Iusfull - Staatsdenkerzyklus

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staatsdenkerzyklus Werner Kägi (1909–2005) Lorenz Engi*

Werner Kägi war Rechtsprofessor und zugleich universaler Gelehrter. Sein Nachdenken über Staat und Recht gründet in geistesgeschichtlicher Kenntnis und einem starken persönlichen Ethos. Recht und Staat sind für Kägi an objektive, vorpositive Werte und Normen gebunden. Einen Verfall des Bewusstseins und Respekts für diese objektive Ordnung beobachtete Kägi besorgt .

Werner Kägi wird am 26. August 1909 in Biel geboren1. Seine Jugendzeit verlebt er in Davos. Nach Studienjahren in Zürich, London und Berlin wird er in Zürich zum Doktor promoviert. Es folgt Bank-, Gerichts- und Anwaltspraxis. Während des Krieges leitet Kägi die Juristische Fakultät des Polnischen Internierten-Hochschullagers Winterthur. 1943 habilitiert er sich in Zürich, zwei Jahre später wird er zum ausserordentlichen Professor gewählt (Ordinarius 1952). Er verfasst wichtige Gutachten, in denen er sich für die volle politische Gleichberechtigung der Frau2 und für die Aufhebung der konfessionellen Ausnahmeartikel in der früheren BV (Verbot der Aktivität des Jesuitenordens und der Errichtung neuer Klöster) ausspricht3. Kägi engagiert sich in zahlreichen Organisationen; so gehört er lange Jahre dem Zentralvorstand der Neuen Helvetischen Gesellschaft an, zudem ist er Mitglied der Commission of the Churches for International Affairs des Weltkirchenrates. Von der Universität Bern wird Kägi ein Ehrendoktor in Theologie verliehen (1973), die Hebräische Universität Jerusalem spricht ihm ein juristisches Ehrendoktorat zu (1977). In seinen späteren Jahren engagiert sich Werner Kägi verstärkt politisch, so als Präsident eines Komitees, das eine Volksinitiative für einen besseren Schutz des Lebens (gegen Abtreibung und Sterbehilfe) lancierte4. Am 4. Oktober 2005 stirbt Werner Kägi in Zürich. Kägis Hauptbemühen geht dahin, eine objektive Wertordnung im Recht zu verteidigen. Er wendet

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sich gegen einen juristischen Positivismus und Dezisionismus, der allein das als Massstab nimmt, was jeweils faktisch herrschend ist. Für Kägi sind vorund überstaatliche Werte, die er als objektiv gültig betrachtet, zentral5. In seiner in den Kriegsjahren 1940/41 geschriebenen Habilitationsschrift « Die

* Dr. iur., M.A. (phil.).   1 Zur Biografie Emil Egli, Erbe und Auftrag – Laudatio für Prof. Dr. Werner Kägi, in: Werner Kägi, Recht auf Leben, mit Beiträgen von Emil Egli und Hans Jenny, Stäfa 1983, 7 ff. (Kurzbiografie im gleichen Band auf S. 45); Max Frenkel, Rechtslehrer und Humanist – Zum Tod von Werner Kägi, NZZ vom 7. Oktober 2005, 14; Jakob Frey, Prof. Dr. iur. Dr. theol. h.c. Werner Kägi (1909–2005), in: Schweizerisches Jahrbuch für Kirchenrecht, Band 10/2005, 136–139.   2 Werner Kägi, Der Anspruch der Schweizerfrau auf politische Gleichberechtigung – Gutachten, Zürich 1956.   3 Werner Kägi, Gutachten zuhanden des Bundesrates zum Jesuiten- und Klosterartikel der Bundesverfassung, Bern 1973.   4 Vgl. Werner Kägi, Das Recht auf Leben – ein Menschenrecht, ein Gebot der Staatsräson und der Erhaltung Europas, in: Werner Kägi, Recht auf Leben (Fn. 1), 31 ff.   5 Werner Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates – Untersuchungen über die Entwicklungstendenzen im modernen Verfassungsrecht, Zürich 1945, 47, 158 ff.; ders., Zur Entwicklung des schweizerischen Rechtsstaates seit 1848, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 71 (1952), 173 ff., 175; ders., Zurück zur Verfassung!, Sonderdruck aus dem Jahrbuch « Die Schweiz » 1947, hrsg. von der Neuen Helvetischen Gesellschaft, 3.

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Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates » betrachtet er diese Werte in ihrer Geltung als gefährdet. Grundthema des Buches ist ein Niedergang des Normativen6. Kägi führt dafür verschiedene Gründe an: auf einer philosophisch-weltanschaulichen Ebene sei ein Verblassen absoluter Werte, eine Krise der Ideen festzustellen7. Im Tiefsten handle es sich dabei um eine Krise des Glaubens8. Politisch – so Kägi in den Kriegsjahren mit besonderem Blick auf Deutschland – wolle man Macht und Autorität, immer weniger aber Gesetz und Formalität9. Ferner sei die grössere soziale Dynamik und Differenzierung ein Grund für den Bedeutungsverlust fester Normen10. Resultat ist nach Kägi eine Krise der normativen Verfassung, ein Verfallen der allgemein anerkannten Wertordnung11. Die normative Verfassung hat für Kägi einen mehrfachen Sinn. Sie erstrebt, erstens, eine Ordnung der staatlichen Verhältnisse12. Zweitens begrenzt die Verfassung den Staat und die Staatsgewalt13. Zusätzlich verbürgt die normative Verfassung im Sinne Kägis eine Staatsform von unten, eine demokratische Mitwirkung am Staatsleben14. Viertens schafft die Verfassung als normative Ordnung Beständigkeit und Berechenbarkeit, da sie notwendig

6 Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung (Fn. 5), 9 ff. (insb. 18 ff.).   7 Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung (Fn. 5), 19 ff.   8 Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung (Fn. 5), 22.   9 Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung (Fn. 5), 22 ff. 10 Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung (Fn. 5), 26 f. 11 Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung (Fn. 5), 27 ff. 12 Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung (Fn. 5), 41 f. 13 Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung (Fn. 5), 43 ff. 14 Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung (Fn. 5), 48 ff. 15 Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung (Fn. 5), 51 ff. 16 Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung (Fn. 5), 127 ff.; vgl. 151. 17 Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung (Fn. 5), 150 f. (Herv. i. O.).

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von einer gewissen Dauerhaftigkeit ist15. Im Gegensatz dazu steht eine Idee der Verfassung als rein politisches Recht, als blosser Ausdruck der jeweiligen Machtverhältnisse16. Die Verfassung hat ihren Sinn für Kägi gerade darin, das Politische zu begrenzen:

« Wo vor- und überstaatliche Werte und Ordnungen anerkannt werden, erscheint der Staat als bloss dienende Ordnung, als ‹Notinstitut›, das um des Menschen willen da ist. Diese Auffassung führt notwendigerweise zu einer Verfassung im Sinne einer begrenzenden Ordnung. Das ‹Politische› ist hier nicht eine Kategorie jenseits von Gut und Böse und unableitbar, sondern erhält seine Bestimmung durch die (begrenzten) staatlichen Zwecke. Die Verfassung soll ein Wall sein gegen die Übermarchung des Politischen, ein Schutz des Staates gegen seine Dämonisierung. Auf dem Hintergrund dieser ‹ewigen Ordnung› der Dinge muss auch die Staatsverfassung in ihren Grundprinzipien unveränderlich sein und das Verfassungsrecht grundsätzlich statischen Charakter haben. »17 Für Kägi müssen besonders auch der Demokratie Grenzen gesetzt werden. Das Verfassungsrecht sei in der Demokratie stets gefährdet durch den laten-

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staatsdenkerzyklus ten Absolutismus des Mehrheitsentscheids18. Die demokratischen Prinzipien können auch in eine egalitaristische oder relativistische Richtung überspannt werden. Der Egalitarismus möchte alles, auch das Ungleiche, gleich behandeln; er anerkennt keine Unterschiede19. Der Relativismus verneint alle festen Werte. Er ist damit das Gegenteil echter Toleranz, denn « wahrhaft tolerant kann nur der innerlich Gefestigte sein. »20 Kägi befürwortet eine « konstitutio­ nelle Demokratie », die durch die Gewaltenteilung in einer Balance gehalten wird21. In ihr findet der demokratische Mehrheitswille besonders an den Grundrechten, die für Kägi vorpolitische Gültigkeit haben, seine Grenze. Der Volkswille ist daher auch in einer Demokratie nach Kägi nicht souverän22. Es sei eine ewige Schicksalsfrage der Demokratie, ob es ihr gelinge, den politischen Willen durch das Normative zu leiten, zu läutern und zu begrenzen23. Kägi betont, in Bezug auf Demokratie und Menschenrechte, die Bedeutung gesellschaftlich-moralischer Grundlagen. Durch institutionelle Vorkehrungen allein können diese Werte und Prinzipien nicht garantiert werden. Die Menschenrechte in den Rechtstexten würden toter Buchstabe bleiben, wenn das geistlich-sittliche Fundament fehlt24. Auch die Demokratie ist nicht einfach ein institutionelles Gefüge. Sie ist Staatsform, aber notwendig auch Lebensform25. Die funktionierende Demokratie basiert auf subjektiven Voraussetzungen bei den Bürgern: auf einem Willen zur Freiheit und Selbstbestimmung, staatsbürgerlicher Verantwortung, politischem Urteilsvermögen, einem Geist der Mässigung, einem Geist der sozialen Verantwortung, einem Sinn für Legalität und Gesetzmässigkeit und einem Geist von Treu und Glauben26. Dem entsprechen objektive Voraussetzungen wie eine gewisse soziale Homogenität, ein Minimum gemeinsamer Werte oder auch eine Elite des Geistes und des Charakters27. Kägi betont, dass es in der Demokratie der Autorität bedarf, « einer Elite des Charakters, der Fähigkeit, der Leistung, des Dienstes, der Zivilcourage. »28 Da dem demokratischen Willen Grenzen zu setzen sind, muss auch die Macht des Parlaments im Gewaltengefüge begrenzt werden. Kägi wendet sich gegen einen Gesetzgebungsstaat, in dem der Legislative keinerlei Grenzen gesetzt wären29. Er hebt auch hervor, dass nicht alle Staatstätigkeiten auf Rechtsfunktionen reduziert werden können. Manche Tätigkeiten können nicht in das Schema von

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Rechtsetzung und Rechtsanwendung und nicht ohne Weiteres in das dreiteilige Gewaltenteilungsmodell – mit Legislative, Exekutive und Judikative – eingeordnet werden30. Die Gewaltenteilungslehre muss nach Kägi überhaupt entdogmatisiert werden31. Die Gewaltenteilung ist nicht starr aufzufassen, sondern im Sinne des Grundanliegens einer Mässigung der Macht in der jeweiligen zeitlichen Situation immer wieder neu zu interpretieren. Von der klassischen Dreiteilung muss zu einer umfassenden Gewaltenteilung übergegangen werden32. Diese kennt einerseits viele weiteren Gliederungen innerhalb des Staates als die Teilung in Legislative, Exekutive und Judikative: etwa diejenigen zwischen den Parlamentskammern, zwischen politischer Führung

18 Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung (Fn. 5), 153; ders., Direkte Demokratie in Gefahr?, Zürich 1958, 12; ders., Rechtsstaat und Demokratie (Antinomie und Synthese), in: Demokratie und Rechtsstaat – Festgabe zum 60. Geburtstag von Zaccaria Giacometti, Zürich 1953, 107 ff., 134 ff. 19 Kägi, Direkte Demokratie (Fn. 18), 9 ff. 20 Kägi, Direkte Demokratie (Fn. 18), 14. 21 Oskar Werner Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzips. Ein Beitrag zur Verfassungsgeschichte und Verfassungslehre, Zürich 1937, 224; ders., Demokratie zwischen Individualismus und Kollektivismus, Sonderdruck aus dem Jahrbuch « Die Schweiz » 1946, hrsg. von der Neuen Helvetischen Gesellschaft, 10. 22 Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung (Fn. 5), 157, 182. 23 Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung (Fn. 5), 185. 24 Werner Kägi, Die Menschenrechte und ihre Verwirklichung – Unsere Aufgabe und Mitverantwortung, Aarau 1968, 18. 25 Kägi, Direkte Demokratie (Fn. 18), 6 ff. 26 Kägi, Direkte Demokratie (Fn. 18), 25 ff. 27 Kägi, Direkte Demokratie (Fn. 18), 21 ff. 28 Kägi, Direkte Demokratie (Fn. 18), 23; vgl. dens. (Fn. 24), 33. 29 Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzips (Fn. 21), 222. 30 Vgl. Kägi, Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzips (Fn. 21), 185, 239 f. 31 Werner Kägi, Von der klassischen Dreiteilung zur umfassenden Gewaltenteilung, in: Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit – Festschrift für Hans Huber zum 60. Geburtstag, Bern 1961, 151 ff., 161 ff. 32 Kägi (Fn. 31), 151 ff.

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und Bürokratie innerhalb der « Exekutive », zwischen den verschiedenen Parteien oder den bundesstaatlichen Ebenen33. Sodann rückt unter dem Aspekt der umfassenden Gewaltenteilung auch eine soziale Gewaltenteilung ins Blickfeld, die eine Anhäufung zu grosser Macht im gesellschaftlich-privaten Bereich verhindert34.

33 Kägi (Fn. 31), 166 ff.; ders., Zur Entwicklung des schweizerischen Rechtsstaates (Fn. 5), 226 f. 34 Kägi (Fn. 31), 170. 35 Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung (Fn. 5), 158. 36 Kägi, Rechtsstaat und Demokratie (Fn. 18), 132 ff. 37 Kägi, Rechtsstaat und Demokratie (Fn. 18), 138. 38 Kägi, Rechtsstaat und Demokratie (Fn. 18), 135 f. 39 Kägi, Rechtsstaat und Demokratie (Fn. 18), 133.

Bestimmend für Kägis Denken ist die Idee vorstaatlicher Werte und Normen, an denen das staatliche Handeln und besonders der demokratische Mehrheitsentscheid ihre Grenze finden. Es gibt ewige Ordnungen und Werte, die der Staat beachten muss35. Diese Grundwerte machen die Idee des Rechtsstaates aus. Der Rechtsstaat darf nicht rein formal, sondern muss inhaltlich verstanden werden36. In dieser Form verbindet er sich mit der Demokratie. Diese kann nur als rechtsstaatlich geordnete bestehen37. « Auch die oberste Instanz ist an die Grundwerte des Rechtsstaates gebunden, das heisst normativ beschränkt. Dem absolutistischen Axiom des unbeschränkten pouvoir constituant wird also das rechtsstaatliche Axiom einer durch materiale Grundnormen begrenzten obersten Rechtsautorität gegenübergestellt. »38 Die Schicksalsfrage des Abendlandes lautet, ob diese Grundwerte, die den Staat binden, erkannt und respektiert werden, oder ob ein Prozess der Wertrelativierung irreversibel ist39.

Schulthess Verlag Rechtsgeschichte II Juristische Zeitgeschichte 3. Auflage Marcel Senn / Lukas Gschwend Die Juristische Zeitgeschichte ist ein besonderer Teil der Rechtsgeschichte. Das vorliegende Buch ergänzt die «Rechtsgeschichte – ein kulturhistorischer Grundriss», das 2007 in vierter Auflage erschienen ist. Anhand von 158 Quellentexten werden die zentralen Themen des Rechts auf historische Problemstrukturen in der Ideen-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zurückgeführt und in neun strukturierte und kurz kommentierte Lesediskurse gestellt. Zudem wird die Methode der Quelleninterpretation eingehend erläutert, sodass die Leserinnen und Leser als Interpreten der Rechts- und Juristischen Zeitgeschichte die Texte auch weitgehend selbständig analysieren können. Autoren: Prof. Dr. Marcel Senn Prof. Dr. Lukas Gschwend

Erschienen

Februar 2010

ISBN

978-3-7255-6018-9 342 Seiten, gebunden

Preis

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CHF 75.00 / EUR 54.00

Schulthess Juristische Medien AG Zwingliplatz 2, Postfach CH-8022 Zürich/Switzerland

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