julian Vomsattel (Hg.)
ZWISCHEN HEIMAT UND FREMDE
Auswanderungsgeschichten aus dem Oberwallis


Julian Vomsattel (Hg.)
Zwischen Heimat und Fremde
Auswanderungsgeschichten aus dem Oberwallis
Dieses Buch entstand mit freundlicher Unterstützung von:
Loterie Romande, Verein z’Tärbinu, Kulturrat des Kantons Wallis, die Gemeinden Visperterminen, Visp, Brig-Glis, Leuk, Törbel, Zeneggen, Grächen, Obergoms, die Stiftung «Grechu ischi Heimat», die Kulturkommission Ausserberg, das Elektrowerk Riedbach Visperterminen, Visperterminen Tourismus und en alpin.
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Covergestaltung: icona basel gmbh, Basel
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Layout: Katarina Lang, Book Design, Zürich
Satz: Claudia Wild, Konstanz
Druck: Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza
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ISBN Print 978-3-03980-000-1
ISBN E-Book 978-3-03980-001-8
www.nzz-libro.ch
NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort des Herausgebers 11
Vorwort von alt Bundesrätin Viola Amherd 13
Vorwort von Botschafter Hans-Ruedi Bortis 15
Einleitung 17
TEIL 1
Neue Horizonte – Einsichten und Ansichten
Joseph Jung
Die Schweiz als Auswanderungsland 23
Kantonale Eigenheiten, Walliser Besonderheiten, kollektive Phänomene und Einzelschicksale
Eduard Gnesa
Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland 59 Schweizer Migrations- und Asylpolitik heute
Julian Vomsattel / Peter Szekendy
Die Oberwalliser Auswanderung am Beispiel Visperterminen 87 Ursachen, Auslöser, Urheber, Triebfedern und Sogwirkungen: Wie Dynamiken in neue Welten führten
Alex Agten
Ein Grengjer im Dienst der Emigration und Mitbegründer der «Colonia Valesana» 107
Lorenz Bodenmann von der Grengjer «Hockmatte» als hilfreicher Agent
Héctor Carlos Sattler
Sauceros und Colonos 123
Wie sich Indigene und Kolonisten aneinander gewöhnten
Susana Andereggen
Das Erbe der Frauen 129
Zur tragenden Rolle der Walliserinnen beim Aufbau der Kolonie San Jerónimo Norte
Augusto Jullier
Walliser und Schweizer Musik in San Jerónimo Norte gestern und heute 151
Wie die Töne der alten in der neuen Heimat überlebten
Marie-Thérèse Karlen
San Jerónimo Norte – Wallis: Liebe mit Verfalldatum 157
Wissenschaftliche Neugier führt zu unvergesslichen Erlebnissen
Literaturverzeichnis und Anmerkungen zu Teil 1 171
TEIL 2
Rhonetalabwärts – Aufbrüche in neue Welten
Irmgard Anthenien
«Go West!» 183
Die Auswanderung aus Obergesteln als Beispiel für die Emigration von Einzelpersonen
Francis Pianzola
Der Grossvater hilft dem Enkel bei der Familiengeschichte auf die Sprünge 201
Die Auswandererfamilie Nanzer aus Münster und «ihr Kalifornien»
Julian Vomsattel
«Faul und nie an Arbeit gewohnt» 211
Die stille Beerdigung von Auswanderungsprämien durch die Gemeinde Ernen
Julian Vomsattel
Ein Fussball-Weltmeister weist den Weg zu Josef Clausen 213
Eine Wette führt über Mexiko und Argentinien zum «Flüe-Josi» in den Guldersand
Julian Vomsattel
In den Fängen der argentinischen Militärs 225
Die Grengjerin Gladys Ambort wird als 17-Jährige auf der Strasse «abgeholt»
Alex Agten
Der Bergbauer als Übersetzer zwischen Kontinenten 227
Wie der Grengjer USA-Rückkehrer Eduard Schmidt
Akademikern zur Sprache verhalf
Peter Szekendy
Eine verlorene Muttergottes-Statue und die Verbrüderung zweier Gemeinden 231
Die Geburtsstunde der Städtepartnerschaft zwischen Brig-Glis und San Jerónimo Norte
Julian Vomsattel
Das Kind, das verlorene Kind: Nach jahrelangem Umweg in die neue Heimat 235
Das Familiendrama um Catalina Näpfli aus Eyholz [17]
Peter Kuonen
Emigration als einer Kinderschar’ gemeinsames Schicksal 241
Kurzbiografien der (aus-)wanderlustigen Kuonens aus der Taleya Lalden
Gerold Koller
«… ich hab das Greste verlangen nach einem Brif» 249
Zur Geschichte der Auswandererfamilie Heinzmann aus Visperterminen
Julian Vomsattel
Mit Geld und Gold in doppelten Sohlen über den Atlantik 273
Späte Erzählungen über den Reichtum des Visperterminers Ignaz «Habernazi» Stoffel
Julian Vomsattel
Tilgung einer alten Schuld dank der «Hand Gottes», genannt Maradona 279
Die Flucht des Visperterminers Alois Stoffel aus der Armut
Julian Vomsattel
Ludovico Briggiler baut das erste Flugzeug Südamerikas 283
Ein Erfinder aus Visperterminen hebt in der Pampa ab
Odilo Abgottspon
Verkehrte Welt: Heimkehr des Gustav Briggeler mit einer Fremden 285
Die «Titscha» in Visperterminen
Ana Flavía Heinzmann
Ein Besuch in der alten Heimat weckt Gefühle der Vorfahren 291
Gedanken der Ururenkelin zur Familie Heinzmann-Ambort aus Visperterminen
Julian Vomsattel
Vom Milchproduzenten zum Wohltäter in der Heimatgemeinde 297
Die Familie Williner aus Grächen als Begründer von Argentiniens Milchwirtschaft
Annette Heldner
Versteckt in der Abstellkammer mit dem Schiff nach Argentinien 305
Das ereignisreiche Leben des Meinrad Andres aus Zeneggen
Luzius Theler
Die Schmach der gescheiterten Auswanderung 311 Ein Rückwanderer mit Ausserberger Wurzeln brachte es in Basel zu Macht, Einfluss und Wohlstand
Stefan Eggel
Vom Arzt zum Gouverneur und Präsidentschaftskandidaten 315 Wurzeln in Bürchen und Raron helfen Hermes Binner auf seinem politischen Weg
Peter Kuonen
Weltenbummler und später Auswanderer 323 Victor Kuonen aus Guttet: Ein Leben zwischen Europa und dem Reich der Pharaonen als Balanceakt
Peter Kuonen
Vom Soldatenfriedhof in Malina über die US-Navy zur Verwandtschaft: Eine Rückwärtssuche 331
Wie das Internet zu dem im Zweiten Weltkrieg gefallenen Soldaten Alvin E. Kuonen aus Guttet führte
Carlo Schmidt
Ein Bergler gestaltet die Skyline von New York mit 339 Der Leuker Adolf Witschard, der in die weite Welt zog und seiner Heimat treu blieb
Carlo Schmidt
Der Viehhirt mit dem Erfindergeist 343
Wie der Leuker Alfred Barbezat das Ende des Zweiten Weltkriegs beschleunigte
Literaturverzeichnis und Anmerkungen zu Teil 2 349
Anhänge
Autorenverzeichnis 355
Audio-/Videobeiträge und Veranstaltungen 358
Auswandererliste 363
Literaturverzeichnis zu den Anhängen 411
Bildnachweis 413
Vorwort des Herausgebers
Es war mein Grossvater Alois Vomsattel, der meine Begeisterung für die Auswanderung schon in jungen Jahren geweckt hatte. Er erzählte mir von seinem Schwiegervater Samuel Heinzmann, dessen einziger Bruder 1872 nach Nordamerika ausgewandert war und von dem man danach nie mehr etwas gehört habe. Das war für mich als kleiner Knabe unvorstellbar.
Für den nächsten Schritt sorgten der Gliser Ethnologe Klaus Anderegg und der Journalist Urs Wirthner. Sie führten 1986 Gespräche mit Bewohnern von San Jerónimo Norte im fernen Argentinien und strahlten diese später im Radio aus [1] Als ich den antiquierten Walliser Dialekt hörte, obwohl diese Leute noch nie im Wallis waren, habe ich beschlossen, Walliser Kolonien in Argentinien, Brasilien und Nordamerika zu besuchen. Ihre Lebensgeschichten haben mich tief beeindruckt.
Für das vorliegende Buch hat mich die Regisseurin des Dokumentarfilms Auf in die Pampa, Helen Stehli Pfister, motiviert, die zuvor meinen Paten Karl Studer und mich nach San Jerónimo Norte begleitet hatte. Als mich Professor Joseph Jung für sein Buch Laboratorium des Fortschritts – die Schweiz im 19. Jahrhundert [2] kontaktierte und mich ermunterte, meine Erfahrungen niederzuschreiben, machte ich mich an die Arbeit. Viele Leute aus dem Oberwallis, aus der Deutschschweiz, aber auch aus den Walliser Kolonien in Südamerika waren bereit, Beiträge zu schreiben, die auf persönlichen Erfahrungen beruhten. Die vielen Geschichten, historischen Briefe und Fotos machten es für mich nicht immer einfach, den roten Faden zu finden.
Dank der Hilfe meines Lektors Peter Szekendy, der in vielen Stunden alle Texte lektorierte, anpasste und sie in eine Form goss, ist ein Buch entstanden, das die Oberwalliser Auswanderung in vie-
len Facetten zeigt und auch die aktuelle Schweizer Migrationsgeschichte miteinbezieht.
Ein spezieller Dank geht an Roland Zimmermann, der die Bilderauswahl und Bildgestaltung mit seinem Fachwissen erarbeitete. Ausserdem danke ich Peter Heinzmann aus Neerach (ZH), der bei der Auswanderungsliste und beim Literaturverzeichnis grosse Arbeit leistete.
Ich danke auch allen anderen Personen, die mich in meinem Prozess begleitet und unterstützt haben: Fredy Fux vom Atelier Manus, Mathieu Emonet von der Mediathek Martigny, dem Fotografen Thomas Andenmatten, dem Fotoarchivar José Luis Eggel aus San Jerónimo Norte, Kornelia Scherzinger-Stoffel, Bruno Vomsattel, Alois Grichting, Gustav Oggier, Roman Juon, Bernadette BellwaldWerlen,Eduard Brogli, Patrick Büeler, Ewald Andenmatten und nicht zuletzt allen Autorinnen und Autoren, die mir neben ihren Beiträgen auch Briefe, Fotografien und Geschichten zur Verfügung gestellt haben.
Ein Dank geht auch an meine Frau Ada und die Kinder Sarah, Rachel, Deborah und Jonas für die Geduld bei all meinen Recherchen.
Julian Vomsattel, Herausgeber
Vorwort von alt Bundesrätin Viola Amherd
Die Oberwalliser Auswanderung in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat tiefe Spuren hinterlassen – in den Herkunftsgemeinden ebenso wie in den Zielländern der Migranten. Einer, der sich mit grosser Leidenschaft diesem Kapitel unserer Geschichte widmet, ist der Terbiner Julian Vomsattel. Besonders die Tatsache, dass zwischen 1850 und 1911 fast ein Viertel der Bevölkerung von Visperterminen ihre Heimat verliess, liess ihn nicht los. 1988 reiste er erstmals nach Argentinien, später folgten weitere Reisen in Länder, die einst von Oberwalliser Emigranten geprägt wurden.
Mit seinem Buch Zwischen Heimat und Fremde – Auswanderungsgeschichten aus dem Oberwallis öffnet Julian Vomsattel neue Perspektiven auf die Geschichte der Migration. Er gibt Autorinnen und Autoren eine Stimme, die anhand historischer Dokumente, Interviews, Briefe und Fotografien die Erlebnisse ihrer Vorfahren nachzeichnen. So entstehen eindrückliche Porträts jener Menschen, die ihr Glück in der Ferne suchten. Ihre Geschichten lassen die Vergangenheit lebendig werden und wirken bis in die Gegenwart hinein: Heute finden sich unter den Nachkommen der Emigranten ein Kardinal, ein Fussball-Weltmeister und ein argentinischer Präsidentschaftskandidat.
Einen besonderen kulturellen Wert haben die Tonaufnahmen aus den Jahren 1988 bis 1991, die über QR-Codes abrufbar sind. In diesen Aufnahmen erzählen inzwischen verstorbene Oberwalliserinnen und Oberwalliser in eigenen Worten von ihrem Leben und ihrer Auswanderung.
Erstmals widmet sich das Buch auch ausführlich der bedeutenden Rolle der Frauen während der Auswanderung und bei der Bewältigung der neuen Herausforderungen in unbekannten Gefilden. Ihre Traditionen leben bis heute weiter – in der Küche, in der
Sprache, in der Musik und im religiösen Leben der «Valesanos» in Argentinien und der «Terbiner» in St. Vincent, USA. Gleichzeitig beleuchtet das Buch aber auch kritisch, wie die Einwanderer mit der indigenen Bevölkerung umgingen – ein Thema, das aus heutiger Sicht einer differenzierten Betrachtung bedarf.
Darüber hinaus setzt die Publikation die Oberwalliser Migration in den grösseren Zusammenhang der schweizerischen Auswanderung des 19. Jahrhunderts. Sie schlägt eine Brücke zur Gegenwart, indem sie Parallelen zwischen damaligen Migrationsbewegungen und den heutigen Herausforderungen durch Immigration in die Schweiz zieht. Besonders aufschlussreich ist dabei die Rolle eines Oberwalliser Auswanderungsagenten jener Zeit.
Durch die Vielzahl der Autorinnen und Autoren entsteht ein vielschichtiges Bild der Migration und ihrer langfristigen Auswirkungen – sowohl auf die Schweiz als auch auf die Aufnahmeländer. Zwischen Heimat und Fremde – Auswanderungsgeschichten aus dem Oberwallis regt zum Nachdenken über Migration, Integration und kulturelle Identität an. Es ist ein wertvolles Werk für alle, die sich für Migrationsgeschichte, Volkskunde und die Kultur des Wallis interessieren.
Viola Amherd, alt Bundesrätin
Vorwort von Botschafter Hans-Ruedi Bortis
Zur Auswanderung habe ich seit Kindesjahren einen starken Bezug. Das erste Mal wurde mir diese Thematik bewusst, als mein Vater zur Beurkundung unseres Hauses Unterschriften von Vorfahren, die nach Amerika ausgewandert waren, sammeln musste. Bei meiner ersten Tätigkeit als Botschaftsrat in Argentinien stiess ich zudem auf zwei Familien Bortis, die Nachkommen des 1886 ausgewanderten Joseph Bortis sein dürften. Da ich seit 1980 stets im Ausland unterwegs bin, betrifft mich die Auswanderungsfrage seit über 40 Jahren persönlich.
Bestimmt ist heute vielen Wallisern und Walliserinnen nicht mehr bewusst, dass hauptsächlich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Viertel der Bevölkerung unseren Kanton vor allem aus wirtschaftlichen Gründen verlassen musste. Zum grössten Teil wanderten unsere Vorfahren nach Nord- und Südamerika aus. Eine bedeutende Mehrheit baute sich eine neue Existenz am Río de la Plata auf und fand dort ihre zweite Heimat. Wie eindrückliche Bilder und ergreifende Texte in diesem Buch zeigen, war die Auswanderung aus der alten Heimat und die Einwanderung in ein neues, unbekanntes Land von unzähligen, teils herzzerreissenden Geschichten und persönlichen Schicksalen geprägt. Fast ausschliesslich Walliser Einwanderer gründeten 1858 in der Provinz Santa Fe die Landwirtschaftskolonie San Jerónimo Norte und legten so die Grundlage für die spätere Kornkammer Argentiniens, eine bedeutende Milchverarbeitungsindustrie und den wohlstandstreibenden Agrarsektor. Ihr wohl nachhaltigstes Erbe ist die «Kultur der Arbeit», aber auch die Geselligkeit bei Speis und Trank sowie Musik und Tanz.
Da sich die Einwanderer der neuen Umgebung rasch anpassten und sich gut in die vorab aus europäischen Ländern zusammengesetzte Bevölkerung des jungen argentinischen Staates integrierten,
gingen die Verbindungen mit der alten Heimat mit der Zeit etwas verloren. Erst ab 1991, mit der Einladung von über 1000 ArgentinienWallisern zur 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft, wurden die Beziehungen zwischen alter und neuer Heimat wieder aufgenommen. In Argentinien entstanden zahlreiche Walliser Vereine, und namentlich mit der «Fiesta Nacional del Folclore Suizo» in San Jerónimo Norte – der Oberwalliser Hauptstadt in Argentinien – erfuhren alte Bräuche und Traditionen eine neue Blüte. Inzwischen bezeugen 15 Gemeindepatenschaften, davon fünf zwischen Walliser und argentinischen Orten, diese neue Verbundenheit. Das vorliegende Buch untermauert die gemeinsamen Werte, Bräuche und Sitten einer fast 170-jährigen gemeinsamen Geschichte unzähliger Walliser und Argentinier. Es leistet auch einen wichtigen Beitrag zum besseren Verständnis für die frühere, die heutige und auch die künftige Migration. Der Leserschaft wünsche ich deshalb neben einer unterhaltsamen Lektüre auch eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Migrationsthematik, denn für die meisten der heute am Rhonestrand lebenden Bevölkerung besteht kaum noch eine existenzielle Not, die dazu führt, unseren Heimatkanton zu verlassen.
Hans-Ruedi Bortis, Botschafter der Schweiz in Argentinien
Einleitung
Sich von einem Ort zum andern zu bewegen, hier aus- und dort einzuwandern, vielleicht auch einmal zurückzuwandern, ist eine Konstante in der Menschheitsgeschichte. Weit zurückliegende Formen der Migration, einmal friedlich, einmal mit kriegerischen Absichten, wurden von Individuen überliefert oder von Herrschenden diktiert. Später gerieten solche Überlieferungen unter die Lupe der historischen Forschung. Sie wurden, wenn nötig, neu interpretiert, zuweilen um neu aufgetauchte Informationen ergänzt und in übergeordnete historische Erklärungsmuster eingebettet.
Schon wenige Worte können ein Bild aus einer lange zurückliegenden Vergangenheit zeichnen, das heute noch Bände spricht: Eduard Schmidt war «Mädchen für alles» in einem von zwei seiner Brüder in San Francisco geführten Hotel.Inzwischen Englisch sprechend, überbrückte er Jahre später als Bergbauer in Grengiols Sprachbarrieren zwischen zwei «gstudierten» Priestern: Einer war sein Sohn, Sprachlehrer mit Latein- und Griechischkenntnissen, der andere der aus Kalifornien angereiste, nur des Englischen mächtige Neffe.
Das vorliegende Buch vereint vom Herausgeber Julian Vomsattel als Sammler und Jäger zusammengetragene und von ihm und weiteren Autorinnen und Autoren verfasste Beiträge unterschiedlichster Natur. Seine bis heute ungebremste Neugier wurde vom Grossvater geweckt und von dem aus Glis stammenden Ethnologen Klaus Anderegg, Doyen der wissenschaftlichen Oberwalliser Auswanderungsgeschichte, weiterentwickelt.
Der erste Teil ist im Sinne einer Übersicht gehalten. Der Historiker Joseph Jung blickt auf die Schweizer Auswanderung vorab im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zurück. Er skizziert ausgewählte kulturhistorische Phänomene, thematisiert fragwürdige Aspekte und verweist auf teils problematische schweizerische Beziehungen zur aussereuropäischen Welt.
Der aus Steg stammende Eduard Gnesa, ehemaliger Direktor des Bundesamtes für Migration und Sonderbotschafter für internationale Migrationszusammenarbeit im EDA, führt den historischen Faden an die Gegenwart heran. Er zeigt, mit welchen Herausforderungen die Schweiz – inzwischen (auch) ein Einwanderungsland –und die internationale Staatenwelt in einem globalen, schnelllebigen und von sozialen Ungleichheiten und Kriegen geprägten Umfeld konfrontiert sind.
Am Beispiel Visperterminen geht Julian Vomsattel mit CoAutor Peter Szekendy auf die vielfältigen Faktoren ein, die im (Ober-)Wallis vorab in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts die Menschen zum Aufbruch in neue Welten gebracht, gedrängt oder gezogen haben.
Der aus Grengiols stammende Alex Agten zeichnet ein Porträt des Grengjers Lorenz Bodenmann. Als «Agent» hat er den Auswanderungswilligen nicht nur bürokratische Hürden aus dem Weg geräumt, sondern sie auf ihren Reisen stets begleitet. Nicht zuletzt spielte er auch bei der Gründung der «Colonia Valesana» genannten Kolonie San Jerónimo Norte in Argentinien eine zentrale Rolle.
Héctor Carlos Sattler, Nachfahre von Terbiner Auswanderern, zeigt anhand von überlieferten Erinnerungen, wie sich die Neuankömmlinge aus den Bergen und die indigene Bevölkerung der argentinischen Ebene gegenseitig annäherten.
Susana Andereggen, Schriftstellerin mit Walliser Wurzeln, zeigt die prägende Rolle der mit ihren Männern oft ohne Wahlmöglichkeit mitgereisten Frauen. Diese Pionierinnen waren für das Überleben der vielfach kinderreichen Familien, aber auch für die neuen Kolonien in Übersee mindestens so entscheidend wie die «starken Männer»: Mit der Pflege des kulinarischen, musikalischen und religiösen Erbes sorgten sie für den familiären Zusammenhalt und bildeten auch jenen Kitt, der für das Funktionieren einer Gemeinschaft unabdingbar ist.
Augusto Jullier aus San Jerónimo Norte skizziert den Weg der Walliser Musik in die Neuzeit.
Die aus Grengiols stammende Marie-Thérèse Karlen befasste sich mit der Migration nach Argentinien aus wissenschaftlicher Perspektive und kam von dort mit unvergesslichen Erlebnissen