Die Kunst Albrecht Dürers


Herausgegeben von Tristan Weddigen, Oskar Bätschmann und Joris van Gastel
Schriften Band 6
Die Kunst Albrecht Dürers
Einleitung von Oskar Bätschmann
Kommentar und Bearbeitung von Elena Filippi und Christine Grundig sowie Teresa Ende
unter Mitarbeit von Nora Guggenbühler, Wanda Kupferschmid und Lydia Lymbourides
Schwabe Verlag
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ISBN Printausgabe 978-3-7965-5047-8
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Oskar
Heinrich Wölfflin : Die Kunst Albrecht Dürers
Oskar Bätschmann
Das Projekt
Mit dem Vorhaben « Albrecht Dürer » stellte sich Wölfflin erneut dem Problem der Künstlermonografie. 1889 wollte er mit Salomon Geßner weniger dessen Lebensgang als sein « poetisches und künstlerisches Wesen innerhalb seiner Zeit » erfassen.1 In den Jugendwerken des Michelangelo von 1891 hielt er sich vom Biografischen fern zugunsten der Analyse der Werke.2 Carl Justis Velazquez von 1888 pries er als die « wahrscheinlich vollkommenste Malerbiografie, die überhaupt existiert ».3 Trotzdem nahm er sie für keines seiner Projekte zum Vorbild. In der Klassischen Kunst von 1899 stimmte er Adolf Hildebrands Kritik an der « historischen Betrachtungsweise » zu.4 Wie Hildebrand hielt er « die Kunst » für das umfassendere Thema, ohne aber den traditionellen Aufgaben der Kunstgeschichte ihr Recht abzusprechen :
Die Charakteristik der Künstlerpersönlichkeiten, der individuellen Stile und der Zeitstile wird immer eine Aufgabe der Kunstgeschichte bleiben, und ein starkes menschliches Interesse erwecken, aber das grössere Thema der « Kunst » hat die historische Wissenschaft fast ganz aus der Hand gegeben und einer von ihr gesonderten Kunstphilosophie überlassen, der sie doch andererseits schon so oft die Existenzberechtigung abgesprochen hat.5
Entschiedene Vorbehalte äusserte Wölfflin gegenüber der Künstlergeschichte.
Dieser Beschäftigung mit dem Individuum hielt er 1888 in Renaissance und Barock die Hypothese von kollektiven Kräften entgegen, die analog zu den Kräften der Natur in der Geschichte wirken.6 In den Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen von 1915 postulierte er eine « Naturgeschichte der Kunst » und setzte mit der Formel « Kunstgeschichte ohne Namen » die Bedeutung der Künstlerindividuen herab.7 In Italien und das deutsche Formgefühl wollte er weder von den Künstlern noch von der Kunst sprechen, sondern nur vom « elementaren Formgefühl » oder von « den Voraussetzungen der Kunst ».8 Wölfflin hielt an der Hypothese von « unterindividuellen » Determinierungen fest, die alle Menschen einer bestimmten Zeit oder « Rasse » steuern. Eine Überlegung zur Künstlermonografie lieferte die kleine Schrift Das Erklären von Kunstwerken von 1921. Die Aufgabe des Historikers sei es, dem isolierten Werk « Zusammenhang und Atmosphäre zu geben », was die Darstellung des Gesamtwerks leisten könne, aus der sich die Vorstellung einer
Künstlerpersönlichkeit ergebe.9 Dazu sei der Vergleich mit Zeitgenossen notwendig, um erkennen zu können, wie sich die Individuen zum « Gattungstypus der Generation » verhalten. Auf die gängige Behauptung von der Übereinstimmung der Künstler gleicher Generation folgt die Hypothese von etwas Konstantem, « etwas Bleibendem, einer nationalen Weise der Formbildung, die an dem bestimmten Boden haftet, was erlaubt, von einer deutschen, von einer italienischen Bauart schlechthin zu sprechen ».10
Wölfflin glaubt an die Gesetzmässigkeit des Wandels in der Geschichte und nimmt zugleich unveränderliche Konstanten an. Wandel und Konstante ist sein zweipoliges zentrales Thema. Mit dem Dürer-Projekt, das die Kunst eines Malers, Stechers und Kunsttheoretikers ins Zentrum rückt, sollte eine « neue Form von Künstlermonographie » geschaffen werden.11 Im Notizheft 38 notierte er unter der Überschrift « Die Kunst A. Ds » die Maximen : « Freiheit im Heranziehn des Stoffes. / Das was den Wert seiner Arbeit ausmacht / Eine neue Form von Künstlermonographie. / Die Kunst eines Mannes systematisch behandelt. / Die Vollständigk{ ei }t der formalen Analyse zu erstreben. »12 Wölfflin will sich die systematische Behandlung und die vollständige formale Analyse im Dürer-Projekt als wichtigste Ziele vornehmen, doch sich dabei auch die Freiheit in der Auswahl vorbehalten. 1905 bekannte er, den Stoff sich so zurechtgelegt zu haben, dass er das Künstlerische verfolgen und von einer Vollständigkeit habe absehen können.13 Dazu bezog er sich eigenwillig auf das geflügelte Wort « le style c’est l’homme » : Der Comte de Buffon habe sagen wollen, erst in der « Stilisierung » des Materials liege das Eigentlich-Menschliche.14 Damit erteilte Wölfflin den grossen Monografien von Herman Grimm und Carl Justi wie auch der beliebten Gattung « Leben und Werk » eine Absage. In den Künstlermonografien wurde das Schaffen des Künstlers in Verbindung mit Ereignissen des Lebens erzählt, chronologisch gegliedert und mit erbaulichen Erwägungen geschmückt. Oft wurde auch der politische, soziale und religiöse Kontext berücksichtigt. Wölfflin bemerkte 1919, seine neuen Gesichtspunkte von 1905 hätten « in weiten Kreisen das Verlangen nach einer großen Biografie Dürers » geweckt.15 Doch eine vollständige Darstellung des Menschen und seines Werks « im Gesamtzusammenhang des geschichtlichen Lebens » zu liefern,16 anerkannte er nicht als seine Aufgabe. Mit der Biografie und dem Werk Dürers befassten sich andere : Eduard Flechsig von 1928 bis 1931 in Braunschweig, Wilhelm Waetzoldt 1935 in Berlin und Erwin Panofsky 1943 in Princeton.17
Wölfflins Dürer
In der Antrittsrede von 1911 in der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften hob Wölfflin den « formal-analytischen Gesichtspunkt » seines DürerBuches hervor :
Auch in einem Buche über Dürer ist der formal-analytische Gesichtspunkt das Wesentliche für mich gewesen. Unter Verzicht auf die ausführliche Erzählung von Lebensgang und Lebensumständen, aber unter Verwertung des gesamten, jetzt erst erschlossenen künstlerischen Materials ist die Arbeit darauf angelegt, das Phänomen der Dürerschen Kunst, die wir so ganz anders sehen als das letzte Jahrhundert, auf möglichst bestimmte Begriffe zu bringen.18
Dieses Vorgehen, das Wölfflin bereits für Die Klassische Kunst erprobt hatte, verfeinerte er für den Dürer-Text und behandelte auch die biografischen Angaben analytisch. Er kokettierte mit seinem Verfahren wie etwa im Fall von Hieronymus im Gehäus. Nachdem er Raum, Linien und Linienkontraste, Lichtführung und Lichteinfall der Darstellung ausführlich untersucht hatte, fragte er wie in einer Vorlesung : « Sind wir fertig mit der Analyse ? »19 Im Buch Grundbegriffe charakterisierte er die Zeichenkunst Dürers im Gegensatz zu derjenigen von Rembrandt : « Analysiert man die Striche der Modellierung, so bewährt sich [ ] [ Dürers ] Blatt auch darin als ein Produkt der reinen Linienkunst, dass die Schattenlagen vollkommen durchsichtig gehalten sind. »20 Die analytische Beschreibung von Dürers Kunst resultiert im « Linearen », das mit seinem Gegensatz, dem « Malerischen », zu einem der fünf Paare der Grundbegriffe verbunden wird.21 Zu diesen, die er erstmals 1911 in der Preußischen Akademie vorstellte, bereitete sich Wölfflin den Weg mit der Analyse von Gemälden, Zeichnungen und Stichen von Dürer und anderen.22 Dürer wird zum Repräsentanten eines neuen Kapitels in der Geschichte der Kunst erhoben, das die « Linie als Herrscherin » anerkennt.23 Wölfflin wollte in den Grundbegriffen über- oder unterindividuell wirkende Kräfte im geschichtlichen Wandel erkannt haben. 1924 bezeichnete Erwin Panofsky die Wölfflin’schen Grundbegriffe als die « implizit vorausgesetzten Leitbegriffe der Beschreibung », womit er die spezifische Leistung Wölfflins charakterisierte und zugleich die Funktion der Grundbegriffe bestimmte.24 Zwischen 1899 und 1903 beschäftigte sich Wölfflin mit Einführungen in die kunstgeschichtliche Lehre und entwarf ein kunstgeschichtliches Konzept, das zu einer vollendeten Analyse führen sollte.25 Um das Neujahr 1903 notierte Wölfflin einen Entwurf zu Dürer, der das Projekt als Komposition beschreibt und die « vollständige Analyse » zum Ziel der Untersuchung erklärt :
Ein Buch üb{ er }. Dürer componiren. / Wie sich seine Kunst darstellt, von / weitem gesehn. / Die vollständige Analyse dessen, was / Kunst ist. / Der erste Durchbruch zum Großen & / Bewegten. / Apokalypse : wie die Wogen anfangen / in Wallung zu kommen. / Die Beruhig{ un }g. Klä-
rung. Er wird ganz / genau & streng / Die ‹ gereinigte › / Zeichnung. im Einzelnen / die Proportionen / Der zweite Anstoß zur großen Empfind{ un }g. / Der Heller’sche Altar. / Das Dastehn, die Halt{ un }g / Die Empfind{ un }g & d{ er } Gestus. / Beunruhig{ un }g : Italienisch plastischer Reichtum / ohne innerliche Nötigung. / Die Reinigung. Die Niederlande. Er verwirft das Äußerliche / Die 4 Apostel.26
Wölfflin, dem es unbehaglich war, sein Dürer-Buch illustrieren zu müssen, wollte die Abbildungen nur als Hinführung zu den Originalen gelten lassen.27 An der 1904 erschienenen, vollständig illustrierten Ausgabe Dürers von Valentin Scherer kritisierte er die Abbildungen als unrichtig und irreführend.28 Wölfflin befand, mit der Popularisierung der Kunstgeschichte habe im Publikum das « Gefühl für das Echte bedenklich abgenommen », und deshalb wolle er zeigen, dass ein originaler Druck von Dürer wichtiger sei als eine ganze Folge « in verfälschten Nachbildungen ».29
Nur waren die Originale für privilegierte Sammler und Gelehrte in den Kupferstichkabinetten zugänglich, und das Publikum konnte sie gelegentlich in Ausstellungen sehen. Wölfflin leistete einen Ersatz durch sorgfältige Illustrationen in unterschiedlichen Reproduktionstechniken. Die Holzschnitte der Apokalypse und anderer grosser Blätter wurden in Strichätzung reproduziert und auf einem leicht gelblichen festeren Papier gedruckt.30 Feingerasterte Autotypien geben die Zeichnungen, Kupferstiche und Gemälde wieder. Die erste Auflage enthielt 132 Abbildungen, die zweite von 1908 wurde um zwölf Abbildungen vermehrt, und der dritten von 1919 waren 143 Abbildungen und Tafeln beigefügt.31 Als Frontispiz wurde eine Autotypie nach Dürers Darstellung Der Gnadenstuhl in Wolken ( Die Heilige Dreifaltigkeit ) verwendet, den Wölfflin den « schönste[n ] Holzschnitt dieser Epoche » nannte.32
Nationale Kunst
Im Vorwort zur Klassischen Kunst führte Wölfflin 1899 die Erwartung des Publikums an : « Das Interesse des modernen Publikums, soweit es überhaupt mit bildender Kunst Fühlung nimmt, scheint sich heutzutage wieder mehr den eigentlich künstlerischen Fragen zuwenden zu wollen. »33 Das Publikum, dessen Erwartung Wölfflin zu bedienen beabsichtigte, waren die « Gebildeten Stände », wie sie vom Morgenblatt für gebildete Stände und von der Brockhaus’schen Real-Enzyklopädie im 19. Jahrhundert ausdrücklich adressiert wurden.34
Im Dürer bezog sich Wölfflin nicht nur auf das Interesse an künstlerischen Fragen, sondern auf das nationalistische Bedürfnis der deutschen Leser : « Gerade unsere
Zeit blickt mit so verlangenden Augen nach allem sich um, was deutsch heißen könnte, und Dürers Name ist so sehr Symbol aller nationalen Kunst, daß für jede neue Darstellung die Leser vorhanden wären. »35 Mit der Berufung 1901 nach Berlin als Nachfolger von Herman Grimm auf den wichtigsten Lehrstuhl für Kunstgeschichte in Deutschland erlegte sich Wölfflin selbst die Verpflichtung auf, das Werk des « deutschesten der deutschen Künstler » für das Publikum zu bearbeiten.36 Nach dem Buch über die italienische Renaissance hatte er im Frühjahr 1900 daran gedacht, sich dem 16. Jahrhundert mit Albrecht Dürer, Hans Baldung, Albrecht Altdorfer und Lucas Cranach dem Älteren zuzuwenden.37 Doch « wankelsinnig regt sich’s im Gemüte » des Goethe’schen Cunctators, denn der Aufsatz von Eugène Delacroix über den in Rom tätigen Nicolas Poussin regte Wölfflin zu einem Buchprojekt über das italienische 17. Jahrhundert an.38 Dieser Gedanke wurde wieder verworfen, denn im Sommer 1900 findet sich ein Eintrag über Dürer mit der Bemerkung, dass die Kunst einmal Handwerk war, bevor sie « persönliche Aussage eines Menschen » wurde.39 Wenig später notierte sich Wölfflin « Die Kunst Dürer’s », ohne noch zu wissen, was daraus entstehen könnte.40 Es scheint aber, dass er schon 1899 an ein Projekt über Dürer dachte, denn im Notizheft 39 schwankte er zwischen den Titeln « Die Kunst Albrecht Dürers » und « Die Linienkunst A. D’s ».41 Zu Dürer hatte Wölfflin bisher nur einen Essay und einige Rezensionen veröffentlicht. Der Beitrag von 1893 galt den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders für die Festschrift für Michael Bernays, den früheren Ordinarius für Literaturgeschichte an der Universität München.42 Eines der Kapitel der Herzensergießungen von Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck ist überschrieben mit « Ehrengedächtniß unsers ehrwürdigen Ahnherrn Albrecht Dürers ». Die Autoren griffen Giorgio Vasaris Spekulation auf, unter italienischen Voraussetzungen hätte Dürer der beste Maler werden können, hielten dem aber ein patriotisches Argument entgegen : « Ich finde hier nichts zu bedauern, sondern freue mich, daß das Schicksal dem deutschen Boden an diesem Manne einen ächt-vaterländischen Mahler gegönnt hat. »43 Bereits 1728 hatte Heinrich Conrad Arend in seiner Dürer-Monografie Vasari vorgeworfen, die Verdienste nicht italienischer Künstler herabzuwürdigen herunterzumachen.44 1853 bezog sich der Maler und Kunsthistoriker Ernst Förster in seiner gross angelegten Geschichte der deutschen Kunst auf Vasaris Spekulation, um die « kläglichen und schmählichen » Verhältnisse in Deutschland anzuprangern und den Mangel an Förderung zu beklagen : « Was wäre die deutsche Kunst, hätte sie einen Leo [ Papst Leo X. ] gefunden, oder wäre in die freie Reichsstadt Nürnberg ein wenig von dem Geiste der italienischen Republiken gefahren ! »45 1893 fertigte Wölfflin solche Spekulationen kurz und bündig ab : « Es
ist Thorheit zu verlangen, er hätte malen sollen wie die Italiener, und er wäre wohl ein großer Künstler geworden, wenn er in Rom hätte lernen können. »46 Die Überlegenheit der italienischen Kunst und die wertende Gegenüberstellung von Raffael und Dürer wurden für die deutsche Kunsthistoriografie zu einem strapaziösen Problem. Zwar hob Joachim von Sandrart 1675 in der Teutschen Academie die Nation, ihre Künstler und das kunstliebende Publikum mit prunkvoller Rhetorik über jeden Vergleich hinaus : « Der Welt-berühmten Teutschen Nation
Höchst und Hoch-Preisswürdigen Hoch- Fürtrefflichen Kunst / Helden und Kunst liebenden ». Die grossen Helden und Geister dieser « theuren Teutschen Nation » kamen an die Seite der Italiener, doch der höhere Rang ihrer Kunst konnte nicht glaubhaft bestritten werden.47 Der Kupferstecher Georg Wolfgang Knorr erfand eine imaginäre Unterhaltung zwischen Raffael und Dürer im Paradies, die er 1738 in einem schmalen Band mitsamt den Porträts der beiden Künstler vorlegte.48 Die Versuche zur Aufwertung des deutschen Künstlers gegenüber dem am höchsten geschätzten italienischen Maler wiederholten sich bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus. Höhepunkte waren die Begegnung von Dürer und Raffael in Wackenroders und Tiecks Herzensergießungen von 1797 und Franz Pforrs Zeichnung Dürer und Raffael vor dem Thron der Kunst, die 1832 gedruckt erschien.49 Im Begleitheft wird darauf hingewiesen, dass die allegorische Komposition die ewigen Verdienste der beiden Künstler und die « Verschmelzung des Altdeutschen und Altitaliänischen » für die neuere Kunst aufzeige.50 Die physische Ähnlichkeit von Raffael und Dürer offenbarte der Galerieinspektor Johann Christian von Mannlich 1810 in der Münchner Hofgartengalerie mit Dürers Selbstbildnis und Raffaels Bildnis Bindo Altoviti, das dem Kronprinzen Ludwig gehörte und als Selbstbildnis Raffaels galt.51
Für Johann Gottlob von Quandt war dies 1819 Anlass für eine gegensätzliche Charakteristik des « begeisterten » Italieners und des « seelenvollen » Deutschen, die beide ihr Volk repräsentieren sollen : « Ihre Bildnisse zeigen jedes eigenthümliche Grösse ; beyde sind als Repräsentanten ihres Volks und des Kunstcharakters, den sie in ihrem Volke weckten, zu betrachten. »52 Friedrich Overbecks Gemälde Italia und Germania, das im Dürer-Jahr 1828 vollendet wurde, belebte die Hoffnung, die deutsche Kunst könne der italienischen gleichwertig werden.53 Einstweilen erhielt Dürer die Prädikate « deutsch » und « fromm » zur Auszeichnung gegenüber Raffael, der seit Vasari als Frauenheld galt. 1844 legte die Real-Encyklopädie einen längeren Artikel über Dürer vor, der als Quintessenz offerierte : « Ein echt deutscher Künstler war er, zugleich ein frommer Mensch. »54
Die patriotische Dürer-Verehrung wurde durch Reproduktionen, Literatur, Sammlungen, Denkmäler und den Kunsthandel gefördert und zum nationalistischen Dürer-Kult gesteigert, analog zu anderen Künstlerkulten.55 Dem abgöttisch verehrten Dürer verschaffte eine Vielzahl von plastischen Abbildern eine ubiquitäre Präsenz. Mit Christian Daniel Rauchs Monument, 1828 beschlossen und 1840 errichtet auf dem früheren Milchmarkt in Nürnberg, der neu zum Albrecht-DürerPlatz wurde, erhielt erstmals ein Künstler die Ehre eines Standbildes.56 Zu den Förderern dieses Denkmals zählte auch Johann Wolfgang von Goethe.57 1842 erhielt die Walhalla bei Regensburg die Büste Dürers von Christian Daniel Rauch. Weitere Denkmäler finden oder fanden sich in Karlsruhe, Bamberg, Berlin, München, Dresden, Breslau ( Wroc ław ), Hannover und Wien. Auf der Künstlerbalustrade an der Südfassade der Alten Pinakothek stand Dürer neben Jan van Eyck, Hans Memling, Martin Schongauer, Hans Holbein dem Jüngeren und weiteren Vertretern von Malschulen, nach Entwürfen von Ludwig von Schwanthaler ( zerstört 1944 ). An die Nordfassade von Gottfried Sempers Eidgenössischem Polytechnikum in Zürich gelangte Dürers Grisaille-Porträt in die Gesellschaft der Grössen aus Wissenschaft und Kunst.58 1871 kulminierte die Dürer-Verehrung in Deutschland, als die Proklamation des Deutschen Reichs und der 400. Geburtstag des Nürnbergers auf das gleiche Jahr fielen. Dürer wurde zum Künstler des geeinten Deutschlands und zum Stolz der Nation.59 Franz Kugler und die meisten Kunsthistoriker nahmen weiterhin die ästhetische Überlegenheit der italienischen Kunst an. Kugler charakterisierte 1847 den Gegensatz zwischen der italienischen und der « nordischen » Kunst, indem er eine gleichmässige, weder willkürliche noch zufällige Ausarbeitung gegen die nordische Eigenwilligkeit und Fantastik stellte, wovon er allein Dürer ausnahm.60 Problematisiert wurde die Beziehung Dürers zur italienischen Kunst durch Gustav Friedrich Waagen, Direktor der Gemäldegalerie in Berlin. In seinem Handbuch der Geschichte der Malerei von 1862 schildert Waagen die herausragenden Charaktereigenschaften Dürers, hebt ihn als Künstler auf den Rang von Leonardo, Michelangelo und Raffael, als Erfinder auf die Höhe von Raffael und Rubens, als Erforscher der Malerei auf eine Ebene mit Leonardo.61 Er rühmt ihn als « großen Zeichner », nicht ohne Mängel in Bezug auf die Farbenharmonie oder das Gefühl für Schönheit anzuführen, und begründet das Kleinliche seiner Köpfe mit den « engen, kleinlichen, oft selbst drückenden und peinlichen Lebensverhältnisse[ n ] ». Dem « gebildeten Kunstfreund » empfahl Waagen die Werke des höchst tugendreichen Dürer als « treue Spiegel eines edlen, reinen, wahren, echt-deutschen Gemüths ».62 Diese Wölfflins
Qualifizierung verleitete Waagen dazu, die Nachahmung der Italiener in der Historienmalerei als « Verzerrung des germanischen Kunstnaturells » anzuprangern.63 Herman Grimm, der 1866 in Berlin in der Sammlung gemeinverständlicher wissenschaftlicher Vorträge ein Heft über Dürer publizierte, meinte nüchtern, dessen hoher Ruhm sei neueren Datums und seine glanzvolle Erscheinung sei ein Verdienst der heutigen Gegenwart.64 Dürer und Raffael seien Repräsentanten von Deutschland und Italien. Der höchste Wert liege aber weniger im Werk als in der Persönlichkeit, der Verbindung von Person und Werk, womit Dürers Name einen patriotischen Klang erhielt : « Die ihn nicht kennen, denen fehlt ein Theil Kenntniß unserer Geschichte ; die ihn kennen aber, für die muß, wo Dürer genannt wird, sein Name einen Klang haben, als wenn gesagt wird, Deutschland, Vaterland. »65 In seiner Monografie von 1876, deren Erscheinen zur « vierhundertjährigen Jubelfeier der Geburt Dürers » geplant war, zeigte sich Moriz Thausing in Wien über das Interesse befriedigt, das auch « die Gebildeten englischer Zunge für den deutschen Künstlerfürsten » mit zwei neuen Monografien bekunden. Thausing stattete im Vorwort von 1876 nach allen Richtungen Dank ab, an Otto Mündler und Giovanni Morelli.66 Allerdings wunderte sich Thausing über die langen « Störungen », die Dürer von Jacopo de’ Barbari erduldet habe, der künstlerisch auf einer ungleich tieferen Stufe stand.67 Die Behauptung, ein Individuum könne « zu einer Verkörperung des ganzen nationalen Wesens » werden, verführte Thausing zu der Hypothese, dass eine « bestimmte Formenanschauung » eines Individuums umso mehr eine allgemeinere Bedeutung gewinne, je stärker sie sich auspräge.68 Als Beispiele dienten Dürers Meisterstiche, die ihre Popularität nicht nur der künstlerischen Qualität verdanken, sondern vor allem der « tiefen nationalen, der noch tieferen menschlichen Empfindung, in der sie empfangen, aus der sie heraus erzeugt sind ».69 Den nationalistischen Sündenfall, ein Individuum als Repräsentanten eines Volkes oder eines « nationalen Wesens » zu betrachten, haben Quandt und Grimm vorbereitet, und Thausing und viele andere sind ihnen gefolgt.
1886 hielt Robert Vischer, Professor für Kunstgeschichte in Aachen, die ästhetischen Charakteristika und die technologischen Bedingungen der Künste in Deutschland für Voraussetzungen Dürers und wertete dessen Rezeption italienischer Kunst positiv : « Zur vollen Höhe seiner Kraft gelangte Dürer doch nur, indem er sich am Beispiel großer Italiener maß. »70 Für Vischer war die Beziehung Dürers zur italienischen Kunst eine aemulatio, eine fruchtbare Herausforderung. In den Jahren um 1900 erschien eine wachsende Zahl von Arbeiten über Dürers Zeichnungen und Gemälde, seinen Aufenthalt in Basel, die Beziehung zur Antike, die Verbindung mit de’ Barbari, seine Weltanschauung, die Figurenkonstruktion usw., die zu viel-
fachen weiteren Forschungen anregten.71 Die wichtigste Publikation dieser Jahre war die Herausgabe von Dürers Schriften durch Konrad von Lange und Franz Fuhse 1893.72
Nach patriotischen Vorstellungen sollte Dürer zum Besitz des ganzen deutschen Volkes werden. Am 1. Oktober 1885 erschien erstmals Friedrich Pechts Zeitschrift Die Kunst für Alle und blieb sechzig Jahre erfolgreich.73 Dürer wurde fast in jeder Nummer erwähnt, da er als « stärkste Inkarnation des spezifisch deutschen Geistes in den bildenden Künsten » galt, vergleichbar mit Holbein, Rembrandt und Adolph Menzel.74 Der von Julius Langbehn anonym publizierte Bestseller Rembrandt als Erzieher empfahl 1890 eine « künstlerische Bildung » als Gegenmittel gegen den rapiden Verfall « des geistigen Lebens » des deutschen Volkes.75 Die Heilung der Dekadenz wurde vom Supermann erwartet, « dem deutschesten aller deutschen Künstler », wofür wahlweise Dürer oder Rembrandt, Richard Wagner oder Max Klinger propagiert wurden. Für die ästhetische Erziehung des Volkes gründete Hermann Knackfuß, Historienmaler und Kunstschriftsteller, die Künstlermonografien im Verlag Velhagen & Klasing in Bielefeld und Leipzig, die 1896 bereits die grosse Zahl von 17 Bänden erreichten. Beginnend mit Raffael, gefolgt von Peter Paul Rubens, Rembrandt, Michelangelo und Dürer, sollten die Bände dank des niedrigen Preises von zwei bis drei Mark eine weite Verbreitung finden. Zum Ende des Jahrhunderts dokumentierte Max Seliger die religiöse Verehrung Dürers auf dem Umschlag der Zeitschrift Kunstgewerbeblatt : Die Allegorie der Malerei steht als Rückenfigur vor einem Altar, der mit Dürers Selbstbildnis von 1500, Goethes Ermahnung vom Erwerben und Nutzen des Erbes der Väter und vier brennenden Kerzen geschmückt ist. Daran entzündet die Malerei eine eigene Kerze, während wilde Linien die ganze Szene umschlingen ( Abb. 1 ).76
Ferdinand Avenarius, Verleger und Schriftsteller in Dresden, erhoffte sich die breiteste kulturelle Erneuerung in Deutschland vom Dürerbund, für den er mit einem Aufruf im zweiten Septemberheft 1901 der Zeitschrift Der Kunstwart warb.77 Avenarius konfrontierte den allgemeinen wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Aufschwung mit dem Niedergang des « ästhetischen Gefühls » und der Bau- und Handwerkskünste.78 Für deren Erneuerung sollte im Namen des grossen Dürer gekämpft werden, « damit unser Volk dessen würdig werde ».79 Abertausende aus dem deutschen Volk folgten dem Aufruf.80
Hans Thoma schrieb 1903 : « In Dürer erkennen und lieben wir am meisten das deutsche Wesen in der Kunst — bei ihm am meisten können wir fühlen, daß wir in diesem Wesen mit ihm verwandt sind. »81 Wölfflins Dürer-Buch erfuhr 1909 eine Popularisierung durch Johannes Damrich in der Absicht, « die Werke des großen Wölfflins
Abb. 1 Max Seliger : Albrecht Dürers Selbstporträt als Altarbild, 1898, Holzschnitt-Vignette