Schweizerisches Bundesstaatsrecht

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路 FLEINER / GIACOMETTI

SCHWEIZERISCHES BUNDESSTAATSRECHT


-sCHWEIZ-ERISCHES BUNDESSTAATSRECHT VON

DR. Z. GIACOMETTI PROFESSOR DER RECHTE AN DER UNIVERSITäT Zl:JRICH

NEUBEARBEITUNG DER ERSTEN HäLFTE DES GLEICHNAMIGEN WERKES VON

DR. F. FLEINER t EHEMALS PROFESSOR DER RECHTE AN DER UNIVERSITÄT Zl:JRICH

POLYGRAPHISCHER VERLAG AG. ZURICH ·


Buchdruckerei Effingerhof A.G. Brugg

Alle Rechte vorbehalten Z端rich 1949


Zum hundertj채hrigen Jubil채um der schweizerischen Bundesverfassung


-Vorwort. Als Fritz Fleiner, mein hochverehrter Lehrer und Freund, im Oktober 1937 nach einem an wissenschaftlichen und Lehr-Erfolgen reichen Leben plötzlich abberufen wurde, stand er mitten in der Arbeit an der schon lange geplanten Neuauflage seines großangelegten Schweizerischen Bundesstaatsrechtes. Er hatte mich aber gebeten, für den Fall, daß er nicht mehr in der Lage sein sollte, d~s Werk selbst zu vollenden, das Begonnene weiterzuführen. Als ich nach Fertig~ stellung meines ·Staatsrechtes der Kantone an diese neue Aufgabe herantrat, stellte es sich heraus, daß eine Neuauflage des Schweizerischen Bundesstaatsrechts von Fritz Fleiner nach so langer Zeit leider · kaum in Frage kommen konnte, und dies umsomehr, da sich im Nachlasse in der Hauptsache außer Material nur Entwürfe zu einer historischen Einleitung .vorfanden. Da,s Erfordernis der Verarbeitung eines inzwischen mächtig angewachsenen Stoffes und .derVerwertung der neueren in reicher Fülle fließenden Literatur sowie die abweichende Einstellung, die ich in manchen Fragen hatte - ein GeneraHonenproblem- verlangten vielmehr eine neue Darsteilung des Bundesstaatsrechtes. _Auch Fritz Fleiner hatte eine volle Umgestaltung seines Buches geplant. Da ich aber mein gegebenes Versprechen unbedingt halten wollte, entschloß ich mich, eine neue Darstellung des schweiz~rischen Bundesstaatsrechtes auf der Grundlage des Werkes von Fleiner, also im Sinne einer Neubearbeitung seines Buches zu versuchen. Dabei beschränkte ich die Aufgabe auf eine Darstellung des eigentlichen Bundesstaatsrechtes, des Bundesverfassungsrechtes, miter Ausschluß des Bundesverwaltungsrechtes, das v·o n Fleiner in der zweiten Hälfte seines Werkes (S. 460 ff.) behandelt worden war. Der Grad dieser Neubearbeitung ist nun naturgemäß mit Bezug auf die einzelnen Materien des Bundesstaatsrechtes sehr verschieden. Für einzelne Gebiete konnten wesentliche Stücke des Werkes vön Fleiner übernommen und in das neue Buch hineinverarbeitet werden; das gilt vor allem für die historische Einleitung und für verschiedene Teile des Abschnittes über die Bundesbehörden und Bundesbeamten sowie für den Unterabschnitt über die Religionsfreiheit. Andere Gebiete, wie die Kapitel über die Bundesverfassung, über Bund und Kantone, über die Rechtssetzung und Rechtsprechung sowie die Ab-


VIII

Vorwort.

schnitte über die Rechtsgleichheit, über einzelne Freiheitsrechte, in erster Linie über die Handels- und Gewerbefreiheit, und über die Stimmberechtigten sind hingegen in der Hauptsache neu. Rund 175 Seiten des vorliegenden Werkes (Text und Anmerkungen) wurden aus dem \Verk von Fleiner übernommen. Auch im übrigen ist das neue Buch dem Bundesstaatsrecht von Fleiner vielfach verpflichtet. In der Wissenschaft baut eben der eine auf den Schultern des andern weiter. Es war aus technischen Gründen nicht möglich, alle übernommenen Partien äußerlich kenntlich zu machen. Das konnte vielmehr nur für größere zusammenhängende Stücke des übernommenen Textes erfolgen; diese sind in eckige Klammern gesetzt. Entsprechend der geschilderten Sachlage zeigt denn auch das vorliegende Werk, ganz abgesehen von den durch die Rechtsentwicklung bedingten Xnde~ungen, vielfach ein neu es Gesicht, so in methodologis.cher, systematischer, theoretischer Hinsicht. Auch der Umfang der Darstellung des eigentlichen Bundesstaatsrechtes hat sich verdoppelt. Eines aber ist gleich geblieben wie in Fleiners Bundesstaatsrecht: Die · grundsätzliche liberal rechtsstaatliche Einstellung, deren wichtigster Exponent Fritz Fleiner in unserem Lande war und die er als kostbares Vennächtnis hinterlassen hat._ In diesen düsteren Novembertagen jährt sich zum hundertsten Mal der Tag, an dem die Bundesverfassung in Kraft gesetzt und damit der schweizerische .Bundesstaat gegründet wurde. Das hundertjährige Jubiläum der Bundesverfassung wurde denn auch in unserem festfrohen Lande gebührend gefeiert und· das große Werk von 1848 nach Verdienst gerühmt. Trotzdein lag über der Jahrhundertfeier der Bundesverfassung · ein dunkler Schatten, den auch die schönsten Festreden nicht zu verscheuchen vermochten. Denn was würden die Väter der Bundesverfassung sagen, we:nn sie wiederkehrten? Sie sähen zwar, welche reife Frucht ihre Saat getragen, wie sehr ihr weises Werk gediehen und sich in stürmischer Zeit bewährt hat. Sie würden aber andererseits feststellen müssen, daß den Lippenbekenntnissen zur Bundesverfassung, wie sie besonders auch anläßlich der Verfassungsfeier getan worden sind, die Tat nicht immer entspricht, daß es mit der Verfassungstreue in der Eidgenossenschaft nicht mehr immer zum Besten bestellt ist. Mit Konsternation müßten die Väter der Bundesverfassung bei aller gebührenden Berücksichtigung. der malicia temporis und der politischen Notwendigkeiten insbesondere die Überwucherung einer verfassungswidrigen Dringlichkeits- und Notrechtspraxis konstatieren - die Legitimität vermag


Vorwort.

IX

eben die Legalität nicht zu ersetzen - und wahrnehmen, wie das sogenannte Notrecht die Bundesverfassung immer mehr in den Schatten stellt, ja daß die häufige Anrufung dieses Notrechtes für alle möglichen Zwecke nicht nur eine allmähliche Abwertung der Bundesverfassung sondern dieses Notrechtes selber bewirkt. Mit Bestürzung würden die Väter der Bundesverfassung feststellen, wie die Verfassungspraxis der Bundeslegislative ,und der Bundesverwaltung das juristische Erbteil des neunzehnten Jahrhunderts, die Rechtsstaatsidee, nicht mehr immer richtig wahrt. Sie müßten sich zweifellos wundern, daß nicht einmal die Friedensinsel Schweiz, wo die' Voraussetzungen hiefür geradezu ideal waren, dem allgemeinen Zug der Zeit auf Zertrümmerung der Rechtsstaatlichkeit, dieser Garantie der individuellen, politischen und föderalistischen Freiheit sowie der Kultur überhaupt, genügend widerstehen konnte. Einen der Gründe dieser Rechtsdekadenz würden die Väter der Bundesverfassung. wohl in dem Umstande erblicken, · daß die Fähigkeit zum verfassungs rechtlichen Denken immer mehr abhanden zu kommen scheint. Das verfassungsrechtliche Denken wie das juristische Denken überhaupt · ist aber ein grundsätzliches Denken. Der Grundsatz der grundsätzlichen Grundsätzlichkeit muß dementsprechend der Maßstab, der kategorische Imperativ für jede Rechtspraxis sein. Demgegenüber müßten die Väter der Bundesverfassung, wenn sie wiederkehrten, offensichtlich feststellen, daß die Grundsätzlichkeif der Verfassungspraxis der Bundeslegislative und Bundesverwaltung öfters gru:ndsatzlos erscheint. Ja es wäre vielleicht möglich, daß ~ie darüber hinaus mitunter die Grundsätzlichkeif bei dieser Verfassungspraxis überhaupt vermissen und finden würden, daß die erwähnte Praxis gelegentlich den Eindruck macht, als ob sie vom Grundsatz der grundsalzlosen Grundsatzlosigkejt beherrscht sei. Ja es ließe sich ferner fragen, ob die Väter der Bundesverfassung nicht die düstere Ahnung beschliche, daß bei Fortführung dieser verfassungswidrigen Praxis die Zeit kommen könnte, da man sogar das Gefühl haben müßte, als ob die Verfassungspraxis vereinzelt vom Grundsatz der grundsätzlichen Grundsatzlosigkeit geleitet werde.

Zürich, im November 1948.

Z. Giacometti


Abkürzungen. AS

== .Amtliche Sammlung der Bundesgesetze. Die Bände 1848 bis

1874 werden in diesem Buche mit lateinischen Ziffern I-XI zitiert, die Bände 1874 f. mit arabischen Ziffern und Seitenzahlen; z. B. 30, 347. BB Bundesbeschluß Bundesblatt BBl Bundesgesetz BG Bundesgerichtsentscheidungen BGer BRB Bundesratsbeschluß BStPO = Bundesgesetz von 1934 über die Bundesstrafrechtspflege "Burekhardt Burckhardt: Schweizerisches Bundesrecht (Staats- und verwaltungsrechtliche Praxis des Bundesrates und der Bundesversammlung 1903---1926; Fortsetzung des Werkes von Salis) Bundesverfassung BV _ Einführungsgesetz EG Gesch.Ber. Geschäftsbericht des Bundesrates an die Bundesversammlung . HWB = Reiqhesbergs Handwörterbuch der schweiz. Volkswirtschaft KV = Ka'ritcinsverfassung · MO = Militärorganisation der schweizerischen Eidgenossenschaft von 1907 MStGO == Militärstrafgerichtsordnung von 1889 MStG = Militärstrafgesetz von 1927 Neue Folge NF Nationalrat NR Org·anisationsgesetz d. h. Bundesgesetz über die OrganisaOG tion der Bundesrechtspflege v:on 1943 0 bliga tionenrech t OR Organisationsbeschluß OrgBeschl Politisches Jahrbuch der Eidgenossenschaft Polit.Jbcll DiePraxis des Bundesgerichts, Monatliche Berichte seit1912 Praxis v. Salis: Schweizerisches Bundesrecht (Staats- und verwalSalis tungsrechtliche Praxis des Bundesrates und der Bundesversammlung 1874-1902) Schweizerische Bundesbahnen SBB . Schweizerische Juristenzeitung Schweiz.J ur.Ztg. Schuldbetreibungs-und Konkursgesetz SchKG Schweizerisches Strafgesetzbuch StGB Amtliches stenographisches Bulletin der BundesversammSten.Bull. lung StR Ständerat Ullmer = Ullmer: Staatsrechtliche Praxis der Bundesbehörden (1848 bis 1863) vv Vollziehungsverordnung Verh. Verhandlungen der Bundesversammlung Verwaltungsentscheide Verwaltungsentscheide der Bundesbehörden (seit 1927) Zentralblatt Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Gemeindeverwaltung ZschrR Zeitschrift für Schweizerisches Recht, neue Folge ZGB Zivilgesetzbuch

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- Inhaltsverzeichnis Seite

t

Historische Einleitung 1. Kapitel.

Die ßundesvet•fassung. § 1. Begriff, Geltungsgrund, Aufbau und Form der Bundesverfassung § 2. Die Bundesverfassung als Verkörperung der schweizerischen

21 30

Staatsidee 2. Kapitel.

Bund und Kantone oder der föderalistische Aufbau der Eidgenossenschaft. 1. Abschnitt.

Die Dezentralisation des Bundes durch die Kantone. § 3. Die rechtliche Natur von Bund und Kantonen . § 4. Die rechtliche Stellung der Kantone als Selbstverwaltungskörper

36

des Bundes .

48

2. Abschnitt.

Eidgenössischer Kompetenzbereich und eigener Wirkungskreis der Kantone. § § § §

5. 6. 7. 8.

Die Ausscheidung -d er Kompetenzen -zwischen Bund und Kantonen Die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes. Der Grundsatz: Bundesrecht bricht kantonales Recht Die Kompetenzen des Bundes im Gebiete der Verwaltung und der Rechtsprechung

65 83 92 103

3. Abschnil t.

Der übertragene Wirkungskreis der Kantone. § 9. Die Mitwirkung der Kantone an der Bildung des obersten Bundeswillens

§. 10. Die Gesetzesdelegation des Bundes an die Kantone . § 11. Die Kantone als Vollzugsorgane des. Bundes

109 118 125

4. Abschnitt.

Bundesaufsicht, Bundesexekution, eidgenössische Intervention. § 12. Die Bundesaufsicht über die Kantone § · 13. Die Bundesexekution . § 14. Die eidgenössische Intervention

127 143 148


XII

Inhaltsverzeichnis.

5. Abschnitt.

Die Beziehungen der Kantone unter sich. Seite

§ 15. Die interkantonalen Verträge . §. 16. Die gegenseitigen Hilfsp.flichten der Kantone § 17. Die Abgrenzung der kantonalen Gebietshoheiten, insbesondere

159 165

167

der Steuerhoheiten 3. Kapitel.

Das Schweizerbiirgerrecht. § ·18. Die Kompetenzen des Bundes im Gebiete des Bürgerrechtes und das Verhältnis zwischen Schweizer- und Kantonsbürgerrecht

§ 19. Der Erwerb des Schweizerbürgerrechtes . § 20. Der Verlust des Schweizerbürgerrechtes . § 21. Die Wiederaufnahme in das Schweizerbürgerrecht.

§ 22. Das Schweizerbürgerrecht im internationalen Verkehr § 23. Der Inhalt des Bürgerrechtes . ·

177 184 201 210 217 222

4. Kapitel. Fr~iheits•·echte

urid Rechtsgleichheit.

1. Abschnitt.

Die Freiheitsrechte. § 24. Allgemeines

240 1. Unterabschnitt.

Die Niederlassungsfreiheit.

§ 25. Der Begriff und die VoraussetzungEm der Niederlassungsfreiheit § 26. Der Entzug der Niederlassung . § 27. Die politischen Rechte der Niedergelassenen

248 260 269

2. Unterabschnitt.

Die Handels- und Gewerbefreiheit.

§ 28. Die Handels- und Gewerbefreiheit bis zum Jahre 1947 . § 29. Der Begriff und Inhalt der Handels- und Gewerbefreiheit . § 30. Die polizeilichen Schranken der Handels"' und Gewerbefreiheit

274 281 303

3. Unterabschnitt.

Die Religionsfreiheit.

§ 31. .Allgemeines § 32. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit § 33. Die Kultusfreiheit

310 315 334


Inhaltsverzeichnis.

XIII Seite

§ 34. Die Aufrechterhaltung des Religionsfriedens . § 35. Die Laisierungsvorschriften der Bundesverfassung · § 36. Die Beschränkungen des Konfessionalismus, insbesondere das Ordensverbot der Bundesverfassung

338 34:5

354

4. Unte.rabschnitt.

Die Preß-_, Vereins-, Petitions- und Spracl1enjreiheit.

§ § § §

37. 38. 39. 40.

Die Die Die Die

Preßfreiheit Vereinsfreiheit Petitionsfreiheit Sprachenfreiheit

364 375 388 390

2. Abschnitt.

Die Rechtsgleichheit § 41. Die allgemeine Bedeutung der Rechtsgleichheit § 42. Die Rechtsgleichheit in der Praxis des Bundesgerichtes

401 411

5. Kapitel.

Die Organe des Bundes. 1. Abschnitt.

·Die Stimmberechtigten. § § § §

43. 44. 45. 46.

Der Begriff des Stimmrechtes und der Stimmberechtigten . Die Voraussetzungen des Stimmrechtes Der Inhalt des Stimmrechtes . Die Grundsätze des Verfahrens bei der Ausübung des Stimmrechtes

428 430 443 447

2. Abschnitt.

Die Bundesorgane im engeren Sinne: Bundesbehörden und Bundesbeamte. § 4 7. Allgemeines § 48. Die Trennung der Gewalten

457 470

J. Un,t,erabschnitt.

Die Bundesversammlung.

§ § § § § § §

49. 50. 51. 52. 53. 54. 55.

Das Zweikammersystem Der Nationalrat Der Ständerat Die rechtliche Stellung der Mitglieder dt>r Bundesversammlung Die Zuständigkeiten der Bundesversammlung . ' Der Geschäftsgang der Bundesversammlung Die Vereinigte Bundesversammlung

477 4 79 503 50g 518 542 564


XIV

Inhaltsverzeichnis. 2. Unterabschnitt.

Der Bundesrat. Seite

§ §. § §

56. 57. 58. 59.

Die rechtliche Stellung des Bundesrates und seiner Mitglieder . Die Zuständigkeiten des Bundesrates . ~ollegialsystem und Geschäftsgang des Bundesrates Die Departemente des Bundesrates

568 583 592 607

3. Unterabschnitt.

Die Gerichtsbehörden des Bundes.

§ 60. Das Bundesgericht § 61. Die Spezialgerichte des Bundes .

62H 639

4. Unterabschnitt

Die Blindesbeamten. § 62. § 63. § 64. § 65.

Der Begriff des Bundesbeamten . Die Begründung und Beendigung des Beamtenverhältnisses Die Pflichten und Rechte der Bundesbeamten . Die rechtliche Verantwortlichkeit der Bundesbeamten .

646 681 ·671 688

6. KapiteL

Die Reehtssetzung des BUndes. 1. Abschnitt.

Die Verfassungsgesetzgebung. § 66. Der Begriff und die rechtliche Natur der Revisionsvorschriften der Bundesverfassung . ·. § 67. Der Begriff und die Schranken der Total- und Partialrevision der Btmdesverfassung . · §. 68. Die Totalrevision der Bundesverfassung § 69. Die Partialrevision der Bundesverfassung .

700 703 708 718

2. Abschnitt.

Die einfache Gesetzgebung. § 70. Das Bundesgesetz und der allgemein verbindliche nicht dringliche Bundesbeschluß . § 71. Das Verfahren der einfachen Bundesgesetzgebung .

738 751

Anhang zu Abschnitt 1 und 2.

§ 72. Die Ergebnisse des Referendums und der Volksinitiative

763


Inhaltsverzeichnis.

XV

3. Abschnitt.

Die Verordnung. § 73. Allgemeines § 74. Die selbständige Rechtsverordnung der Bundesversammlung.

Seite

770

1. Der allgemein verbindliche dringliche Bundesbeschluß oder

die intrakonstitutionelle Notverordnung der Bundesversammlung ·

775

§ 75. Die selbständige Rechtsverord~ung der Bundesversammlung. 2. Die extrakonstitutionelle Notverordnung der Bundesversammlung

786

§ 76. Die selbständige Rechtsverordnung des Bundesrates . § 77. Die unselbständigen Rechtsverordnungen . § 78. Die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen

790 794 805

4. Abschnitt.

Die Staatsverträge. § 79. Die Kompetenz des Bundes zum Abschluß von Staatsverträgen § 80. Das staatsrechtliche Verfahren bei Abschluß von Staatsverträgen

810 817

7. Kapitel.

Die Rechtsprechung des Bundes. § 81. Die Rechtsprechung des Bundes im allgemeinen

833

1. Abschnitt.

Die Zivil- und Strafrechtspflege des Bundes. § 82. Die Zivilgerichtsbarkeit des Bundes § 83. Die Strafgerichtsbarkeit des Bundes . § 84. Die allgemeinen Justizgrundsätze der Bundesverfassung

83() 843 856

2. Abschnitt.

Die Staatsrechtspflege des Bundes. § 85. Die Kompetenzgerichtsbarkeit des Bundesgerichtes § 86. Die Beurteilung staatsrechtlicher Streitigkeiten zwischen Kantonen durch das Bundesgericht

§ 87. Die Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundesgerichtes § 88. Die übrige Staatsrechtspflege des Bundesgerichtes . § 89. Die Staatsrechtspflege des Bundesrates und der Bundesversammlung

871 877 881 899 902


XVI

Inhaltsverzeichnis. 3. Abschnitt.

Die Verwaltungsrechtspflege des Bundes. Seite

§ 90. Allgemeines § 91. Die Verwaltungs- und Disziplinarrechtspflege des Bundesgerichtes

904 909

§ 92. Die Verwaltungs- und Disziplinarrechtspflege der Bundesverwaltungsbehörden und der Bundesversammlung

922

4. Ab.s chnitt.

Das richterliche Prüfungsrecht § 93. Die Bindung des Richters an die Bundesgesetze und allgemein § 94. Die richterliche Prüfung der Bundesverordnungen .

verbindlichen Bundesbeschlüsse

'931 935

Sachregister .

940


Historische Einleitung. · [1. Bis zur französischen Revolution bestand die schweizerische Eid~

genossenschaft, deren Anfänge bis in das 13. Jahrhundert (1291) hin-. aufreichen, aus einer losen Vereinigung bäuerlicher und städtischer, germanischer und romanischer Gemeinwesen 1 : den Orten 2, Zuge- · wandten 8 und gemeinen Herrschaften. Deren wechselseitige Beziehungen und HUfsverpflichtungen waren nicht durch eine einheitliche Bundesverfassung, sondern durch eine Anzahl einzelner · Bündnisverträge geregelt 4• . Der durch die Reformation entfachte konfessionelle Gegensatz wurde durch den Grundsatz der Parität der Konfessionen und die konfessionelle Abschließung der Orte in ein 1

Aus der verfassungsgeschichtlichen Literatur sind hervorzuheben: Si m I er- Leu: Von dem Regiment der Lobl. Eidgenossenschaft, 1722. BI u n t s c h I i: Geschichte des schweizerischen Bundesrechts, I. (2. Aufl.) 187 5, li. (Urkundenbuch), 1852. J o h an n es M e y er : Geschichte des schweizerischen Bundesrechfes, 2 Bde. 1875/78. BI u n t s c h I i: Staatsund Rechtsgeschichte der Stadt und Landschaft Z.ürich, 2 Bde. 1838/39; 2. Aufl. 1856. J. J. BI um er : Staats- und Hechtsgeschichte der schweizerischen Demokratien oder der Kantone Uri, Schwyz, Unterwalden, Glarus, Zug und Appenzell. 2 Bde. 1850/58. An t o n Phi I i p p von Se g esse r : Rechtsgeschichte der Stadt und Republick Lucern, 4 Bde. 1850/58. K. H i I t y : ~ie Bundesverfassungen der schweizerischen ~idgenossenschaft, 1891. Andre a s HeusIe r: Schweiz. Verfassungsgeschichte, 1920. E. His: Geschichte des neueren schweiz. Staatsrechts, 1798-1914. 3 Bde., 1920, 1929, 1938. W. Rappard: L'individu et l'etat dans l'evolution constitutionnelle de la Suisse, 1936. K. M e y er : Die Entstehung der schweiz. Eidgenossenschaft, 1941. A. G a s s e r : Entstehung und Ausbildung der Landeshoheit im Gebiete der schweiz. Eidgenossenschaft, 1930. Von den Darstellungen über politische Geschichte seien erwähnt: J. D i e r a u er : Geschichte der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 5 Bde. 1887/1917. E. Gagliardi: Geschichteder Schweiz, 2 Bde. 1937. ';V. Oechsli: Geschichte der Schweiz im 19. Jahrhundert, 2 Bde. 1903/13. H. Schneider: Geschichte des schweiz. Bundesstaates, 1848-1918, erster Halbband 1931. H. N a n ·h o I z , L. v. Mur a I t , R. F e II er, E. B o n j o ur : Geschichte der Schweiz, 1938. A. L a r g i a der : Geschichte von Stadt und Landschaft Zürich, 2 Bde., 1945. G. Guggenbühl: Gesch. d. Schweiz, 2 Bde., 1947/8. 2 W. 0 e c h s I i: Die Benennungen der alten Eidgenossenschaft und ihrer Glieder, Jahrb. f. Schweiz. Geschichte Bd. 41 (1916) und 42 (1917). 8 W. 0 e c h s I i : Orte und Zugewandte, Jahrb. f. Schweiz. Geschichte Bde. 13 (1888). 4 Hans Weber : Die Hilfsverpflichtungen der XIII Orte, Jahrb. f. Schweiz. Geschichte Bd. 17 (1892). 2 Fleiner I Giacometti, Bundesstaatsrecht


Historische Einleitung.

2

n1echanisches Gleichgewicht gebracht 5• Fast gleichzeitig zog sich die Eidgenossenschaft aus den Welthändeln zurück, in die sie sich vermöge ihrer militärischen Überlegenheit seit dem 15. Jahrhundert hatte hineinziehen lassen, und gewann in der von ihr freigewählten Neutralität (dem ,,Stillesitzen") die 1\tlaxime ihrer auswärtigen Politik 6 • Mit der Ablösung vom deutschen Reichsverband (1648} sicherte sie sich auch nach dieser Seite ihre Unabhängigkeit. Die französische Revolution zertrümmerte dieses Staatengebilde (1798). Der französische Feldzug nach der Schweiz verfolgte die Absicht, ein strategisch wichtiges Gebiet als Glied in die Kette der Frankreich vorgelagerten Republiken (cisalpine-, ligurische-, batavisehe Republik) einzuordnen und unter französischen Einfluß zu bringen. Daraus ergab sich für die Pariser Gewalthaber die Notwendigkeit, die politischen Einrichtungen der Schweiz denen Frankreichs anzupassen. Demgemäß führte die in Paris ausgearbeitete Verfassung der helvetischen -Republik (Republique Helvetique une . et indivisible) vom 12. April 17•98 in der Schweiz den Einheitsstaat nach französischem Vorbild ein 7 und verhalf den französischen liberalen und demokratischen Revolutionsideen zum Durchbruch auch in der,Schweiz 8 . Die ehemals regierenden Orte und deren abhängige Landschaften, die gemeinen Herrschaften und die Zugewandten gingen, soweit sie sich Frankreich nicht selber aneignete, auf in dem einen, unteilbaren Staat und bildeten fortan als Kantone dessen Verwaltungsbezirke. Die Idee der helvetischen Einheit war jedoch einem Volke fremd, das sich in die Mannigfaltigkeit seiner jahrhundertealten Daseinsforn1eri eingelebt hatte. Die Periode der Helvetik (1798 bis 1803) war deshalb eine Zeit ununterbrochener Verfassungskrisen und leidenschaftlicher Parteikämpfe; infolge ihrer Abhängigkeitvon Frankreich wurde die Schweiz zum Schauplatz der gegen Frankreich gefÜhrten Koalitionskriege. Beim Abzug der französischen 5

L. R. v. S a 1 i s : Die Entwicklung der Kultusfreiheit in der Schweiz, 1894. F. F 1 einer : Die Entwicklung der Parität in der Schweiz. (Ztschr. f. Schw. .R. n. F . 20, 97). 6 Pa u 1 S c h w e i z er : Geschichte der Schweizerischen Neutralität, 1895. E . Bonjour: Geschichte der schweizerischen Neutralität, 1946. 7 ' H i 1 t y: Öffentliche Vorlesungen über die Helvetik, 1878. Ed. His: Gesehichte des. neueren Schweiz. Staatsrechts I (1920). Kaiser und Strick1 er: Geschichte ·und Texte der Bundesverfassungen der Schweiz. Eidgenossenschaft von der helvet. Staatsumwälzung bis zur Gegenwart, 1901. \\:-. Oechsli, Geschichte der Schweiz im 19.Jahrh. I (1903), l45f. -Hauptstadt der Helvetik war Aarau. 8 Rappard: L'individu et l'etat S. 58.


Historische Einleitung.

3

Heere stürzte der Einheitsstaat von selber zusammen. Doch ließ ·die Helvetik tiefe Spuren zurück. Der Unterschied zwischen regierenden Orten und regierten Untertanenländern sowie die Vorrechte des Patriziats blieben für alle Zukunft aufgehoben. Grund und Boden der Bauern, Handel und Gewerbe .sahen sich von der alten Gebundenheit befreit und die Rechtsgleichheit aller Bürger zu Stadt und Land wurde zum obersten Grundsatz des öffentlichen Lebens erhoben. Die Ablösung der Grundlasten (Art. 13 der ·helvetischen Verfassung) bahnte zu Gunsten der Bauern,· der freien wie der bisher untertänigen, eine wirtschaftliche Befreiung an 9 • Diese war für die weitere Entwicklung der Schweiz auch politisch von der größten Bedeutung. Denn die städtische Bevölkerung machte kaum den 15. Teil der Gesamtbevölkerung aus. Auf die Helvetik folgte die Zeit der Mediation. Die vom französischen Gewalthaber erlassene Vermittlungsakte (acte de .mediation) vom 19. Februar 1803 gab die helvetische Einheit preis und kehrte zum Prinzip der kantonalen Souveränität, dem ·Föderalismus, zurück, ohne jedoch, wie gesehen, die vorrevolutionären Zustände wieder herzustellen 10• Die dreizehn Orte der alten Eidgenossenschaft erstanden wieder als selbständige Staaten 11 • Aus ehemaligen abhängigen Vogteien, gemeinen Herrschaften und Zugewandten schweifHe der Mediator, zum Teil ohne Rücksicht auf konfessionelle Zusammengehörigkeiten, sechs neue Kantone zusammen (St. Gallen, Graubünden Aargau, Thurgau, Tessin, vVaadtj, so daß sich die neue Schweiz aus neunzehn Kantonen zusammensetzte. Genf und Wallis blieben unter französischer Botmäßigkeit, und auch das Fürstentum Neueuburg fiel in der Folge {1806} an Frankreich. Das politische Schwergewicht wurde in die Kantone zurückverlegt. In den inneren Kantonen feierten die alten Landsge1neinden ihre Auferstehung, in Graubünden wurden die drei alten Bünde mit ihrem Bundestag (nunmehr "Großer Rat" genannt) wiederhergestellt, in den ehemals aristokratisch regierten und in den neuen Kantonen übertrug der 9

Dierauer V 34; His: a. a. 0. I 541 ff. G u s t a v Vogt: Zur Charakteristik der Mediationsakte, 1884. Ed. His: Geschichte des. neuen schweiz. Staatsr,echts I (1920). W. Oechsli: Geschichte der Schweiz im 19. Jahrh. I (1903), 446f. F. v. Wyss: Das Leben der beiden zürcherischen Bürgermeister David v. Wyss, Vater u. Sohri, Bd. I (1884) S. 494 f. . 11 Die Nichtwiederherstellung der Untertänigkeit der Landschaften gegenüber den Hauptstädten bedingte eine Ausscheidung des Vermögens der Hauptstadt von dem des Kantons. Siehe diese Dotations- und AussteuerungslUkunden im Repertorium der Abschiede a. d. Jahren 1803-1813, S. 676 f. • Jo-


Historische Einleitung.

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Mediator die höchste Gewalt einem teils aus -Volkswahlen, teils aus indirekten Wahlen hervorgehenden Großen Rat 12• Der Bund, d. h. die Zentralgewalt, wurde auf die Sorge für die auswärtige Politik und auf die Erhaltung der Ruhe im Innern beschränkt. Die !\fachtmittel, deren der Bund zur Erfüllung seiner ·Aufgaben bedurfte (Militär und Finanzen), mußten ihm von den Kantonen (durch Mannschafts- und Geld-Kontingente) zur Verfügung gestellt werden. Da.s oberste Organ des Bundes wurde wieder ein Gesandtenkongreß der Kantone, die Tagsatzung {la diete); darin war dem Einfluß der großen Kantone (Bern, Zürich, Waadt, St. Gallen, Aargau, Graubünden) durch Zuerkennung von je zwei Stimmen Rechnung getragen, während die übrigen Kantone nur je eine Stimme führten. Die Leitung der Bundesangelegenheiten und der Tagsatzung wechselte von ~lahr zu Jahr zwischen drei reformierten und drei katholischen Direktorialkantonen (Freiburg, Bern, Solothurn, Basel, Zürich, Luzern 13• Im übrigen gewährte die Mediationsakte der Entfaltung konfessioneller Politik keinen Raum. Wie sehr sie auch der historischen Entwicklung der Schweiz entgegenkam, so war sie politisch doch auf die Bedürfnisse Frankreichs zugeschnitten und stellte die Schweiz unter das Protektorat Napoleons. Der Sturz des napoleonischen Kaiserreichs entzog der Mediationsakte im Bund und in den Kantonen die Grundlage ihrer Existenz. Frankreich wurde in seine aiten Grenzen zurückgewiesen. An die Stelle der französischen Hegemonie setzten die Staaten der Koalition das Gleichgewicht der europäischen Mächte und die Legitimität. Die Schweiz trat aus dem französischen Protektoratsverhältnis heraus und verlangte von den europäischen Mächten die Wiederanerkennung ihrer Unabhängigkeit lind Neutralität. llue Forderung wurde erfüllt 14• . "La Suisse, independante, continuera de se gouverner par 12

Die Großen Räte sind organisch aus dem Rate der ,,Zweihundert" der ehemals regierenden Hauptstadt hervorgegangen. Von daher stammte in den Kantonen das Einkammersystem. 13 Das Standeshaupt (Bürgermeister, Schultheiß} führte gemäß der Mediationsakte Art. 27 für die Dauer des Direktorialjahres den Titel eines ,,Landairimanns der Schweiz". Die einzige ständige Bundesinstitution war die eidg. Kanzlei, deren Vorsteher (der eidg. Staatskanzler und der Staatschreiber} von Jahr zu Jahr in den jeweiligen Direktorialkanton übersiedelten. Mediationsakte Art. 38. 14 Zum Folgenden: Pa u I Schweizer: Geschichte der Schweiz. Neu·· tralität, 1895. H i 1 t y: im Polit. Jahrb. II, III, IV. E du a r d Pi c t e t: Biographie, travaux et correspondance diplomatique 'de E. Pictet de Roche- " mont, 1892. Lu c i e n C r a m er: Pictet de Rochemont et Ivernois, Cor-


Historische Einleitung.

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elle-meme", bestimmte schon der erste Pariser Friede vom 30. Mai 1814, und ·der Wiener Kongreß erklärte ·am 20. März 1815 in dem der Schweiz angebotenen "Vergleich" "que l'interet general reclame _en faveur du corps helvetique l'avantage d'une neutralite perpe:: tu eile", und er sprach die Absicht aus, "de lui fournir par des resti-· tutions territoriales et des cessions les moyens d'assurer son independance et maintenir sa neutralite". Demgemäß erhielt die Schweiz alte eidgenössische Gebiete zurück: das vVallis, Genf, das Fürstentum Neuenburg wurden als selbständige Kantone an die Eidgenossenschaft angeschlossen. Das Dappental kan1 wieder an die W aadt 15 , und der Kanton Bern empfing als Ersatz für den Verlust des .Aargaus und der W aadt den größten Teil der Lande des Fürstbischofs von Basel· (mit der Hauptstadt Pruntrut). Zu _Gunsten vo~ Genf stellte der \Viener Kongreß eine vom Königreich Sardinien in Hochsavoyen zu gewährende Gebietsabrundung in Aussicht; die hernach in dem zwischen der Eidgenossenschaft und Sardinien vereinbarten Turiner Vertragvom 16. März 1816 volizogei:l wurde 16• Auf der zweiten Pariser Friedenskonferenz sprachen sodan:ri am 20. November 1815 in einer gemeinsamen Akte die Mächte Österreich, Frankreich, GroßBritannien, Portugal, Preußen und Rußland aufs neue die ·Anerkennung der im1nerwährenden Neutralität der Schweiz aus und sie fügten bei "que Ia neutralite et l'inviolabilite de la Suisse et son independance de toute influence etrangere sont dans les vrais interets de la politique de l'Europe entiere". "'yie diese Erklärung ferner erwähnt, wurde durch den zweiten Pariser Frieden vom 20. November 1815 die Neutralitätszone auf außerschweizerisches Gebiet, nämlich auf das Südufer des Genfersees {Chablais und Faucirespondance diplomatique, 2 Vol. 1914. Dieraue r: Geschichte der Schweiz. Eidgenossenschaft V 351 f. F. v. W y s s: Leben der beiden zürch. Bürgermeister David v. W y s s, II, 1 f. C. v. Muralt: Hans v. Reinhard, 1838, S. 221 f. 0 e c h s I i: Geschichte der Schweiz im 19. Jahrh. II, 245 f. E. Bonj o ur: Geschichte der schweiz. Neutralität, 19.46, S. 138 ff. Die Akten im Repertorium der Abschiede der eidgen. Tagsatzungen aus den Jahren 1814 bis 1848, 2 Bde., bearbeitet von W. F e t s c her in. Lud w i g Sn e ll : Handbuch der schweiz. Staatsrechts, 2 Bde., 1837/44. · · 15 · Die definitive Bereinigung der Grenze im Dappentale kam erst zustande durch einen Staatsvertrag zwischen der Schweiz und ·Frankreich_ vom 8. Dezember 1862 (A. S. VII 449, VIII 77). Vgl. über die Dappental-Angelegenheit: BBI 1860, II, 181, 445; 1862 I 309; 1862 III 551; 1863 I 61,'-III 775; 1864 I 219, 292, 308 f., 521; 1866 I 636; 1867 li 123. 16 Repertorium der eidgen. Abschiede II, S. 817. C. P i c t e t : Pictet de Rochemont 341. Der Turiner Vertrag von 1816 enthält Garantien zugunsten des katholischen Kultus in den an Genf angeschlossenen Landgemeinden.


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gny), ausgedehnt und zur Sicherung Basels die dauernde Schleifung · der Festungswerke von Hüningen angeordnet. Die erwähnte internationale Regelung war möglich geworden, weil die Schweiz aus eigener Kraft ihre Bundesrevision zum Abschluß gebracht hatte. -In dem von den kantonalen Regierungen ohne Volksbefragung vereinbarten Bundesvertrag v o ni 7. August 1815 17 vereinigten sich "die zweiundzwanzig souveränen Kantone der Schweiz zur Behauptung ihrer Freiheit, Unabhängigkeit und Sicherheit _gegen alle Angriffe fremder :Mächte, und zur Handhabung der Ruhe und Ordnung im Innern; sie gewährleisteten sich gegenseitig ihre Verfassungen, so wie dieselben von den obersten Behörden jed~s Kantons, in Übereinstimmung mit den Grundsätzen des Bundesvertrags, werden angenommen worden sein. Sie gewährleisteten sich gegenseitig ihr Gebiet" (Art. 1 des Bundesvertrags). Die Tagsatzung übernahm wiederum die Besorgung der "ihr von den souveränen Ständen übertragenen Angelegenheiten des Bundes". Das verstärkte Stimmrecht der größeren Kantone war beseitigt. Jeder Kanton hatte in der Tagsatzung ein e Stimme. Die Leitung der Bundesangelegenheiten, ,~wenn die Tagsatzung nicht versammelt ist", kam einem Vororte zu. Der Vorort wechselte von zwei zu zwei Jahren unter den Kantonen Zürich, Bern und Luzern; die Kontinuität der Geschäfte wahrte eine eidgenössische Kanzlei (Art. 10 des Bundesvertrags). In der ~ag­ satzung entschied im allgemeinen die absolute Mehrheit der Stände(Kantons)stimn1en; ein Bundesbeschluß kam infolgedessen nur zustande, wenn zwölf Kantone zustimmten. Zu Beschlüssen über besonders wichtige Angelegenheiten (Kriegserklärungen, Friedensschlüsse, Eingebung von Bündnissen mit auswärtigen Staaten) waren dagegen drei Vierteile der Kantonsstimmen erforderlich. Über die Revision des Bundesvertrags selber fehlte eine Vorschrift. Die Bun-. desgewalf, der Bund, war im wesentlichen beschränkt auf die Aufrechterhaltung der Ruhe im Innern, die 'Vahrnehmung der auswärtigen Politik und des diplomatischen Verkehrs. Um dem Bund die Durchführung dieser Aufgaben zu ermöglichen, waren die Kantone zur Leistung von Geldkontingenten (Art. 3) und Stellung kantonaler Truppenkontingente (Art. 2) verpflichtet. Der Föderalismus und die Kantonalsouveränität herrschten so sehr vor, daß die Kantone lediglich "keine dem allgemeinen . Bund! oder den Rechten anderer Kan1

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Rep.e rtorium der eidgen. Abschiede 1814-1848 II, S. 695. Vgl. ferner die OffiZielle Sammlung der das schweizerische Staatsrecht betr. Aktenstücke, 3 Bde., 1830-1849. S t e t t I er: Bundesstaatsrecht der schweiz. Eidgenossen- ' schaftseit 1798, Bern 1847. Blumer-Morel, P, S.66f.


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töne nachteilige Verbindungen'; schließen durften (Art. 6 des Bun. desvertrags), im übrigen aber in ihrer Vertragsfreiheit keine Einschränkung erfuhren. Bei der Ausgestaltung der neuen Kantonsverfassungen fand, wenn nicht eine Rückkehr zum Alten, so doch ein möglichstes Wiederanknüpfen an vorrevolutionäre Zustände statt 18. Die Landsgemeindekantone behielten ihre alten Einrichtungen 19 • In den übrigen Kantonen wurde der Große Rat zum Träger der politischen. Macht erhoben; er sollte das verfassungs- und gesetzgebende Organ sein. In \Vahrheit aber übte der Kleine Rat, d. h. ein vom Großen Rate aus seiner Mitte gewählter Ausschuß von 20-25 Mitgliedern, die Regierungsgewalt und auch den maßgebenden Einfluß auf den Großen Rat aus. Im allgemeinen bestand. in allen ·Kantonen ein gleiches Wahlrecht der· Aktivbürgerschaft. Aber nur ein Teil der. Großratsmitglieder wurde direkt durch das Volk gewählt, ein and~rer Teil wurde von den Großen Räten selbst erkoren. Die langen Amtsdauern und die vermögensrechtlichen Erfordernisse für Wähle1; und Gewählte sicherten den ehemali~en Aristokratien der Städte eine überragende politische l\1acht. Als besonders folgenschwer erwies sich das Wiederaufleben des konfessionellen Gegensatzes in den paritätischen Kantonen, insbesondere im Aargau, St. Gallen und Thurgau 20 • In diesen Kantonen setzten die Verfassungsrevisionen der Jahre 1814--15 die Konfessionen in Stellungen ein, wie sie der vierte eidgenössische Landfriede von 1712 vorgezeichnet hatte. _Nur daß jetzt nicht mehr das lebendige Interesse für das religiöse. Bekenntnis, sondern die rein äußerliche Zugehörigkeit zu einer bestimmten Konfession den E.infl.uß auf die staatlichen Geschäfte vermittelte 21 . Durch derartige ~inrichtungen wurde der konfessionelle Gegensatz verschärft 18

Siehe den Abdruck der· Kantonsverfassungen. in dem Handbuch des schweizerischen Staatsrec.hts, herausgegeben von U s t er i, 182L Eu g e n BIo c her: Entwicklung des allgemeinen und gleichen \Vahlrechts in der neuen Eidgenossenschaft. (Ztschr. f. schweiz. R. n. F. 25, 171). - Die politischen und staatsrechtlichen Verhältnisse der Schweiz seit 1814 schildert, als GegneT der demokratischen Umbildungen, C herb u I i c z : De Ia democratie en Suisse, 2 Vol., 1843. Dazu die Kritik von A. d e T o c q u e v i ll e in einem der Pariser Academie des sciences morales et politiques 184 7 erstatteten Bericht {abgedruckt in Tocqueville, "Democratie en Amerique", 13 ed., Vol. II, Appendice p. 433). 19 R y f f e I : Die schweiz. Landsgemeinden, 1903. 2 (} F. F I einer: Entwicklung der Parität in der Schweiz. (Ztschr. f. schweiz. R. n. F. 20, 114). 21 Über die Parität in dem Schicksalskanton · Aargau: F I einer , Parität (Ztschr. f. schweiz. R. n. F. 20, 114).


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und die Politik in konfessionelle Bahnen getrieben. Die ganze Periode 1815-1830, · wir bezeichnen sie als die Periode der "R e s t a ur a .. t i o n", wird auch in der Schweiz charakterisiert durch das geistige Zusammenwirken des restaurierten Katholizismus und der aristokratischen Parteien, welche ·nach Überwindung der Revolution im · öffentlichen Leben der Kantone wieder in den Vordergrund traten. Wie eng diese Verbindung war, zeigte sich schon bei ·der Gründung des Bundesvertrages im Jahre 1815; denn damals wurde auf Betreiben des apostolischen Nuntius dem Bundesvertrag jener folgenschwere Artikel 12 einverleibt, welcher den Fortbestand der Klöster gewährleistete 22 • Die Kunde von der französischen Julirevolution löste in der Schweiz, wie in den übrigeu- Staaten Europas, eine große liberale Bewegung aus. In allen Kantonen forderten die liberalen Parteien die Verwirklichung der Volkssouveränität und das allgemeine gleiche und direkte W abirecht bei der Bildung der Großen Räte. ·Diese Forderungen richteten sich gegen die künstliche Beschränkung des 'Vahlrechts, die seit Beginn der Restaurationszeit den Hauptstädten ein mit ihrer Bevölkerung$zahl unvereinbares Übergewicht in den 1 Großen Räten verschafft hatte gegenüber der weit überragenden Volkszahl der Landschaft 23 • Der Bürger sollte außerdem durch die Gewährleistung individueller Freiheitsrechte (Gewerbe-, Preßfreiheit usf.) von der Gebund~nheit und dem staatlichen Zwang befreit \verden. In allen Teilen der Schweiz hob eine ,,Regen er a t i o n" des öffentlichen Lebens an. Zum Teil unter schweren inneren Erschütterungen kamen in der Mehrzahl der Kantone neue Kantonsverfassungen zustande 24 , welche die Grundsätze der Volkssouveränität 22 In den Schriften des Berners Carl Ludwig von Haller (des Enkels des . großen Albrecht von Haller), vor allem in dessen sechsbändigem Werk "Restaurafion der Staatswissenschaft'' 1816 f., fand die revolutionsfeindliche Stimmung ihren schärfsten Ausdruck. Der Restaurator der Staatswissenschaft, der 1820 zum Katholizismus ·übertrat, wurde der geistige Führer der Legit~mität in ganz Europa. F. F l einer: Entstehung und Wandlung moderner Staatstheorien in der Schweiz, 1916, S. 12 f. Fr i e d r ich Cu r t i u s: K. L. v. Haller ini Lichte unsrer Tage ("Hochland'', Bd. 19, S. 26 f., Jahrg. 1922). 23 Der Große Rat war während der Restaurationszeit in Luzern zur Hälfte aus Stadtbürgern besetzt, in Zürich zu 5/ 8 , in Basel, Solothurn und Schaffhausen zu 2I3 , in· Freiburg zu 3I4 • 24 Die "regenerierten" Kantonsverfassungen sind abgedruckt bei Ludw i g Sn e 11: Handbuch des Schweizerischen Staatsrechts II (1844) ; T h o m a s .B o r n hau s e r : Verfassungen ·der Kantone der schweizerischen Eidgenossenschaft, 2 Bdc., 1833, 1836. Vgl. ferner Dierauer : Geschichte


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und der repräsentativen Demokratie verwirklichten und bestimmten, daß die Kantonsverfassung der Volksabstimmung unterbreitet werden müsse. Überdies wurde in allen wesentlichen Beziehungen die politische Gleichberechtigung der Landschaft mit der Hauptstadt durchgeführt, was· in Basel zur dauernden Trennung von Stadt und Landschaft und zur Gründung der zwei Halbkantone Basel-Stadt und Basel-Land den Antrieb gab 25• Mit dem Übergang der größeren Kantone zu den Grundsätzen des Liberalismus tat sich eine Kluft auf zwischen dem Bundesvertrag von 1815 und dem regenerierten Staatsrecht der Kantone. Der in den Kantonen siegreiche Liberalismus drang deshalb in der Tagsatzung auf eine Revision des Bunde~vertrages und auf eine. Stärkung der Zentralgewalt. Allein ein von der Tagsatzung ausgearbeiteter Revisionsentwurf des Jahres 1832 26, der diesen \Vünschen in bundesstaatlichen Formen Rechnung trug, scheiterte an dem \Viderspruch der katholischen Kantone, die für jede Abänderung Einstimmigkeit verlangten. Der V ersuch, den Bundesvertrag durch einen neuen V ertrag umzugestalten, war endgültig mißlungen. Dieser auf die Spitze getriebene Föderalis1nus stand im Widerspruch zu der internationalen Lage der Schweiz. Durch ganz Europa ging seit dem Sturz Na~ poleons der Zug der Zeit auf die Bildung großer Nationalstaaten. Die Industrialisierung, die "revolution industrielle" und der Bau von Eisenbahnen beschleunigten 'im Ausland die Bildung geschlossener Wirtschaftsgebiete. Auch in der Schweiz zeigten sich in der Schichtung der Bevölkerung· die ersten sozialen \Virkungen der "revolution industrielle", des mechanisierten Fabrikbetriebes, und die Entscheidung über die künftigen Schienenwege und ihren Anschluß an die aufstrebenden Eisenbahnen des Auslandes war für die Schweiz wegen ihrer geographischen Lage eine Lebensfrage. Nur eine über die kantonalen Rivalitäten ·herausgehobene starke Zentralgewalt vermochte die erwähnten ·Aufgaben des eigenen nationalen Lebens und der internationalen Stellung der Eidgenossenschaft zu lösen. Nicht weniger stark drängten die Kräfte, die aus dem Innern der schweiz. Eidgenossenschaft V, 491. R o I an d F I einer: Einflüsse von Staatstheorien der Aufklärungs- und Revolutionszeit in der Schweiz. Zürcher Diss. 1917. Largiader: a.a.O. II, S.112ff. 25 . Über die Basler Trennungsangelegenheit siehe Repertorium der eidgen. Abschiede 1814-1848 I, S. 524 f. Lud w i g Sn e ll: Handbuch des Schweiz. Staatsrechts I, S. 112 f., 117 f., II 368 f. His : Eine historische Staatstei~ lurig, Festgabe Fleiner 1927, S. 75 ff. · 26 Eidgen. Abschiede 1814-1848 I, S. 366, 371, 373, 374 f.; II S. 704 (Text des Entwurfs).


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des eigenen Volkslebens entsprangen, auf Zusammenfassung und Vereinheitlichung. Eine Übereinstimmung in den grundlegenden politischen Anschauungen der neuen Zeit stellte .sich als die dringlichste Aufgabe dar, wollte die Schweiz gegenüber den Großmächten ihre Selbständigkeit behaupten. Schon die ersten tastenden Versuche in der Tagsatzung (1832) ließen erkennen, daß das Ziel weder eine neue helvetische Einheit noch das lockere System der alten Bünde, sondern ein Ausgleieh zwischen Föderalisn1us und Zentralismus sein müsse, wie ihn die Form des Bundesstaates darbot. Es ist charakteristisch für uns~re Entwicklung, daß nicht das Sonderleben und die Eigenart der Kantone schließlich der Begründung des nationalen Staats im Wege standen, wohl aber jene politischen Auffassungen, die in dem Konfessionellen, d. h. dem Trennenden, den ausschlaggebenden Faktor des öffentlichen Lebens erblickten. Die konfessionelle Politik hat demgemäß die Krise von 184 7 herbeigeführt. Ausschlaggebende ~omente hiefür waren einerseits die Beseitigung der Besetzung des aargauischen Großen Rats nach konfessionellen Rücksichten und die dadurch bedingte Aufhebung der aargauischen Klöster als der Stützen des Aufruhrs (1841), andererseits die Berufung der Jesuiten, des Kampfesordens gegen die · Reformation, an den katholischen Vorort Luzern und die Bildung des Sonderbunds der 7 katholischen Kantone, die zur Spaltung der Eidgenossenschaft in zwei konfessionelle Lager führte. Beide Momente bildeten Verletzungen des brüchig -gewordenen Bundes-Vertrages. Die Tagsatzung beschloß im Jahre 1847 die Auflösung des Sonderbundes und lud die beteiligten .K antone zur Ausweisung der bei ihnen niedergelassenen Jesuiten ein. Die Weigerung,_ diese Anordnung zu vollziehen, führte im November 1847 zum Beschluß der Tagsatzung auf bewaffnete Exekution. Der Sonderbundskrieg entschied gegen den Sonderbund. Die bewaffnete eidgenössische Exekution hat den Sonderbund aufgelöst. Diese nationale Kraftäußerung lehnte sich offen gegen eine Einmischung der konservativen Großmächte Europas auf, die eine Bundesreforn1 unter Berufung auf die Wienerkongreßakte von 1815 von ihrem Einverständnis abhängig machten 26a.. II. Den unmittelbaren Gewinn daraus zog die Bundesrevision 27 • Kurz vor der Katastrophe, nämlich am 16. August 1847, hatte die Tagsatzung einer Kommission aus ihrer l\Iitte den Auftrag · erteilt, 26

D i er a u er : Geschichte der schweiz. Eidgenossenschaft V 703. Vgl. zum Folgenden F. Fleiner: Die Gründung des Schweiz; Bundesstaates im Jahre 1848, Basler Antrittsrede 1898. (Daselbst auch die Literaturangaben.) Dierauer : Geschichte der schweiz. Eidgenossenschaft V, 762. a

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Gutachten und Anträge über die Revision des Bundesvertrages auszuarbeiten. Nach der Niederwerfung des Sonderbundes ging die Kominission im Februar 1848 in Bern ans \Verk. Sie stellte den Entwurf einer Bundesverfassung der schweizerischen Eidgenossenschaft fest. Nachdem den kantonalen Großen Räten Gelegenheit gegeben worden war, sich über den Entwurf zu äußern und die kantonalen Gesandten mit Instruktionen zu versehen, begann am 11. Mai die Beratung in der Tagsatzung selbst. In der SchlußabsthnInung vom 27. Juni sprachen sich die Gesandten von 13Y2: Kantonen für Annahme der Verfassung aus. Nach den dem Entwurfe beigefügten Übergangsbestimmungen sollten sich nunmehr noch "über die Annahme gegenwärtiger Bundesverfassung_ die K'antone auf die durch die Kantonalverfassung vorgeschriebene, oder wenn die Verfassung hierüber keine Bestimmung enthält, auf die durch die oberste Behörde des betreffenden Kantons festzusetzende \V eise aussprechen"; die Ergebnisse der Abstimmung waren dem Vororte zu Hauden der Tagsatzung mitzuteilen, ,, welche entscheidet, ob die neue Bundesverfassung angenommen sei". In der beschriebenen Gestalt kam das Werk in die Kantone. Hier ließ man ihm die nämliche Behandlung angedeihen, die für die- Revision der Kantonsverfassung vorgeschrieben war. Der Entwurf wurde daher in jedem Kanton im Laufe der folgenden \Vochen zunächst der Volksvertretung und hierauf den sthnmberechtigten Bürgern, dem Volke, zur Abstimmung unterbreitet; einzig in Freiburg hatte es beim Entscheide des Großen Rates, der Volksvertretung, sein Bewenden. Im Septeinher 1848 versammelte sich die Tagsatzung aufs neue in Bern. Sie stellte fest, daß der Entwurf von 151/2 Kantonen, mit einer Gesamtbevölkerung von 1897 887 Seelen, angenommen worden war. Abgelehnt hatten den Entwurf 61;2, Kantone, mit einer Gesamtbevölkerung von 292 371 Seelen 28 • Die Gesandtschaften von Ob- und Nidwalden, Zug, Tessin und vVallis erklärten jedoch, daß sich ihre Kantone einem Mehrheitsentscheide fügen würden. Am 12. September 1848 nahmen die Gesandtschaften von 16 Kantonen und 2 Halbkantonen den Beschluß "betreffend die feierliche Erklärung über die Annahme der neuen Bundesverfassung der Eidgenossenschaft" an. Keine Stimn1e erhob sich dagegen; die Vertreter der ablehnenden Kantone enthiel28 Angenommen hatten die Kantone Zürich, Bern, Luzern, Glarus, Freiburg, Solothurn, Basel-Stadt, Basel-Land, Schaffhausen, Appenzell A.-Rh., St. Gallen, Aargau, Thurgau, Graubünden, Waadt, Neuenburg, Genf. Abgelehnt hatten: Uri, Schwyz, beide Unterwalden, Zug, Apperizell 1.-Rh., Tessin, '\Vallis.


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ten sich der Abstimmung. Der erste Artikel des Beschlusses aber lautete: "Die Bundesverfassung der schweizerischen Eidgenossenschaft, wie solche aus den ·Beratungen der Tagsatzung vom 15. Mai bis und mit dem 27. Brachmonat 1848 hervorgegangen und nach Maßgabe des Artikels 1 der ihr angehängten Übergangsbestimmungen in sämtlichen Kantonen der Abstimmung unterstellt worden ist, ist anmit feierlich angenommen und wird als Grundgesetz der schweizerischen Eidgenossenschaft erklärt." Darauf wurden die Kantone von der Tagsatzung aufgefordert, sofort die Mitglieder der neuen Bundesorgane, des Nationalrates und des Ständerates, zu bezeichnen. Für die Wahlen in den Ständerat behielten sie freie Han~, für die Wahlen in .den Nationalrat dagegen stellte die Tagsatzung vorläufig die nötigen Grundsätze auf, indem sie jedem Kanton die Zahl seiner Abgeordneten zuschied, im übrigen aber die Bestimmung der Wahlkreise und des vVahltages für diesmal dem Belieben jedes Kantons überließ. Am 22. September vertagte sich die Tagsatzung. Sie sollte ~,so lange in ihren Kompetenzen bleiben, bis die Bundesversammlung konstituiert und der Bundesrat gewählt sein wird". In den folgenden Wochen fanden in der ganzen Schweiz die vVahlen für die Bundesversammlung statt. Am 6. November 1848 traten in Bern die :M itglieder des Nationalrates und des Ständerates zu den konstituierenden Sitzungen zusammen. Eines ihrer ersten Geschäfte bildete die ·Prüfung der Wahlprotokolle. Es ergab sich, daß die ·Landsgemeinden von U ri~ sowie von Ob- und Nidwalden die vVahlen nur unter ausdrücklicher Verwahrung ihrer bisherigen Rechte vorgenommen hatten. Infolgedessen wurden im Nationalrat wie im -Ständerat die Wahlen in diesen Kantonen für ungültig erklärt. Die Landsgemeinden der drei Kantone wurden deshalb im Laufe des 1\'Ionats November nochmals zusammenberufen. Sie beschlossen, ihre Vorbehalte und Verwahrungen zurückzuziehen und ·sofort bedingungslos ihre Abgeordneten zu wählen. Schon vorher war mit der Konstituierung . der Bundesversammlung und der Bestellung des Bundesrats (16. November 1848) der Bundesvertrag von 1815 stillschweigend außerKraft getreten. Damit war der Bundesstaat gegründet. Die Bundesverfassung des Jahres 1848 stellt ein Werk von großer politischer Einsicht 29 dar. Die zentralistischen, unitarischen Tendenzen und die althergebrachten Ansprüche der Kantone auf Er;haltung ihrer Existenz .sind darin in glücklicher Weise ausgeglichen. 29

BI um er: Schweiz. Bundesstaatsrecht I (1863); II (1864).


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In dem nach dem amerikanischen Vorbild eingeführten Zweikam"" mersystem (Nationalrat und Ständerat) gelang es, die zwei großen politischen Richtungen, die seit 1832 im Leben des Bundes miteinander rangen, organisch zu verbinden und sie in den Dienst der nationalen Sache zu stellen. Die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen bot ein zweites :Mal den Anlaß, die. Kantone durch einen Kompromiß für die Interessen des Bundes zu gewinnen. Zentralismus und Föderalismus sind seither lebendige, sich unterstützende Elemente unseres nationalen Lebens geblieben 30 • Der Gegensatz der drei Sprachen und der hinter ihnen stehenden Kulturen wurde durch die Anerkennung der Gleichberechtigung der drei Hauptsprachen als Nationalsprachen politisch überwunden und die konfessionelle Frage aus dem Kompetenzbereiche des Bundes ausgeschaltet. Nach dem Vorbild der kantonalen Regenerationsverfassungengewährleistete die. Bundesverfassung eine Reihe von Freiheitsrechten und dehnte damit die Garantie, absoluter Rechte auf die ganze Schweiz aus. Die neuen Bundesinstitutionen lebten sich rasch ein. Als Sitz der politischen und richterlichen Bundesbehörden wurde nach heißem Kampf die Stadt Bern erkoren. In Bund und Kantonen ging man daran, die Folgen des unheilvollen Bürgerkrieges durch gemeinsame Arbeit auszutilgen. Der neue Bundesstaat sah sich schon bald vor wichtige Entscheidungen der internationalen Politik gestellt, in der Neuenburger Angelegenheit (1856} und der Savoyerfrage (1860) 31• Sie riefen alle Teile der Schweiz zu gemeinsamem Handeln auf und trugen zur Stärkung des Nationalgefühls bei. Den Antrieb zur Fortbildung der Bundesverfassung des Jahres 1848 gab der im Jahre 1864 zwischen der Schweiz und Frankreich vereinbarte Handels- und Niederlassungsvertrag 32, in welchem den Franzosen ohne Unterschied der Religion dieselbe rechtliche Behandlung in der Schweiz zugesichert wurde, die auf Grund des Artil{els 48 der Bundesverfassung des Jahres 1848 die Kantone Schweizerbürgern christlicher Konfession zu gewähren hatten. Nach den Verträgen mit Frankreich waren somit französische Israeliten in der Schweiz günstiger gestellt, als ihre schweizerischen Glaubensgenossen. Die Bundesbehörden entschlossen sich daher, die Bundesverfassung sofort zu revidieren, um die Gleichstellung aller Schweizerbürger ohne Rücksicht auf ihre Religion herbeizuführen. In den 30 ' 31

F 1 einer: Zentralismus und Föderalismus in der Schweiz, 1918. S c h w e i z er: Geschichte der schweiz. Neutralität 833 f., 884 f. E. Gag I i a r d i: Alfred Escher, 1919, S. 119 f. 32 AS VIII, S. 215, 328. Vgl. dazu BBI. 1865 111, SOL


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Revisionsberatungen der Bundesversammlung wurde jedoch die Revision auf eine Reihe anderer ·Bestimmungen der Bundesverfassung ausgedehnt 33, so daß in der Referendumsabstimmung vom 14. Januar 1866 Volk und Stände sich über neun Revisionspunkte auszusprechen hatten. Allein es fand sich lediglich eine Mehrheit für die Revision der Artikel 41 und 48 der Bundesverfassung: die Vorschrift, welche die Gleichbehandlung aller Schweizerbürger von der Zugehörigkeit zur christlichen Religion abhängig gemacht hatte, wurde in der Bundesverfassung gestrichen; damit wurden die schweizerischen Juden den übrigen Schweizerbürgern gleichgestellt. · Seit der Einführung der Bundesverfassung des Jahres 1848 war, wenn wir von den Landsgemeindekantonen absehen, in allen Kantonen der Schweiz das Repräsentativsystem zu unbestrittener Herrschaft gelangt. Die Großen Räte übten die gesetzgebende Gewalt aus, und nur für Verfassungsgesetze der Kantone war, und zwar von der Bundesverfassung (Art. 6) selbst, die Volksabstimmung vorgeschrieben. Das System der repräsentativen Demokratie hatte in der Bundesversammlung und den Großen Räten der größern Kantone den liberalen Parteien das Übergewicht verschafft 34• Zu den Forderungen des Liberalismus aber gehörte die Befreiung des Individuums vom staatlichen Zwang und von obrigkeitlicher Einmischung auf geistigem, t~ligiösem, politischem und wirtschaftlichem Gebiet 35 • Die Handels- und Gewerbefreiheit, die als Ausdruck der liberalen Ideenkreise von den Kantonsverfassungen der liberalen Epoche (seit 1830) gewährleistet wurde, schuf der priv~ten Initiative und dem privaten Unternehmergeist auf wirtschaftlichem Boden freie Bahn. Ihnen verdankt die Schweiz das Aufblühen ihrer großen Industrien und den Bau der gro13en Eisenbahnlinien. Wirtschaftlicher und politischer Liberalismus gingen in den Räten Hand in Hand und unterstützten sich gegenseitig 36 • Aber es wurde auf die Dauer das ganze System 33 BG betr. die Revision der BV vom 19. Wintermonat 1865, AS VIII, 648. Blumer-Morel: JS, S.158f. 34 ÜberAlfred Escher, den überragendsten Führer des sch.weiz. Liberalismus: E. Gag l i a r d i : Alfred Escher, 1919. 35 E. v. Phi l i p p o v ich: Die Entwicklung der wirtschaftspolitischen: Ideen im 19. Jahrh., 1910, S. 1-20. 36 Die "revolution industrielle'' wurde durch die liberale Wirtschaft'3- . politik beschleunigt. Von 1848 aber werden die Städte die Zentren von Handel und Industrie. Die alte wirtschaftliche Vorherrschaft der Landwirtschaft und des Bauernstandes tritt zurück; es hebt an die Bildung eines städtischen Fabrikproletariats. Will i a m E. R a p p a r d : La revolution industrielle, 1914, und vom seihen Verfasser ,,L'evolution economique et politique des


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in weiten Schichten der Bevölkerung unpopulär. Die Vereinigung; politischer und wirtschaftlicher Macht innerhalb kleiner regierender Kreise erschien als Verletzung des de1nokratischen Gleichheitsprinzips. Dies führte in folgerichtiger Weiterführung der Grundsätze der Volkssouveränität zum Sturze des Repräsentativsystems. Reindemokratische Einrichtungen, wie sie in den altschweizerischen Institutionen der Landsgemeinde und ferner des ,,föderativen" Referendums in Graubünden und Wallis bereits vorgebildet waren 3i und. seit den dreißiger-Jabren des 19. Jahrhunderts in einzelnen Kantonen in dem gemeindeweisen Veto gegen die von1 Großen Rat beschlosse-· nen Gesetze. (St. Gallen) und in dem Recht der Aktivbürgerschaft auf Abberufung des Großen Rats (z. B. Aargau) in Geltung standen,. mögen dabei auch einen Einfluß ausgeübt haben. Basel-Land war der erste Kanton, der im Jahre 1863 die reindemokratische Hauptvilles et des campagnes suisses", 1916. Im Jahre 1850 waren von der Gesamtbevölkerung der Schweiz 326 °/00 Stadtbevölkerung, 674 ~/00 Landbevölkerung; 1860: 359 °'1 00 Stadtbevölkerung, 641 °'1 00 LandbeYölkerung; 1870 :: 398 (}/oo Stadtbevölkerung, 602 (}/oo Landbevölkerung; 1916: 592 (}/00 Stadtbevölkerung, 408 (}/00 Landbevölkerung. . 37 Über die Landsgemeinde, die alt-germanische Volksgemeinde in den Urkantonen: H. R y ff e I: Die schweiz. Landsgemeinden, 1903. And r e a s H e u s 1 er : Schweiz. Verfassungsgeschichte, S. 52 f. - Eine zweite Form der Volksabstimmung, das sog. "föderative", gemeindeweise Referendum, hat seine Heimat in Graubünden und Wallis. In Graubünden:· die Gerichtsgemeinde beschließt über Angelegenheiten des Hochgerichts .. Sind die Boten der einzelnen Gemeinden nicht instruiert in einer Frage, so, wird sie von ihnen "ad referendum'' genommen und vor die Versammlung· der Dorfgemeinde gebracht ("hinter sich für .die Gemeinden bringen"), die· dann mit Mehrheit entscheidet. Wann der Ausdruck "Referendum" für diese Gemeindebefragung aufgekommen ist, läßt sich schwer feststellen,. wahrscheinlich zuerst im 17. J ahrh. Vgl. über Graubünden: S i m 1 er - L e u :: Regiment lobl. Eidgenossenschaft, 1722, S. 601. R. A. Ganz o n i: Beiträge zur Kenntnis des bündnerischen Referendums, Zürich. Diss. 1888.- Pa u I. Schreiber: Die Entwicklung der Volksrechte in Graubünden, Zürich .. Diss. 1920. - Für W a 11 i s : Beschränkung des Bischofs durch die Bauernschaftsgemeinden, d. h. die Zenden (Zehntbezirke) des ObeFwallis. Wenn deren Boten im Landrat für ein . Geschäft nicht instruiert sind, so wird es. vor die Zehntgemeinden zur Absti~mung gebracht. A. H e u s I er , in der· Einleitung zu den Rechtsquellen des Kantons Wallis. (Ztschr. für schweiz. R. n. F. VII, 148 f.) Si m 1 er- Leu: S. 627. His: Geschichte des neuern schweiz. Staatsrechts I, 167. Liebeskind: Das Referendum der Land-· schaft W allis. - Über vereinzelte Volksfragen in den abhängigen Landschaf-· ten von Bern und Zürich: M. v. S t ü r I er: Die Volksanfragen im alten~ Bern, 1869. D ä n d I ik e·r: Volksanfragen in Zürich. (Jahrb. für Schweiz_ Gesch. XXI.)


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forderung verwirklichte, das Gesetzesreferendum, d. h. den Grundsatz, daß auch einfache Gesetze der Abstimmung des Volkes unterbreitet werden müssen 38• Ihren größten Erfolg feierte die neue demokratische Bewegung, als sie im Kanton Zürich gegen den Führer des politischen und wirts~haftlichen Liberalismus der Schweiz, Alfred Escher und sein "System", die Revision der aus dem Jahre 1831 stammenden Kantonsverfassung durchsetzte und im Jahre 1869 zum . Abschluß brachte 39 • Von Zürich aus traten die reindemokratischen Einrichtungen, nämlich das Gesetzesreferendum und die Gesetzesinitiative des Volkes, d. h. das Recht einer bestimmten Zahl Aktivbürger, den Erlaß oder die Aufhebung eines Gesetzes zu verlangen, ihren Siegeszug durch die übrigen Kantone der Schweiz an und begehrten schließlich auch Einlaß an den Pforten des Bundes. Im Bunde war seit dem Jahre 1866 die Revisionsbewegung nicht zum Stillstand gekommen 40 und die Bundesversammlung hatte ~m Jahr 1870 beschlossen, die Bundesverfassung nach den verschiedensten Richtungen fortzubilden 41• Da traten die großen weltgeschichtlichen Ereignisse des Jahres 1870 ein und gaben auch der schweizerischen Politik eine neue Wendung. Die durch den deutschft·anzösischen Krieg veranlaßte Mobilisierung der schweizerischen Armee legte die Mängel der Dezentralisation ·im schweizerischen Militärwesen bloß, und die Verkündigung der vatikanischen Konzilsbeschlüsse vom 18. Juli 1870 entfachte auch in der Schweiz aufs neue den alten Kampf zwischen Staat und katholischer Kirche 38

Über Rolle, den Führer der Revisionsbewegung in Basel-Land: A 1b er t 0 er i: Der Revisionsgeneral Rolle, 1905. Für das Allgemeine: T h e o d o r Cu r t i : Geschichte der schweiz. Volksgesetzgebung, 2. Aufl. 1885. Ferner T h e o d o r C ur t i : Art. ,,Referendum und Initiative" im HWB ·III 1 , S. 438. 39 Ga gli a r di: Alfred Escher, S. 511 f. S. Zur I in den: "Hundert Jahre;· Bilder aus der Geschichte der Stadt Zürich", Bd. II (1915), S. 3 f. L a r g i a d e r : a. a. 0. II S. 196 ff. 40 J. D u b s : Die schweiz. Demokratie in ihrer Fortentwicklung, 1868. Hans Weber: Bundesrat Emil Welti, 1903, S.75f. Für die parlamentarische Entwicklung unter dem Bundesstaat s. die Biographien der zwei Hauptführer, des Liberalen Alfred Es~her von Zürich und des Radikalen Jakob Stämpfli von Bern: E. Gag li a rd i: Alfred Escher, 1919, und die Skizze von R. Felle r: Alfred Escher, 1916. T h. Weiß: Jakob Stämpfli I 1920. R. Feiler: Jakob Stämpfli 1914 (Vortrag) und R. Feiler: J. Stämpfli zum 100. Geburtstag, 1921. Vom katholisch-konservativen Standpunkt aus, aber überlegen betrachtet: P h. A. v. Se g esse r: Ein Rückblick als Vorwort, in Segessers Sammlung Kleiner Schriften III. p. V. 41 BBI. 1870, II, 665; III, 69, 121, 198, 435, 720; 1871, I, 6.


Historische Einleitung~

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("Kulturkampf") 42 und gab der Forderung neue Nahrung, der Staat möge durch die Proklamation der Glaubens- und Gewissensfreiheit die Bürger vor dem hierarchischen Druck schützen. Die Bundesbehörden legten durch einen Beschluß auf Totalrevision der Bundesverfassung Hand ans \Verk 43 • Der von ihnen am 5. 1\'lärz 1872 angenommene Entwurf einer neuen Bundesverfassung 44 trug den Hauptforderungen der Revisionsfreunde Rechnung: er begründete die Zuständigkeit des Bundes zur Vereinheitlichung des Zivil- und Strafrechts und der Armee ("Ein Recht und Eine Armee"}, proklamierte in seinen konfessionellen Artikeln volle Glaubens- und Kultusfreiheit und nahm durch Einführung des fakultativen Gesetzesreferendums _und der Volksinitiative für Bundesgesetze die wesentlichen reindemokratischen Institutionen in das Bundesrecht auf. Allein in der Volksabstimmung voni 12. Mai 1872 unterlag der Entwurf der vereinigten Opposition der Katholischkonservativen und der welschen radikaldemokratischen Föderalisten; von der katholischen Partei wurde der Entwurf wegen seiner konfessionellen Artikel und von den welschen Radikaldemokraten wegen . seiner zentralistischen Tendenzen abgelehnt 45 • Allein die Bundesbehörden ließen sich nicht entmu~igen·. Sie setzten die Revisionsarbeit fort. Durch einen Kompromiß, demzufolge die Vereinheitlichung des Rechts auf bestimmte Materien des Zivilrechts beschränkt und den Kantonen in der Militärverwaltung gewisse Kompetenzen belassen wurden, gewann man die welschen Föderalisten. Der neue· Verfassungsentwurf fand in der Volksabstimmung vom 19. April 1874 die Zustimmung von Volk und Ständen. Am ~9. Mai 1874 verkündigte die Bundesversammlung das Werk als die neue Bundesverfassung der schweizerischen Eidgenossenschaft 46 • Eine Totalrevision hat seither nicht mehr statt42

Über die Entwicklung des Kulturkampfes in der Schweiz siehe v. S a I i s : Schweiz. Bundesrecht, 2. Aufl., S. 8 f., 9 f. F. F I einer : Staat und Bischofswahl im Bistum Basel, 1897, S. 115 f. Ar n o I d K e ll er : Augustin Keller, S. 391 f. 43 , Gang der Verhandlungen: BBI. 1870, III, 69, 121, 198; 1872 II, 88, 358, 436, 449. 44 Text: AS X, 730. 45 Abstimmungsergebnis: Ja 255 606; Nein 260 859. Ständestimmen: Ja 9 Stände, Nein 13 Stände. AS X, 771. BBL1872 II, 358, 436, 449. 46 Ergebnis der Abstimmung: Ja 340 199; Nein 198 013; Ständestimmen: Ja 141 / 2 Stände; Nein 71 / 2 Stände. - Erwahrungsbeschluß vom 29. Mai 1874: AS 1, 38. - Gang der Beratungen: Salis II, S. 112. - Die Diskussionen der Räte sind nicht stenographiert worden. - Vgl. dafür das von der Bunde'Skanzlei verfaßte und herausgegebene Protokoll über die Verhandlungen der 3 Fleiner I Giacometti, Bundesstaatsrecht.


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Historische Einleitung.

gefunden. Die Fortbildung ist regelmäßig auf dem Wege der Partialrevision, d. h. durch Abänderung bestehender Artikel und Aufnahme neuer in die Bundesverfassung, erfolgt. Der einzige Versuch einer Totalrevision der Bundesverfassung auf Grund einer Volksinitiative scheiterte im Jahre 1935 47• Diese Methode der Fortbildung der Bundesverfassung durch Partialrevisionen entspricht dem ganzen Charakter der schweizerischen Demokratie. "Eine Verfassung", so sagt Gottfried Keller 48, "ist keine stilistische Examenarbeit. Die sogenannten logischen, schönen., philosophischen Verfassungen haben sich nie eines langen Lebens erfreut. Wäre mit solchen geholfen, so würden die überlebten Republiken noch da sein, die sich einst bei Rousseau Ver-. fassungen bestellten, weil sie kein Volk hatten, in welchem die wahren Verfassungen latent sind bis zum letzten Augenblick. Uns scheinen jene Verfassungen die schönsten zu sein, in welchen ohne· Rücksicht auf Stil und Symmetrie ein Concretum, ein errungenes Recht neben dem andern liegt, wie die harten glänzenden Körner im Granit und welche zugleich die klarste Geschichte ihrer selbst sind."] III. In der Zeit von 1874 bis 1948 sind 44 Partialrevisionen der Bundesverfassung erfolgt 49 • Ein Ausbau der demokratischen Institutionen des Bundes hat da:. durch nur noch nach der Richtung stattgefunden, daß das Volks;. initiativrecht auf Partialrevision der Bundesverfassung (1891), das eidgen. Räte betr. Revision der BV.. 1873/74, Bern 1877. Vgl. über die Totalrevision von '1874 Rapp a r d : a. a. 0. S. 362 ff. His : a. a. 0. III 86 ff~ 4 '1: Vgl. 1mten S. 710, Anm. 14 und 17. 48 Mitgeteilt von J. B ä c h t .o I d : Gottfried Kellers Leben 111 (1897), S. 6. Die Stelle steht in eine1p von Gottfried Keller verfaßten Zeitungsartikel der Basler "Sonntagspost'' von 1864 und schließt an Revisionskämpfe im Kanton Zürich an. 49 Vgl. über die Fortbildung der Bundesverfassung seit 1874 W~ Rapp a r d : L'lndividu et l'Etat, 1936, S. 431 ff. E. His : Die Geschichte des neueren schweizerischen Staatsrechtes, Bd. 3, S. 104 ff.; F I einer : Die Fortbildung der schweizerischen Bundesverfassung seit dem Jahre 1874, Jahrbuch des öffentlichen Rechtes I 392 ff; VIII 461 ff.; Z. G i a c om e t t i : Das Verfassungsleben der schweizerischen Eidgenossenschaft in den Jahren 1914-1921, Jahrbuch des öffentlichen Rechts XI 313 ff.; in den Jahren 1922-1928 a. a. 0. XVI 327 ff. Vgl. die Übersicht über die Partialrevisionen der BV von 1874-1903 bei S a I i s: Bundesrecht II Nr. 366, und von 1903-1928 bei Bur c k h a r d t: Bundesrecht I Nr. 212. Vgl. auch die , Übersicht der eidg. Volksabstimmungen seit 1848 in BBI. 1947 III 1015.


Historische Einleitung.

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fakultative Staatsvertragsreferendum (1921) 50 und der Proporz für die Nationalratswahlen (1918) 51 Aufnahme in das Grundgesetz der Eidgenossenschaft fanden 52 • Andere wesentliche Einrichtungen der Referendumsdemokratie wie die Gesetzesinitiative des Volkes 53 , die Volkswahl der Exekutive 54, oder gar das obligatorische Gesetzesreferendum und das Finanzreferendum hat der Bund von den Kantonen bis heute nicht übernommen 55 • Je größer der Staat ist, desto schwerfälliger wirken sich naturgemäß die rein demokratischen Institutionen aus. Gereifte und geschichtlich erfahrene Völker führen die Rechtsgrundsätze auch kaum bis zu den äußersten Folgerungen durch, wie Tocqueville bemerkt hat. Auch die liberalen Komponenten der Bundesverfassung haben durch die Verfassungsrevisionen der letzten 75 Jahre außer der Errichtung der eidgenössischen Verwaltungsgerichtsbarkeit (1914) 56 , deren gesetzgeberische Ausführung bis heute sehr Stückwerk ge. blieben ist 57, und der Gewährleistung der rätoromanischen Sprache als vierte Nationalsprache (1938) 58 keine weitere Ausdehnung erfahren. Die meisten Partialrevisionen dieser Zeit betreffen das Verhältnis zwischen Bund und Kantonen im Sinne einer Erweiterung der Bundeskompetenzen. Sie bilden ein getreues Spiegelbild der durch die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse sowie durch rein etatistische Tendenzen bedingten Ausdehnung der staatlichen Aufgaben des Bundes in den letzten Jahrzehnten 59 • Hand in Hand damit ~

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Vgl. unten S. 822 ff. In die Linie des demokratischen Ausbaus der Bundesverfassung gehört auch der Bundesbeschluß über den Beitritt der Schweiz zum Völkerbunde vom 5. März 1920 (AS 36, 651), 51 Vgl. unten S. 487 ff. 52 Eine weitere Partialrevision, die die rein demokratischen Institutionen betrifft, war die Änderung des Art. 89 BV im Jahre 1939, durch die gewisse Kautelen gegen die mißbräuchliche Anwendung der Dringlichkeitsklausel geschaffen wurden; vgl. unten S. 784 f. 53 Vgl. unten S. 444. 5 4, Vgl. unten S. 570. lis Durch Partialrevision von 1931 wurde umgekehrt die Amtsdauer des Nationalrates verlängert; vgl. unten S. 486. 56 . Vgl. unten S. 904 ff. 57 Ein weiterer ·rechtsstaatlicher Versuch, die Ausdehnung der Verfassungsgerichtsbarkeit auf die Bundesgesetzgebung, scheiterte in der Volksabstimmung vom 22. Januar 1939; vgl. unten S. 887, Anm. 31. 58 Vgl. unten S. 397. 59 Die Übernahme neuer Aufgaben durch den Bund ist eben allein legal im Wege der Begründung der entsprechenden verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten der Eidgenossenschaft. Vgl. unten S 70.


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His~orische

Einleitung.

geht ein gewisser Abbau der Freiheitsrechte, vorab der wirtschaftlichen Freiheit 60 • Diese Partialrevisionen im Sinne der Ausdehnung der Bundeskompetenzen nehn1en im Laufe der Jahrzehnte an Intensität zu, obwohl sie nicht immer im ersten Anlauf gelangen 61 • Sie betreffen die verschiedensten Materien: Vereinheitlichung de~ Zivil- und Strafrechts, Alkoholmonopol, Banknotenmonopol, Kriegssteuer,· Stempelabgaben, Getreideversorgung, Kranken- und Unfallversicherung, Alters- und Hinterbliebenenversicherung~ Lebensmittelpolizei, Gesundheitspolizei, Gewerbewesen, Nutzbarmachung der \Vasserkräfte, Fremdenpolizei, Automobilverkehr, Schiffahrt, Luftverkehr usw. Obwohl die Bundesverfassung die Stürme der beiden Weltkriege überstanden hat, bedeutet z-w eifellos das . Jahr 1914 einen großen Einschnitt im Verfassungsleben der Eidgenossenschaft. Denn die Bündesverfassung wurde seither auf Grund der bundesrätlichen Vollmachten der beiden Weltkriege und der Dringlichkeitspraxis der Bundesversammlung seit Beginn ·der dreißig er .Tahre 62 nach vielen Richtungen hin in ihrer Geltung suspendiert, indem die Bundesbehörden in einem abgekürzten Rechtssetzungsverfahren die Bundeskompetenzen auf Kosten der Kantone und der Freiheitsrechte in umfassender \Veise ausgedehnt haben, insbesondere auf wirtschaftlichem und finanziellem Gebiet. Diese zum Teil durch die- Not der Zeiten bedingten Maßnahmen sind allerdings gegenwärtig im Abbau begriffen oder - wie ein Teil der notrechtliehen und dringlichkeitsrechtlichen Wirtschaftsgesetzgebung - verfassungsrechtlich verankert worden 63 bzw. auf dem Wege dazu 64 • Vollmachtengeist und Dringlichkeitsgeist leben aber fort 65 • Die Zukunft sieht auch · unter dem rechtsstaatliehen Aspekt düster aus. 60 Vgl. unten S. 289 ff. Dieser Abbau wird sehr eindrucksvoll dargestellt von R a p p a r d : a. a. 0. S. 431 ff. · 61 Vgl. unten S. 763 ff. c2 Vgl. unten S. 782 f., 790 ff. ·os 'In den neuen Wirtschaftsartikeln der BV. Vgl. unten S. 281 ff. 64 Wie der Finanzausgleich zwischen Bund und Kantonen im Sinne vorab der verfassungsrechtlichen Verankerung der ohne .yerfassungsrevision eingeführten neuen . Bundessteuern; vgl. Botschaft des Bundesrates vom 22 . .tanuar 1948 über die verfassungsmäßige Neuordnung des Finanzhaushaltes des Bundes nebst einer Ver~assungsvorlage über diese Neuordriurig in BBl 1948 I 309 ff. und 597. 65 Sehr symptomatisch hiefür. ist ·.z. B. der Bericht des Bundesrates vom 27. Februar 1948 über das Volksbegehren von 1946 für die Rückkehr zur ' direkten Demokratie; BBl 1948 I 1054. Vgl. unten S. 789, Anm. 7.


§ 1. Begriff, Geltungsgrund; Aufbau und Form der Bundesverfassung.

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l. Kapitel.

Die Bundes-verfassung. § 1. Begriff, Geltungsgrund,, Aufbau ·urid ·Form der Bundesverfassung. L Das Juristische Element des Staates ist seine Verfa~sung, nämlich der Inbegriff der Normen über die Organisation der staatlichen Herrschaft 1 • Als solche. erscheint der positivrechtliche Geltungsgrund der staatlichen Rechtsordnung, also die höchste staatliche Zuständigkeitsordnung, das heißt der N ormenkomplex, der die Organe und das Verfahren der Verfassungsgesetzgebung sowie der einfachen Gesetzgebung und damit die Staatsform bestimmt 2• Diese Normen bilden als Vorschriften über die Erzeugung .der-übrigen staatlichen Rechtsordnung und daher als logische Voraussetzung der letzteren die eigentliche Verfassung, die Verfassung im absolut materiellen Sinne. Neben der Verfassung als Rechtswesensbegriff besteht aber auch die Verfassung als Rechtsinhaltsbegriff, die Verfassung im relativ materiellen Sinne. Zur Verfassung werden nämlich noch . andere Normenkomplexe gezählt, und zwar eben nicht auf Grund einer rechtslogischen Notwendigkeit, 'sondern nur mit Rücksicht auf den Irihalt der betreffenden Vorschriften. Dahin gehören vor allem die Normen über die Organisation und Kompetenzen der obersten Verwal ~ tungs- und Justizorgane sowie die Vorschriften über die grundsätzliche organisatorische Struktur von Verwaltung und Rechtsprechung, also im liberalen Staate vorab die Bestimmungen über die Trennung oer Gewalten. Ebenso erscheinen als Verfassungsrecht im relativ materiellen Sinne die Vorschr!ften über die territoriale Gliederung des Staates und die Kompetenzausscheidung zwischen .Staat und 1 Vgl. zum Folgenden G i a c o m e t t i : Das Staatsrecht der Kantone, S. 15 ff. und -die dort zitierte Literatur. 2 Die Revisionsvorschriften der Verfassung, die die Verfassungsrevision regeln, sind aber nur dann Rechtsnormen, wenn sich die verfassungsändernde Gewalt aus ·mehreren Organen zusammensetzt; vgl. darüber unten S. 702.


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Die Bundesverfassung.

Selbstverwaltungskörper, so vorab im Bundesstaat. Ferner wird im liberalen Staat zur Verfassung im relativ materiellen Sinne die Verhältnisordnung zwischen Staat un~ Individuum im Sinne der Freiheitsrechte gezählt. Ja als ideelle und funktionelle Grundlage der demokratischen Staatsform 3 gehören die Freiheitsrechte im demokratischen Staate gewissermaßen der absoluten Verfassung an 4'. Die grundsätzlichsten Normen der Verfassung im absolut materiellen Sinne wie auch zum Teil der Verfassung im relativ materiellen Sinne sind im allgemeinen in eine besondere Form, die sogenannte Verfassungsform, gekleidet. Diese weist zwei bestimmte Merkmale auf, die in der Regel kumulativ bestehen, wovon aber nur das eine von rechtlicher Bedeutung ist. Dieses absolut und relativ materielle Verfassungsrecht ist nämlich vielfach in einer besonderen Urkunde, der VerfassÜngsurkunde, niedergelegt, die diesen Verfassungsnormen eine besondere Feierlichkeit und Weihe verleihen soll. Außerdem besitzt das in der Verfassungsurkunde enthaltene Verfassungsrecht und dieses Merkmal der Verf~ssungsform ist allein .rechtlich erheblich - die sogenannte erhöhte formelle Gesetzeskraft, d. h. es darf nicht auf dem vVege der einfachen Gesetzgebung abgeändert werden. M:it Bezug auf das Verfassungsrecht im absolut materiellen Sinne ist diese erhöhte formelle Gesetzeskraft eine logische Notwendigkeit. Denn die absolute Verfassung muß als die Regelung der Gesetzgebung in eine für den Gesetzgeber unabänderliche Form gekleidet werden. Im übrigen ist mit der erhöhten formellen Gesetzeskraft des Verfas8

Vgl. G i a c o m e t t i: Das Staatsrecht der Kantone, S. 165 ff. Eine moderne Tendenz verabsolutiert unter dem Eindruck der politischen Erlebnisse unserer Zeit die Freiheitsrechte und die Gewaltentrennung in gleicher Weise, wie dies Art.16 der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 tat, indem die Begrenzung der Staatsgewalt durch Freiheitsrechte und Gewaltentrennung als wesentliches Moment der Verfassung angesehen wird; desgleichen erscheint auch die Selbstgesetzgebung als wesentliches Merkmal der Verfassung; vgl. z. B. W. K ä g i: Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945, S. 43 ff. Nur der liberal demokratische Staat hätte darnach letzten Endes eine Verfassung. Jeder Staat, nicht nur der liberal demokratische, besitzt jedoch eine Verfassung, die ihn in irgend einer Weise organisiert. Das zeigt auch die Rechtswirklichkeit. Vgl. dazu auch B ur c k h a r d t : Die Organisation der Rechtsgemeinschaft, S.260. Diese These greift naturrechtliche Gedanken der Aufklärungszeit wieder auf und stellt damit ein Postulat des politischen Individualismus an den Gesetzgeber dar. Freiheitsrechte, Gewaltentrennung und Selbstgesetzgebung bilden hingegen selbstverständlich Essentialia jeder Ver- " fassung eines liberal demokratischen Staates. 4


§ 1. Begriff, Geltungsgrund, Aufbau und Form der Bundesverfassung.

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sungsrechts die Vorstellung der Dauer als eines notwendigen Attributes der Verfassung verbunden. Diese erhöhte formelle Gesetzeskraft kann nun in der Unahänderbarkeit oder aber in der im Verhältnis zum Gesetzesrecht erschwerten Abänderbarkeit des in der Verfassungsurkunde enthaltenen Verfassungsrechts bestehen~ Das letzte ist in der Regel der Fall. Das Verfassungsrecht im absolut und relativ materiellen Sinne, das in einer Verfassungsurkunde niedergelegt ist, ~nd die erhöhte formelle Gesetzeskraft aufweist, erscheint dann auch als Verfassung im formellen Sinne. Diese materielle und formelle Verfassung wird als Verfassung schlechthin bezeichnet, obwohl sie einerseits nicht das ganze absolut und relativ materielle Verfassungsrecht enthält 5, ande~seits auch andere N~rmen ais;'m aterielle Verfassungsvorschriften zum Inhalte haben kann. II. 1. Eine solche Verfassung besitzt nun auch die schweizerische Eidgenossenschaft. Ihre Verfassungsurkunde ist gegenwärtig die Bundesverfassung "vom 29. Mai 1874 6 • Diese ist nach l\1aßgabe der Revisionsvorschriften der Bundesverfassung vom 12. September 1848 erlassen worden 7 und besitzt somit ihren Rechtsgrund in letzteren. Die geltende Bundesverfassung von 18/4 bildet dementsprechend einen Erlaß der Bundesgewalt und es fehlt ihr daher jedes vertragsmäßige Element. Man kann zwar unter einem politischen Gesichtspunkte die Sta~tsverfassung als einen Kompromiß zwischen auseinandergehenden politischen Forderungen betrachten; juristisch ist sie aber Staatsgesetz 8• Die Bundesverfassung von 1848 ist ihrerseits gleichzeitig mit der Eidgenossenschaft entstanden. Der Akt der Schöpfung des schweizerischen Bundesstaates im Jahre 1848 fiel, da die Verfassung im absoluten Sinne ja ein wesentliches Element des Staatsbegriffes ist, notwendigerweise mit dem Akt der Verfassungsschöpfung 9 , genauer gesagt, mit der Inkraftsetzung der Bundesverfassung von 1848 zu5

Dies wäre praktisch unmöglich. AS I, 1. 7 Art. 111 ff. Vgl. oben S. 17. 8 Eine von Nationalrat Gobat am 23. Juni 1894 gestellte Motion wollte den Bundesrat einladen, ,,zu untersuchen, ob nicht mit Rücksicht auf den Vertragscharakter der Bundesverfassung von 1874 diese Verfassung einer Revision zu unterziehen ist, in de:q1 Sinne, daß allgemeine Grundsätze des öffentlichen Rechts und Verfassungsbestimmungen, welche nicht Gegenstand einer Partialrevision sein dürfen, aufgestellt werden sollen" (Verhandlungen der Bundesversammlung 1894 Nr. 54). Der Antragsteller zog jedoch seine Motion zurück. 9 Fleiner: Die Gründung des schweizerischen Bundesstates, 1898, S. 26f. 6


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Die Bundesverfassung.

sammen 10 • Die Bundesverfassung von 1848 bildete aber nicht, wie deren Eingangsworte vermuten lassen könnten 11 , einen Erlaß der Bundesgewalt selber, da diese ja die Bundesverfassung zur Voraussetzung hat, sondern einen ·Akt der Tagsatzung und der Kantone. Die Bundesverfassung von 1848 war aber, trotzdem sie eine Schöpfung der Tagsatzung und der Kantone darstellte, nicht ein Vertrag zwischen den Kantonen, noch ist sie durch Vertrag zwischen den Kantonen entstanden. Sie bildete vielmehr ein Verfassungsgesetz der Tagsatzung und der Kantone. Deren verfassungsgebende Gewalt war durch die Tagsatzung in den Art. 1 und 2 der Übergangsbestimmungen zum Bundesverfassungsentwurf der Tagsatzung eingesetzt worden, und zwar in dem Sinne, daß die Kantone sich über die Annahme dieses Verfassungsentwurfes auf die durch die Kantonsverfassungen vorgeschriebene Weise auszusprechen hatten, und daß dann die Tagsatzung nach freiem Ermessen über die Annahme der Bundesverfassung ents·c heiden sollte 12 • 13 • 14 • Durch die Regelung des Verfahrens für das Zustandekommen der Bundesverfassung in diesen Übergangsbestimmungen hatte sich somit die Tagsatzung, die .ein Organ des Staatenbundes war, Verfassungsgesetzgebungsgewalt 10 ' Daher ist der schweizerische Bundesstaat erst mit der Konstituierung der Bundesversammlung und der Wahl des Bundesrates am 16. November 1848 gegründet worden, da erst an diesem Termin der Bundesvertrag .von 1815 gemäß Art. 7 der Übergangsbestimmungen der Bundesverfassung von 1848 außer Kraft trat. 11 "Die schweizerische Eidgenossenschaft hat nachstehende Bundesverfassung angenommen." 12 Dabei hatten, wie es scheint, die kantonalen Instruktionsbehörden in ihren Weisungen an die Tagsatzungsabgeordp.eten übereinstimmend der Auffassung Ausdruek verliehen, die Bundesverfassung dürfe nur dann von der Tagsatzung angenommen werden, wenn die Mehrzahl der Kantone, welche gleichzeitig tlie Mehrheit der Bevölkerung der Schweiz umfaßte, dem Werke zugestimmt hätte. Vgl. F I einer: a. a. 0. S. 35. 13 Art. 1 und 2 der Übergangsbestimmungen der Bundesverfassung von 1848 lauteten: . · Art. 1: "Über die Annahme gegenwärtiger Bundesverfassung haben sich die Kantone ·a.uf die durch die Kantonalverfassungen vorgeschriebene, oder - wo die Verfassung hierüber keine Bestimmung enthält - auf die durch die oberste Behörde des b~Lreffenden Kantons festzusetzende Weise auszusprechen." Art. 2: "Die Ergebnisse der Abstimmung sind dem Vororte zu Handen der Tagsatzung mitzuteilen; welche entscheidet, ob die neue Bundesverfassung angenommen sei." 14 Diese Übergangsbestimmungen setzten voraus, daß die Tagsatzung den Entwurf zu einer Bundesverfassung aufstellt. 0

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§ 1. Begriff, Geltungsgrund, Aufbau.·:und Form der Bundesverfassung.

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eines Staatsorganes angemaßt und damit -die Gründung des schwei, zerischen Bundesstaates rechtlich in die Wege geleitet. Formell wa, ren allerdings diese Übergangsbestimmungen Bestandteil des Ver. fassungsentwurfes der Tagsatzung und hätten daher auch erst mit der Annahme dieser Verfassungsvorlage, das heißt mit dem Erlaß der Bundesverfassung Rechtsverbindlichkeit erlangen können 15 . Das war aber logisch unmöglich, da diese Übergangsbestimmungen eben die Bedingungen für die Annahme des Verfassungsentwurfes der Tagsatzung, das ist die Organe und das Verfahren für den Erlaß der Bundesverfassung festsetzten. Infolgedessen können diese Übergangsbestimmungen rechtlich betrachtet sinnvollerweise nur als Ver, fassungsgesetz der Tagsatzu!lg aufgefaßt werden. Der Erlaß dieses Verfassungsgesetzes der Tagsatzung über das Verfahren für das Zustandekomrilen der Bundesverfassung von 1848 bildete somit angesichts der Tatsache, daß sich ~' die Tagsatzung dabei Befugnisse eines Staatsorganes angemaßt hatte, ein Stück originärer Rechtssetzung. Mit anderen Worten; Art. 1 und 2 der erwähnten Übergangsbestimmungen konnten aus keiner höheren gesetzten Norm abgeleitet werden 16 • Diese Übergangsbestimmungen hatten nicht etwa ihren Rechtsgrund im Bundesvertrag von 1815 17 • Auch diese Bestimmungen über das Verfahren für das Zustandekommen der Bundesverfassung von 1848 müssen aber, juristisch betrachtet, sollen sie normative Geltung, also Rechtsverbindlichkeit besessen haben und daher den Geltungsgrund der Bundesverfassung von 1848 sowie damit indirekt der Bundesverfassung von 1874 18 bilden können, gleich jeden1 anderen Rechtssatz auf eine höhere Norm zurückführbar sein. Da sich jedoch das erwähnte Verfassungsgesetz der Tagsatzung wie jede Staatsverfassung ü.b..er.haupt meines - Erachten~ kaum aus dem Völkerrecht ableiten läßt 19, muß sein normativer GeltuD:gsgrund in einer vorausgesetzten Ursprungsnorm erblickt werden 20 • 15

Auf diesen Umstand hatte die Tessiner Gesandtschaft auf der Tagsatzung hingewiesen. Fleiner.: a.a.O. S. 29. 16 Vgl. dazu sowie über das ganze Problem der Staatsentstehung H o r n e f f e r : Die Entstehung des Staates, 1933, S. 1 ff. sowie insbesondere S. · 194 ff.; F 1 e i n e r : a. a. 0. 17 Dieser enthielt, ganz abgesehen davon, daß er keine Staatsverfassung sondern ein völkerrechtlicher . Vertrag war, keine Revisionsvorschriften. 18 Die ja nach Maßgabe der Revisionsvorschriften der Bundesverfassung von 1848 erlassen worden ist; vgl. oben S. 23. 19 Vgl. G i a c o m e t t i: Das Staatsrecht der Kantone, S. 21 f. 2 o. Vgl. über diese Frage des Geltungsgrundes der Staatsverfassung K e l -

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Die Bundesverfassung.

Die Faktizität, das ist die Befolgung dieser Übergangsbestimmun~ gen sowie der Bundesverfassung von 18,1:8 selber wurde durch die Autorität der Tagsatzungsmehrheit und die Macht der annehmenden Kantone, die die große Mehrheit des Schweizervolkes repräsentierten, gesichert 21 • 2. Die geltende Bundesverfassung von 187 4 enthält eine Präambel und 123 Artikel, die in drei Abschnitte zerfallen. Der Aufbau der Bundesverfassungsurkunde auf Grund dieser Einteilung in drei Abschnitte ist aber· nur teilweise systematisch. ·a) Einen geschlossenen Aufbau weisen der zweite und dritte Abschnitt der Bundesverfassung, die sich auf die Bundesbehörden und auf die Verfassungsrevision beziehen, auf. Darin ist die Organisation der Eidgenossenschaft in ihren Grundzügen niedergelegt. So enthalten Abschnitt 2 und 3, nämlich die Art. 71 bis 123 BV, zunächst die grundlegenden Normen der Verfassung im absolut materiellen Sinne, indem diese Verfassungsvorschriften den Bundesverfassungsgesetzgeber und den einfachen Gesetzgeber einsetzen sowie das Verfahren der Bundesverfassungsgesetzgebung und der einfachen Bundesgesetzgebung grundsätzlich regeln. Abschnitt 2 der Bundesverfassung enthält außerdem ein Stück relativ materielles Verfassungsrecht in der Gestalt von grundlegenden Normen über die obersten Vollziehungs- und Rechtsprechungsorgane des Bundes sowie von Vorschriften über die Verteilung der Bundeskmnpetenzen zwischen den Bundesbehörden 22, vorab im Sinne des Gewaltentrennungsprinzips. b} Systemlos erscheint hingegen der erste Abschnitt der Bundesverfassung, der die Bezeichnung ,,Allgemeine Bestimmungen" trägt. Er enthält Normen aus den verschiedensten Gebieten des relativ mates e n: Allgemeine Staatslehre, S. 128 ff., sowie Reine Rechtslehre, S. 189 ff.; V e r d r o ß :. Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, S. 1 ff'. 21 Darum ist auch der Beschluß der ·Tagsatzung vom 12. September 1848 betr. die feierliche Erklärung über die Annahme der neuen Bundesverfassung u. a. in der Erwägung gefaßt worden, daß die Bundesverfassung von 15 ganzen Kantonen und einem Halbkanton, welche zusammen eine Bevölkerung von 1897 887 Seelen, also die überwiegende Mehrheit der schweizerischen Bevölkerung und der Kantone repräsentieren; angenomm~n worden sei. Vgl. Kaiser und S tri c k I er: Geschichte· und Texte der Bundesverfassungen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, S. 301 ff. 22 Kein materielles Verfassungsrecht enthalten. jedoch 'die Art. 105. ff BV über die Bundeskanzlei. Diese Bestimmungen über die Bundeskanzlei haben lediglich deshalb Aufnahme in die Bundesverfassung gefunden, weil die Bundeskanzlei als einziges •ständiges Organ des· Staatenbundes im Bundesvertrag von 1815 erwähnt war.


§ 1. Begriff, Geltungsgrund, Aufbau und Form der Bundesverfassung.

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riellen Verfassungsrechtes, die sachlich nicht immer zusammengehören. So wechseln darin in buntem Nebeneinander Vorschriften über das Verhältnis zwischen Staat und Individuum, über die Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Kantonen, über das Schweizerbürgerrecht, Justizgrundsätze usw. ab. Hauptinhalt dieses ersten Abschnittes der Bundesverfassung bildet jedoch die Grenzziehung zwischen der kantonalen und eidgenössischen Kompetenzsphäre im Sinne der positiven Bestimmung der Bundeskompetenzen sowie die Verhältnisordnung zwischen Staat und Einzelnem in der Gestalt eines sogenannten Katalogs von Freiheitsrechten. Trotz dieser Buntscheckigkeif weist aber der erste\_ Abschnitt der Bm:_tdesverfassung im Gegensatz zu den Kantonsverfassungen 23 kaum Vorschriften auf, die nicht irgendwie zum relativ materiellen Verfassungsrecht gezählt werden können. So sind auch die verschiedenen, im ersten Abschnitt der Bundesverfassung enthaltenen Polizeiverbote, wie das Schächtverbot 24 oder das Spielbankverbot 25, deren Aufnahme in die Bundesverfassung prima facie unverständlich erscheinen mag, materielles Verfassungsrecht, indem die betreffenden Verfassungsartikel eben neue Bundeskompetenzen begründen 26 • Die Besonderheit besteht hier darin, daß diese Bundeskompetenzen ihre Positivierung bereits in der Bundesverfassung erfahren haben 27 , so daß ~ie im Gegensatz zu den meisten anderen bundeskompetenzbegründenden Verfassungsbestimmungen unmittelbar anwendbares Recht bilden. Allerdings sind solche Verfassungsartikel mit bereits positivierten Bundes:. kompetenzen in der Hauptsache aus politischen Zufäl1igkeiten, d. h. aus dem Umstande zu erklären. daß sie auf Volksinitiativen zurückgehen 28 • Die formulierte Volksinitiative auf Verfassungsrevision ermöglicht es überhaupt angesichts des Fehlens der Gesetzesinitiative des Volkes, daß Materien in die Bundesverfas~ung aufgenommen werden, die nicht dorthin gehören 29 , so daß der Unterschied zwischen Verfassung und Gesetz verwischt und damit das juristische Ebenmaß der Bundesverfassung gefährdet wird 30 • 23

Vgl. G i a c o m e t t i : Das Staatsrecht der Kantone, S. 53 f. Art. 25bis BV. . 25 Art. 35 BV. 26 Der Bund wäre wohl ohne diese Verfassungsartikel kaum zum Erlasse der diesbezüglichen Verbote zuständig gewesen. 27 Vgl. unten S. 90. 28 So verdanken die Art. 25bis und 35 BV ihre Existenz Volksinitiativen. 29 Vgl. unten S. 729 f. 30 Vgl. z. B. die Volksinitiative betr. Reorganisation des Nationalrates von 2"


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Die Bundesverfassung.

Eine formelle Eigentümlichkeit des ersten Abschnittes der Bundesverfassung liegt in dem Umstande, daß viele, vorab neuere bundeskompetenzbegründende Verfassungsbestimmungen nicht in den 70 Artikeln dieses Abschnittes niedergelegt sind sondern vielmehr als Zusatzartikel zu denjenigen Verfassungsartikeln des ersten Ab~ schnitt es, ·mit denen sie sachlich zusammenhängen, erscheinen. Diese sogenannten Einschaltartikel werden mit den lateinischen Ausdrücken bis, ter, quater, quinquies usw. bezeichnet 3 \ 32 • Zu diesem Notbehelf mußte man angesichts der Aufnahme vieler neuer bundeskompetenzbegründender Bestimmungen in die Bundesverfassung seit der Totalrevision von 1874 greifen, sollte nicht der Rahmen des ersten Abschnittes und damit der Verfassungsurkunde überhaupt gesprengt werden. Die vielen Einschaltartikel sind somit ein treues Spiegelbild der Fortbildung der Bundesverfassung seit 1874 im Sinne vorab einer großen Ausdehnung der Bundeskompetenzen. Mit diesen vielen Partialrevisionen hängt denn auch die U neinheltlichkeit .der Sprache der Bundesverfassung zusammen, die der Verfassungsinterpretation große Schwierigkeiten bereitet 33 • Eine weitere formelle Besonderheit des ersten Abschnittes der Bundesverfassung besteht darin, _daß sich der Verfassungsgesetzgeber in verschiedenen bundeskompetenzbegründenden Artikeln aus referendumspolitischen Gründen nicht auf die Aufstellung grundsätzlicher Normen beschränkt, wie es dem Wesen einer Verfassung entspricht. Mit der Begründung der Gesetzgebungskompetenz des Bundes in einer bestimmten Materie werden vielmehr zugleich Direktiven an den Gesetzgeber über die Regelung des betreffenden Gegen~ staudes ·verbunden und damit die Lösung wichtiger gesetzgeberischer

----1941, die unter anderem eine Änderung des Nationalrats~ahlgesetzes ver· verlangte. 31 Vgl Art 23bis 24bis 24ter 25bis 27bis 31 bis - 31ter 31 quater 31 quinquies 34bis 34ter 34quate; 37bis' 37tel'' 41bis' 41ter's4bis 'ß9bis s9ter BV' ' Ei~en s~lchen Ei~schaitartik~l, nä~lich Art. 1_i4bis, e~thält au~h der zweite Abschnitt der Bundesverfassung. 32 Mit Botschaft vom 20. August 194 7 hatte der Bundesrat auf Anregung einer ständerätlichen Kömmission der Bundesversammlung einen Entwurf zu einem einfachen Bundesbeschluß unterbreitet, in dein die Ersetzung der in der Bundesverfassung für die Einschaltartikel verwendeten lateinischen Bezeichnungen durchgroße Buchstaben vorgesehen war. BBl 1947 II 763. Der Nationalrat ist jedoch auf dies~e Vorlage mit Recht nicht eingetreten. Eine solche Ersetzung-·der lateinischen Bezeichnungen durch . große Buchstaben wäre unzweckmäßig gewesen; ja man kann sich fragen, ob es hiezu nicht einer Verfassungsrevision bedurft hätte. 33 Vgl. · unten S. 75.

"


§ 1. Begriff, Geltungsgrund, Aufbau und Form ·d er Bundesverfassung.

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Probleme in der Verfassung vorweggenonunen 34 • Dieser Umstand -erklärt sich aus der weitgehenden Kompromißnatur solcher Yer- · fassungsartikel. 3. Die Bundesverfassung von 187 4 besitzt die erhöhte formelle <Gesetzeskraft. Sie isf daher eine sogenannte starre Verfassung. Diese erhöhte formelle Gesetzeskraft der Bundesverfassung besteht vorab in der erschwerten Abänderbarkeit des Grundgesetzes im Verhältnis zu den einfachen Bundesgesetzen, indem verfassungsändernde Gewalt und Verfahren der Verfassungsrevision nicht mit dem einfachen Bundesgesetzgeber und dem Gesetzgebungsverfahren identisch sind. Notwendiger Faktor der einfachen Bundesgesetzgebung ist nur die Bundesversammlung, während Verfassungsrevisionen außerdem der Zustimmung von Volk und Ständen bedürfen 35 • Dabei ist der Grad der erschwerten · Abänderbarkeit der Bundesverfassung verschieden, je nachdem die Total- oder Partialrevision derselben in Frage kommt 36'. Die Bundesverfassung. als Ganzes ist unter schwereren Bedingungen abänderbar als die einzelne Verfassungs,. vorschrift 37 • Mit dieser erschwerten Abänderbarkeit wird der Bundesverfassung die Gewähr längerer Dauer und eine erhöhte Autorität verliehen. Ja, die Bundesverfassung erscheint meines Erachtens nach einzelnen Richtüngen rechtlich überhaupt unabänderbar 38 • Angesichts ihrer erhöhten formellen Gesetzeskraft ist die Bundesverfassung für alle Bundesbehörden unverbrüchlich. Nur durch das Zusammenwirken der verschiedenen Faktoren der verfassungsändernden Gewalt nach Maßgabe der Revisiönsvorschriften, von Bundes·v ersammlung, Volk und Ständen, kann sie abgeändert werden 39 • Besteht für die Vorschriften der Bundesverfassungsurkunde die erhöhte formelle Gesetzeskraft, so entspricht es andererseits dem Sinne dieser Verfassungsurkunde, daß die auf dem Wege der Verfassurigsgesetzgebung erfolgende Änderung b~w. Aufhebung oder Ergänzung ihrer Normen nicht nur eine materielle sondern auch eine formelle sein n1uß;· das will heißen, Änderungen der Vorschriften der Bundesverfassungsurkunde dürfen nur durch Änderung ihres 'Vortlautes, nicht lediglich durch Hevision _ihres Inhaltes erfolgen, und ebenso mü·s sen neue, auf dem Wege der Verfassungsgesetz,.. 34

35 6 E 37

38 39

Vgl. Vgl. V gl. Vgl. Vgl. Vgl.

z. B. Art. 23bis, 24bis, 32bis, 39 BV. unten S. 715, 722 f. unten S. 705, 719. die letzte Anmerkung. unten S. 705 f. unten S. 708 ff., 718 ff.


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Die Bundesverfassung.

gebung erlassene Bestimmungen in die Bundesverfassungsurkunde aufgenommen werden. Denn ansonst würde formelles Verfassungsrecht außerhalb der Verfassungsurkunde entstehen und diese infolgedessen allmählich ihren Sinn verlieren. In der Praxis wird allerdings mitunter von diesem Grundsatz abgewichen, indem neue auf dem \Vege der Verfassungsgesetzgebung erlassene Normen: nicht in die Bundesverfassungsurkunde Aufnahme . finden sondern als formelle Verfassungsgesetze neben der Bundesverfassung bestehen 40 •

§ 2. Die Bundesverfassung als Verkörperung der

schweizerischen Staatsidee. Die Bundesverfassung ist wie gesehen die oberste Zuständigkeitsordnung der Eidgenossenschaft, indem sie die verfassungsgebende Gewalt, den einfachen Gesetzgeber sowie die anderen . obersten Machthaber des Landes einsetzt und die staatliche :Macht unter sie verteilt. Die Bundesverfassung erscheint aber außerdem auch in dem weiteren Sinne als Zuständigkeitsordnung, daß sie die Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen verteilt, und eine grundsätzliche Ordnung des Verhältnisses zwischen Staat und Individuen enthält. Als solche Zuständigkeitsordnung im engeren und weiteren Sinne ·stellt die Bundesverfassung den rechtlichen Niederschlag der herrschenden politischen Anschauungen und Traditionen des Schweizervolkes dar 1 • Denn politische Überzeugungen und Überlieferungen beziehen sich auf das Verhältnis zwischen Einzelnen und Kollektivität und damit auch auf die Art der staatlichen Organisation. Sie bilden insofern die Staatsauffassung eines Volkes. Die Bundesverfassung verkörpert .daher die schweizerische Staatsidee. I. Die Bundesverfassung erscheint vorab als. rechtliche Verkörperung einer freiheitlichen und föderalistischen Staatsidee, die auf alten Überlieferungen sowie auf gewissen politischen Dogmen beruht und sich als. Ergebnis der historischen Entwickiung des Landes darstellt 2 • Die schweizerische freiheitliche Staatsidee verlangt die Anerkennung der Persönlichkeit des Individuums· im Staate, und zwar sowohl im Sinne der Gewährleistung einer staatsgewaltfreien 40

Vgl. unten S.703. -, Vgl. darüber G i a c o m e t t i : Die gegenwärtige Verfassungslage der Eidgenossenschaft, Schweiz. Hochschulzeitung 1942, S. 199 ff. 2 Vgl. F I einer: Tradition, Dogma, Entwicklung als aufbauende Kräfte der schweiz. Demokratie, 1933. Vgl. oben S. 2 ff. 1


§ 2. Die Bundesverfassung als Verkörperung der schweiz. Staatsidee.

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Sphäre des Einzelnen wie der Heranziehung der Individuen zur staatlichen Willensl:>ildung und der Rechtsgleichheit Die' föderalistische Staatsidee ihrerseits fordert einen genossenschaftlichen ·Aufbau des Staates. Dementsprechend gewährleistet die Bundesverfassung eine gleiche individuelle Freiheit, eine gleiche politische Freiheit und eine genossenschaftliche Freiheit. Dies sind die drei grundlegenden Prinzipien der Bundesverfassung ·über die staatliche Struktur · des Landes. Rechtslogisch betrachtet geht dabei der Normenkomplex der Bundesverfassung über die politische Freiheit als absolutes Verfassungsrecht den Verfassungsbestimmungen über die individuelle und genossenschaftliche Freiheit vor. Ideell und funktionell gesehen stehen hingegen individuelle und politische Freiheit ·als besondere Ausprägungen einer individualistischen politischen Weltanschauung im Sinne der Anerkennung der Persönlichkeit des Einzelnen im Staate notwendigerweise in Wechselbeziehung zueinander. Aber auch die genossenschaftliche Freiheit steht im engen ideelle_!l und funktionellen Zusammenhang mit der individuellen und politischen Freiheit. Individuelle Freiheit garantiert die Bundesverfassung durch Gewährleistung von Freiheitsrechten. Diese sollen den Eigenwert des Einzelnen als Vernunftwesen in der staatlichen Gemeinschaft sicherstellen und damit ·die staatliche Wirksamkeit beschränken, . also die Aktualisierung der Staatsallmacht verhindern. Daher stempelt die Bundesverfassung die Eidgenossenschaft zu einem Rechtsstaat im materiellen Sinne. Die Freiheitsrechte der Bundesverfassung sind aber darüber hinaus zugleich die ideelle und funktionelle Grundlage der politischen Freiheit 3 • Politische Freiheit gewährleistet die Bundesverfassung durch Anerkennung der politischen Selbstbestimmung der Einzelnen im Bqnde, das - ist durch Verwirklichung des Volkssouveränitätsprinzipes im Sinne der unmittelbaren Demokratie der Rechtssetzung in der Gestalt der Verfassungsinitiative des Volkes, des obligatorischen Verfassungsreferendums und des fakultativen Gesetzesreferendums. Ebenso schreibt die Bundesverfassung den Kantonen eine analoge demokratische Staatsform vor. Damit wird der Einzelne auch als staatlicher Machthaber anerkannt. Die politische Freiheit erscheint andrerseits als Garant der Freiheitsrechte. Genossenschaftliche Freiheit garantiert die Bundesverfassung dadurch, daß sie eben eine B u n d e s verfassung ist, das heißt die histo3-

Vgl. unten S. 244 f.


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Die Bundesverfassung.

risch überkommenen kantonalen Gebilde anerkennt und die Schweiz damit genossenschaftlich, föderalistisch aufbaut. Bestimmt ja Art. 1 BV, daß die Eidgenossenschaft aus den vereinigten Völkerschaften der zweiundzwanzig souveränen Kantone gebildet werde. Die föderalistische Struktur des Landes erscheint zugleich als ein Schutz der individuellen und politischen Freiheit 4 • Diese Tatsache ist vorab in dem Sinne zu verstehen, daß mit dem genossenschaftlichen Aufbau des Landes eine Verteilung der staatlichen Macht zwischen Bund und Kantonen erfolgt und damit eine weitere Schranke gegen die Staatsallmacht errichtet wird 5 • Die föderalistische Struktur des Landes ist aber auch ein Garant der politischen Freiheit, indem das demokratische Prinzip in den Kantonen naturgemäß in umfassenderer Weise .durchgeführt und dort zu· Hause ist, so daß diese als die eigentlichen Träger der politischen Freiheit erscheinen. Ohne Aufbau von unten, also beim Fehlen einer entsprechenden Fundierung durch die kantonale Demokratie würde die politis'c he Freiheit iin Bunde in der Luft stehen. Ohne staatliche Dezentralisation durch Selbstverwaltungskörper ist daher die liberale Demokratie nicht in gleicher Weise sichergestellt. .Der Zentralismus weist ja erfahrungsgemäß autoritäre und totalitäre Tendenzen auf. Als Ausstrahlung und zugleich Gewährleistung der freiheitlichen und föderalistischen Staatsidee, die die Bundesvercfassung verwirklicht, erscheint die sich aus der erhöhten formellen Gesetzeskraft der Bundesverfassung ergebende Unverbrüchlichkeif derselben 6 • Diese Unverbrüchlichkeil der Bundesverfassung findet zunächst ihren Ausdruck im Grundsatz der formellen Verfassungs-:mäßigkeit, das ist der Kompetenzmäßigkeit der ~taatlichenr Funk:. tionen; die einzelne Bundesbehörde besitzt mit andern Worten nur dü~jenigen Zuständigkeiten, die die Bundesverfassung ihr zuspricht. Djeses Pririiip ergibt s~ch seinerseits aus dem Wesen der Rundesverfassung als der obersten Zuständigkeitsordnung im engeren und weiteren Sinne, und ist a'l:lf den Grundsatz der Gewaltentrennung ausgerichtet 7 • Als Ausprägung der Unverbrüchlichkeit der Bundes4 Vgl. dazu W. K ä g i: Vom Sinn des Föderalismus, Separatabdruck aus dem Jahrbuch "Die Schweiz", 1944, S. 12 ff. A. Gasse r : Gemeindefreiheit als Rettung Europas, .1943. 5 Der Föderalismus erfüllt insofern .eine analoge Funktion wie die Gewaltentrennung. 6 Vgl. oben S. 29. 7 Vgl. unten S. 4 70 ff.


§ 2. Die Bundesverfassung als Verkörperung der schweiz. Staatsidee.

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verfassung erscheint sodann das Prinzip der materiellen Bundesverfassungsmäßigkeit der staatlichen Funktionen, das heißt, Bundesbehörden und kantonale Behörden sind in ihrer ·Rechtssetzungs-, Verwaltungs- und Rechtssprechungstätigkeit .an die materiellen Vorschriften der Bundesverfassung, also vorab an die Freiheitsrechte und an die Verfassungsbestimmungen, die die Bundeskompetenzen begründen, gebunden. Als Ausprägung der Unverbrüchlichkeit der Bundesverfassung kommt so dann in Frage · das sich aus dem Gewaltentrennungs- und dem Rechtsgleichheitssatze ergebende sonstige materielle Legalitätsprinzip im Sinne der inhaltlichen Rechtmäßigkeil von Verwaltung und Rechtsprechung überhaupt 8• Das · materielle Legalitätsprinzip bindet vollziehende und richterliche Behörden an generelle abstrakte Normen und schützt da1nit den Einzelnen gegen Willkürakte der Justiz und Verwaltung. Diese Grundsätze der Kompetenzmäßigkeit und der materiellen Legalität der staatlichen Funktionen :stempeln 'die Eidgen.'o ssenschaft auch zu einem Rechtsstaate im formellen Sinne. Diese ideelle und praktische Ergänzung der individuellen, politischen und genossenschaftlichen Freiheit durch den formellen Rechtsstaat erscheint als eine Notwendigkeit. Die freiheitliche Staatsidee der (Bundesverfassung im Sinne der individuellen und politischen Freiheit der Bürger und der Freiheit der Kantone kann allein bei Bindung der Behörden an das Recht gewahrt werden. II. Neben der Idee der individuellen, politischen und genossenschaftlichen Freiheit und dem rechtsstaatliehen Gedanken verkörpert die Bundesverfassung noch eine andere Staatsidee, die zusammen mit der freiheitlichen Staatsauffassung und dem Rechtsstaatsprinzip erst den schweizerischen Staatsgedanken in seiner Ganzheit ausmacht. In der Bundesverfassung findet nämlich der Charakter der Eidgenossenschaft als einer politischen Nation, das heißt als einer Nation verschiedener Sprachstämme im Gegensatz zur Kulturnation, die durch die Einheit der Sprache gekennzeichnet ist, seinen rechtlichen Ausdruck. Dieser besteht darin, daß die Bundesverfassung die überlieferte Vielsprachigkeit der Schweiz· anerkennt und gewährleistet, indem sie im Art. 116 Abs. 1 bestimmt, daß das Deutsche, Französische, Italienische und Rätoromanische die Nationalsprachen der Schweiz sind. In dieser Verfassungsbestimmung ist sowohl eine Anerkennung der Gleichberechtigung der Nationalsprachen als auch 8

Vgl. unten S. 244, 409 f

4 Fleiner I Giacometti, Bnndesstaatsrecht.


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Die Bundesverfassung.

die Garantie ihres Fortbestandes enthalten 9• 10 • 11• Während in deri großen Staaten Europas die einheitliche Sprache der Ausdruck ihrer nationalen Eigenart ist, bildet somit umgekehrt in der Schweiz die Mehrsprachigkeit das nationale Moment. Die in der Bundesverfassung verkörperte Idee der mehrsprachigen politi~chen Nation steht in engste:r .Wechselwirkung mit dem freiheitlichen und föderalistischen Staatsgedanken des Landes. So sind politische, individuelle und genossenschaftliche Freiheit die Voraussetzung der Existenz der Eidgenossenschaft als viersprachige Nation. Die Schweiz wäre als zentralistischer, autoritärer, totalitärer Kleinstaat durch die zentripetal~n Kräfte der .gleichsprachigen . Nachbarstaaten · gefährdet. Die mehrsprachige Schweizernation hat ihren Rückhalt vorab an der. föderalistischen Struktur des Landes, an den Kantonen 12• · Der Bestand und das ungestörte Eigenleben der einzelnen Sprachgruppen wird in erster Linie durch die kantonale Autonomie gesichert. Anderseits bildet die Mehrsprachigkeit des Landes eine wichtige Garantie der freiheitlichen und föderalistischen Staatsidee, vorab der genossenschaftlichen Freiheit, indem sie eine Schranke gegen zentralistische Tendenzen darstellt 13• III. Zum Grundcharakter der· Bundesverfassung gehört sodann die Tatsache, daß sie die Christlichkeit der Eidgenossenschaft, wenn 9

Vgl. C. He g n a u er: Das Sprachenrecht der Schweiz, Zürcher Diss. 1946, S. 42 ff., 56 ff., 77; M a x Huber : Grundlagen nationaler Erneuerung 1934, s. 43' ff. 10 Im Widerspruch zu dieser Gleichberechtigung der Nationalsprachen steht die Tatsache, daß die eidgenössische Maturitätsverordnung von 1925 es ermöglicht, daß die italienische Sprache in den Mittelschulen der deutschen und französischen Schweiz gegenüber der englischen Sprache im allgemeinen zurückgesetzt ist, indem bei der · Matura B und C das Maturitätszeugnis über die dritte Landessprache oder die englische Sprache auszustellen ist und' diese Sprache gegenüber dem italienischen im allgemeinen den Vorzug erhält. Vgl. dazu He g n a u er: a. a.O. S.-106 ff. . 11 Der Bund unterstützt auf Grund des Art. 116 Abs. 1 BV die Nationalsprachen, so die italienische und romanische Sprache, auch finanziell, so durch Gewährung von Sprachenzulagen bei der Primarschulsubvention gemäß Art. 4 des BG vo:ri 1930 zur Abänderung des BG von 1903 über .die Unterstützung der öffentlichen Primarschulen (A. S. 46, 513), so durch den BB vom 21. September 1942 über die Bewilligung einer jährlichen Bundessubvention an den Kanton Tessin und an die Talschaften italienischer und romanischer Sprache Graubündens zur Wahrung und Förderung ihrer kulturellen Eigenart (A. S. 58, 915) . 12 So hat z. B. die italienische Sprache ihren Rückhalt am Kanton Tessin. 13 Vgl. Hegnauer: a.a.O. S.48f.


§ 2. Die Bundesverfassung als Verkörperung der schweiz. Staatsidee.

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auch freilich-nur im Rahmen der Religionsfreiheit 14 , anerkennt. Die Bundesverfassung wird nämlich eingeleitet mit dem religiösen Vorspruch: ,,Im Namen Gottes des Allmächtigen". Die Verfassungsgesetzgebung erfolgt somit unter Berufung auf Gott. Dies entspricht uralter schweizerischer Tradition. · Alle eidgenössischen Bünde, vom Bundesvertrag von 1291 bis zum Bundesvertrag von 1815, sowie die Bundesverfassung von 1848 werden mit diesen Worten eingeleitet. Durch einen solchen religiösen Vorspruch soll die Verfassung und damit das politische Leben des Landes, dessen Grundgesetz sie ist, eine transzendente, theistische Grundlage erhalten. Diese religiösen Eingangsworte der Bundesverfassung stehen auch im engsten Zusammenhange mit der von ihr verkörperten freiheitlichen Staat8idee, die ja ~nter anderem auf das Christentum zurückgeht 15 • IV. Die von der Bundesverfassung gewährleistete individuelle, politische, föderalistische- Freiheit _sowie die von ihr garantierte Mehrsprachigkeil und anerkannte ,christliche Grundlage des Lande" machen zusammen das Wesen der schweizerischen Eidgenossenschaft aus. Denn die föderalistische liberal-demokratische Staatsstruktur erscheint als die einzig mögliche politische Lebensform der Schweiz, und desgleichen ist die Eidgenossenschaft nur in ihren verschiedenen Sprachstämmen, in ihrer :Mehrsprachigkeit, sowie auf christlichem Fundament vorstellbar 16 • 14

Vgl. unten S. 315 ff. Vgl. über den religiösen Vorspruch der Bundesverfassung Max H n b e r : a. a. 0. S. 65 fr.; L a m p er t : Staat und Kirche in der Schweiz, Bd. 1 ~ S. 51; E. S t a ehe I in: Im Namen Gottes des Allmächtigen!; vom Kampf um die Christlichkeit der schweiz. Eidgenossenschaft, Separatabdruck aus der Festschrift zum 70. Geburtstag von Eberhardt Vischer, 1935. 16 Nicht zum Wesen der . Eidgenossenschaft gehört hingegen die Tatsach~, daß sie immer mehr zum Sozialstaat wird; denn dies gilt für jeden mo·d ernen Kulturstaat. 15


Bund und Kantone.

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2._ Kap i t e 1.

Bund und Kantone oder der föderalistische Aufbau der Eidgenossenschaft 1. Abschnitt.

DieDezentralisation des Bundes durch die Kantone. § 3. Die rechtliche Natur von Bund und Kantonen\ I. Der Staat stellt soziologisch betrachtet einen territorialen Herrschaftsverhand dar. Er besitzt ein Gebiet, ein Volk, eine Herrschaft und einen diese Herrschaft organisierenden Normenkomplex, die Ver1

Vgl. über den Begriff des Bundesstaates L ab an d : Staatsrecht des Deutschen Reiches, 5. Aufl. I (1911) S. 55 f. H. Na w i a s k y: Der Bundesstaat als Rechtsbegriff, 1920. T h o m a : Das Reich als Bundesstaat im Handbuch des Deutschen Staatsrechts I S. 169 und die dort angeführte Literatur. Ca r r e d e MaIberg, Theorie generale de l'etat, Bd. 1 S. 90 ff. C. Sc h mit t: Verfassungslehre S. s"61 ff. Für die Schweiz fallen besonders in Betracht E. B o r e I : Etude sur la souverainete et I'Etat federatif, Genfer Diss. 1886. M a x V e i t h : Der rechtliche Einfluß der Kantone auf die Bundesgewalt nach schweiz. Bundesstaatsrecht, Straßburger Diss. 1902, S. 21 f. M a x Huber : Die. Entwicklungsstufen des Staatsbegriffs (Ztschr. f. schweiz. R. n. F. 23, S. 1 f.). 0 t t o Laube r : Der Bundesstaatsbegriff in der schweiz. Publizistik und Praxis, Zürcher Diss. 1911. Na w i a s k y: Aufbau und Begriff der Eidgenossenschaft, 1936. Über die Auffassung des Bundesstaats in der Nordamerikanischen Union siehe R ü t tim an n: Nordamerikanisches Bundesstaatsrecht I, S. 49 f. Ernst Mo 11: Der Bundesstaatsbegriff in den Vereinigten Staaten von Amerika, Zürcher Diss. 1905. Ernst Freund: Das öffentliche Recht der Vereinigten Staaten von Amerika, 1911, S. 19 f. (Das öffentliche Recht der Gegenwart, Bd. XII.) B out m y: Etudes de droit constihitionnel I, chap. 8 ("Les sources et J'esprit de la constitution des Etats-Unis"). A. Ga v in: Das Verhältnis der Staa·ten zum Bund i. d. Vereinigten Staaten von Amerika, Zürcher Diss. 1921. Tri p p : Der schweizerische und amerikanische Bundesstaat, aus dem Englischen übersetzt und bearbeitet von H. Huber, 1942.


§ 3. Die rechtliche Natur von Bund und Kantonen.

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fassung. Und zwar erscheint der Staat als der höchste Herrschaftsverband auf einem bestimmten Territorium 2• Er ist ein souveräner Herrschaftsverband, d. h. seine Herrschaft ist auf dem betreffenden Gebiete nach innen und außen eine höchste, keiner andern Gewalt unterworfene. Die Souveränität bildet somit eine wesentliche Eigenschaft des Staates 3 • Wenn man die Souveränität nicht als wesentliches Merkmal des Staates ansieht, so wird der Staatsbegriff relativiert. Jeder territoriale Herrschaftsverband und somit auch jede Gemeinde kann dann als Staat betrachtet werden. l\1it einer solchen Relativierung würde aber der Staatsbegriff jeden Erkenntniswert verlieren 4 • Andererseits erscheint der Staat, wenn man ihn juristisch betrachtet, als die Organisation, d. h. die Zuständigkeitsordnung im engeren Sinne, also als die Verfassung ·des höchsten territorialen Herrschaftsverbandes. Der Staat kann, normativ besehen, nur ·sein juristisches Element, die Staatsverfassung sein. Wie nun der Staat souverän ist, so muß auch seiner Verfassung die Souveränität z~­ kommen. Ist nämlich die staatliche Herrschaft eine höchste, so muß dementsprechend auch ihre Organisation eine höchste sein. Infolgedessen erscheint als Staatsverfassung die höGhste Organisation auf dem betreffenden Gebiete. Höchste Zuständigkeitsordnung auf einem bestimmten Territorium ist aber diejenige Organisation, die, normativ betrachtet, von keiner höheren gesetzten Norm abgeleitet werden kann, d. h. ihren formalen normativen Geltungsgrund in keiner gesetzten ·Norm hat, also keine positivrechtliche Basis besitzt. Dies trifft dann zu, wenn die Erzeugung dieser Zuständigkeitsordnung in keiner gesetzten Norm irgendwelche Regelung e!ifahren hat. Eine solche höchste Organisation kann infolgedessen auch nicht inhaltlich durch eine andere Ordnung bestimmt werden 5 • li. Die schweizerische Eiqgenossenschaft, die in der Schweiz 2

Vgl. zum Folgenden Z. G i a c o m et t i: Das Staatsrecht der Kantone,

s. 3 ff. 3

Vgl. Anita Ce ll i er - B o r c h a r d t : Beitrag zur Lehre der Souveränität, Zürcher Diss. 1937, S. 117 ff. und die dort zitierte Literatur. 4 Die Souveränität wird nicht als Merkmal des Staates angesehen, also aus dem Staatsbegriff eliminiert z. B. von der Genossenschaftstheorie und von der Lehre des Primats der Völkerrechtsordnung. Als nicht wesentliche Eigenschaft des Staates wird die Souveränität vorab in der deuts<'hen Bundesstaatstheorie betrachtet. Vgl. darüber A. Ce ll i er-B o r c h a r d: a. a. 0. s. 80 ff. 5 Vgl. unten S. 41.


Bund und Kantone.

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gewöhnlich Bund genannt wird 6 , ist nun ein Staat im oben erwähnten Sinne. Sie weist die oben genannten wesentlic]?.en Merkmale eines solchen auf. Die Eidgenossenschaft besitzt, wie die Wirklichkeit zeigt, ein Imperiu1n und eine diese Herrschaft organisierende Verfassung, die Bundesverfassung von 187 4. Dementsprechend hat der Bund ein Volk, über das er· gebietet, sowie ein Gebiet, in welchem seine Herrschaft sich betätigt. Allerdings sind, da die Eidgenossenschaft sich aus den zweiundzwanzig Kantonen zusammensetzt 7 , Gebiet und Volk der Schweiz zunächst Gebiet und Volk der Kantone. Der Bund besitzt kein ihm vorbehaltenes Gebiet, kein sogenanntes Bundesterritorium 8 und kein besonderes Bundesvolk 9 • Volk und Gebiet der Kantone werden aber · zum Volk und -Gebiet der Eidgenossenschaft, insofern der Bund in seinem Kompetenzbereich 10 Herrschaftsgewalt ausübt. Denn das Volk, über das der Bund, und das Gebiet, in dem er sein Imperium ausübt, können, da sich eben die Eidgenossenschaft aus den Kantonen zusammensetzt, nur das kantonale Volk und das kantonale Gebiet sein. Ferner ist die Herrschaftsgewalt der Eidgenossenschaft auf dem Gebiete der Schweiz souverän, also keiner anderen Gewalt unterworfen sondern jeder ~nderen Gewalt übergeordnet. Dies ergibt sich aus der Bundesverfassung. Der .Bund besitzt nämlich die sogenannte Kompetenzkompetenz, d. h., die Verteilung der staatlichen Aufgaben zwischen Bund und Kantonen ist durch die Bundesverfassung und nicht durch die Kantonsverfassungen erfolgt und der Bund hat für die Kompetenzerfüllung zu sorgen 11 • Dementsprechend kann die Eidgenossenschaft gemäß den Revisionsvorschriften der Bundesverfassung jederzeit den Kantonen Kompetenzen, die sie bisher besessen haben, durch eigenen vVillensentschluß, das ist durch Verfassungs6

Ich vermag keinen juristischen Unterschied zwischen Bund und Eidgenossenschaft zu sehen. N a w i a s k y : ·Aufbau und Begriff der Eidgenossenschaft, s. 24 ff. unterscheidet zwischen der Eidgenossensch?ft als staatsrechtlicher Gesamtheit der Kantone und dem Bund als Zentralstaat Staatsrechtlich ist dies aber m. E. dasselbe, indem der Bund als Staat sich aus der Gesamtheit der Kantone zusammensetzt; eine andere Gesamtheit der Kantone besteht juristisch nicht. Vgl. unten im Text S. 48 ff. Darauf deutet schon die Überschrift der Bundesverfassung: Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft. · 7 Art. l BV. 8 Wie die Vereinigten Staaten von Nordamerika. 9 Vgl. unten S. 177 ff. 10 Vgl. darüber unten S. 65 ff. 11 Vgl. Bur c k h a r d t: Die Organisation der Hechtsgemeinschaft S. 160.


§ 3. Die rechtliche Natur von Bund und Kantonen.

revision, auch gegen die Opposition des einzelnen Kantons entziehen und sie dem Bunde zusprechen, oder den Kantonen neue Aufgaben übertragen 12• 13. Die Souveränität der Eidgenossenschaft zeigt sich auch darin, daß der Bund auf Grund der Bundesverfassung und der Bundesgesetzgebung die Kantone zur Erfüllung seiner Aufgaben heranzieht 14 • Umgekehrt kann sich der Bund nach Bundesrecht der Herrschaft der kantonalen Rechtsordnung entziehen15 • Ist der Bund ein Staat, so erscheint dieser Staat, normativ betrachtet, als sein juristisches Element, als die Organisation der Eidgenossenschaft, also als die Bundesverfassung. Die Bundesverfassung ist dahe1 gleich der Herrschaft des Bundes, die sie organisiert, souverän; sie erscheint somit als die höchste Organisation auf dem Gebiete der Schweiz; sie ist infolgedessen, formal normativ betrachtet, von keiner höheren geltenden gesetzten Norm ableitbar. Ihr unmittelbarer formaler normativer Geltungsgrund liegt in den Revisionsvorschriften der Bundesverfassung von 1848 16 ~ ihre mittelbare ·Rechtsbasis in einer hypothetischen Ursprungsnorm. 111. Ist die Eidgenossenschaft ein Staat, so erhebt sich dann die weitere Frage, ob der Bund einen Bundesstaat oder Einheitsstaat bildet. [Vom Jahre 1815 bis zum Jahre 1848 war die Schweizerische Eidgenossenschaft ein Staatenbund (Confederation d'Etats). Sie beruhte auf dem Bundesvertrag der 22 Kantone vom 7. August 1815. Der 12

Unrichtig m. E. Bur c k h a r d t: KommentarS. 21, daß auf die Korn-. petenz zur Verfassungsrevision nicht abgestellt werden könne, da es keine solche Kompetenz gebe. 13 Man kann nun demgegenüber den häufig gemachten Einwand erheben, daß solange der Bund sich eine neue Kompetenz nicht beilegt, die J(antone in der betreffenden Materie souverän sind; rechtlich sind sie es jedoch nicht, da eben der Bund auch in dieser Materie die rechtliche Möglichkeit des Eingreifens besitzt, die Bundesgewalt also, wenn auch potentiell, über der kantonalen steht. 14 Vgl. unten S. 109 ff. 15 So untersteht der Bund gemäß Art.lO des Garantiegesetzes nicht der kantonalen Steuerhoheit und ist auch im übrigen nicht an das kantonale Recht gebunden, insofern eine solche Bindung die Eidgenossenschaft in der Erfüllung ihrer Aufgaben beeinträchtigen würde. Vgl. die · Praxis bei Bur c k h a r d t : Bundesrecht Bd. 1. Nr. 261-277 und Nr. 283-308. Dabei muß aber der .B und nach Möglichkeit auf die kantonalE~n Interessen Rücksicht nehmen; vgl. Verwaltungsentscheide der Bundesbehörden, Heft 9, Nr. 15 und 27. Insofern der ·Bund dem kantonalen Recht untersteht, liegt eine freiwillige Unterwerfung. der Eidgenossenschaft vor. Vgl. Stad I in: Die Befreiung des Bundes von der kantonalen Steuerhoheit, Zürcher Diss. 1943, s. 33 f. 16 Vgl. oben S. 23.


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Bund und Kantone.

gewöhnlich Bund genannt wird 6 , ist n,un ein Staat im oben erwähnten Sinne. Sie weist die oben genannten wesentlic]?.en Merkmale eines solchen auf. Die Eidgenossenschaft besitzt, wie die Wirklichkeit zeigt, ein Imperiu1n und eine · diese Herrschaft organisierende Verfassung, die Bundesverfassung· von 1874. Dementsprechend hat der Bund ein Volk, über das er· gebietet, sowie ein Gebiet, in welchem seine Herrschaft sich betätigt. Allerdings sind, da die Eidgenossenschaft sich aus den zweiundzwanzig Kantonen zusammensetzt 7 , Gebiet und Volk der Schweiz zunächst Gebiet und Volk der . Kantone. Der Bund besitzt kein ihm vorbehaltenes Gebiet, kein sogenanntes Bundesterritorium 8 und kein besonderes Bundesvolk 9 • Volk und Gebiet der Kantone werden aber zum Volk und Gebiet der Eidgenossenschaft, insofern der Bund in seinem Kompetenzbereich 10 Herrschaftsgewalt ausübt. Denn das Volk, über das der Bund, und das Gebiet, in dem er sein Imperium ausübt, können~ da sich eben die Eidgenossenschaft aus den Kantonen zusammensetzt, nur das kantonale Volk und das kantonale Gebiet sein. Ferner ist die Herrschaftsgewalt der Eidgenossenschaft auf dem Gebiete der Schweiz souverän, also keiner anderen Gewalt unterworfen sondern jeder :;tnderen Gewalt übergeordnet. Dies ergibt sich aus der Bundesverfassung. Der .Bund besitzt nämlich die sogenannte Kompetenzkompetenz, d. h., die Verteilung der staatlichen Aufgaben zwischen Bund und Kantonen ist durch die Bundesverfassung und nicht durch die Kantonsverfassungen erfolgt und der Bund hat für die Kompetenzerfüllung zu . sorgen 11 • Dementsprechend kann · die Eidgenossenschaft gemäß den Revisionsvorschriften der Bundesverfassung jederzeit den Kantonen Kompetenzen, die sie bisher besessen haben, durch eigenen vVillensentschluß, das ist durch Verfassungs6 Ich vermag keinen juristischen Unterschied zwischen Bund und Eidgenossenschaft zu sehen. N a w i a s k y : ·Aufbau und Begriff' der Eidgenossenschaft, s. 24 ff. unterscheidet zwischen der Eidgenossenschaft als staatsrechtlicher Gesamtheit der · Kantone ·m:id dem Bund als Zentralstaat Staatsrechtlich ist dies aber m. E. dasselbe, indem der Bund als Staat sich aus der Gesamtheit der Kantone zusammensetzt; eine andere Gesamtheit der Kantone besteht juristisch nicht. Vgl. unten im Text S. 48 ff. Darauf deutet schon die Überschrift der Bundesverfassung: Bundesverfassung derSchweizerischen Eidgenossenschaft. . · 7 Art. J BV. 8 Wie die Vereinigten Staaten von Nordamerika. 9 Vgl. unten S. 177 ff. 10 Vgl. darüber unten S. 65 ff. 11 Vgl. Bur c k h a r d t: Die Organisation der -Rechtsgemeinschaft S. 160.


§ 3. Die rechtliche Natur von Bund und Kantonen.

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revi&ion, auch gegen die Opposition des einzelnen Kantons entziehen und sie dem Bunde zusprechen, oder den Kantonen neue Aufgaben übertragen 12• 13 • Die Souveränität der Eidgenossenschaft zeigt sich auch darin, daß der Bund auf Grund der Bundesverfassung und der Bundesgesetzgebung die Kantone zur Erfüllung seiner Aufgaben heranzieht 14 • Umgekehrt kann sich der Bund nach Bundesrecht der Herrschaft der kantonalen Rechtsordnung entziehen15• Ist der Bund ein Staat, so erscheint dieser Staat, normativ betrachtet, als sein juristisches Element, als die Organisation der Eidgenossenschaft, also als die Bundesverfassung. Die Bundesverfassung ist dahe1 gleich der Herrschaft des Bundes, die sie organisiert, souverän; sie erscheint somit als die höchste Organisation auf dem Gebiete der Schweiz; sie ist infolgedessen, formal normativ betrachtet, von keiner höheren geltenden gesetzten Norm ableitbar. Ihr unmittelbarer formaler normativer Geltungsgrund liegt in den Revisionsvorschriften der Bundesverfassung von 1848 16 ~ ihre mittelbare Rechtsbasis in einer hypothetischen Ursprungsnorm. III. Ist die Eidgeno§senschaft ein Staat, so erhebt sich dann die weitere Frage, ob der Bund einen Bundesstaat oder Einheitsstaat bildet. [Vom Jahre 1815 bis zum Jahre 1848 war die Schweizerische Eidgenossenschaft ein Staatenbund· (Confederation d'Etats). Sie beruhte auf dem Bundesvertrag der 22 Kantone vom 7. August 1815. Der 12 Unrichtig m. E. B ur c k h a r d t : Kommentar S. 21, daß auf die Kom-. petenz zur Verfassungsrevision nicht abgestellt werden könne, da es keine solche Kompetenz gebe. 13 Man kann nun demgegenüber den häufig gemachten Einwand erheben, daß solange der Bund sich eine neue Kompetenz nicht beilegt, die J{antone in der betreffenden Materie souverän sind; rechtlich sind sie es jedoch nicht, da eben der Bund auch in dieser Materie die rechtliche Möglichkeit des Eingreifens besitzt, die Bundesgewalt also, wenn auch potentiell, über der kantonalen steht. 14 Vgl. unten S. 109 ff. 15 So untersteht der Bund gemäß Art.lO des Garantiegesetzes nicht der kantonalen Steuerhoheit und ist auch im übrigen nicht an das kantonale Recht gebunden, insofern eine solche Bindung die Eidgenossenschaft in der Erfüllung ihrer Aufgaben beeinträchtigen würde. Vgl. die Praxis bei Bur c k h a r d t: Bundesrecht Bd. 1 Nr. 261-277 und Nr. 283-308. Dabei muß aber der Bund nach Möglichkeit auf die kantonah~n Interessen Rücksicht nehmen; vgl. Verwaltungsentscheide der Bundesbehörden, Heft 9, Nr. 15 und 27. Insofern der Bund dem kantonalen Recht untersteht, liegt eine freiwillige Unterwerfung der Eidgenossenschaft vor. Vgl. Stad I in: Die Befreiung des Bundes von der kantonalen Steuerhoheit, Zürcher Diss. 1.943, s. 33 f. 16 Vgl. oben S. 23.


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Bund und Kantone.

Staatenbund stellte sich als eine nach Analogie der privatrechtliehen Gesellschaft gegründete völkerrechtliche. Vereinigung selbständiger souveräner Kantone dar; die verbündeten Kantone schufen keine neue Staatsgewalt über sich, sondern schlossen sich lediglich zu einer festen politischen Macht zusammen. Die Bundesorgane, Tagsatzung und Vorort, waren nur Geschäftsführer der verbundenen Kantone. Von .: einer gewöhnlichen völkerrechtlichen Allianz unterschied sich dieser Staatenbund allein quantitativ, d. h. durch seine . umfassenden Zwecke (Handhabung von Ruhe im Innern und Verteidigung der Unabhängigkeit nach Außen) und durch die "ewige Dau'er".] Mit dem Erlaß der Bundesverfassung vom 12. September 1848 ist nun der Staatenbund aufgelöst und durch einen Staat ersetzt worden. Und zwar wird die Eidgenossenschaft seither im allg~meinen als ein Bundesstaat, d. h. als ein aus Staaten zusammengesetzter Staat betrachtet 17• Wird ja das Wesen des Bundesstaates nach der traditionellen Bundesstaatstheorie im Neheneinanderbestehen einer Bundesstaatsgewalt und gliedstaatlicher Gewalten innerhalb desselben staatlichen Territoriums auf Grund einer Verfassung erblickt 18 . Darauf deutet nun allerdings der Umstand, daß die Eidgenossenschaft gemäß Art. 1 BV aus den Völkerschaften der zweiundzwanzig Kantone gebildet wird. 1. Setzt sich aber der Bundesstaat aus Staaten zusammen, so kann die Eidgenossenschaft nur dann ein Bundesstaat sein, wenn die Kantone ihrerseits Staaten bilden. Das hängt jedoch davon ab, ob die Kantone die wesentlichen Merkmale eines Staates aufweisen. Die Kantone besitzen wie der Bund ein Volk, ein Gebiet und eine Herrschaft sowie eine diese Herrschaft organisierende Verfassung 19 , so daß sie ebenfalls Herrschaftsverbände auf territorialer Grundlage sind. Hingegen ist die kantonale Herrschaftsgewalt keine souveräne, da der Herrschaftsbereich der Kantone, wie oben gesehen 20 , durch die Bundesverfassung bestiip.mt wird, die Kantone somit dem Bund untergeordnet sind. Ist eben der Bund souverän, 17

Vgl. F ,l einer: Bundesstaatsrecht S. 37; Ruck: Schweizerisches Staatsrecht S. 19 und 22; Lampe r t: Schweizerisches Bundesstaatsrecht S.ll; Schollenberger: Bundesstaatsrecht 2.Aufl., S.65ff.; Blu- . m er- Mo r e 1 : Schweizerisches Bundesstaatsrecht 2. Aufl. I, S. 171 ff. 18 Vgl. F 1 einer: Bundesstaatsrecht S. 39; Ans c h ü t z: Handbuch des deutschen Staatsrechtes, Bd. 1, S. 295. 19 Vgl. G i a c o m e t t i : Das Staatsrecht der Kantone S. 23 ff. 20 ' Vgl. oben S. 38.


§ 3. Die rechtliche Natur von Bund und Kantonen.

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das ist höchster Herrschaftsverband auf dem Gebiete der Schweiz, so können logischerweise nicht zugleich auch die Kantone Souveränität besitzen, da diese ja eine Überordnung bedeutet, somit ein Verhältnisbegriff ist. Dementsprechend sind auch die Kantonsverfassungen nicht souveräne Ordnungen auf dem kantonalen Territorium. Denn die Kantonsverfassungen und das übrige kantonale Recht werden inhaltlich durch die Bundesverfassung und das darauf gestützte Bundesrecht bestimmt, da eben der Kompetenzbereich der Kantone, wie oben gesehen 21 , durch die Bundesverfassung festgesetzt wird 22 • Die Kantonsverfassungen haben somit ihren materiellen normativen Geltungsgrund im Bundesrecht Damit ist jedoch zugleich gesagt, daß die Kantonsverfassungen als Organisationen der Glieder der Eidgenossenschaft auch ihre rechtliche Basis, ihren Rechtsgrund, d. h. aber ihren formalen normativen ~Geltungsgrund in der Bundesverfassung haben. Wenn nämlich die Bundesverfassung als materieller normativer Geltungsgrund der Kantonsverfassungen erscheint, muß sie logischerweise auch_ deren formaler normativer Geltungsgrund sein. Nur weil sie diesen formalen normativen Geltungsgrund der Kantonsverfassungen bildet, kann die Bundesven'fassung auch die Kantonsverfassungen und das übrige kantonale Recht inhaltlich bestimmen. Denn die Bundesverfassung ist ja die Grundordnung ' des Bundes, die die Kantone in einem Staate zusammenfaßt. Sie ist, wie oben bemerkt 23 , eine Staatsverfassung und nicht etwa ein völkerrechtlicher Vertrag. Die Kantone sind, rechtlich betrachtet, Geschöpfe der Bundesverfassung. Und zwar hat die Bundesverfassung als rechtliche Basis der Kantonsverfassungen deren Erzeugung nicht lediglich in dem . Sinne geregelt, daß sie die Kantone als Glieder des Bundes zu einem Staate zusammenfaßt und damit auch die Kantonsverfassungen als deren . notwendige Organisationen zuläßt. Die Bundesverfassung hat vielm·e hr auch das Verfahren der Erzeugung der Kantonsverfassungen nach der Richtung näher bestimmt, daß sie das Volk als notwendigen Faktor der verfassungsgebende~ Gewalt der Kantone einsetzt, indem gemäß Art. 6 Abs. 2 lit. BV der Bund die Gewährleistung der Kantonsverfassungen übernimmt, wenn sie vom Volke angenommen worden sind 24 •

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Vgl. oben S. 38. Dies findet seinen Ausdruck im Prinzip der derogatorischen Kraft des Bundesrechts; vgl. unten S. 92lf. 23 Vgl. oben S. 23. 24 Vgl. G i a c o m e t t i : Das Staatsrecht der Kantone, S. 24 sowie unten s. 56 ff. 22


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Bund und Kantone.

Allerdings steht die oben entwickelte Auffassu~g, wonach den Kantonen die Souveränität fehlt, im Widerspruch zum \Vortlaut des Art. ~ erster Satz BV. Bestimmt ja diese Verfassung_svorschrift, dall die Kantone souverän sind, soweit ihre Souveränität nicht durch die Bundesverfassung beschränkt ist 25 • Ebenso ist im Art. 1 und 5 BV von der Souveränität der Kantone die Rede, während die Bundesverfassung von der Souveränität des Bundes nicht spricht. In diesen Verfassungsbestimmungen hat die Lehre von der Teilung der Souveränität im Bundesstaate, wie sie Alexis de Toqueville und Waitz begründet haben, welche Theorie in der Literatur viele Vertreter hat, ·ihren rechtlichen Niederschlag gefunden 26 • Nach dieser . Lehre kommt dem Bunde Souveränität zu für di~ Angelegenheiten der Bundeskompetenz und in gleicher Weise den Kantonen für die ihnen verbliebenen Aufgaben. Denn in ihrer Sphäre erscheinen sowohl Bundesgewalt als kantonale Gewalt als die höchste Gewa]t; der Bund darf sich nach dieser TP.eorie nicht in die Angelegenheiten der Kantone und die Kantone nic~t in diejenigen des Bundes einmischen. · Diese Auffassung verkennt aber, daß die kantonalen Angelegenheiten, wie oben gesehen, durch die Bundesverfassung bestimmt werden, und daß der Kompetenzbereich der Kantone jederzeit durch die Bundesgewalt im Wege der Revision der Bundesverfassung geschmälert werden kann. ·Daran ändert die Tatsache nicht, daß jede solche Verfassungsrevision von der Mehrheit der Kantone angenommen werden muß 27 • Ausschlaggebend ist vielmehr der Umstand, daß eine Minderheit opponierender Kantone eine solche Revision rechtlich nicht verhindern kann, sich ihr vielmehr unter .. werfen muß. Darum enthalten die oben erwähnten Bestimmungen der Art. 1, 4 und 5 BV, insofern sie unter Souveränität die echte Souveränität im Sinne des Verhältnisbegriffes verstehen, einen logischen Widerspruch. Dies ist aber rechtlich unerheblich, weil die genannten Vorschriften nur den Wert eines vom Verfassungsgesetzgeber gefällten logischen ·Urteils besitzen, somit unverbindlichen 25

Dasselbe bestimmte Art. 3 der Bundesverfassung von 1848. T o c q u e v i 11 e : De 1a Democratie en Amerique I, Chap. 8. W a i t z : Grundzüge der Politik, 1862, S. 135. Anhänger der Tocqueville-Waitzschen Theorie in der Schweiz sind D u b s II, S. 7, 23. B 1 um er : Schweiz. Bmidesstaatsrecht I (1. Aufl.) S. 145; (2 Aufl.) S. 176, 179; 181. Schollen ,. b er g er : Kommentar der BV, S. 97 ff.; S c hollenher g e r : Bu!1des · staatsrecht, S. 86; Lampe r t: Bundesstaatsrecht, S. 13; Na w i a s k y: Die föderative Bundesstaatstheoric, Schweiz. Rundschau 1933, $. 404 ff. Vgl. über diese Frage auch B ur c k h a r d t : Kommentar S. 21, An'm. 1. 21 Art. 123 BV. Vgl. unten S. 110 f. 26


§ 3. Die rechtliche Natur von Bund und Kantonen.

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Verfassungsinhalt enthalten. Es liegt auch in der Natur der Dinge begründet, daß die Bundesverfassung die Unterordnung der kantonalen .Gewalten unter die Bundesgewalt statuiert: also den formalen normativen Geltungsgrund der Kantonsverfassungen bildet. Denn es erscheint logisch unmöglich, daß auf demselben Gebiete zwei gleichgeordnete Gewalten, juristisch ausgedrückt, zwei gleichgestellte Organisationen, d. h. zwei Verfassungen bestehen, die beide ihren formalen normativen Geltungsgrund nicht in einer gesetzten Norm besitzen. Die Einheit des Staates bzw. der staatlichen Rechtsordnung würde in e~nem solchen Falle gesprengt 28 • Der Ausdruck Souveränität in der Bundesverfassung kann infolgedessen nur als gleichbedeutend mit Befehlsgewalt verstanden werden 29 • Allerdings läßt sich eine solche Befehlsgewalt·begrifflich ebensowenig wie die echte Souveränität beschränken. Beschränkbar ist nur der Bereich des Imperiums, nicht aber dieses selber. Infolgedessen hat der erste Satz des Art. 3 BV wohl nur die Bedeutung, daß das Anwendungsgebiet der kantonalen Befehlsgewalt durch die Bundesverfassung beschränkt werden kann 30 ; ·er bezieht sich also wie Satz 2 desselben Verfassungsartikels auf die Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen. Sind die Kantone nicht souverän, so stellen sie aber auch keine Staaten dar, da eben die Souveränität wie gesehen ein wesentliches Element des Staatsbegriffes bildet. Diese Schlußfolgerung aus der Tatsache der Nichtsouveränität der Kantone wird jedoch in der Literatur von den Anhängern der These, daß die ·Kantone nicht souverän sind, keineswegs immer gezogen 31 • Eine Richtung der schweizerischen Doktrin bejaht vielmehr trotz Verneinung der Souveranität der Kantone deren Staatlichkeif 32 • Sie stützt sich dabei 28

Vgl. analog auch Bur c k h a r d t: Organisation der Rechtsgemeinschaft S. 155 ff. 29 In. diesem Sinne wird denn auch das Wort Souveränität in der Literatur oft verwendet. 3 ~ Diese Vorschrift, die bereits in der Bundesverfassung von 1848 stand, hat wohl auch die Bedeutung, die Kantone, die ihrer Staatlichkeit in der neuen Eidgenossenschaft sicher sein wollten, zu beschwichtigen; vgl. B or e 1 : a.a.O. S. 18. 31 Die Staatlichkeit deT Kantone wird von B u r c k h a r d t : Kommentar S. 21, Bore 1 : a. a. 0. S. 171 ff., .A f f o 1 t e i' : Grundzüge des schweizerischen Staatsrechtes S. 14 ff. verneint. 32 So z. B. F 1 einer: Bundesstaatsrecht S. 54; Ruck: Schweizerisches Staatsrecht S. 27; V e i t h : a.a.O. S. 17 und 29; analog auch C a r r e d e M a 1 b er g: Theorie generale de l'Etat, Bd. 1, S. 169 ff.


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Bund und Kantone.

auf die deutsche Bundesstaatstheorie, die zwischen souveränen und nichtsouveränen Staaten unterscheidet, die Souveränität somit nicht als wesentliche Eigenschaft des Staates ansieht, und dementsprechend die Glieder eines Bundesstaates als nichtsouveräne Staaten betrachtet 33 • Begründet wird diese Auffassung damit, daß wesentliches Merkmal des Staates nicht die Souveränität sondern der Besitz eigenen, nicht abgeleiteten Herrschaftsrechtes sei 34 • Darin beruhe der Unterschied zwischen den nichtsouveränen Staaten und den Kommunalverbänden. Diese These verkennt jedoch, daß eigenes, ursprüngliches Herrscqaftsrecht nichts anderes ist als souveränes Herrschaftsrecht. Denn eigenes, ursprüngliches Herrschaftsrecht kann normativ betrachtet nichts anderes besagen,. als daß die kantonalen Kompetenzen durch keine höhere Rechtsordnung bestimmt werden und damit aber von keiner höheren gesetzten Norm · ableitbar sind. Diese Theorie läuft also auf eine Begründung der Staatlichkeil der Kantone mit der kantonalen Souveränität hinaus, während sie doch die Souveränität der Kantone verneint 30 • Wenn aber die Kantone, trotzdem sie die wesentlichen Merkmale eines territorialen Herrschaftsverbandes aufweisen, keine Staaten bilden, so können sie nur innerstaatliche Herrschaftsverbände und somit eine bestimmte Stufe der staatlichen Dezentralisation durch Selbstverwaltungskörper sein. Und zwar bilden die Kantone die oberste Stufe der staatlichen Dezentralisation , durch ' Selbstverwaltungskörper in der Schweiz.· Sie stellen mit anderen \Vorten Selbstverwaltungskörper der Eidgenossenschaft dar, in gleicher vVeise wie die Gemeinden die Selbstverwaltungskörper der Kantone sind. , Die Kantone bilden die Gemeinden der Eidgenossenschaft. Entspre83 Vgl. L ab an d : Staatsrecht des deutschen Reiches, 1. Aufl. Bd. 1, S. 70 ff.; ·Je ll i n e k : Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., S. 769 ff.; A n • s c h ü t z : Deutsches Staatsrecht in der Holzendorffschen Enzyklopädie der Rechtswissenschaft Bd. 6, S. 1 7; vgl. darüber auch C e ll i e r - B o r c h a r d t : a.a.O. S. 105 ff. s4o Vgl. z. B. F l ein er : a. a. 0. S. 54; R u c k : a. a. 0. S. 27. 35 Die Kantone besaßen ein eigenes Herrschaftsrecht bis zum Jahre 1848. Zur Begründung der Staatlichkeil der Kantone wird auch auf diesen Um·. stand verwiesen, daß di~ Kantone schon vor 1848 ein eigenes. Herrschaftsrecht besaßen und bis zur Gegenwart behalten haben, und daß es ihnen nicht vom Bunde verliehen worden ist, sondern daß sie es aus eigener Macht besitzen. Vgl. z.B. Fleiner: a.a.O. S.54 und Ruck: a.a.O. S.27, Damit wird aber offensichtlich die historische Betrachtungsweise mit der juristischen vermengt. Ein historisch überkommenes Herrschaftsrecht ist jedoch deswegen juristisch betrachtet noch kein eigenes, ursprüngliches H errschaftsrecht.


§ 3. Die rechtliche Natur von Bund und Kantonen.

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chend der höheren Stufe der staatlichen Dezentralisation, die die Kantone im Verhältnis zu den Gemeinden einnehmen, unterscheiden sie sich aber von den Kommunalverbänden durch die größere Fülle von Kompetenzen sowie dadurch, daß sie auch Aufgaben wahrnehmen, die ·sonst dem Staat und nicht den Gemeinden obliegen 36 • Ebenso ist die Autonomie der Kantone umfassender als diejenige der Gemeinden. Ferner wirken die Kantone mit bei der Bildung des Bundeswillens 37• Man kann daher die Kantone auch als potenzierte Selbstverwaltungskörper bezeichnen 38• Sind aber die Kantone lediglich Selbstverwaltungskörper, wenn auch solche besonderer Art, so erscheint auch der Bund bei Zugrundelegung des oben erwähnten Bundesstaatsbegriff es 39 nicht als Bundesstaat, da er ·sich eben wie gesehen nicht aus Staaten zusammensetzt. Die Eidgenossenschaft müßte vielmehr auf Grund des herrschenden Bundesstaatsbegriffes als weitgehend dezentralisierter Einheitsstaat angesehen werden. .Ja ein Bundesstaat im Sinne eines aus Staaten zusam~mengesetzten Staates erscheint begrifflich wohl überhaupt ausgeschlossen; denn ein Staat kann,. wie oben bemerkt, nicht aus Staaten bestehen, da dies eine Gleichordnung von Bundesstaat und Gliedstaaten bedingen würde. 2. Es drängt sich aber die Frage auf, ob nicht angesichts der historisch überkommenen und im Lande tief verwurzelten Vorstellung der bundesstaatliehen Struktur der Eidgenossenschaft eine Rettung der Bundesstaatlichkeil der Schweiz trotz der fehlenden Staatlichkeil der Kantone möglich wäre. Eine solche Rettung käme dann in Betracht, wenn sich ein anderer Bundesstaatsbegriff prägen ließe, unter den die Eidgenossenschaft subsumiert werden könnte. Das Kriterium <_ler Unterscheidung zwischen Einheitsstaat und Bundesstaat müßte dabei naturgemäß in der Art der staatlichen Dezentralisation durch Selbstverwaltungskörper gefunden werden. Ein _rechtswesentlich durchgreifender, absoluter, das ist formallogischer Untt::rschied zwischen den Staaten bezüglich ihrer Dezentralisation durch Selbstverwaltungskörper im Sinne eines Entweder-Oder analog dem 36

Wie z. B. Pro.zeßgesetzgebung, Rechtsprechung usw. Vgl. unten S. 109 ff. . 38 Muß somit die von Jeder politischen Erwägung abstrahierende Staatstheorie den Kantonen die Staatlichkeil absprechen, so bleibt es selbstverständlich einer rein politischen Betrachtungsweise unbenommen, die Kantone aus föderalistischen Gründen trotzdem als Staaten zu bezeichnen; vgl. G i a c o m e t t i , Staatsrecht der Kantone, S. 30. 39 Vgl. oben S. 40. 37


Bund und Kantone.

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rechtswesentlichen Unterschied zwischen Staat und innerstaatlichem Herrschaftsverband auf Grund der Souveränität 40 besteht nun naturgemäß nicht. Die Staaten lassen sich diesbezüglich nicht logisch voneinander unterscheiden 4'1 • Aber auch die Auftindung eines rech1sinhaltlichen Unterschiedes zwischen den Staaten mit Bezug auf ihre Dezentralisation durch Herrschaftsverbände von etwelchem Erkenntniswert 42 erscheint nicht · leicht. Als ein · solches Unterschei- · dungskriteriumkann manm. E. nicht 43 den Umstand ansehen, ob der Kompetenzbereich der innerstaatlichen Herrschaftsverbände in der Staatsverfassung oder in staatlichen Gesetzen bestimmt wird. Denn auch die Aufgaben der Gemeinden werden in den Kantonen vielfach durch die Verfassung festgelegt 44, so daß auch die Kantone dann ebensogut als Bundesstaaten angesehen werden könnten. Ebensowenig läßt sich aber das Kriterium der ·Unterscheidung zwischen Bundesstaat und Einheitsstaat in der Tatsache erblicken, ob der Umfang der Verfassungsautonomie der innerstaatlichen Herrschaftsverbände _in der . Staatsverfassung oder in staatlichen Gesetzen geordnet wird. Denn. die Grundzüge der Verfassungsautonomie der 40

Die Souveränität im Rechtssinn ist ein Rechtswesensbegriff. Es liegt in der Natur des Rechtes im Sinne eines einheitlichen Systems von Normen> daß ein Normenkomplex darin ein höchster, nicht ableitbarer ist. 41 Vgl. darüber auch T h o m a : Handbuch des deutschen Staatsrechtes. Bd. 1,- S. 175. . 42 Welcher Unterschied mit anderen Worten nicht eine zu weitgehende Relativierung des Bundesstaatsbegriffes bedingt. 43 Entgegen der Auffassung von Bur c k h a r d t : Organisation der Rechtsgemeinschaft, S. 163, und Ca r rede M a 1 b er g: a. a. 0. Bd. 1, S. 162. 44 So wenn diese bestimmt, daß die Gemeinden ihre Angelegenheiten selbständig ordnen (vgl. Verfassung von Zürich Art. 48, von Luzern § 187, von Aargau § 44, von Graubünden Art. 40 usw.) und der Kreis der Aufgaben der Gemeindeautonomie nicht näher durch Gesetz. umschrieben wird (vgl. _z; B. § 14 des Zürcher Gemeindegesetzes), oder wenn bestimmte Materien von der Kantonsverfassung als Gemeindeaufgaben bezeichnet werden; vgl. z. B. Verfassung von Graubünden, Art. 40 {niedere Polizei, Armenwesen). Verfassung von Zug, § 70 (Schulwesen, niedere Polizei), Verfassung von Zürich, Art. 22 (Armenwesen). Die Tragweite der GemeindeautonomiE> ergibt sich allerdings nach gewissen Richtunge:n erst aus der eine kantonale Kompetenz ausführenden kantonalen Gesetzgebung. Ebenso ist aber vielfach auch die Tragweite einer kantonalen Kompetenz erst aus dem eii1e eidgenössische Zuständigkeit ausführenden Bundesgesetz zu erkennen. So ist der kantonale Kompetenzbereich im Gebiete der Nutzbarmachung · der " 7asserkräfte zum Teil nicht schon auf Grund des Art. 24bis BV, sondern erst auf Grund des BG über die Nutzbarmachung der \Vasserkräfte ganz ersichtlich.


Die rechtliche Natur von Bund und Kantonen.

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Gemeinden sind vielfach ebenfalls in den Kantonsverfassungen vor-. gezeichnet 45 • Desgleichen kann auch das Maß und die Art der Aufgaben des innerstaatlichen Herrschaftsverb-a ndes kaum mit Nutzen als Unterscheidungskriterium angenommen \Yerden 46 • Zu wenig durchgreifend wäre ebenfalls die Einteilung .der Staaten in Bundesstaaten und Einheitsstaaten unter dem Gesichtspunkt, ob die Staatsve:rfassung den innerstaatlichen Herrschaftsverbänden irgendwelche Völkerrechtssubjektivität einräumt oder nicht. Denn die völkerrechtliche Vertragsfähigkeit der Selbstverwaltungskörper, so der Kantone gemäß Art. 9 BV, läßt sich auch als Dezentralisation der auswärtigen Angelegenheiten konstruieren 4 7 • Ebensowenig kann die M:ehrstufigkeit der staatlichen Dezentralisation durch Selbstverwaltungskörper als ein solches Einteilungskriterium zugrunde gelegt werden, da auch in einzelnen Kantonen zwei Stufen dieser Dezentralisation bestehen 48 • Retten läßt sich vielmehr die .~ Bundesstaatlichkeit der Schweiz meines Erachtens nur dann, wenn man als Kriterium des Bundesstaates die Tatsache . der vedassungsrechtlich fixierten Mitwirkung der innerstaatlichen Herrschaftsverbände an der Bildung des staatlichen Willens auf der Rechtssetzungsstufe ansieht 49 • Dabei kann jedoch selbstverständlich die Art dieser Beteiligung nicht gleichgültig sein, ·d. h. nicht irgendwelche beliebige :Mitwirkung der Selbstverwaltungskörper bei der Rechtssetzung vermag das ausschlaggebende Moment des Bundesstaates zu bilden. vVesentliches Merkmal des Bundesstaates kann vielmehr allein der Umstand sein, daß die Revision der Staatsverfassung .von der Zustimmung der Mehrheit der innerstaatlichen Herrschaftsverbände abhängt und daß die Glieder des dezentralisierten Staates somit ihren Kompetenzbereich mitzubestimmen haben, also an der Ausübung der Kompetenzkompetenz beteiligt sind. ~\.llerdings . wird normalerweise die Beteiligung der Selbstverwaltungskörper an der staatlichen Rechtssetzung vorab 45 Vgi. z. B. Verfassung von Zürich Art. 49, von Luzern § 88, von Zug § 70, von Appenzell A.'-Rh. Art. 74 ff. usw. 46 Denn es handelt sich um sehr relative Unterschiede. 47 Vgl. V er d r o ß : Völkerrecht, S. 54. 48 So in Graubünden (Kreise und Gemeinden}-, in Schwyz (Bezirksgemeinden und Gemeinden) ; vgl. G i a c o m e t t L: Das Staatsrecht der Kantone, S. 86. 4 ~ In diesem Sinne schon Bore I: a. a. 0., S. 177, und V e i t h: a. a. 0. S. 52, der die Mitwirkungsrechte der Kantone als ein Essentiale des Bundesstaates bezeichnet. Vgl. dazu auch M e ß m er: Föderalismus _und Demokratie, Zürcher Dis·s. 1945, S. 64 ff.


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Bund und Kantone.

in ihrer Mitwirkung bei der Verfassungsgesetzgebung bestehen. Mit diesem Kriterium läßt sich sowohl ein Rechtsinhaltsbegriff des Bundesstaates von einem gewissen Erkenntniswert gewinnen als auch den politischen Gegebenheiten Rechnung tragen, indem gerade die Staaten, die unter diesen Bundesstaatsbegriff subsumiert werden können, im Sprachgebrauch des politischen Lebens als Bundesstaaten bezeichnet werden, wie die Schweiz und die Vereinigten Staaten von Nordamerika. Die notwendige Mitwirkung der schweizerischen Kantone und der nordamerikanischen Gliedstaaten an der Bundesverfassungsgesetzgebung ist ihrerseits der rechtliche Niederschlag des historischen Faktums, daß sie die Schöpfer dieser .Bundesstaaten waren 50 , sowie der wesentlichste Ersatz für den Verlust ihrer Staatlichkeit. Auf Grund des erwähnten Bundesstaatsbegriffes erscheint somit die Eidgenossenschaft als Bundesstaat, da die Kantone notwendige Organe der Revision der Bundesverfassung sind 51 und infolgedessen Anteil an der Ausübung dE(r Kompetenzkompetenz des Bundes haben.

§ 4. Die rechtliche Stellung der Kantone als

Selbstverwaltungskörper des Bundes. . Die Bundesverfassung hat wie gesehen die Eidgenossenschaft durch innerstaatliche Herrschaftsverbände in der Gestalt der Kantone weitgehend dezentralisiert. Und zwar setzt sich der Bund laut Art. 1 BV aus zweiundzwanzig Kantonen zusammen~ In Wirklichkeit bestehen aber fünfundzwanzig Kantone, indem drei von ihnen, Unterwalden, Basel und Appenzell, in zwei Halbkantone zerfallen, Obwalden und Nidwalden, Baselstadt und Baselland, Appenzell A.Rh. und Appenzell I.-Rh. Der Halbkanton st~llt nämlich ebenfalls einen Kanton, einen Selbstverwaltungskörper der Eidgenossenschaft mit eigenem Imperium und eigener, nach allen Richtungen ausgebildeter Organisation, also eigener Verfassung dar, wie der ungeteilte Kanton 1 • Der einzige Unterschied zwischen qen ungeteilten 5 ° Für die Vereinigten Staaten ist dies allerdings nur zum Teil richtig, als nach der Gründung des Bundesstaates neue Glieder hinzugetreten sind. Vgl. E. Freund: a.a.O. S. 3f. 51 Art. 118 ff. BV; vgl. unten S. 110 f. 1 Darum bildet bei den Nationalratswahlen jeder Halbkanton wie jeder Kanton einen Wahlkreis (Art. 73 BV), und ferner hat jeder Halbkanton gleich den ungeteilten Kantonen mindestens einen Vertreter in den Nationalrat zu wählen (Art. 72 BV). Ferner steht auch jedem Halbkanton das Vorschlagsrecht im Sinne des Art. 93 BV zu.


§ 4. Die recht!. Stellung d. Kantone als Selbstverwaltungskörper d. Bundes. 49

Kantonen und den Halbkantonen beruht darin, daß die Halbkantone nach zwei Richtungen minderen Rechts gegenüber dem Bunde im Verhältnis zu den ganzen Kantonen sind. Das gilt zunächst in dem Sinne, daß dort, wo die Bundesverfassung ein Zusammenwirken von Kantonen in ihrer Eigenschaft als Bundesorgane im engeren Sinne vorsieht 2 , 'die Stimmen der Halbkantone nur als halbe Stimmen zählen 3• Das trifft sodann noch in der Hinsicht zu, daß die Halbkantone nur einen Vertreter in den Ständerat absenden 4 • Damit wird die historische Tatsache wachgehalten, daß die Halbkantone ehemals ungeteilte Gemeinwesen bildeten 5• 6 • Der Umstand, dal3 entgegen dem \V ortlaut des Art. 1 BV fünfundzwanzig Kantone bestehen, kommt denn auch im Art. 1 BV selber zum Ausdruck, indem es darin bei der Aufzählung der geteilten Kantone heißt: "Unterwaiden (Ob und Nid dem vValde), Basel (Stadt und Landschaft), Appenzell (beider Rhoden).'' I. Die Bundesverfassung hat die fünfundzwanzig Kantone und damit die bundesstaatliche Struktur des Landes nach verschiedenen Richtungen in -umfassender. Weise sichergestellt. · l. So~ sichert die Bundesverfassung zunächst den Bestand des einzelnen Kantons und Halbkantons als solchen 7 ·und damit der fünfundzwanzig Kantone gegen die Bundesbehörden sowie gegen 2

Vgl. unten S. 114 ff. Vgl. Art. 86 Abs. 2, 89 Abs. 2, 123 BV. Raustein: Die Halbkantone, Zürcher Diss. 1912, s. 135 ( 4 Art. 80 BV. Vgl. unten S. 504. 5 · Unterwalden ist seit dem Jahre 1150, Appenzell seit 1597 und Basel seit 1833 geteilt. Sc h o 11 e n berge r: Bundesstaatsrecht 2. Aufl., S. 161; His: Eine historische Staatsteilung; die Basler Teilung 1833-1835, Festgabe für Fleiner 1927, S. 75 ff. · 6 Unrichtig erscheint es daher, wenn in der bundesrätlichen Botschaft Yom 17. Mär~ 194 7 über die Gewährleistung der Verfassungsbestimmungen der Kantone Baselstadt und Basellandschaft zur Einleitung ihrer Wiedervereinigung (BB11947 I, 1953) aus diesem minderen Hecht der Halbkantone die Schlußfolgerung gezogen wird, daß es 22 und nicht 25 Kantone seien, die die Eidgenossenschaft bilden. B greiflich, wenn auch nicht richtig, wäre diese Auffassung allein dann, wenn die bPiden Halbkantone nur zusammen die Standesstimme abgeben und die beiden Ständevertreter bestellen könnten. Richtig_wäre diese Ansicht lediglich in dem Falle, daß die beiden Halbkantone eine Gesamtverfassung hätten, die· sie zu einem Verband zusammenfaßt. 7 Ganz analog wie viele Kantonsverfassungen den Bestand der einzelnen Gemeinde garantieren. Vgl. G i a c o m e t t i : Das Staatsrecht der Kantone, s. 72. 3

5 Fleiner I Giacomet!i. Bundesstaatsrecht.


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Bund und Kantone.

die Kantone selbst. Dies ist dadurch geschehen, daß die Bundesverfassung im Art. 1, wie oben erwähnt, die zweiundzwanzig Kantone der Eidgenossenschaft, die nach einer anderen Redeweise der Bundesverfassung auch Stände heißen 8, einzeln aufzählt 9• 10 und dabei auch die Halbkantone anführt. Angesichts einer solchen namentlichen Aufzählung der fünfundzwanzig Kantone im Art. 1 BV ist nämlich für jede Änderung in diesem zahlenmäßigen .Bestand der Kantone eine Partialrevision der BundesverfassUng, das ist eine Revision des Art. 1 BV erforderlich. Diese Tatsache ist in verschiedener Hinsicht von rechtlicher Tragweite. Sie bedeutet zunächst auf .der einen Seite, daß kein Kanton ein Sezessionsrecht besitzt, d. h. ohne Einwilligung des Bundes 11 aus der Eidgenossenschaft austreten darf 12 , sowie daß die staatsvertragliche Abtretung eines Kantons an einen ausländischen Staat durch den Bund ohne Verfassungsrevision unzulässig ist 13 ; auf der anderen Seite hat sie den Sinn, daß die Aufnahme eines neuen Kantons in die ·Eidgenossenschaft durch Angliederung ausländischen Gebietes an die Schweiz 14 oder daß eine solche Angliederung im Sinne der Bildung eines Bundesterritoriums ebenfalls nur durch Revision des Art. 1 der Bundesverfassung möglich ist. Ebenso darf 8

Art. 80 BV (Ständerat); Art. 123 Abs. 3 BV (Standesstimmen). Stand = Staat; 0 e c h s I i : Jahrbuch für Schweizergeschichte 42, S. 182. Je I I in e k : Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., S. 134. 9 · So zählen auch einzelne Kantonsverfassungen die Gemeinden namentlich auf. Vgl. G i a c o m e t t i: a. a. 0., S. 72. 1 Ü' Voran stehen die drei Kantone Zürich, Bern und Luzern, welche während der Periode des Staatenbundes von 1815 bis 1848 die Stellung von Vororten eingenommen hatten; dann folgen die übrigen Kantone nach dem Datum ihres Eintrittes in die Eidgenossenschaft. ~ 1 Das ist ohne Revision des Art. 1 BV. 12 Die Frage, ob den Gliedern des Bundesstaats die Befugnis zustehe, aus dem Bunde auszutreten, war in der Nordamerikanischen Union vor Ausbruch des Sezessionskrieges 1861 Gegenstand lebhafter Debatten. Ha en e I : Die vertragsmäßigen Elemente der deutschen Reichsverfassung, 1873, S. 1 f. ("Nullifikation und Sezession in Nordamerika'~). Vgl. auch A. Ga v in: Das Verhältnis der Staaten zum Bund in den Vereinigten Staaten von Amerika. Zürcher Diss. 1921, S. 46 f. 13 Da das Staatsvertragsrecht des ·Bundes nur im Rahmen der Bundesverfassung besteht. Vgl. unten S. 813. Art. 1 BV geht dem Art. g BV vor. 14 So bestanden nach dem ersten Weltkrieg Bestrebungen auf Anschluß von Vorarlberg an die Schweiz unter Bildung eines neuen Kantons. Vgl. Bur c k h a r d t: Bundesrecht Bd. 1 Nr. 76. Schollenberge r: Bundesstaatsrecht, 2. Aufl., S. 6 7.


§ 4. Die rechtl. Stellung d. Kantone als Selbstverwaltungskörper d. Bundes. 51

sodann angesichts des Art. 1 BV eine Verschmelzung zweier Halbkantone 15 oder ganzer Kantone oder die Trennung eines Kantons in zwei Halbkantone 16 oder ganze Kantone 17 bzw. die sonstige Bildung eines neuen Kantons _aus Teilen mehrerer anderer Kantone sowie die ErP.ebung von Halbkantonen zu Vollkantonen nur auf dem Wege der Verfassungsänderung erfolgen 18• 2. Außer dem Bestand wird sodann durch die Bundesverfassung auch · das Gebiet des einzelnen Kantons garantiert 19 • Allerdings ist dies nicht in dem Sinne geschehen, daß Art. 1 BV nebst dem ziffermäßigen Bestand der Kantone auch deren Gebiet festsetzen würde, so daß eine Änderung des kantonalen Territoriums nur auf dem .

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.

So ist die Frage· der Wiedervereinigung von Baselland und Baselstadt wieder aktuell. Vgl. BGer 61 I 166. Der Bundesrat hält in seiner Botschaft vom 14. März 1947 (vgl. oben S. 49; Anm. 6) eine Revision des Art.} BV oder eine~ anderen Bestimmung der Bundesverfassung für die Wiedervereinigung beider Basel nicht für erforderlich (BBl 1947 I 1066}; es bedürfe hiezu nur einer textlichen Bereinigung des Art . .1 BV! In seinem Bericht vom 14. Oktober 1947 an die ständerätliche Kommission (BBl 1947 111 277) hat,-dann der Bundesrat unter Zugrundelegung der gegenteiligen Auffassung dieser Kommission das Verfahren skizziert, das für die Wiedervereinigung erforderlich sei und das in eine Revision des Art. 1 BV ausmünden müsse. Eine Mitwirkung des Bundes bei der Verschmelzung der Halbkantone halten auch nicht für erforderlich: R ü t tim an n :· Nordamerikanisches Bundesstaatsrecht I S. 150, Anm. 2; Emil R ich a r d: Wiedervereinigung von Basel-Stadt 1887, S. 27; V i scher: Vom Verfahren zur Herbeiführung der Wiedervereinigung der beiden Halbkantone Basel-Stadt und BaselLandschaft, Schweiz. Juristenzeitung Bd. 34, S. 257; Sc h o 11 e n berge r: Kommentar zur Bundesverfassung, S. 79, 83, da nach seiner Ansicht Art. 1 BV die Halbkantone nicht als Glieder des Bundes anerkenne. Vgl. zu dieser Frage eingehend: J. F r e i : Die Gebietshoheit im schweiz. Staatsrecht, Zürcher Diss. 1932, S. 31 f. 16 So gingen im Jahre 1870 Bestrebungen auf Trennung des Tessins in zwei Halbkantone; Burckhardt: Kommentar S.119. 17 So bestanden vorab in den Jahren 1917 ff. g~wisse Tendenzen auf Loslösung des Berner Jura vom Kanton Bern und auf Gründung eines neuen Kantons Jura. Vgl. Frei: a. a: 0., S. 28 und die dort erwähnte Literatur. Diese Bestrebungen sind gegenwärtig {1947} wieder aktuell geworden. 18 Hingegen ist für die Angliederung eines Teils eines Kantons an einen andern Kanton keine Revision des Art. 1 BV erforderlich; anderer Ansicht der Bundesrat in BBl 194 7 111 für den Fall eines freiwilligen Anschlusses einzelner Gemeinden von Baselland an Baselstadt 19 Während die Kantonsverfassungen eine solche Gewährleistung des Gemeindegebietes nicht enthalten. gegenwär~ig


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_ Bund und Kantone.

Wege der Revision dieses Verfassungsartikels möglich wäre 20. Denn Art. 1 BV sagt nur, daß die Völkerschaften der zweiundzwanzig Kantone die Schweizerische Eidgenossenschaft bilden. Vom Gebiet ist darin nicht die Rede 21 • Die Sicherstellung des kantonalen Territoriums ist vielmehr im Art. 5 BV, wonach der Bund den Kantonen ihr Gebiet gewäJ:trleistet, erfolgt. Und zwar betrifft diese Gewährleistung das Gebiet jedes Kantons in dem Umfange, den das kantonale Territorium im Zeitpunkte der Totalrevision .der Bundesver-· fassung im Jahre 1874 aufwies 22 • Die Bundesverfassung gewähr-. leistet somit die Grenzen der Kantone, wie sie damals bestanden 23 . Auf Grund dieser Gewährleistung des Art. 5 BV hat der Bund für das kantonale Gebiet einzustehen, das heißt die Grenzen jedes Kantons zu schützen und zu erhalten. Diese Garantie des Kantonsgebietes besteht aber nur nach innen, nicht nach außen. Denn die · Abwehr eines Angriffes von außen auf ein kantonales Territoriun1 fällt ohnehin in den. Kompetenzbereich des Bundes 24 , so daß das Kantonsgebiet nach auße'n Bundesgebiet ist. Wenn aber Art. 5 BV die Erhaltung der Kantonsgrenzen nach innen gewährleistet, so enthält er eben ein Verbot der Veränderung des Kantonsgebietes, die über eine Grenzbereinigung hinausgeht, gegenüber bestimmten lnstanzen. Dieses Verbot besteht zunächst, wie es sich historisch er20

Eine solche Revision wäre nur dann erforderlich, wenn das ganze Gebiet eines Kantons eine Änderung erfahren sollte und damit der Bestand des Kantons in Frage stünde. 21 Vgl. Burckhardt: Kommentar S. 7 .ff. Nach Schollenberge r : Bundesstaatsrecht S. 63 und Kommentar S. 82 wird durch Art. 1 BV auch das Gebiet der Kantone festgesetzt, indem Art. 1 BV durch Art. 5 BV, dahingehend zu interpretieren sei, daß die Bundesverfassung gemäß Art, 5 die kantonalen Gebiete garantiert, so weit sie nach Art. 1 BV die Gliedst~aten festsetzt. Aus der Tatsache der Gewährleistung des kantonalen Gebietes durch Art. 5 BV ergibt sich jedoch nicht zwingend der Schluß, daß die Bundesverfassung damit dieses Gebiet im Art. 1 festsetze; sie kann ,es ja auch voraussetzen. Auch nach Blume r- More I : a. a. 0. I, S.l82 setzt Art. 1 BV das Gebiet der Kantone fest. 1 22 Die kantonalen Gebiete waren ihrerseits im Jahre 1874 die gleichen wie 1848 und diese gleich wie 1815, mit Ausnahme von Rhäzünz und 'Tarasp, die erst 1819 von Österreich 3:bgetreten und des Dappentales, das 1862 Frankreich abgetreten wurde, aber schon seit 1802 im Besitze Frankreichs war, sowie von Engelberg, das 1816 von Nidwalden an Obwalden überging. Vgl. S c h o 11 e n b er g er : Bundesstaats~echt, S. 63. Hingegen ist seit 1815 der Kanton Basel in zwei Halbkantone geteilt worden (1833) . . ~ 3 Nicht die Gebietshoheit der Kantone. Vgl. J. Frei : a. a. 0. S. 33. 24 Vgl. unten S. 73.


§ 4. Die rechll. Stellung d. Kantone als Selbstverwaltungskörper d. Bundes. 53

gibt 25 , im Interesse der Kantone. Art. 5 BV sichert den Kantonen ihren ursprünglichen territorialen Bestand. Dieses Verbot liegt aber zugleich auch im Interesse des Bundes .. Denn durch die Veränderung des kantonalen Gebietes, die über das Maß von Grenzregulierungen hinausgeht, erfolgt naturgemäß auch eine Machtverschiebung zwischen den Kantonen und damit eine Änderung in der Bedeutung des einzelnen Kantons, was zur Störung des bisherigen Gleich·gewichtes des Bundes führen kann 26 • 27 • Aus diesem Sinn des Art. 5 BV ergeben sich ohne weiteres die Adressaten des Verbotes. Dieses Verbot richtet sich naturgemäß in erster Linie, da es vorab im Interesse der Kantone liegt, gegen den Bund d. b. die Bundes.behörden. Diese dürfen an den Kantonsgrenzen nicht rütteln. Daher erscheint selbstverständlich angesichts des Art. 5 BV auch jede über eine Grenzberichtigung hinausgehende staatsvertragliche Abtretung eines Stückes kantonalen Territoriums an das Ausland 28 unzulässig. Denn der Bund muß sich bei Ausübung seiner Staatsvertragskompetenzen. im Rahmen der Bundesverfassung halten 29 • Die staatsvertragliche Abtretung eines Kantonsteiles würde ja die Gewährleistung des Kantonsgebietes durch die Eidgenossenschaft im Sinne seiner Erhaltung in ihr Gegenteil kehren 30• pesgleichen wäre der staatsvertragliche Erwerb von ausländischem Gebiet durch den Bund und dessen Verschmelzung mit einem bestehenden Kanton ein Verstoß gegen Art. 5 BV, obwohldadurch kein Kanton in seinem territorialen Bestand geschmälert würde. Denn auch in diesem Falle würde eine Änderung in den bestehenden Machtverhältnissen zwischen den 25 Im Art. 1 des Bundesvertrages von 1815 garantierten sich die Kantone gegenseitig ihr Gebiet. 26 Vgl. auch Bur c k h a r d t : Kommentar, S. 73. 27 Ja es könnte auf diese Weise das einzelne bundesstaatliche 9'lied zu einer Hegemoniestellung gelangen, was eine Preisgabe des bündischen Charakters des Staates zur Folge hätte. Politisch erscheint dies in der Schweiz allerdings ausgeschlossen. 28 Solche Grenzberichtigungen auf staatsvertraglichem Wege kommen .praktisch häufig vor. 29 Vgl. unten S. 813. "\Venn auch das Gebiet der Schweiz nach außen Bundesgebiet ist, so darf der Bund darüber lediglich im Rahmen der Bundesverfassung verfügen. 3 · () Dieses Verbot der Bundesverfassung würde daher auch in dem Falle gelten, daß eine internationale ·Notwendigkeit zur Gebietsabtretung bestehen sollte. Anderer Ansicht J. Frei: a. a. 0., S. 30. Ein solcher Vertrag bedürfte daher, da er gegen Art. 5 BV verstößt, der Zustimmung der verfassungsgebenden Gewalt.


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Bund und Kantone.

Kantonen und damit eine Störung des Gleichgewichtes des Bundes eintreten. Das Verbot des Art. 5 BV richtet sich darüber hinaus auch gegen die Kantone bzw. deren Bevölkerungsteile. Dies gilt zunächst in dem Sinne, daß ein Kanton nicht zu einer gewaltsamen Gebietsveränderung gegenüber einem anderen Kanton schreiten darf 31 • In einem solchen Falle hätte der Bund 'die Erfüllung der verfassungsrechtlichen Pflicht eines renitenten Kantons auf Achtung des Gebietes der anderen Kantone durch Bundesexekution zu erzwingen 32 • Ebensowenig darf sich aber, vom Standpunkt des Art. 5 BV aus betrachtet, ein Kantonsteil vom Kanton trennen, um sich einem anderen Kanton anzuschließen oder um einen selbständigen Kanton zu bilden 33 • Der Bund ist verpflichtet, Trennungsgelüsten einzelner Kantonsteile entgegenzutreten 34 • Das Verbot des Art. 5 BV gegenüber den Kantonen gilt aber m. E. außerdem auch für die freiwillige Abtretung von Kantonsgebiet auf dem Wege interkantonaler Verträge, die über Grenzhereinigungen hinausgehen 35 ~ Die Bundesverfassung schützt hier die Kantone gegen sich selber. Dieser Schutz erfolgt allerdings nicht nur im Interesse der K~ntone sondern auch des Bundes, was Art. 5 BV wie gesehen ebenfalls bezweckt. Infolgedessen gilt das Vertragsrecht der Kantone gemäß Art. 7 BV 36 allein unter dem Vorbehalt der Gebietsgarantie des Art. 5 BV. Das c,V erbot von Verträgen politischen Inhaltes zwischen den Kantonen gemäß Art. 7 BV ist nur_ eine Bestätigung dieses Vorbehaltes. Der genannte Vorbehalt würde auch ohne dieses Verbot gelten 37 • 31

Dies ergibt sich auch aus Art. 14 BV; vgl. unten S. 158. Vgl. unten S. 143 ff. Keine Anwendung findet hingegen Art. 5 .BV bei staatsrechtlichen Streitigkeiten zwischen Kantonen im Sinne von eigentlichen Grenzstreitigkeiten gemäß· Art. 84 lit. b OG, da es sich hier nur um streitige Grenzhereinigungen handelt, die mangels vertraglicher Einigung durch das -Bundesgericht zu schlichten sind; vgl. J. Frei : a. a. 0. S: 34. 38 In diesem Falle käme Art. 1 BV zur Anwendung; vgl. oben S. 51. 84 Vgl. über den Versuch aus dem Jahre 1870, den Bezirk Murten vom Kanton Freiburg abzutrennen, BBl 1871 li 157 und J. Frei: a. a. O: S. 27 f. 85 Die Abtretung von Gebietsteilen an das Ausland ist den Kantonen schon gemäß Art. 8 und 9 BV verwehrt. 36 Vgl. unten S. 159 ff. 37 Nach B u r c k h a r d t : Kommentar S. 73 ist das Verbot von Gebietsabtretungen zwischen Kantonen im Art. 7 BV enthalten. Zu Unrecht · hält aber m.E. Burckhardt dieses Verbot für relativ, indem er solche vertragliche Gebietsänderungen bei Eintritt von Verhältnissen, die sie wünschenswert erscheinen lassen, als zulässig ansieht. Denn Art. 7 BV untersagt schlechthin Verträge politischen Inhalts zwischen den Kantonen. Ände32


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Enthält somit Art. 5 BV eine Garantie des Kantonsgebietes im Sinne eines ·Verbotes der Veränderung desselben durch Bund und Kantone, so darf eine Änderung des kantonalen Territoriums nur mit Zustimmung der verfassungsgebenden Gewalt des Bundes erfolgen 38 • 3. Neben Bestand und Gebiet der Kantone ·gewährleistet der Bund im Art. 5 BV auch die kantonale Souverän~tät. Da jedoch die Kantone nicht souverän sind 39 , kann darunter nur die Befehlsgewalt der ;Kantone als solche verstanden werden. Nachdem aber die Bundesverfassung bereits den kantonalen Kompetenzbereich und damit den -Gegenstand der Befehlsgewalt der Kantone bestimmt und sicherstellt 40, erscheint die Garantie des kantonalen Imperiums als solches rechtlich unerheblich. 4. Ferner gewährleistet der Bund gemäß Art. 5 und 6 BV die Kantonsverfassungen. Der Bund hat darnach .für die Kantonsv~rfassun­ gen einzustehen, sie zu. schützen. Dabei räumt die Bundesverfassung den Kantonen eine weitgehende Verfassungsautonomie .ein. Sie hat nämlich den Kantonen ihre nähere Organisation nicht vorgezeichnet, obwohl sie dies als souveräne Ordnung auf dem Gebiete der ·Schweiz hätte tun können 41 • Ganz frei sind allerdings die Kantone in der Ausgestaltung ihrer Verfassurigen nicht. Die Bundesverfassung macht vielmehr die Gewährleistung der Kantonsverfassungen durch den Bund von bestimmten Voraussetzungen abhängig. Bund und Kantone müssen nämlich, wie Kanton und Gemeinde, aus politischen Gründen eine gewisse Homogenität in den Grundzügen ihrer Orrungen in der territorialen Struktur eines Kantons lediglich auf vertraglichem W·ege unter Genehmigung des Bundesrates erscheinen auch politisch kaum möglich. Im Falle der Notwendigkeit solcher Gebietsabtretungen infolge Änderung der Verhältnisse muß dann eben die Bundesve~fassung revidiert werden. So wäre für die Abtretung von Gemeinden von Baselland an Basel-Stadt die Zustimmung von Volk und Ständen erforderlich. In diesem Sinne auch die bundesrätliche Botschaft vom 14. Oktober 194 7 betreffend Wiedervereinigung beider Basel; BBl 1947 III 281. 38 Ein solcher Verwaltungsakt des Verfassungsgesetzgebers wäre ein formelles Verfassungsgesetz. Einen analogen Fall bildet der derp. obligatorischen Referendum unterstellte Bundesbeschluß vom 5. März 1920 über den Eintritt der Schweiz in den Völkerbund (AS 36, 651). 39 Vgl. oben S. 40 ff. 40 Vgl. unten S. 65 ff. 41 Auch den Gemeinden haben die Kantonsverfassungen ein Stück Verfassungsautonomie eingeräumt. Diese geht aber viel weniger weit als diejenige der Kantone. Vgl. G i a c o m e t t i: Das Staatsrecht der Kantone,.

s. 78 f.


Bund und Kantone.

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ganisation aufweisen. Dies erscheint für das richtige I~"'unktionieren des Bundesstaates unentbehrlich. Gleich der Bundesverfassung 42 müssen daher auch die Kantonsverfassungen auf dem Prinzip der Volkssouveränität beruhe~. Dementsprechend verlangt die Bundesverfassung im Art. 6 als Voraussetzung der Gewährleistung der Kan"' tonsverfassungen eine demokratische .Struktur der kantonalen Grundgesetze. Die Nichterfüllung dieser Bedingung hat aber außer der Nichtgewährleistung auch die Rechtsungültigkeit der Kantonsverfassung bzw. der betreffenden Verfassungsvorschriften zur. Folge 43 • Und zwar schreibt Art. 6 BV den Kantonen sowohl eine Demokratie der Verfassungsgesetzgebung als auch eine solche der · einfachen Gesetzgebung vor 44 • Aber auch sonst dürfen die Kantonsverfassungen nicht dem Bundesrecht widersprechen. Von großer praktischer Bedeutung ~ar jedoch diese Schranke der kantonalen Verfass~ngsautonomie schon von Anfang an nicht, da beinahe alle Kantone zur Zeit der Gründung des Bundesstaates im Jahre 1848 bereits demokratische Verfassungen besaßen 45 , die der Eidgenossenschaft als Vorbild für die Ausgestaltung ihrer eigenen Organisation gedient haben. Daher ist auch die weitgehende inhaltliche Gleichartigkeit der Kantonsverfassungen 46 historisch betrachtet nicht auf Art. 6 BV zurückzuführen sondern liegt in deren gemeinsamem Ursprung, in der Regeneration, und in der rein demokratischen Weiterbildung der Regenerationsverfassungen begründet. Art. 6 BV enthält im einzelnen folgende erschöpfende Normativbestimmungen über die Kantonsverfassungen: a) Die Kantonsverfassungen müssen vom Volke angenommen worden sein 47 • Damit setzt die Bundesverfassung das Volk als Faktor der verfassungsgebenden · Gewalt der Kantone ein. Die Revisionsvorschriften .der Kantonsverfassungen müssen mit anderen Worten das obligatorische Verfassungsreferendum vorsehen, und zwar in folgender Weise 48 • 49 : Nicht nur jede Totalrevision, wie man aus den1 42

Vgl. oben S. 31. Vgl. unten S. 92 ff. 44 Analog ist die Sicherstellung des demokratischen Aufbaus der Gemeinden in den Kantonsverfassungen oder Gemeindegesetzen erfolgt. Vgl: G i a c o m e tt i : a. a. 0. S. 78 f. 45 Vgl. His : a. a. 0. III, S. 293. 46 Vgl. darüber Giacometti: a.a.O., S.37ff. 47 Art. 6 lit. c BV. 48 Vgl. zum Folgenden G i a c o m e t t i: a. a. 0., S. 25 ff. 49 In dieser Regelung des Verf~hrens der Erzeugung der Kantonsver43


§ 4. Die recht!. Stellung d. Kantone als Selbstverwaltungskörper d. Bundes. 57

'V ortlaut der Verfassungsvorschrift entnehmen könnte, sondern auch jede Partialrevision der Kantonsverfassungen ist dem · Volke zur Annahme oder Verwerfung vorzulegen. Die Beschränkung des obligatorischen Refert:ndums auf die Totalrevision ließe sich nich.t rechtfertigen 50 • Unter Volk im Sinne des· Art. 6 lit. c BV kann dabei nach kantonalem Ermessen die Mehrheit aller Stimmberechtigten oder nur. die l\Iehrheit der stimmenden Bürger des betreffenden Kantons verstanden werden. 51, 52 , 53 , 54• Diese Mehrheit muß aber immer die absolute Mehrheit sein; sie darf nicht .ein qualifiziertes Mehr darstellen 55 , 56• Diese absolute Mehrheit der Stimmberechtigten bzw. der stimmenden Bürger muß sich als Faktor der verfassungsgebenden Gewalt ausdrücklich über die Annahme oder Verwerfung einer VerfassungsvorJage aussprechen dürfen 57 • Ferner muß sie die Möglichkeit haben, in einer besonderen Abstimmung einzig und allein über die Frage der Total- oder Partialrevision der Verfassung zu entfa~sungen durch Art. 6 lit. c BV findet die Tatsache, daß die Bundesverfassung der formale normative Geltungsgrund der Kantonsverfassungen ist: beredten Ausdruck. Vgl. oben S. 41. 50 ' So hat auch die Praxis diese Vorschrift aufgefaßt; vgl. W. Gut: Die Gewährleistung der Kantonsverfassungen durch den Bund, Zürcher Diss. 1928, S.18. 51 S a li s: Bundesrecht I Nr. 64; Bur c k h a r d t: KommPntar S. 67; S c h o ll e n b e r g er : Bundesstaatsrecht, 2. Aufl., S. 81. 52 Alle Kantone verlangen heute nur die Mehrheit der Stimmenden; vgl. G i a c o m e t t i : a. a. 0., S. 259. 53 Die Verfassung des Kantons Freiburg von 1848 war lediglich durch Beschluß des Großen Rates ohne Befragung des Volkes angenommen worden. Art. 6 der BV von 1848 wollte dies für die Zukunft verhindern. 54 Es darf aber die Verfassungsrevision nicht dadurch erschwert werden, daß die \Virksamkeit einer vom Volk angenommenfn Verfassungsbestimmung von der Annahme eines Ausführungsgesetzes abhängig gemacht wird. Vgl. den Fall von Solothurn aus dem Jahre 1909 bei Bur c k h a r d t: Bundesrecht I Nr. 224 IJI. 55 U 11 me r: Staatsrechtliche Praxis der Bundesbehörden aus den Jahren 1848-1860, I Nr. 30. Die Schaffhauser Verfassung von 1853 verlangte für Verfassungsabstimmungen die Anwesenheit von % der Stimmberechtigten in den Wahlver~ammlungen. 56 Dies folgt schon aus Art. 6 lit. c BV. 57 Das fakultative Referendum und damit im Falle der Nichtergreifung desselben die Annahme einer stillschweigenden Zustimmung des Volkes genügt nicht. Vgl. B ur c k h a r d t : Kommentar, S. 6 7. Die Schaffhauser Verfassung von 1876 sah bis 1892 für Partialrevisionen nur das fakultative Referendum vor. Die Bundesversammlung hatte aus Versehen die betreffende Verfassungsvorschrift genehmigt; vgl. S a l i s I Nr. 72 II.


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Bund und Kantone.

scheiden 5'8 • Denn nur auf diese Weise läßt sich der unverfälschte \Ville des Volkes über die Frage der Verfassungsänderung eindeutig feststellen. Es dürfe~ somit nicht eine Verfassungsrevision und ein Gesetz in einer und derselben Vorlage dem Volke vorgelegt werden 59 , denn dies könnte zu einer Verfälschung des Volkswillens führen. Andererseits darf das Volk seine verfassungsgebende Gewalt im Sinne der erwähnten Verfassungsvorschrift nicht an eine andere Instanz delegieren. Dies würde nämlich eine materielle Änderung der Bundesverfassung durch die kantonale verfassungsgebende Gewalt, d. h. eine Verletzung der Bundesverfassung durch das kantonale Recht bedeuten 60, 61, 62. · b) Die Kantonsverfassungen müssen revidiert werden können, wenn die absolute :Mehrheit der Bürger es verlangt 63 • Neben dem obligatorischen Verfassungsreferendum schreibt somit die Bundesverfassung den Kantonen auch das Volksrecht der Verfassungsinitiative vor. Und zwar müssen die Revisionsvorschriften der Kantonsverfassungen, wie dies ohne weiteres aus dem Wortlaute des Art. 8 lit. c BV folgt, die jederzeitige Revidierbarkeit der Verfassung auf dem Wege der Volksinitiative :vorsehen 64 • Dabei verlangt die Bun- . 58

Vgl. Burckhardt: Kommentar, S.67. Eine solche Verkoppelung hat die Praxis einmal in Solothurn (Bur c k h a r d t : Bundesrecht I Nr. 232 VIII) und in Aargau (Bur c kh a r d t: a. a. 0. I Nr. 233 IV) gerügt. Allerdings hat die Bundesversammlung derartigen, Vorlagen auch schon die Gewährleistung erteilt. 60 ' Das gleiche Problem stellt sich bei der praktisch viel wichtigeren Gesetzesdelegation; vgl. unten S. 800 f. 61 Darum war es auch bundesrechtswidrig, daß die Nidwaldner Verfassung von 1877 im Art. 3 ihrer Übergangsbestimmunget~ den Landrat ermächtigte, allfällig von de11 Bundesversammlung beanstandete Verfassungsartikel von sich aus zu ändern. Vgl. S a I i s I Nr. 61 IL Vgt einen ähnlichen Fal1 unter der Herrschaft der Bundesverfassung von 1848 bei U ll m er: a. a. 0. I Nr. 28. 62 Die Regelung des Verfahrens der Verfassungsabstimmungen und. damit auch der Frage, ob bei Partialrevisionen das Prinzip der Einheit der Materie zu .wahren sei, oder ob in globo abgestimmt werden dürfe, ist dem kantonalen Recht überlassen. Man kann sich aber fragen, ob z. B. eine kantonale Vorlage auf Partialrevision der .Kantonsverfassung, .die eine Vielheit von Materien enthält, dem Sinn des Art. 6 lit. c BV, wonach in der Volksabstimmung über kantonale Verfassungsrevisionen der Volkswille möglichst unverfälscht zum Ausdruck kommen muß, entsprechen würde. 63 Art. 6 lit. c BV. 64 Die Verfassung von Nidwalden von 1850 sah die Möglichkeit der Revision erst nach 6 Jahren vor; vgl. U ll m er : a. a. 0. I Nr. 28-; einzelne Rcgenerationsverfassungen (Zug, Schwyz, Freih1,1rg) sahen den Ausschluß der 59


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desverfassung die Volksinitiative nicht nur für die Total- sondern auch für die Partialrevision der Kantonsv~rfassung. In diesem Sinne muß Art. 6 lit. c ausgelegt we:cden, nachdem auch im Bunde seit dem Jahre 1891 die Volksinitiative auf Partialrevision besteht 65 • Die nähere Ausgestaltung dieses Volksinitiativrechtes hat aber die Bundesverfassung den Kantonen überlassen 66• Diese können die Volksinitiative als Pluralinitiative oder als B.eferendumsinitiative ausgestalten. Im letzteren Falle stellt dann das Verlangen der :Mehrheit der Bürger allerdings noch keine Initiative dar sondern ledig'lich ein Verfassungsinitiativbegehren, das ist das ·Begehren auf Ergreifung der Verfassungsinitiative, also auf Dekretierung der Verfassungsrevision in einer Vorabstimmung 67 • 68 • Ebenso steht es selbstverständlich im freien Ermessen der Kantone, in der Ausgestalturig dieses Volksinitiativrechtes weiter zu gehen, und sich fiir das Zustandekommen einer Pluralinitiative beziehungsweise eines Heferendumsinitiativbegehrens mit einem· Bruchteil der absoluten Mehrheit der Stimmberechtigten zu begnügen. Die Bundesverfassung will eben nur ein minimales Volksinitiativrecht bezüglich der Verfassungsrevision sicherstellen 69 • Umgekehrt darf keine größere als die absolute Mehrhe~t für das Zustandekommen solcher VolksRevision für eine bestimmte Dauer vor; vgl. H i s : a. a. 0., Bd. 3, S. 30ft Dies wollte die Bundesverfassung für die Zukunft verhindern. 65 Vgl. oben S. 18. Es erscheint auch nicht logisch, Art. 6 lit. c BV dahin auszulegen, daß er das Verfassungsreferendum sowohl für die Total- als für die Partialrevision der Verfassung, die Volksinitiative jedoch nur für die Totalrevision fordere. Dies folgt keineswegs aus dem Wortlaut der· Verfassungsbestimmung. Anderer Ansicht F I einer: Bundesstaatsrecht, S. 58; Bur c k h a r d t: Kommentar, S. 69; Schollenberge r: Kommentar, S.141; Gut: a. a. 0. S. 22. Praktisch ist diese Frage allerdings ohne Bedeutung, ·da alle Kantone die Volksinitiative auf Partialrevision der Verfassung· kennen. Vgl. G i ac o m e t t i : a. a. 0. S. 463 ff. 66 Dies ergibt sich aus dem Wort ,;können'' im Art. 6 lit. c BV. Vgl. dazu B ur c k h a r d t : a. a. 0., S. 69. 67 Vgl. über diese Arten der Volksinitiativen G i a c o m e t t i : a. a. 0. S. 420 ff. sowie unten S. 708 f., 718 f. 68 Faktisch ist ein solches Verfassungsinitiativbegehren der Mehrheit der Bürger allerdings bereits ein Entscheid über die Verfassungsrevision, rechtlich aber nicht, da dieser Entscheid nicht in der Form einer Volksabstimmung gefällt wird; unrichtig: G i a c o m e t t i. a. a. 0. S. 452. 69 Kein Kanton verlangt denn auch für das Zustandekommen von Volksinitiativen und Volksinitiativbegehren auf Verfassungsrevision die Beteiligung der absoluten Mehrheit der Stimmberechtigten; vgl. G i a c o m e t t i: a. a. 0. S. 452 ff. und 463 ff.


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Bund und Kantone.

initiativen bzw. solcher Volksinitiativbegehren verlangt werden 70 • Ferner überläßt die .Bundesverfassung den Kantonen die Entscheidung darüber, ob die Befugnis, die Revision zu verlangen, außer dem Volke auch den: Großen Räten zukommen soll, und welche Behörde, Großer Rat oder Ve:dassungsrat, den Verfassungstext auszuarbeiten hat. Der fertige Text muß unter allen Umständen der Volksabstimmung unterstellt werden, da eben die Bundesverfassung wie gesehen für jede Verfassungsrevision das obligatorische Referendum verlangt. c) Die Kantonsverfassungen müssen die Ausübung der politischen Rechte nach republikanischen (repräsentativen oder demokratischen) Formen sichern 71 • Damit wird zunächst den Kantonen die republikanische Staatsform im Gegensatz zur Monarchie vorgeschrieben 72 • 73 • Aber nicht nur die monarchische Staatsform sondern auch die aristokratische Republik ist ausgeschlossen. Die republikanische Staatsform der Kantone muß vielmehr eine reptäsentati V oder unmittelbar demokratische sein. Dies ergibt sich _daraus, daß politische Rechte in repräsentativen oder demokratischen Formen verlangt, d. h. aber, daß allge~eine und gleiche politische Rechte und damit das :Mehrheitsprinzip gefordert - werden 7-4 • Dies folgt auch aus Art. 4 BV 75 • 76 • Da jedoch die Demokratie der Verfassungsgesetzgebung in der Gestalt des obligatorischen VerfassungsreferenVgl. S a Ii s I Nr. 359. Art. 6 lit. b BV. 72 .Das Erfordernis ·des obligatorischen Verfassungsreferendums allein schließt nicht ohne weiteres die Monarchie aus. 73 Diese Bestimmung enthielt schon die Bundesverfassung von 1848. Sie wurde darin mit Hinblick auf Neuenburg, das bis zur Proklamierung der Republik am 1. März 1848 ein Fürstentum war, aufgenommen. Ana~og die amerikanische Unionsverfassung, Art. IV Section 4: "The United States shall -guaranty to every State in this union a republican form of government". Die deutsche Reichsverfassung von 1919, Art. 17, bestimmte: ,,Jedes Land muß eine freistaatliche Verfassung haben ... '' 74 Vgl. Bur c k h a r d t: ·B undesrecht I, S. 505. 75 Vgl. Burckhardt: Kommentar, S.66. Vgl. unten S.404f. 76 Art. 6 lit. b BV ist insofern ein Anwendungsfall des Art. 4 BV. So wurde einmal anläßlich des Gewährleistungsverfahrens eine Kantonsverfassung vom Bundesrat angefochten, weil die Ausschlußgründe so geändert wurden, daß ungefähr 25 % der Stimmberechtigten vom Stimmrecht - ausgeschlossen waren; vgl. Gut: a. a. 0. S. 16 f. So wurde einer kantonalen Verfassungsvorschrift die Gewährleistung ver weigert, weil sie Volksinitiativbegehren mit der Wirkung versah,. daß die Initianten, also eine Minderheit, bereits in Kraft befindliche Gesetzes70 '

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§ 4. Die rechtl. Stellung d. Kantone als Selbstverwaltungskörper d. Bundes. 61

dums den Kantonen bereits in einer besonderen Verfassungsbestimmung vorgeschrieben ist 77 , kann sich das Erfordernis der repräsentativen oder unmittelbaren Demokratie nur auf die einfache Gesetzgebung beziehen. Die I\antone müssen somit mittelbare oder unmittelbare Demokratien der einfachen Gesetzgebung sein. Die Funktion der einfachen Gesetzgebung muß mit anderen Worten entweder unter Mitwirkung des Volkes in der Form des fakultativen oder obligatorischen Referendums (unter Ein- oder Ausschluß der Gesetzesinitiative) oder aber durch eine Volksvertretung, d. h. eine vom Volke bestellte Legislative 78 ausgeübt werden 79: 80 • · . Ebenso muß das Prinzip der gleichen politischen Rechte auch für das Gemeindewesen gelten 81 • d) Ferner dürfen die Kantonsverfassungen nichts den übrigen Vorschriften der Bundesverfassung Zuwiderlaufendes enthalten 82 beschlüsse in ihrer \Virksamkeit einstellen konnten; B ur c k h a r d t : Bundesr~cht I, Nr. 219 II (Obwalden). Vgl. über die Praxis der politischen Bundesbehörden betr. die politische Rechtsgleichheit bei der Gewährleistung von Kantonsverfassungen Gut: a. a. 0 . S. 38 ff. Vgl. auch unten S. 416. 77 Art. 6 lit. c BV; vgl. ·oben S. 56 f.. 78 Eine solche rein repräsentative Demokratie der Gesetzgebung war der Kanton Freiburg bis 1921; BBl 1921 I, 615 ff. 79 In allen Kantonen besteht heute das Gesetzesreferendum, wobei 16 Kantone das obligatorische Gesetzesreferendum besitzen. Alle Kantone kennen außerdem die Gesetzesinitiative des Volkes. V gl. G i a c o m e t t i : a. a. 0. S. 4 70 ff. und 4 76; vgl. über die historische Entwicklung, die zur Einführung des Gesetzesreferendums in den Kantonen geführt hat, H i s 111, S. 336 ff. 80 Alle Kantone, außer Appenzell 1.-Rh., kennen außerdem in irgendwel:. eher Ausgestaltung auch das Verwaltungsreferendum, vorab im Sinne des Finanzreferendums. Vgl. G i a c om e t t i: a. a. 0. S. 525 ff. und H. Es eher: Das Finanzreferendum in den Kantonen, Zürcher Diss. 1941. 81 So wurde ein Mißbrauch der republikanisch-demokratischen Formen gemäß Art. 6 lit. b BV bezüglich des Gemeindewesens in einer Vorschrift eines Luzerner Verfassungsgesetzes erblickt, dahingehend, daß in Gemeinde-· abstimmungen über die Anwendung des Proportionalwahlverfahrens die Annahme der Verhältniswahl von der Zustimmung eines Drittels der gültig Stimmenden abhängt. Hingegen wurde als zulässig, weil sich aus dem Grundsatz der verhältnismäßigen Vertretung ergebend, angesehen, daß eine Kantonsverfassung einer kleinen Minderheit gestattet, die Anwendung des Proporzes auf die Gemeindewahlen zu verlangen, also dieser Minderheit die Entscheidung über die Frage des Wahlverfahrens überläßt; vgl. Bur c kh a r d t: Bundesrecht I, Nr. 216 IV. Vgl. über die Praxis der politischen Bundesbehörden betr. die politische Rechtsgleichheit im Gebiete des Gemeindewesens Gut: a. a. 0. S. 45 f., 59-ff. 82 Art. 6 lit. a BV.


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Hund und Kantone.

und damit ·angesichts der derogatorischen Kraft des Bundesrechtes auch den übrigen Bundesnormen .nicht widersprechen. Dieses Verbot an die Kantone ist somit ein Anwendungsfall des erwähnten Grundsatzes, daß Bundesrecht kantonales Recht bricht 83 • 5. Mit der Gewährleistung solcher demokratischer Kantonsverfassungen garantiert der Bund zugleich die Freiheit und die Rechte des Volkes und die verfassungsmäßigen Rechte der Bürger sowie die verfassungsmäßigen Befugnisse der Behörden im Sinne des Art. 5 BV, da diese in den Kantonsverfassungen verankert sind. Die besondere Gewährleistung dieser Rechte im Art. 5 BV hat deshalb nur historische Bedeutung. Der Schutz der Verfassung als Ganzes und der Behörden auf Grund dieser Gewährleistung erfolgt durch die eidgenössische Intervention und der Schutz der Rechte der Bürger durch das Bundesgericht 84 • II. Gleich jedem anderen innerstaatlichen Herrschaftsverband haben auch die Kantone bestimmte staatliche Aufgaben wahrzunehmen. Besteht ja der Sinn jeder staatlichen Dezentralisation darin; daß die innerstaatlichen Herrschaftsverbände an der Ausübung der Staatstätigkeit irgendwie mitzuwirken haben. Und zwar liegt den Kantonen als innerstaatlichen Herrschaftsverbänden des Bundes eine Doppelfunktion ob. 1. Die Kantone haben zunächst bestimmte staatliche Aufgaben an Stelle der Eidgenossenschaft selbständig zu erfüllen. Diese Aufgaben bilderi den primären Gegenstand des kantonalen Imperiums und infolgedessen die kantonalen Kompetenzen. Dieser kantonale Kompetenzbereich wird durch die Bundesverfassung bestimmt 85 und damit in gleicher Weise sichergestellt wie die Existenz, das Gebiet und die Verfassungsautonomie der Kantone. Der Schutz desselben erfolgt durch das :aundesgericht. Man kann insofem von einem eigenen Wirkungskreis .der Kantone sprechen, wie bei der Gemeinde 86• Die Kantone besitzen daher nebst der organisatorischen (der Verfas83

Vgl. unten S. 92 ff. Vgl. unten S. 148 ff. 85 Wenn auch nur in negativer Weise; vgl. unten S. 65 ff. 86 Mit dem Unterschiede allerdings, daß die eigenen Aufgaben der Kantone einen viel größeren Umfang haben und ausschließlich durch die Staats· verfassung: bestimmi werden, während die eigenen Aufgaben der Gemeinde naturgemäß nur einzelne lokale Angelegenheiten betreffen und inhaltlich vielfach lediglich durch die ·einfache Gesetzgebung festgesetzt werden; vgl. darüber G i a c o m e tt i: a. a. 0. S. 75 f., sowie oben S. 45. 84


§ 4. Die recht!. Stellung d. Kantone als Selbstverwaltungskörper d. Bundes. 63

sungsautonomie) 87 auch eine materielle Autonomie. Sie stellen infolgedessen in diesem Rahmen gleich den Gemeinden im Gebiete der Gemeindeautonomie staatliche Organe in einem weiteren Sinne dar. Aus diesem Grunde wurden ja die Kantone als Selbstverwaltungskörper des Bundes bezeichnet 88 • Als solche können sie miteinander in vertragliche und außervertragliche Beziehungen · treten. 2. Außerdem sind aber die Kantone auch an der Erfüllung der Aufgaben des Bundes, das ist an der Ausübung der Bundeskompetenzen beteiligt. Sie besitzen insofern gleich den Gemeinden 89 einen übertragenen Wirkungskreis. Dieser besteht zunächst in der Vollziehung der Bundesverwaltungsgesetze, die letztere bzw. ausnahmsweise die Bundesverfassung 90 den Kantonen überlassen. In diesem Bahmen wird somit der übertragene Wirkungskreis der Kantone im Gegensatz zum eigenen in· der Hauptsache nicht durch die Bundesv~rfassung sondern durch einfache Bundesgese~ze bestimmt. Der übertragene Wirkungskreis der Kantone beschränkt sich jedoch im Gegensatz zu demjenigen der Gemeinden nicht auf diese Fun~­ tionen. Die Kantone haben vielmehr außer bei der Bundesverwaltung auch ·bei der Bundesverfassungsgesetzgebung mitzuwirken. An ~eser Tatsache zeigt sich ja, wie .gesehen, der bundesstaatliche Charakter der Eidgenossenschaft 91 • Ebenso kÖnnen sie sich nach bestimmten Richtungen an der einfachen Bundesgesetzgebung beteiligen 92 • Diese Beteiligung der Kantone an der Bundesverfassungsgesetzgebung und an der einfachen Bundesgesetzgebung ist aber im Gegensatz zu ihrer Mitwirkung bei der Bundesverwaltung schon in der Bundesverfassung verankert. Im Bereiche ~hres übertragenen \Virkungskreises bilden daher die Kantone Organe des Bundes im engeren Sinne, d. h. Bundesorgane wie _die eigentlichen Organe der Eidgenossenschaft, die Bundesbehörden und die Bundesbeamten 93 • Gleich den Gemeinden unterstehen jedoch auch die Kantone im eigenen und übertragenen \Virkungskreis nach bestimmten Richtungen einer staatlichen Aufsicht. 3. Vor der Bundesgewalt sind die Kantone im eigenen und über87

Vgl. oben S. 55. Vgl. oben S. 44. 89 Vgl. G i a c o m e t t i : a. a. 0. S. 80 f. DO VgL unten S. 103. 91 Vgl. oben S. 4 7. 92 Vgl. unten S. 113 ff. 93 Analog wie die Gemeinden im übertragenen \Virkungskreis kantonale Organe bilden gleich de? kantonalen Behörden. 88


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Bund und Kantone.

tragenen Wirkungskreis grundsätzlich gleich 94 • Diese Gleichheit der Kantone gegenüber dem Bund hat sich historisch betrachtet aus der völkerrechtlichen Gleichheit der Staaten entwickelt 95 • Sie ist nach einzelnen Seiten absolut, nach anderen hingegen nur relativ. Absolute Gleichheit der Kantone besteht im eigenen und im übertragenen \Virkungskreis in dem Sinne, daß alle Kantone gleiche Kompetenzen 96 und gleichen Anteil an der Erfüllung der Bundesaufgaben besitzen. Letzteres gilt allerdings nur unter Vorbehalt gewisser Ausnahmen bezüglich der Halbkantone 97 • Ihren stärksten Ausdruck findet diese absolute Gleichheit der Kantone in der 'Tatsache, daß im Ständerat der größte wie der kleinste Kanton durch je zwei Abgeordnete vertreten ist 98 , und daß bei Verfassungsabstimmungen jede Standesstimme gleich schwer wiegt 99 • 100 • ~Iit Bezug auf die finanziellen Leistungen des Bundes an die Kantone und der Kantone an den Bund sowie hinsichtlich der Beteiligung der Kantone am Ertrag bestimmter Bundessteuern besteht hingegen nur eine relative Gleichheit, indem die Höhe dieser Leistungen an den einzelnen Kanton bzw. des einzelnen Kantons sowie diese Beteiligung sich nach der Bevölkerungszahl des Kantons bzw. dem Ertrag der betreff enden Bundesabgaben im Kanton oder nach anderen Kriterien bemißt 101 • Ja auf finanziellem Gebiete haben Bundesverfassung und 94 Vgl. S c h i n d I er : Die Gleichheit der~ Kantone, · Separatabdruck aus Wissen und Leben, Jahrg. 1921. 95 Vgl. Schind I er: a. a. 0. S. 1. 96 Es gibt keine politischen Sonderrechte einzelner Kantone, wie z. B. in Deutschland unter der Herrschaft der Reichsverfassung von 1871 der Fall war, wo Bayern sogenannte Reservatrechte besaß; vgl. M e y er - An schütz: Deutsches Staatsrecht, 7. Autl, S. 698 ff. · 97 Vgl. Art. 80, 123 Abs. 2 BV. Vgl. S. 49, 111, 115, 116, 117 . 98 . Art. 80 BV; vgl. unten S. 504. 09 Art. 123 BV; vgl. unten S. 111 f. 100 ' Nach BGer 4, 46 bildet die Gleichheit der Kantone ein Hechtsprinzip für die Beurteilung staatsrechtlicher Streitigkeiten unter ihnen. io.l Vgl. z. B. Art. 32bis Abs. 9 BV, wonach die Hälfte der Reineinnahmen aus der fiskalischen Belastung gebrannter Wasser unter die Kantone im Verhältnis der Wohnbevölkerung zu verteilen ist. Analog auch Nationaibankgesetz von 1921, Art. 28. Gemäß Art. 14 des BG über den Militärpflichtersatz von 1878 haben die Kantone die Hälfte des Bruttoertrages des bezogenen Militärpflichtersatzes dem Bunde abzuliefern. Gemäß Art. 38 des \Vehrsteuerbeschlusses von 1940 hat jeder Kanton 70 % der bei ihm eingehenden Wehrsteuerbeträge dem Bunde abzuliefern; ·Gemäß Art. 42 lit. f BV sind die kantonalen Kontingente nach Maßgabe der Steuerkraft der Kantone zu bestimmen.


§ 5. Die Ausscheidung der Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen.

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Bundesgesetzesrecht vereinzelt auch den Grundsatz der relativen Gleichheit der Kantone im soeben genannten Sinne durchbrochen, indem sie bei der Gewährung finanzieller Bundesleistungen an die Kantone einzelne von ihnen mit Rücksicht auf ihre besondere Lage gegenüber den anderen begünstigen 102• 103. ·

2. Abschnitt.

Eidgenössischer Kompetenzbereich und eigener Wirkungskreis der Kantone. § 5. Die ·Ausscheidung

der Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen. I. Der Bundesstaat muß im Interesse der Ordnung und der Vermeidung von Konflikten mit seinen Gliedern eine eindeutige Verteilung ·cter. staatlichen Aufgaben zwischen Bund und innerstaatlichen Herrschaffsverbänden vornehmen. Da die Eidgenossenschaft, wie oben gesehen, als souveränes Gemeinwesen die Kompetenzkompetenz be~ 10 2 ' Es sind entweder Leistungen, welche nur wenigen Kantonen zugewendet werden, wie z. B. die Entschädigung, welche nach BV Art. 30 die Kantone Uri, Graubünden, Tessin und Wallis mit Rücksicht auf ihre internationalen Alpenstraßen jährlich aus der Bundeskasse erhalten, oder es sind Zuschläge, welche der Bund bei der Gewährung jährlicher allgemeiner Subventionen an die Kantone einzelnen von ihnen zuwendet; von dieser Art ist die Zulage von 60 Rappen auf den Kopf der Wohnbevölkerung, welche der Bund den Kantonen Uri, Schwyz, Obwalden, Nidwalden, Appenzell 1.-Rh.: Appenzell A.-Rh., Graubünden, T~ssin und Wallis, in "Berücksichtigung der besonderen Schwierigkeiten ihrer Lage", gewährt über die allgemeinen Ansätze der eidgen. Volksschulsubvention hinaus. Dieser Art ist auch die weitere Zulage von 60 Rappen, die Tessin und Graubünden erhalten. BG betr. die Unterstützung der öffentlichen Primarschulen, vom 25. Juli ÜW3, Art. 4, in der Fassung des BG vom 15. März 1939; 'vgl. auch den BB vom 21. September 1942 über die Bewilligung einer jährlichen Bundessubvention an den Kanton Tessin und an die Talschaften italienischer und romanischer Sprache Graubündens zur Wahrung und Förderung ihrer kulturellen Eigenart; vgl. auch oben S. 34 Anm. 11. 10 3 ' Bei der Beratung des Textes der BV von 1848 vertrat Graubünden die Auffassung, "solche Artikel der BV, vermöge welcher der Bund bestimmte Leistungen gegen einzelne Stände übernommen hat, sollen nur mit Zustimmung der letzteren abgeändert werden können". Dieser Auffassung wurde jedo~h von allen Seiten widersprochen (Abschied der eidgen. Tagsatzung von 1847, IV. Teil, S. 163).

6 Fleiner I Giacometti, Bundesstaatsrecht.


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Bund und Kantone.

sitzt \ kann diese Abgrenzung zwischen dein eigenen Wirkungskreis der Kantone und demjenigen des Bundes nur durch das Bundesrecht erfolgen. Und zwar beruht die Ausscheidung der staatlichen Aufgaben zwischen der Eidgenossenschaft _und den Kantonen, wie oben bereits erwähnt 2, unmittelbar auf der Bundesverfassung, obwohl ja letztere an und für sich diese Verteilung auch dem Bundesgesetzgeber hätte überlassen können'. Die Ausscheidung der staatlichen Aufgaben zwischen Bund und Kantonen unmittelbar durch die Bund-esverfassung war angesichts der Tatsache, daß die Eidgenossenschaft aus dem Staatenbund der Kantone hervorgegangen ist, eine historische und pöliÜsche Notwendigkeit. Juristisch betrachtet bedeutet die Zuteilung von staatlichen Aufgaben an den Bund oder an die Kantone durch die B:u.ndesverfassung ·die Begründung der Kompetenz, d. ~- Zuständigkeit der ~idgenossenschaft bzw~ ·der Kantone zur Besorgung der betreffenden Aufgaben. Man sagt daher auc~, daß die Bundesverfassung die Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen verteilt habe 3 • l. Diese Zuständigkeitsverteilung ist aber selbstverständlich nicht in -dem Sinne erfolgt, daß die Bundesverfassung sowohl die Kompetenzen des Bundes als -auch die]e:riigen der Kantone positiv bestimmt. Dies wäre unmöglich, da die Summe der staatlichen Aufgaben nicht konstant ist. Die · Bundesverfassung zählt viehnehr · nur die dem Bunde zugewiesenen Kompetenzen positiv auf. Die Aufgalien des eigenen Wirkungskreises der :Kantone umschreibt sie hingegen nicht 4• 4a. Daraus folgt, daß den Kantonen alle Kompetenzen verblie1

Vgl. oben S. 38 . . Vgl. -oben 'S. 38. 3 Die Zuteilung einer bestimmten Aufgabe an den Bund oder an die Kantone macht eben diese zur Regelung zuständig, kompetent. Daher der Ausdruck staatliche Kompetenz Zuständigkeit zur Besorgung staatlicher Aufgaben. 4 _ Wenn Art. 27bis BV ausdrücklich feststellt, Organisation, Leitung und Beaufsichtigung des Primarschulwesens b I e i b e Sache der Kantone, so soll damit lediglich das politische Bedenken gegen eine mögliche Ausdehnung der Bundeskompetenzen im Volksschulwesen beschwichtigt werden. Denselben Rücksichten ist der Vorbehalt der kantonalen Rechtsprechung in den Rechtseinheitsartikeln (BV Art. 64, ß4bis) entsprungen. Diese Vorschriften begründen nicht positiv ·kantonale Kompetenzen sondern umschreiben negativ, d: h. begrenzen den Bereich der Bundeskompetenzen in der betreffenden Materie. Dasselbe gilt von den Vorbehalten des kantonalen -Rechts im Art. 9, 24bis, Abs. 3 und 37bis, Abs. 2 BV. - 4a Sie zählt aber einzelne kantonale Aufgaben des übertragenen Wir2

=


§ 5. Die Ausscheidung der Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen.

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ben sind, die die Bundesverfassung nicht dem Bunde zugewiesen hat. Die Kantone dürfen mit anderen Worten alle staatlichen Aufgaben wahrnehmen, die praktisch werden können und die von der Bundesverfassung nicht dem Bund übertragen worden sind. Die kantonalen Kompetenzen werden somit durch die Bundesverfassung nur negativ umschrieben. Die Bundesverfassung drückt diese Tatsache im Art. ~3 Satz 2 dahin aus, daß die Kantone als solche alle Rechte ausüben, welche nicht der Bundesgewalt übertragen sind. Angesichts dieser Sachlage sind die kantonalen Zuständigkeiten generell, während der Eidgenossenschaft nur enumerierte Kompetenzen zustehen;:;. Allerdings sagt Art. 3 Satz 2 BV nicht ausdrücklich, daß die Kantone alle Rechte ausüben, welche nicht durch die B ·u n des v e r f a s s u n g der Bundesgewalt übertragen sind. Dies ist aber trotzdem ·zweifellos der Sinn des Art. 3 Satz. 2 BV, nachdem die Bundesverfassung in ihrem ersten Abschnitt die Bundesaufgaben einzeln aufzählt. Diese Bedeutung der erwähnten Verfassungsvorschrift ergibt sich auch aus Art. 3 Satz 1 BV in Verbindung mit Art. 3 Satz 2 BV. Wenn gemäß dieser Verfassungsbestimmung die kantonale Souveränität besteht, soweit sie nicht von der Bundesverfassung beschränkt "\'\:ird, so bedeutet dies, wie oben gesehen 6, daß der Bereich der kantonalen Befehlsgewalt durch die Bundesverfassung beschränkt werden kann. Eine Schmälerung der Sphäre des kantonalen Imperiun1s durch die Bundesverfassung kann jedoch angesichts des Art. 3 Satz 2 BV lediglich dadurch erfolgen, daß diese dem Bunde Kompetenzen überträgt. Daß die Begründung der Bundeskompetenzen allein durch die Bundesverfassung erfolgen darf, ergibt sich auch aus Art. 85· Ziff. 2 BV, wonach die Bunde~versammlung Gesetze und Beschlüsse über diejenigen Gegenstände erlassen kann, zu deren Regelung der Bund nach Maßgabe der Bundesverfassung zuständ~g ist. Diese Art der Kompetenzausscheidung zwischen Bund und · Kantonen durch die Bundesv~rfassung im Sinrie einer positiven Aufzählung der Bundesaufgaben ist historisch zu erklären. Nach der Absicht des Bm:idesverfassungsgesetzgebers von 1848 und 187·1 sollte die Eidgenosseilschaff nur diejenigen Angelegenheiten besorgen, zu deren Wahrnehmung die Kantone nicht mehr in der Lage waren, während hn übrikungskreises auf, so z. B. in den Art. 20, Abs. 1, 40, Abs. 2, 69bis, Abs~ 2, ßgter, Abs. 2 BV; vgl. unten S. 103, 109, 125. 5 Da nicht alle kantonalen Aufgaben voraussehbar sind, besitzen die Kantone insofern latente Kompetenzen. 6 Vgl. oben S. 43.


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Bund und Kantone.

gen die Kompetenz nach wie vor bei den Kantonen zu verbleiben hätte. Der Kompetenzbereich der Eidgenossenschaft besteht somit aus den in der Bundesverfassung aufgezählten Bundeskompetenzen, während der eigene Wirkungsbereich der Kantone von der Bundesverfassung neg.ativ umschrieben wird. In diesem'Umfange besitzen die Kantone m~terielle Autonomie 7 • s. 2. Der eigene Wirkungskreis der Kantone wird jedoch nicht nur durch die eigentlichen Zuständigkeitsvorschriften der Bundesverfas-· sung negativ umschrieben. Dasselbe bewirken naturgemäß auch die verfassungsmäßigen Verhaltensnormen des Bundesrechtes 9 ; denn sre stellen inhaltliche Schranken für das kantonale Recht dar. Die Kantone niüssen sich in ihrer Rechtssetzung im Rahmen des eidgenössischen Verhaltensrechts halten 10 • Es gehört eben zum Wesen des materiellen Rechtes eines Bundesstaates, daß es zugleich Verhaltensrecht und Kompetenzrecht ist. Als solches eidgenössisches Verhaltensrecht, das ebenfalls die Kompetenzsphäre der Kantone negativ bestimmt, erscheinen naturgemäß in erster Linie alle Bundesvorschrift~n der Gesetzes- und Verordnungsstufe, die in materieller Ausführung und im Rahmen der verfassungsmäßig fixierten Gesetzgebungskompetenzen der Eidgenossenschaft ergehen. Als solches eidgenössisches Verhaltens:recht, das den eigenen Wirkungskreis der Kantone negativ bestimmt, - wenn es sich auch in der Hauptsache nur um Verhaltensrecht für die staatlichen Organe handelt - kommen sodann auch die Freiheitsrechte sowie alle übrigen materiellen Grundsätze und Verbote der Bundesverfassung 11 in Betracht. Denn auch diese Verfassungsvorschriften begründen Bundeskompetenzen, indem die Kantone in den Materien, die Objekt 7

Neben der organisatorischen Autonomie; vgl. oben S. 55. Analog der sachlichen Gemeindeautonomie, die sich auf die eigenen Angelegenheiten der Gemeinde, den eigenen Wir_kungskreis der Gemeinde bezieht. Vgl. G i a c o m e t t i: a. a. 0. S. 75 ff. 9 Vgl. B ur c k h a r d t : Eidgenössisches Recht bricht kantonales Recht, Festgabe für Fleiner 1927, S. 61. 10 ' So dürfen z. B. die Kantone in ihren öffentlichrechtlichen Vorschriften nicht das Bundesprivatrecht verletzen, z. B. öffentlichrechtliche Normen mit privatrechtliehen Wirkungen erlassen, BGE 37 I 44, oder die Rechtseinheit, die das eidgenössische Zivilrecht geschaffen hat, gefährden, BGE 58 I 32, bzw. das Bundesprivatrecht vereiteln, E g g e r : Kommentar zum Personenrecht, 2. Aufl., S. 106. 1 1 Vgl. unten S. 89 f. 8


§ 5. Die Ausscheidung der Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen.

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der genannten Normen sind, nicht mehr legiferieren dürfen. Die Besonderheit dieser · kompetenzbegründenden Verfassungsbestimmungen gegenüber den eigentlichen Kompetenzvorschriften der Bundesverfassung besteht darin, daß hier die Kompetenznorm nicht nur die Zuständigkeit des Bundes begründet sondern zugleich auch bereits den Kompetenzgegenstand materiell regelt. Formelle Zuständigkeitsnorm und Ausführungsvorschrift fallen zusammen. Es liegt materielles Kompetenzrecht vor. Allerdings bildet dieses nicht nur eine negative Bestimmung der kantonalen Kompetenzsphäre sondern zugleich auch eine inhaltliche Schranke der eidgenössischen Ausführungsgesetzgebung zu den formellen Kmnpetel?zvorschriften der Bundesverfassung 12 • Die Freiheitsrechte und die übrigen mate-; riellen Normen der Bundesverfassung sind mit anderen Worten auch für den Bundesgesetzgeber verbindlich 13 • 3. Besitzen die Kantone gemäß Art. 3 Satz 2 BV alle diejenigen Zuständigkeiten, die die Bundesverfassung nicht dem Bunde übertragen hat, so ist damit zugleich gesagt, daß die Aufzählung der Bundeskompetenzen in der Bundesverfassung abschließend und erschöpfend ist. Alle Zuständigkeiten der Eidgenossenschaft sind mit anderen Worten gemäß Art. 3 Satz 2 BV verfassungsrechtliche Einzelermächtigungen, d. h. in speziellen Verfassungsartikeln niedergelegt. Dem Bunde kommen somit keine generellen Rechtssetzungskompetenzen zu. Sind aber die Bundeskompetenzen in der Bundesverfassung in abschließender, erschöpfender Vveise bestimmt 14 und sind im .ü_brigen die Kantone zuständig, so bedeutet diese Tatsache nichts anderes, als daß die durch die Bundesverfassung erfolgende Kompetenzverteilung zugleich lückenlos ist 15 . Nur eine solche lückenlose Kompetenzausscheidung kann denn auch ein geordnetes, friedliches Zusamn1enleben von Bund und Kantonen verbürgen. Darum sollten alle Bundeserlasse, die nicht lediglich Vollziehungsmaßnahmen bil-· den, wie vorab die Bundesgesetze und allgemeinverbindlichen Bundesbeschlüsse, immer eine .ausdrückliche Verweisung auf eine spe12 Es wäre denn, daß die einzelne formelle Kompetenzbestimmung eine lex specialis zu den einzelnen Freiheitsrechten bilden sollte. 13 Vgl. unten S. 242 f. 14 So darf z. B. der Bund ohne Verfassungsrevision kein Bundesgesetz zur Förderung der Leibesübungen oder zum Schutze von Kunstaltertümern erlassen und ebensowenig im Gebiete des · Natur- und Heimatschutzes legiferieren, da die Verfassungsgrundlage hiezu fehlt. Vgl. Verwaltungsentscheide, Heft 5, Nr. 12 und 13, sowie Heft 9, Nr. 17. 15 Vgl. G i a c o m e t t i: Die Auslegung der Bundesverfassung, S. 21.


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Bund und Kantone.

zieHe Kompetenzbestimmung der Bundesverfassung enthalten 1 G. Es ist denn auch im allgemeinen Brauch, daß die Bundesgesetze und allgemeinverbindlichen Bundesbeschlüsse im Ingreß auf einen kompetenzbegründenden Verfassungsartikel verweisen. Mitunter fehlt jedoch eine solche Verweisung 17 • Für die Frage der Kompetenzgemäßheil eines solchen Bundeserlasses ist die Verweisung natürlich unerheblich. 4. Ist die in der Bundesverfassung enthaltene Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen lückenlos, müssen mit anderen Worten alle Bundeskompetenzen in· der Bundesverfassung stehen, so kann dementsprechend die Kompetenzausscheidung · zwischen Bund und Kantonen auch allein durch Revision der Bundesverfassung geündert werden. , Sind ja die Vorschriften der Bundesverfassung üb.er die Bundeskompetenzen gleich den übrigen Organisationsvorschriften zwingendes Recht; sie begründen nicht subjektive Rechte des Bundes und der Kantone 18 • Infolgedessen ist auch kein Verzicht darauf möglich. Es ist somit dem Bunde ·gemäß Art. 3 · BV untersagt, neue Kompetenzen, die auf keinen Verfassungsartikel gestützt werden können, zu beanspruchen. Daraus ergeben sich verschiedene Folgerungen: a) Das Verbot für den Bund zur Begründung neuer Kompetenzen ohne Verfassungsrevision gilt selbstverständlich nicht etwa nur für Zuständigkeiten, die sich auf obrigkeitliche Tätigkeiten beziehen, also vorab für Gesetzgebungskompetenzen; es besteht vielmehr auch für solche Kompetenzen, deren Gegenstand nicht obrigkeitliche Funktionen, sondern wirtschaftliche, kulturelle Betätigungen und finanzielle Unterstützungen bilden, die als sogenannte freie Staatstätigkeiten bezeichnet werden 19 • Letzteres ergibt sich auch durch 16

Damit wird der ·Bundesgesetzgeber eher gezwungen, sich um die ver: fassungsrechtliche Grundlage seiner Erlasse .zu kümmern. 17 Vgl. solche Fälle bei Matt i: Die Bundessubventionen als Rechtsinstitut des Bundesrechtes, Zürcher Diss. 1929, S. 95. Dies ist naturgemäß oft dann der Fall, wenn eine Verfassungsgrundlage überhaupt fehlt; vgl. z. B. aus der neuesten Zeit den verfassungswidrigen BB über die Ordnung der Zuckerwirtschaft (BBl 1946, II, 804) oder etwa den BB vom 29. September 1936 über wirtschaftliche Notmaßnahmen (AS 52, 749). Einzelne dringliche Bundesbeschlüsse aus den dreißiger Jahren, die ohne verfassungsrechtliche Grundlage waren, beriefen sich auf das Landesinteresse, so z. B. die verschiedenen Finanzprogramme (AS 52, 17; 49, 839). 18 Vgl. Burckhardt: Kommentar, S.18; Giacometti: a. a. 0. S.182. 19 S c h o 11 e n b er g er : Bundessb.l atsrecht 2. Aufl., S. 71 f. und Kommentar, S. 92.


§ 5. Die Ausscheidung der Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen.

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Umkehrschluß aus verschiedenen Vorschriften der Bundesverfassung, die der Eidgenossenschaft die Kompetenz zu wirtschaftlichen und kulturellen Tätigkeiten und zur Gewährung von Subventione11: einräumen, wie z. B. aus Art. 23, 24 Abs. 2, 27, 27bis, 34b13 , 35 Abs. 4, 64b 1s Abs. 3 BV. Diese Auffassung wird bestätigt durch Art. 84 BV, wonach Bundesversammlung und Bundesrat nur solche Gegenstände behandeln dürfen, die nach Inhalt der Verfassung in die Kompetenz des Bundes gehören 20 • Es gibt keine freien Staatstätigkeiten des Bundes 21 • So sind daher z. B. alle Bundessubventionen, die sich nicht irgendwie auf eine Verfassungsvorschrift stützen las.sen, verfassungswidrig-22. Dies muß um so mehr betont werden, als jeq.e Subvention des Bundes an die Kantone eine mehr oder weniger weitgehende Bundeskontrolle über die Kantone und damit eine EinmischUng in deren Kompetenzen. nach sich zieht 23 • 24 ~ b) Können neue Bundeskompetenzen nur auf dem \Vege der Verfassungsrevision begründet werden, so läßt sich daher auch keine neue Zuständigkeit der Eidgenossenschaft aus dem Gewohnheitsrecht ableiten, es sei denn, daß die Bundesverfassung ein solches vorsehen sollte; denn auch das Gewohnheitsrecht muß seinen Geltungsgrund in der obersten staatlichen Zuständigkeitsordnung besitzen 25 • Desgleichen darf die Eidgenossenschaftangesichts des Art. 3 BV nicht eine kantonale Kompetenz einfach-unter Einholung der Zustimmung sämtlicher Kantons:regierungen beanspruchen, wie dies schon vorgekommen ist 26 • Ebensowenig erscheint aberi ferner auch 20

V gl. in diesem Sinne · H a n s S t r ä u 1 i : Die Kompetenzausscheidung zwischen Bund und Kantonen im Gebiete der Gesetzgebung, Zürcher Dis<:;. 1931, S. 5 f.; Matt i : a. a. 0. S. 93 ff. 21 Wie Schollenberg er: Bundesstaatsrecht, S. 71 f. und Kommentar, S. 92, annimmt. 22 Vgl. Matti: a.a.O., S.93ff. 23 Vgl. Matti: a.a.O., S.67ff., 78ff., 98; ßurckha'rdt:.Kommentar, S. 19 f. 24 Die Lehre der freien Staatstätigkeit spielte ·eine Rolle anläßlich der Debatten über die Errichtung einer eidgenössischen Postsparkasse; vgl. S t r ä u I i : a. a. 0., S. 5, Anm. 13. 25 Die von S t r ä u I i: a. a. 0., S. 8, Anm. 22 aufgezählten Maßnahmen des Bundes zur Fördernng von Kunst und Wissenschaft, deren Rechtsgnindlage er in· einem Gewohnheitsrecht erblickt, lassen sich in der Hauptsache verfassungsrechtlich verankern. 26 So wurde durch BRB vom 9. August 1907 die Pharmacopoea helvetica unter Zustimmung der Kantone als schweizerische Landespharmacopoea erklärt (AS 23, 554 und ·49, 363); vgl. auch B u r -c kh a r d t: Bundestecht


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Bund und Kantone.

eine Verschiebung der Kompetenzgrenzen zwischen Bund und Kantonen zu Gunsten der Eidgenossenschaft 27 • 28 durch Vertrag zulässig. II .. 1. Es ist nicht immer leicht, in der Bundesverfassung die Kompetenzgrenze zwischen Bund und Kantonen auf den einzelnen Gebieten zu finden. Denn die Bundesverfassung .zählt im Gegensatz zu anderen hundesstaatlichen Verfassungen die Zuständigkeiten der Eidgenossenschaft nicht in einem geschlossenen Katalog auf 29 • Eine 'Vegleitung hiefür bietet aber das System der Bundesverfflssung selbst, indem wie oben gesehen der erste Abschnitt derselben die allgemeinen Bestimmungen, der zweite die Organisation der Bundesbehörtleu und der dritte die Revisionsvorschriften enthält 30 ; Aus dieser Anordnung ergibt sich nämlich ein wichtiger Interpretationsgrundsatz 31, und zwar der, daß der Bund zur Regelung einer Materie nur dann befugt erscheint, wenn seine Zuständigkeit durch einen besonderen Artikel des ersten Abschnittes der Bundesverfassung begründet wird. Denn ·der zweite Abschnitt derselben gibt, insofern III Nr. 1175 u. 1202. So wurden durch BRB vom 17. Dezember 1931 (AS 48, 121) unter Zustimmung der Kantonsregierungen eingehende polizeiliche Vorschriften über die gewerbsmäßige Herstellung, Einfuhr und den Vertrieb von Sera und Impfstoffen aufgestellt. Der Bund besaß weder auf Grund des Art. 69 noch des Art. 69bis BV eine solche Kompetenz; vgl. G i a c o m e t t i : Das selbständige Rechtsverordnungsrecht des Bundesrates, Schweiz. Juristenzeitung, 31. Jahrgang_ (1935), S. 261. Dieser Bundesratsbeschluß stellt eine bundesrätliche Verordnung und nicht etwa materiell übereinstimmendes kantonales Recht dar, wie S t r ä u l i : a. a. 0., S. 9 annimmt. 27 Diese Frage wurde lebhaft erörtert in den Jahren 1887 und 1888.Zwei kantonale Militärverwaltungen hatten die Frage aufgeworfen, ob es einem Kanton mögHch sei, die Militärverwaltung durch Vertrag den eidgenössischen Behörden abzutreten. Der Bundesrat erklärte mit Recht, ein solches Vorgehen wäre verfassungswidrig. Vgl. darüber L e o W e b e r : Ist die Übernahme der gesamten Militärverwaltung durch den Bund nach der geltenden BV zulässig? Ztschr. des bern. Juristenvereins XXV (1889), S. 45. S a 1 i s: I, 1. Aufl., Nr. 33 und die dort zitierten Zeitungsartikel; III, 2. Aufl., Nr. 1236; vgl. auch BGer 67 I 295. 28 Ebensowenig kann umgekehrt ein Kanton von sich aus den sachlichen Geltungsbereich eines Bundesgesetzes ausdehnen. So wollte der Kanton Waadt die Vorschriften des eidgenössischen Lebensmittelgesetzes auf den Verkehr mit Futtermitteln anwenden; Bur c k h a r d t: III Nr. 1217 Il. · 29 Vgl. § 8 der Verfassung der Vereinigten Staaten und Art. 6-11 der Weimarer Verfassung. · sc. Vgl. oben S. 26 f. 31 Das wird sehr gut ausgeführt in v~,inem von R ü t tim an n erstatteten Bericht im BBl 1863, I, 159; III, 94. .~


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darin von Bundeskompetenzen die Rede ist, wie in den Art. 85 und 102, lediglich darüber Aufschluß, welche Organe die dem Bund übertragenen Aufgaben zu besorgen haben; dafür spricht schon der \Vortlaut der Art. 85 und 102 BV. So wird im Art. 85 BV gesagt, die Gegenstände, welche in den Geschäftskreis beider Räte fallen, seien ins b es o n der e folgende und im Art. 102 BV wird bestimmt, der Bundesrat habe v o r z ü g l i c h folgende Obliegenheiten. Die Tat· sache, daß hier eine beispielsweise Aufzählung erfolgt, schließt wohl die Annahme aus, in den beiden Artikeln sei eine Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen bezweckt worden. Allerdings sind am erwähnten Interpretationsgrundsatz nach drei Richtungen wichtige Vorbehalte zu machen. · So ist es denkbar, daß die die Zuständigkeiten der Bundesver· sammlung und des Bundesrates umschreibenden Vorschriften der Art. 85 und 102 BV gewisse im ersten Abschnitt der Bundesverfas· sung nicht enthaltene Bundeskompetenzen zur Voraussetzung haben, also stillschweigende Zuständigkeiten der Eidgenossenschaft begrün· den 32 • 33 • Ein weiterer Vorbehalt besteht darin, daß die" formellen Kompetenzen des Bundes, das heißt die Zuständigkeit der Eidge~ nossenschaff zur näheren Organisation der Bundesbehörden, zur Aufstellung des Bundesbeamtenrechtes und zur Regelung des Ver· fahrens der eidgenössischen Gesetzgebung und Rechtsprechung ihre Grundlagen im zweiten und dritten Abschnitt der Bundesverfassung haben 34 • 32

Vgl. darüber unten S. 76 ff. So erblickt Bur c k h a r d t: Kommentar, S. 678, im Art. 85, Ziff. 6 BV außer einer organisatorischen eine bundeskompetenzbegründende Vor· schrift. Die Zuständigkeit des Bundes für die äußere Sicherheit und Unabhängigkeit des Landes zu sorgen, ergibt sich aber meines Erachtens klar aus Art.19 sowie auch aus Art. 15 BV; sie ist dort nicht nur angedeutet. Auch die Praxis beruft .sich mitunter zur Begründung neuer Bundeskompetenzen auf Art. 85 Ziff. 6 BV. So stützen sich z. B. der Bundesbeschluß vom 29. September 1934 über den passiven Luftschutz der Zivilbevölkerung (AS 50, 666) soWie das BG von 1938 über die Sicherstellung der Landesversorgung mit lebenswichtigen Gütern (AS 54, 309) auf Art. 85 Ziff. 6 und 7 BV. Ebenso ist zB. das BG betr. Auslieferung gegenüber dem Ausland von 1892 (AS 12, 870) gestützt auf eine Vorschrift aus dem 2. Abschnitt der Bundesverfassung, nämlich auf Art. 102 Ziff. 8 BV erlassen worden. 34 Vgl. zß. Art. 73, 85 Ziff.1, 90, 103, 106, 110, 112, 113, 114bis, 117, 122 BV. So stützt sich zß. das BG von 1892 über das Verfassungsreferendum auf Art. 122 BV, das BG von 1874 über das Gesetzesreferendum auf Art. 89 33


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Ein so1cher Vorbehalt ist ferner in dem Sinne zu machen, daß es unzulässig erscheint, aus Art. 2 BV irgendwelche Zuständigkeiten der Eidgenossenschaft abzuleiten. Denn Art. 2 BV umschreibt · in einer allgemeinen Formel die Zwecke des ·Bundes: "Behauptung der Unabhängigkeit des Landes gegen außen, Handhabung von Ruhe und Ordnung im Innern, Schutz · der Freiheit und Rechte der Eidgenossen und Beförderung ihrer gemeinsamen Wohlfahrt.'~ Dieser Verfassungsartikel gibt somit die politische Idee wieder, die für die Gründung des Bundesstaates im Jahre 1848 maßgebend war, und besitzt insofern Integrationswirkung. Art. 2 BV ist aber keine Kompetenzbestimmung, ja überhaupt keine Rechtsnorm. Wäre nämlich diese Verfassungsvorschrift kompetenzbegründend, so würde sie eine Generalklausel darstellen, die d.i e Gegenstandslosigkeit aller anderen Normen der Bundesverfassung, die Bundeskompetenzen vorsehen, zur Folge hätte. Dies steht aber im Widerspruch zu Art. 3 BV, der wie ·gesehen 35 die Art der Verteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen im Sinne der Schaffung eines Systen1s von Einzel-. ermächtigungen an die Eidgenossenschaft regelt 36, 37, 38. Ein analoger Vorbehalt wie d~rjenige zu Art. 2 BV ist weiter auch mit Bezug auf Art. 31bis Ahs. 1 BV, den sogenannten Wohlfahrtsartikel, zu machen 39 • Aus dieser Verfassungsbestimmung lassen sich ebenfalls keine Bundeskompete.n zen ableiten 40 • und 90, BV, das Nationalratswahlgesetz von 1919 auf Art. 73 BV, das .BG über die Bundesrechtspflege vcn 1943 auf Art. 103, 106-114bis BV. 35 Vgl. oben S. 67. . 3 ~ Darum wurde im Jahre 1848 im Gegensatz zum Verfassungsent~urf von 1833 die Vorschrift des Art. 2 vor diejenige gestellt, die die Art der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen bestimmt, nämlich vor den geltenden Art. 3 BV. Vgl. Bur c k h a r d t · Kommentar, S. 11". 37 Die Literatur ist darin einig, daß Art. 2 BV nicht kompetenzbegründend ist. Vgl. Bur c k h a r d t: a. a. 0., S. 10 f.; F I einer: Bundesstaatsrecht, S.43; Schollenberger: Kommentar, S.90;. Lampert: Bundesstaatsrecht, S. 14; Ruck: Schweiz. Staatsrecht, S. 37. 38 In der Praxis, besonders der früheren Zeit, sind wiederholt Bundeskompetenzen auf Art. 2 BV gestützt worden. So wurde Art. 2 vorab zur Begründung von Subventionsbeschlüssen herangezogen. Vgl. die Praxis bei Bur c k h a r d t: Konunentar, S. 11 f. und Matt i: a. a. 0., S. 94 f. BBi 1905 VI 223; 1923 li 845. Im allgemeinen verneint aber auch die Praxis die . Verfassungsmäßigkeit dieses Vorgehens. Vgl. z. B. Bur c k h ar d t: Bun-_ desrecht V, Nr. 3083 III; 3064 · IV; Verwaltungsentscheide der Bundesbehör~ den, Heft 5 Nr. 13; BBI 1944 I 163. 39 Vgl. unten S. 293 f. 40 ' Vgl. die letzte Anmerkung. ' ··


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2. Gleich den übrigen Rechtssätzen können selbstverständlich auch die Bestimmungen der Bundesverfassung, ·. die Bundeskompetenzen begründen, Gegenstand der Auslegung sein. Ja diese Zuständigkeitsvorschriften sind im allgemeinen nicht nur auslegungsfähig sondern auch auslegungsbediirftig. Die wenigsten von ihnen erscheinen nämlich von vorneherein so klar und eindeutig, daß ein Zweifel über ihre rechtliche Bedeutung ausgeschlossen wäre. Dazu kommt, daß viele in der Bundesverfassung dem Bunde eingeräumte Kompetenzen durch sachliche :Merkmale abgegrenzt sind, die sich nur auf Grund einer Interessenabwägung, also einer Bewertung, feststellen lassen 41 • 42. Bei der Auslegung der bundeskompetenz_b egründenden Vorschriften der Bundesverfassung gelten nun selbstverständlich die allgemeinen Interpretationsregeln. Dabei ist jedoch ein Vorbehalt zu machen. Die Auslegungsmethode des Analogieschlusses darf nicht zur Interpretation der Kompetenzvorschriften der Bundesverfassung verwertet werden. Denn sie dient ja der Lückenergänzung und geht damit über die Bundesverfassung hinaus 43 • Die durch die Bundesverfassung erfolgte Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen ·ist nämlich wie oben gesehen lückenlos; so daß keine Bundeskompetenzen bestehen können, die nicht in der Bundesverfassung begründet sind. Unzulässig erscheint ebenfalls die extensive Auslegung, insofern auch diese nicht innerhalb der Verfassungsbestimmungen bleibt sondern wie die Analogie der Lückenergänzung dient, und damit vom Analogieschluß begrifflich nicht unterschieden werden kann 44 • Desgleichen muß auch die Auslegung . mittels der sogenannten Inversionsmethode in dem Sinne, daß man z. B. unmittelbar aus dem Wesen der Bundesverfassung und damit des Bundesstaates bzw. unter Berufung auf das Wesen des Bundes aus bestimmten Verfassungsartikeln Bundeskompetenzen ableitet, als unstatthaft angesehen werden. Denn auch diese Methode dient gleich dem Analogieschluß der Lückenausfüllung und würde damit an41

B u r c k h a r d t : Grundsätzliches über die Abgrenzung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Kantonen, Zeitschrift des hernisehen Juristenvereins, Bd. 68, S. 314. 42 Vgl. z. B. Art 24bis BV (Wahrung der öffentlichen Interessen, Sicherstellung einer zweckmäßigen Nutzbarrnachung der Wasserkräfte), Art. 23 BV (Errichtung von Werken, die im öffentlichen Interesse des Landes sind). 43 Vgl. G i a c o m e t t i: Die Auslegung der Bundesverfassung, S. 21; S t r ä u 1 i : a. a. 0., _S. 56. 44 Anderer Ansicht Hafte r : Schweiz. Strafrecht, allg. Teil, 2. Aufl., S. 13 f. Germann: Zum sogenannten Analogieverbot, Festgabe Hafter, s. 119 ff.


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gesichtsdes Umstandes, daß die Bundeskompetenzen durch die Bundesverfassung erschöpfend geregelt sind, ebenfalls zur Gewinnung von Zuständigkeiten führen, die in der Bundesverfassung keine Grundlage haben 45 ; ja diese Interpretationsart öffnet in noch höherem Maße der Willkür Tür und Tor, da aus dem Wesen des Staates je nach Bedürfnis jede überhaupt denkbare Zuständigkeit abgeleitet werden kann 46 • 47 • 3. Mit Hilfe der unter den genannten Vorbehalten anwendbaren allgemeinen Interpretationsregeln lassen sich nun Bundeskompetenzen gewinnen, die in der Bundesverfassung nicht ausdrücklich ausgesprochen worden sind, also über deren Wortlaut hinausgehen. Neben den ·ausdrücklichen Bundeskompetenzen bestehen somit auch stillschweigende Zuständigkeiten der Eidgenossenschaft 48 • Diese werden auf dem Interpretationswege aus ausdrücklichen Kompetenzen abgeleitet. Solche stillschweigende Zuständigkeiten des Bundes läßt die Bundesverfassung auch zu. Denn Art. 3 BV sagt nicht, daß die Kantone als solche alle Rechte ausüben, welche nicht aus d r ü c k I i c h der Bundesgewalt übertragen sind. Es' genügt vielmehr, daß der Wille zur Zuweisung einer Kompetenz an den Bund aus dem Inhalt der Bundesverfassung ersichtlich sei. Die Feststellung solcher stillschweigender Kompetenzen der Eidgenossenschaft ist nun selbstverständlich zunächst mitteist der teleologischen Methode möglich; ist ja jede Rechtsetzung Zwecksetzung 49 • 45 Vgl. in diesem Sinne T r i e p e 1 : Die Kompetenzen des Bundesstaates und die geschriebene Verfassung, Festgabe Laband, Bd. 2, S. 313 und die dort zitierte Literatur. Die Unmöglichkeit einer solchen begrifflichen Trennung zwischen Analogieschluß und extensiver Auslegung wird jedoch bestritten; vgl. z. B. Hafte r: Lehrbuch des Strafrechtes, allgemeiner Teil, 2. Aufl., S. 13 f. und die dort erwähnte Literatur; S t r ä u I i: a. a. 0., S. 51. 46 Vgl. Gia,cometti: Die Auslegung der Bundesverfassung,· S. 23. 47 Theorie und Praxis operierten z. B. mit dieser Inversionsmethode zum Zwecke der rechtlichen Fundierung des Staatsnotrechtes des ~undes. Vgl. G i a c o m e t t i : Das Vollmachtenregime der Eidgenossenschaft, S. 38 f.; BBl 1916 I 122. So wird weiter beispielsweise die freie Tätigkeit des Bundes mitunter aus dem Wesen des Staates abgeleitet. Vgl. Matt i: a. a. 0. S. 96. 48 Die amerikanische Bundesstaatstheorie spricht von implies powers. Vgl. T r i e p e 1 : Der Bundesstaat und die geschriebene Verfassung, Festgabe Laband 1908 II. Bd., S. 254 ff. 49 So ist es wohl der Zweck des Art. 36 BV, der das Telegraphenwesen als Bundessache erklärt, daß jede Nachrichtenübermittlung auf elektrischem Wege in die Zuständigkeit der Eidgenossenschaft gehören soll. Darum konnte bei der Erfindung der Telephonie der Bund das Regal darüber ohne wei-


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Ferner lassen sich stills~hweigende Bundeskompetenzen aus solchen Verfassungsvorschriften ableiten, die eben eine unausgesprochene Kompetenzbestimmung zur Voraussetzung haben 50 • :n. Die Gewinnung stillschweigender Zuständigkeiten der Eidgenossenschaft ist so dann mit Hilfe des Verfahrens der Konsequenz möglich. Auf Grund dieses Verfahrens erscheinen stillschweigende Kompetenzen als Folgerungen ausdrücklicher Zuständigkeiten. So können stillschweigende Bundeskompetenzen durch Schluß vom:. Größeren auf das Kleinere gewonnen werden 52 • Viel wichtiger als der Schlu1l a maiori ad minus ist aber das Verfahren der Konsequenz im Sinne des Schlusses vom Zweck auf die Mittel. Das will heißen: wenn der Bund eine ausdrückliche Kompetenz besitzt, so darf er daraus diejenigen Kompetenzen ableiten, die zur Erreichung der von der ausdrücklichen Zuständigkeitsbestimmung erstrebten Zwecke notwendig erscheinen. Die Bundesverfassung muß eberi, wenn sie dem Bunde eine ausdrückliche Zuständigkeit einräumt, ihm vernünftigerweise auch alle Mittel zubilligen, die zur zweckentsprechenden und wirksamen Ausübung dieser ausdrücklichen Kmnpetenz erforderlich sind. Diese Ableitung stillschweigender Zuständigkeiten aus ausdrücklichen Bundeskompetenzen durch den Schluß von dem Zweck auf die Mittel ist aber selbstverständlich nicht schrankenlos; sie findet vielmehr ihre Grenzen an anderen ausdrücklichen Verfassungsbestimmungen. Mit anderen Worten, aus ausdrücklichen Zuständigkeiten der Eidgenossenschaft dürfen nicht ·solche stillteres beanspruchen. Der Analogieschluß würde hier zum seihen Resultat führen und damit das auf Grund einer teleologischen(' Methode gefundene Resultat bestätigen. uo Vgl. darüber Tri e p e I: a. a. 0. S. 286. 51 _ So nimmt die Praxis vielfach an, daß Art. 85, Ziff. 6 BV die Bundeskompetenz zum Schutze der äußeren Sicherheit und der Unabhängigkeit der Schweiz voraussetze; vgl. oben S. 73 Anm. 33. 52 Wenn z. B. der Bund die Kompetenz zum Abschluß von Staatsverträgen besitzt, so liegt darin als minus auch die Zuständigkeit zur Wahrung der völkerrechtlichen Beziehungen und Besorgung der auswärtigen Angelegenheiten. Daher war es nicht nötig, das BG von 1892 über die Auslieferung gegenüber dem Ausland auf Art. 102, Ziff. 8 BV zu stützen; die maßgebende Kompetenzbestimmung ist vielmehr Art. 8 BV. Wenn der Bund gemäß Art. 69 BV zur Bekämpfung übertragbarer oder stark verbreiteter oder bösartiger Krankheiten von Menschen und Tieren gesetzliche Bestimmungen erlassen darf, so ist er zweifellos auch zur Gewährung von Subventionen zu solchen Zwecken befugt, da diese Kompetenz in der umfassenderen Gesetzgebungskompetenz enthalten ist.


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schweigende Bundeskompetenzen mittels des Verfahrens der Konseq':lenz abgeleitet werden, die anderen _ausdrücklichen Vorschriften der Bundesverfassung widersprechen würden. Ansonst könnte ja die Bundesverfassung allmählich durch den Bundesgesetzgeber materiel1 außer Kraft gesetzt werden 53 • Ebensowenig läßt sich aus einer bundeskompetenzbegründenden Bestimmung der Bundesverfassung eine stillschweigende Zuständigkeit des Bundes ableiten, wenn dies im '\Viderspruch zum Sinn der betreffenden Verfassungsvorschrift steht 54 •• Unter den genannten Vorbehalten kann man sagen, daß die Eidgenossenschaft jede Zuständigkeit besitzt, die zur Ausübung einer ausdrücklichen Bundeskompetenz notwendig erscheint. Daher ist die teleologische Auslegungsmethode des logischen Verfahrens des Schlusses vom Zweck auf die Mittel fiir die F-eststellung der Kompetenzen des Bundesstaates von großer Bedeutung. Dieses Verfahren der Konsequenz spielt denn auch in der Eidgenossensc)J.aft eine praktisch wichtige Rolle 55 • So werden von der Praxis in weitem Umfange aus ausdrücklichen Gesetzgebungskompetenzen der Eidgenossenschaft 5.6 sowohl stillschweigende Rechtssetzungskompe53 So · kann z. B. keine stillschweigende Kompetenz beansprucht werden, die im Widerspruch zu einem Freiheitsrecht der Bundesverfassung steht, also z. B. aus einer ausdrücklichen Zuständigkeit ein Monopolrecht des Bundes abgeleitet werden, auch wenn das Monopol für die Ausübung dieser Kompetenz , notwendig erscheint; vgl. dazu S tr ä u I i: a. a. 0. S. 53. Vgl. auch den Fall im BGer 71 I 90 (der Bund ist nicht zuständig, einem Hansinstallationskonzessionär eine Auflage zu machen, die sich nicht auf eine unter das Telephonregal fallende Tätigkeit bezieht, sondern zum Schutze der Regaltätigkeit des Bundes gegen die private · Tätigkeit erfolgt, da. dies dem Art. 31 BV widerspricht). So kann der Bund nicht gestützt auf Art. 24bis, Abs. 2 BV als Mittel für die Förderung der Nutzbarmachung der \Vasserkräfte !fie subsidiäre Verfügung über die öffentlichen Gewässer im Sinne _der Konzessionshoheit beanspruchen, da dies dem Wortlaut und Sinn der Absätze 3 und 4 des Art. 24bis BV widerspricht. Vgl. G i a c o m e t t i : Die Lex Splugensis, Schweiz. Juristenzeitung, Jahrgang 42, 1946, S. 115 ff. So könnte der Bund auf Grund seiner Kompetenz zur Militärgesetzgebung angesichts des Art. 20 Abs. 1 BV nicht auch die gesamte Militärverwaltung beanspruchen; 54 Vgl. die letzte Anmerkung. 55 Eine praktisch noch wichtigere Rolle spielen allerdings die stillschweigenden Kompetenze~ angesichts der Starrheit der Verfassung in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Vgl. Tri e p e l: a. a. 0. S. 254 ff. 56 Es ist naturgemäß vielfach eine Interpretationsfrage, ob eine Verfassungsbestimmung eine Gesetzgebungskompetenz ·begründet, also der gesetz-


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tenzen 57 wie auch stillschweigende Verwaltungskompetenzen abgeleitet 58 , und umgekehrt aus ausdrücklichen Verwaltungszugeberischen Ausführung bedarf, oder eine unmittelbar anwendbare Norm darstellt. Letzteres trifft z. B. für die Freiheilsrechte zu. 57 So hat zunächst der Bund beim Schweigen der Bundesverfassung aus seinen ausdrücklichen Gesetzgebungskompetenzen die Befugnis zür Bestimmung der Vollzugsorgane bezüglich der betreffenden Bundesgesetzgebung abgeleitet. Vgl. unten S. 105 f. / Bo hat ferner .der Bundesgesetzgeber schon vor der Vereinheitlichung des Strafrechtes aus seinen .ausdrücklichen Gesetzgebungskompetenzen die Zuständigkeit zur Aufstellung von Strafnormen zum Schutze des von ihm gesetzten Bundesrechtes abgeleitet. So wurde aus der Kompetenz des Bundes, sich näher durch Gesetz zu organisieren; die Befugnis zum Erlaß des BG über das Bundesstrafrecht -von 1851 abgeleitet. Desgleichen hat die Eidgenossenschaft aus der ausdrücklichen Befugnis zu ihrer Fiskalgesetzgebung · (28; 31 bis, 36 BV) und Polizeigesetzgebung (Art. 25, 34, 69, 69bis BV) die Kompetenz zur Aufstellung von Strafnormen in ihrer Fiskal- und Polizeigesetzgebung abgeleitet. Ebenso hat sich der· Bund vor Vereinheitlichung des Zivilrechtes aus der Kompetenz zur Regelung des Fabrikwesens die Befugnis zur Regelung der Haftpflicht aus Fabrikrecht zugesprochen . . Ferner hat der Bundesgesetzgeber in Materien, in denen die Vollziehung von Bundesgesetzen von Verfassungs wegen den Kantonen überlassen ist, das Recht zu Eingriffen in die Organisation und in das Verfahren der kan· tonalen Behörden in Anspruch genommen, wenn ihm dies zur wirksamen Durchsetzung des Bundesrechtes erforderlich erschien. So hat er z. B. im ZGB und im Strafgesetzbuch prozessuale Vorschriften aufgestellt. 58 So ergibt sich aus den Gesetzgebungskompetenzen des Bundes beim Schweigen der Bundesverfassung seine Kompetenz zum Vollzug der Bundesvcrwaltungsgesetzgebung. Vgl. unten S. 104 f. So kann sich aus einer ausdrücklichen Gesetzgebungskompetenz die Zu~ ständigkeit der Eidgenossenschaft zur Gewährung von Subventionen ergeben, wenn diese zur wirksamen Durchsetzung eines Bundesgesetzes erforderlich .erscheinen; vgl. Matt i : a. a. 0, S. 87 ff. Der Bund hat denn auch schon oft .auf Grund der Annahme solcher stillschweigender Kompetenzen Subventionen in Bundesgesetzen vorgesehen, so z. B. an die Suval gemäß Art. 51 des BG von 1911 über die Kranken- und Unfallversicherung, so für die Grundbuchvermessung gestützt auf Art. 39 Schlußtitel ZGB, so an Vereine gemäß Art. 103 u. 125 der Militärorganisation von 1907. Darüber hinaus ist aber der Bund in jeder Materie, in bezug auf welche er die Gesetzgebungskompetenz besitzt, zur Gewährung von Subventionen befugt, auch wenn die Eidgenossenschaft von ihrer Zuständigkeit zur Gesetzgebung noch keinen Geb:t;auch gemacht hat, so daß ein reiner Subventi(mscrlaß in Frage kommt. Die Kompetenz des Bundes läßt sich hier aber, da eben noch kein Bundesgesetz ergangen ist, nicht durch Schluß vom Zweck auf die Mittel, sondern durch Schluß a maiori ad minus begründen; insoweit ist z. B. das auf Art. 34ter BV gestützte BG über Beitragsleistungen an


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ständigkeilen stillschweigende Gesetzgebungskompetenzen gewonnen 59, so. 4. Angesichts dieser umfassenden Auslegungsmöglichkeiten bezüglich der bundeskompetenzbegründenden Vorschriften der Bundesverfassung sowie auch angesichts der Tatsache, daß die Tragweite der einzelnen ausdrücklichen Bundeskompetenzen vielfach erst ·bei deren gesetzgeberischen Ausführung überblickt werden kann, erscheint der Kompetenzbereich des Bundes trotz der abschließenden Aufzählung der Bundeskompetenzen in der Bundesverfassung, die auf starre Grenzen des eidgenössischen ..;\ufgabenkreises schließen läßt, -naturgemäß unübersehbar. Infolgedessen kann die erschöpfende Enumeration der Bundeskompetenzen in der Bundesverfassung kein ganz richtiges Bild des eidgenössischen Kompetenzbereiches vermitteln. Diese UnübersehBarkeif erklärt sich eben daraus, daß bei der Gewinnung von Bundeskompetenzen auf Grund des logischen Verfahrens des Schlusses voni Zweck auf die Mittel sowie auch bei der Auslegung bestimmter Begriffe der Bundesverfassung 61 Bewertungsfragen und damit Zweckmäßigkeitsfragen naturgemäß eine große Rolle spielen. Denn über die Frage, ob und in welchem Grade ein bestimmtes Mittel zur Ausübung einer ausdrücklichen Kompedie Arbeitslosenversicherung oder der erste Abschnitt des BG von 1911 über die K,ranken- und Unfallversicherung, der sich auf die Krankenversicherung bezieht und einen reinen Subventionserlaß bildet, verfassungsmäßig. Ebenso können alle Subventionserlasse für das Gewerbewesen (B ur c k h r d t : Bundesrecht V Nr. 2737 ff.) seit 1908 auf Art. 34ter BV gestützt werden. 59 Vgl. darüber S t r ä u I i: a. a. 0. S. 54 ff. und dazu allgemein Tri ep e 1 : a. a. 0. S. 94. So ergibt sich beispielsweise aus der Kompetenz des Bundes mit Bezug auf die auswärtigen Angelegenheiten gemäß Art. 8 und 10 BV seine Befugnis zur Regelung des Gesandtschafts- und Konsularwesens. Ebenso schließt die Kompetenz der Eidgenossenschaft zur Errichtung öffentlicher Werke gemäß Art. 23 BV ihre Befugnis zur Regelung der Organisation und Benutzung solcher öffentlicher Anstalten in sich. Desgleichen kann aus einer Subventionskompetenz die Zuständigkeit zur Aufstellung von Subventionsbedingungen abgeleitet werden; vgl. S ~t r ä u 1 i, a. a. 0. S. 60 ff. 60 Aus Bundeskompetenzen auf dem Gebiete der Rechtsprechung, also aus der Bundesgerichtsbarkeit, lassen sich hingegen kaum Gesetzgebungskompetenzen durch Schluß vom Zweck auf die Mittel gewinnen, da die Rechtssetzungskompetenz bezüglich der Bundesgerichtsbarkeit bereits im Art. 85, Ziff. 1, 114, 114bis BV sowie Art. 20 BV (Militärgerichtsbarkeit) enthalten ist. 61 Vgl. z. B. Art. 24 bis Abs. 1 BV: "Die Bundesgesetzgebung stellt die zur Wahrung der öffentlichen Interessen und zur Sicherung der zweckmäßigen Nutzbarmachung der Wasserkräfte erforderlichen allgemeinen Vorschriften auf."

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§ 5. Die Ausscheidung der Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen.

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tenz nötig ist, werden die Ansichten sehr oft auseinandergehen, weil eben mit dieser Schlußfolgerung vom Zweck auf die Mittel wie auch mit der Abklärung gewisser Begriffe der Bundesverfassung in weitem Maße subjektive ·Werturteile der Ausleger verbunden sind 6~, die ihrerseits durch die jeweiligen Bedürfnisse und herrschenden Anschauungen bestimmt werden 63 ; Allerdings istdie Eidgenossenschaft bei der Entscheidung der Frage der Unentbeh:dichkeit einer stillschweigenden Kompetenz an das Willkürverbot der Bundesverfassung gebunden 64 • Erscheint aber der Kompetenzbereich des Bundes unübersehbar, so läßt sich auch trotz Art."3 BV kaum sagen, daß bei der -Ent~ scheidung der Frage, ob · zur Regelung einer bestimmten Angelegenheit der Bund oder· die Kantone zuständig seien, die Vermutung für die kantonale Kompetenz spreche 65 , unddaß der Bund daher prozeßrechtlicli betrachtet die Beweislast für ·seine Zuständigkeit trage 66• Jedenfalls kann eine solche Präsumption ·lediglich die ·Bedeutung haben, daß alle Bundeskompetenzen ausdrücklich oder unausgesprochen in der -Bundesverfassung enthalten -sein müssen, und nicht den Sinn besitzen, daß im Zweifel die Kompetenzfrage zu Gunsten der Kantone zu . entscheiden sei. Dementsprechend liegt bei streitigen Kompetenzfragen die Beweislast wohl demjenigen Gemeinwesen ob: das eine .Z:uständigkeit beansprucht 67• 68 ,-69. · 62

VgL T r ·i e p e I: a. a, 0. S. 293. Immer trifft dies allerdings nicht zu. So wäre z;, B. der Bund gestützt auf seine Kompetenzen im Gebiete der Tierseuchenbekämpfung (Art. 69 BV) wohl nicht zum Erlasse eines Viehversicherungsgesetzes befugt, da eine solche Kompetenz kaum aus dieser Zuständigkeit gefolgert werden könnte. So auch die Praxis; vgl. Bur c k h a r d t: Bundesrecht V Nr. 3098 I. Hingegen kann aus der genannten Kompetenz die · stillschweigende Zuständigkeit des Bundes ·zur Regelung des Viehhandels abgeleitet werden, insoweit damit seuchenpolizeiliche Zwecke verfolgt werden; Burckhardt V Nr.3103. e4 Vgl. unten S. 415. · 65 Von einer solchen Vermutung sprechen eingehend S c h o 11 e n b e r g er: Kommentar, S. 106 f., und Ruck: a. a. 0. s. 36. 66 -R u c k : a. a. 0. S. 36. · 67 Auch in Zweifelsfällen kann nur die Bundesverfassung Entscheidungs· norm sein. _ 68 In gleichem Sinne, wenn auch mit anderer Begründung: Bur c khardt: Kommentar, S.14; vgl.· auch Lampert: a.a.O. S.14; Triep e I : a. a. 0. S. 281 f. 69 Es wäre aber denkbar, daß eine Bundesverfassung eine solche Auslegungsregelaufstellen würde. Eine derartige Regel könnte·mari z. B. in dem Falle im Art. 3 BV erblicken, daß für die Interpretation der .Bundesverfassung nicht die allgemeinen Auslegungsgrundsätze gelten würden, dem Bunde 63

7 Fleiner I Giacometti, Btmdesstaatsrecht.


8.2

Bund und Kantone.

5. Der Schutz der eidgenössischen Kompetenzsphäre gegen Übergriffe der Kantone sowie des kantonalen Zuständigkeitsbereiches gegen solche des Bundes liegt beim Bundesgericht als Kompetenzgerichtshof 70 • Da. aber angesichts der Norm des Art. 113 letzter Absatz BV kein bundesgerichtlicher Schutz gegen Eingriffe des Bündesgesetzgebers - und nach der Praxis auch des Bundesrates als Notrechtsträgers -:-- in den kantonalen Kompetenzbereich besteht 71 , sind die bundeskompetenzbegründenden Vorschriften der Bundesverfassung nach dieser Richtung Ieges imperfectae 72 • Rechtssätze, deren Verletzung keine Sanktionen nach sich zieht, werden äber naturgemäß · in höherem Maße übertreten. Die Bundesbehörden haben denn auch schon wiederholt Bundeskmnpetenzen in Anspruch genommen, für die keine VerfassungsgrundJage bestand, sei es, daß sie einzelne Verfassungsbestimmungen unrichtig auslegten 73 , sei es, daß sie die beanspruchte Zuständigkeit einfach als zweckmäßig und notwendig erachteten und sich infolgedessen über Art. 3 BV hinwegsetzten 74 • Ja die Tendenz scheint sich- begünsHgt durch die Dringvielmehr nur diejenigen Kompetenzen zuständ.en, die die Bundesverfassung ihm ausdrücklich zuweist. 70 ' Art. 113, Ziff. l BV. Vgl. unten s. 871 ff. 71 Vgl. unten S. 931 f. 72 Nicht nur postulierte Rechtssätze, wie vielfach behauptet wird. 73 Vgl. z. B. das BG von 1880 betr. Kontrollierung und Garantie des Feingehaltes der Gold- und Silberwaren und das BG von 1886 betr. den Handel mit Gold- und Silberabfällen, die zu Unrecht auf Art. 31, lit. e und auf Art. 64 BV gestützt wurden (heute besteht die verfassungsrechtliche Grundlage hiefür im Art. 31bis, Abs. 2 BV). Sehr bestritten war, ob sich das· BG von 1924 über die Betäubungsmittel auf Art. 69 BV stützen ließ (vgl. Sten. Bull. der Bundesversammlung 1924, Nationalrat, S. 1 und BBl 1924 I 235). Ebenso wurde der dringliche Bundesbeschluß vom 30. September 1938 über die Autotransportordnung zu Unrecht auf Art. 36 BV gestützt. Desgleichen stand die Vorlage von 1945 .über die Revision des eidgenössischen Wasserrechtsgesetzes, die eine subsidiäre Konzessionshoheit des Bundes vorsah, im Widerpruch zu Art. 24bis BV. 74 Es kommen hier die vielen Subventionserlasse in Betracht, die sich auf keine Verfassungsbestimmung stützen. Vgl. ferner das BG von 1892 betr. die Patenttaxen der Handelsreisenden (heute ist die verfassungsrechtliche Grundlage im Art. 31bis Abs. 2 BV gegeben), das BG von 1893/1929 über die Landwirtschaft, der BB von 1946 über die Ordnung der Zuckerwirtschaft usw. Ohne- Verfassungsgrundlagen waren ferner verschiedene dringliche Bundesbeschlüsse der dreißiger Jahre, so die beiden BB von 1933 und 1936 über die Finanzprogramme I und II, die neue von der 1:3undesverfassung nicht vorgesehene Einnahmequellen des Bundes, wie die. Krisenabgabe und die Getränkesteuer, einführten. Dasselbe gilt von den dringlichen Bundesbeschlüssen, die Lenkungsmaßnahmen im Gebiete der Wirtschaft, wie z. B.


§ 6. Die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes.

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lichkeits- und Vollmachtenpraxis 75 - zu verstärken, auch in solchen Kompetenzfragen 76 , und nicht nur in Fragen der Rechtss.e tzungsform - Gesetz oder Verordnung 77 -, die Legalität immer inehr der Opportunität zu opfern 78 • So zeigen sich gegenwärtig Ansätze, neue Bundeskompetenzen auf dem Wege der einfachen Gesetzgebung zu begründen und damit das fakultative Referendum zum Verfassungsreferendum zu machen 79 , obwohl jede Überschreitung der Kompetenzgrenzen das Gleichgewicht zwischen Bund und Kantonen stört, weswegen die Kompetenzfragen in der Schweiz bisher zu den eigentlichen Lebensfragen der Politik und des Staatsrechtes gehörten. _ Vom ' rechtsstaatlichen Standpunkt aus muß daher angesichts der Tatsache, daß die Bundesverfassung für die Bundesbehörden nicht mehr unverbrüchlich zu sein scheint, eine volle Kompetenzgerichts~ barkeit des Bundesgerichtes im Sinne der richterlichen Kontrolle der Bundesgesetzgebung auf ihre Kompetenzmäßigkeit gefordert werden. Nur auf diese Weise kann m. E. die verfassungsmäßige Ordnung d~r Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen und damit der föderalistische Aufbau der Schweiz auf die Dauer sich:ergestellt werden 80 •

§ 6. Die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes. Die in der Bundesverfassung ausdrücklich niedergelegten Bundeskompetenzen sind naturgemäß in erster Linie Gesetzgebungskompetenzen. Diese erscheinen als Zuständigkeiten zur organisatorischen oder materiellen Gesetzgebung. In diesem Zusammenhange kommen für die Landwirtschaft, vorsehen (vgl. unten S. 278 f.). Ohne Verfassungsgrundlagen waren sodann die auf Grund der Kriegsvollmachten von 1939 ergangenen Vollmachtenverordnungen, die ebenfalls neue Bundeskompetenzen zur Geltung brachten und zum Beispiel neue Bundessteuern, wie die Wehrsteuer, das Wehropfer, die Umsatzsteuer, die Iüiegsgewinnsteuer, die Verrechnungssteuer einführten. 75 Vgl. S. 782 f., 786 ff. Vgl. über die Ausdehnung der Bundeskompetenzen durch das, Notrecht S. 787. 76 Zu diesen Kompetenzfragen im weiteren Sinne gehört auch das Problem der Übereinstimmung der Bundeserlasse mit den Freiheitsrechten; vgl. oben S. 68. 77 Vgl. unten S. 782 ff. 78 Symptomatisch hiefür sind z. B. in der neuesten: Zeit die Lex Splugensis und die Zuckervorlage. Vgl. G i a c o m e t t i: Ne:ue Wege der Verfassungsuntreue, Jubiläumsausgabe der Basler Nachrichten, 1946, S. 79. 79 Vgl. die letzte Anmerkung. 080 ' Vgl. unten S. 887, 934.


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Bund und Kantone.

allein die materiellen Gesetzgebungskompetenzen der Eidgenossenschaft in Betracht\ da die Zuständigkeit der Eidgenossenschaft zu ihrer nähern Organisation auf Grund der Bundesverfassung selbstverständlich ist 2 • Die materiellen Rechtssetzungskompetenzen des Bundes erstrecken sich auf die verschiedensten Gebiete. Sie betreffen das Schweizerbürgerrecht 3 , Niederlassung und Aufenthalt\ das Zivil-:- und Str~f­ recht 5-, das Schuldbetreibungsrecht 6 , das Militärwesen 7 , sodann bestimmte Materien un:d Gebiete des Finanzwesens, wie das Zollwesen 8 , die Stempelabgaben 9 , die Tabakbesteuerung 10 , das Alkoholwesen 11 , das Schießpulverregal 12 , das l\1ünzwesen 13 , das Banknotenmonopol14, die Doppelbesteuerung 15 , ferner das Post-, Telegraphenund Telephonwesen 16, die Enteignung 17 , das Getreidewesen 18 , das Eisenbahnwesen 19 , die Schiffahrt 20 , die Luftschiffabri 21 , die Kranken- und Unfallversicherung 22 , die Alters-, Hinterbliebenenund Invalidenversicherung 23 , die Arbeit in den Fabriken 2 \ den Schutz· der Arbeitnehmer 25 , das Verhältnis zwischen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer 26', die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamt1 Vgl. über die organisatorischen Gesetzgebungskompetenzen ·dec;:. Bundes · oben S.73. 2 VgL darüber unten S. 428 ff. 3 Art. 43, 44, 68 BV. 4 Art. 47 BV. 5 Art. 64 und 64bis BV. 6 Art. 64 BV. 7 Art. 18 ff. BV. 8 Art. 28 ff. BV. !) Art. 41bis BV. 10· Art. 41 ter BV. 11 Art. 32bis BV 12 Art. 40 BV. 13 Art. 38 BV. 14 Art. 39 BV. 15 Art. 46 BV. 16 Art. 36 BV. 17 Art. 23 BV. · 18 Arf. 23bis BV. 19 Art. 26 BV. 20· Art. 24ter BV. 21 Art. 37ter BV. 22 Art. 34bis BV. 23 Art. 34quater BV. 24 Art. 34 BV. 25 Art. 34ter, Abs. 1, lit. a BV. 26 Art. 34ter, Abs. 1, lit. b BV.


§ 6. Die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes.

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arbeitsverträgen 27 , den angemessenen Ersatz des Lohn- · und Verdienstansfalls infolg·e Militärdienst ·28 , die Arbeitsvermittlung 29 , die Arbeitslosenversicherung und die Arbeitslosenfürsorge 30 , die berufliche Ausbildung in Industrie, Gewerbe, Handel, Landwirtschaft ·und Hausdienst 31 , die Erhaltung wichtiger, in ihren Existenzgrundlagen gefährdeten Wirtschaftszweige oder Berufe sowie die Förderung der beruflichen Leistungsfähigkeit ·der Selbständigerwerbenden in solchen Wirtschaftszweigen oder Berufen 32 , die Erhaltung eines gesunden Bauernstandes und einer leistungsfähigen Landwirtschaft sowie die Festigung des bäuerlichen Grundbesitzes 33 , den Schutz wirtschaftlich · bedrohter Landesteile 34 , volkswirtschaftlich oder sozial schädliche Auswirkungen von Kartellen und ähnlicheri Organisationert 35 , vorsorgliche Maßnahmen für Kriegszeiten 36 , die privaten Versicherungsunternehmungen und. Auswanderungsagenturen 37 , den Handel niit gebrannten geistigen Getränken 38 , die Ausweise für wissenschaftliChe Berufe 39 , sowie das übrige Gewerbewesen 40 ; wei.ter Spielbanken und Lotterien 41 , Maß ·und Gewicht 42 , den Motorfahrzeug- und Fahrradverkehr 43 , die Bekämpfung übertragbarer, stärk verbreiteter oder bösartiger Kr~nkheiteii von Menschen und Tieren 44, ·den Verkehr mit Nahrungs- und Genußmitteln sowie den Verkehr mit anderen Verbrauchs- und Gebrauchsgegenständen, soweit sie das Leben und die Gesundheit gef.ährden können 4 &, die Jagd und Fischerei 46 , die Wasserbau- und Forstpolizei 47 , die NutzArt. 34 ter, Ahs. 1, lit. c BV. Art. 34ter, Abs. 1, lit. d BV. 29 Art. 34ter, Abs. 1, lit. e BV. 3 0< Art. 34ter, Abs. 1, lit. f BV. 31 Art. 34, Abs. l, lit. g BV. 32 Art. 31bis, Abs. 3, lit. a BV. 83 Art. 31 bis, Abs. 3, lit. b BV. · 84 . Art. 3tbis, Abs. 3, lit. c BV. 3 ~ Art: 31b1s, Abs. 3, lit. d BV. 36 Art. 31 bis, Abs~. 3, lit. e BV. 37 Art. 34 BV. 38 Art. '32quater BV. 39 Art. 33 BV. 40 ' Art. 3tbis, Art. 31quater BV. 41 Art. 35 BV. 42 Art. 40 BV. 4·3 Art. 37bls BV. 44 Art. 69 BV. 45 Art. 69bis BV. 46 Art. 25 BV. 47 Art. 24 BV. 27 28


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Bund und Kantone.

barmachung der Wasserkräfte 48, die Fremdenpolizei 49 • Als materielle Rechtssetzungskompetenzen des Bundes kommen sodann die Freiheitsrechte und die übrigen materiellen Rechtsgrundsätze der ' Bundesverfassung in Betracht 50 • Die erwähnt~n materiellen Gesetzgebungskompetenzen der Eidgenossenschaft sind nun ausschließlicher oder nicht ausschließlicher Art. Ausschließliche Kompetenzen bilden solche, die den Bundesgesetzgeber .zur erschöpfenden Regelung einer 1\tlaterie ermächtigen, die Kantone somit von der Normierung des betreffenden Kompetenzgegenstandes ausschließen. Bei den nicht ausschließlichen Bundesgesetzgebungskompetenzen ist umgekehrt der Bund nicht zur erschöpfenden Ordnung eines Sachgebietes befugt, die Kompetenzmaterien bilden hier vielmehr auch Objekt der kantonalen Zuständigkeit. Der Unterschied zwischen den ausschließlichen und nicht ausschließlichen Kompetenzen beruht also in der verschiedenen Wirkungskraft der Zuständigkeiten. Ob im Einzelfalle eine ausschließliche oder nicht ausschließliche Kompetenz vorliegt, ist Auslegungsfrage 51 • _ I. Die ausschließlichen Gesetzgebungszuständigkeiten der Eidgenossenschaft - die ja im Einheitsstaat naturgemäß allein in Frage kommen- weisen einen verschiedenen Umfang auf. 1. Viele dieser ausschließlichen Rechtssetzungskompetenzen der Eidgenossenschaft sind umfassender Art. · Der Bundesgesetzgeber darf den betreffenden Gegenstand allseitig ordnen 512 • Er entscheidet nach freiem Ermessen über das Maß der Gesetzgebung 53 • Es liegen hier insofern Zuständigkeiten zur Kodifikation bestimmter Gebiete vor. Dies sind die normalen Gesetzgebungskompetenzen der Eidgenossenschaft. Diese umfassenden Zuständigkeiten des Bundes zur Rechtssetzung ergeben sich naturgemäß auf Grund einer sinngemäßen Auslegung der Kompetenzbestimmungen der Bundesverfassung. Schon der \V ortlaut der Zuständigkeitsnormen, die derartige ausschließliche und umfassende Rechtssetzungskon1petenzen der 48

Art. 24bis BV. Art. 69ter BV. 5 {) Vgl. oben S. 68; vgl. Art. 4, 11, 12, 25bis, 27, 31, 45, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 58, 59, 60, 61, 62, 63, 65 BV. 51 Die Gesetzgebungskompetenzen organisatorischer Natur sind ihrem Wesen nach immer ausschließliche. 52 V gl. S t r ä u I i : a. a. 0. S. 20 f. 53 U:riter dem Vorbehalt der Willkür, d. h. der willkürlichen Auslegung der Kompetenzbestimmungen bzw. der Mißachtung der Freiheitsrechte und der anderen materiellen Grundsätze der Bundesverfassung. 49


§ 6. Die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes.

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Eidgenossenschaft begründen, deutet aber im allgemeinen auf den umfassenden . Charakter der Korn petenz, so wenn die Bundesverfassung einen bestimmten Gegenstand bzw. die Gesetzgebung darüber als Bundessache erklärt 54 oder sonst dem Bund ein Monopol einräumt 55 • Als solche . umfassende Gesetzgebungskompetenzen · der Eidgenossenschaft kommen z. B. in Betracht die Zuständigkeiten, die sich beziehen auf das Zivil- und Strafrecht, das Schuldbetreibungsrecht, das Militärwesen, das Eisenbahnwesen, das Post-, Telegraphe.n- und Telephonwesen, die Schiffahrt und Luftschiffahrt, das Zollwesen, die Stempelabgaben, die Tabaksteuern, das Münzwesen, das Banknotenwesen, das Alkoholwesen, die wirtschaftspolitischen Maßnahmen gemäß Art. 31bls Abs. 3 BV, das Gewerbewesen, die Gesamtverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen, die Spielbanken und Lotterien, Maß und Gewicht, die Fremdenpolizei, die privaten Versicherungsunternehmungen und Auswanderungsagenturen. · Bei den umfassenden Rechtssetzungskompetenzen des Bundes im Gebiete des Privatrechtes besteht jedoch die Besonderheit, daß die Kantone kraft ihrer Zuständigkeit im Bereiche des öffentlichen Rechts die gleichen Gegenstände, die gleichen Verhältnisse wie das Bundeszivilrecht regeln können, insoweit diese Normen öffentlichrechtlicher Natur sind, d. h. der Wahrung öffentlicher Interessen dienen 57 , und der Bund nicht bereits unter Geltendmachung einer ausdrücklichen oder stillschweigenden Kompetenz die diesbezüglichen öffentlichen Interessen wahrgenommen hat 58 • Die Kantone dürfen insofern das Anwendungsgebiet des Bundesprivatrechtes im öffentlichen Interesse zu Gunsten des kantonalen öffentlichen Rechtes beschränken 59 . So dürfen sie polizeiliche Schranken der 54

Vgl. z. B·. Art. 26, 28, 36, 37ter BV. Vgl. Art. 38 und 39 BV. r; 6 Die Umschreibung einer solchen ausschließlichen und umfassenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes enthält z. B. Art. 2 des BG vom 4. Oktober 1917 über die Stempelabgaben (A. S. 36. 59), der bestimmt, Q.aß wenn eine Urkunde nnch Maßgabe des Gesetzes mit einer Abgabe belastet ist, die Kantone weder diese Urkunde noch eine andere Urkunde, die dasselbe : Rechtsverhältnis betrifft, mit Stempelabgaben belasten dürfen. 57 BGer 58 I 30. r;s Dies wird durch die Art. 6 ZGB bestätigt. t~ 9 Die Kantone dürfen daher selbstverständlich nicht NQrmen des Bundesprivatrechtes abändern und infolgedessen auch nicht öfl'entlichrechtliche Vorschriften mit zivilrechtliehen Wirkungen erlassen. BGer 37 I 44. 55


Bund und ·Kantöne.

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_Vertragsfreiheit aufstellen, ·also den Abschluß bestimmter Rechtsgeschäfte verbieten, oder verlangen, daß gewisse Materien Vertragsinhalt werden 60 • Ebenso können die Kantone das Eigentum polizeilichen Schranken unterstellen, d. h. den Inhalt des Privateigentums im öffentlichen Interesse beschränken 61 • Eine Beschränkung des Anwendungsgebietes des Bundesprivatrechtes durch die Kantone kann ferner auch dadurch erfolgen, daß diese neue Verwaltungsaufgaben . in öffentlichrechtlicher · Form übernehmen unter fakultativer oder rechtlicher Ausschließung der Einzelnen 62 • 2. Die übrigen ausschließlichen Zuständigkeiten des Bundes im Gebiete der Gesetzgebung sind ihrem Umfange nach beschränkte Gesetzgebungskompetenzen. Dabei. unterscheiden sich die betreffenden Kompetenzbestimmungen in ,der Art der Umschreibung der Rechtssetzungskompetenzen. · a) Einzelne Kompetenzvorschriften der Bundesverfassung, die ausschließliche, beschränkte Gesetzgebungskompetenzen des Bundes begründen, ermächtige~ einfach den Bund zur Regelung einer Materie nach bestimmten. Richtungen. Man spricht insofern -von fragmentarischen Kompetenzen. Diese betreffen vorab Gegenstände des Polizei- und . Sozialrechtes. Als ' solche Verfassungsvorschriften, die derartige fragmentarische Gesetzgebungskompetenzen der Eidgenossenschaft begründen, kommen beispielsweise in Frage Art. 34 Abs. 1, 34 Abs. 2, 34ter, 37bis, 69bis BV 63 •. Der Bundesgesetzgeber ist hier wie bei den umfassenden Gesetzgebungskompetenzen in der Art der Regelung der Materie frei, aber er kann nicht auf einem großen zusammenhängenden Gebiete sondern nur ·. auf bestimmten Teilen 6

() So z. B. vorschreiben, daß der Dienstvertrag bezahlte Ferien vor.s ehe; BGer 58 I 30. Vgl. R. M u t z n er : Bundeszivilrecht und kantonales öffentliches Recht, Zürcher Diss. 1939, 66 ff. Vgl. auch G. Vetter.: Beziehungen zwischen Bundeszivilrecht und kantonalem öffentlichem Hecht, ZÜrcher Diss. 1920. 61 Z. B. baupolizeiliche Vorschriften aufstellen. Vgl. M u t z n e r : a. a. 0. -S. 63f. Diese kantonalen öffentlichrechtlichen Eigentumsbeschränkungen beruhen aber vielfach auf Vorbehalten des ZGB zu Gunsten des kantonalen Rechts; vgL unten S. 118 ff. 62 Vgl. über die kantonalen Monopole unten S. 301 f. 63 Man kann hingegen die Steuerkompetenzen des Bundes, wie die Zollkompetenzen öder die Zuständigkeit zur Tabakbesteuerung kaum als fragmentarische Kompetenzen bezeichnen. Anderer Ansicht S t r ä u 1 i : a. a. 0. S. 28 f. An diesem Beispiel zeigt sich die Problematik und damit die Relativität dieser Unterscheidungen; vgl. unten S. 89.


§ 6. Die Gesetzgebung$k;ompetenzen des Bundes.

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.eines solchen erschöpfend legiferieren 64 • Daher ist in der Bundesverfassung auch von gesetzlichen Bestimmungen und nicht von -Gesetzgebung schlechthin die Rede .65 . - Diese fragmentarischen Kompetenz~n nähern sich allerdings bei extensiver Auslegung der betreffenden Verfassungsbestimmungen den umfassenden Gesetzge· bungszuständigkeiten, ja gehen in solche über 66 • Darum erscheint der Unterschied zwischen umfassender und fragmentarischer Kompetenz problematis~h und infolgedessen nur quantitativ, während derjenige zwischen ausschließlichen und nicht ausschließlichen Ge- setzgebungskompetenzen des Bundes formallogischer und daher qualitativer Art ist, da eben das Unterscheidungskrite.rium wie ge-sehen in der Verschiedenheit der Wirkungskraft der Zuständigkeiten beruht, d~ h. darin besteht, ob die Kompetenzmaterie auch Gegenstand der kantonalen Zuständigkeit bildet oder nicht. b) Andere Koinpetenzbestimmungen der Bundesverfassung, die ausschließliche, beschränkte Gesetzgebungskompetenzen. betreffen, begründen hingegen nicht nur reine Kompetenzen des Bundes zur Rechtssetzung sondern enthalten zugleich schon eine partielle oder vollständige Positivierung dieser Zuständigkeit in der ·Gestalt materieller Rechtsgrundsätze ~ So stellt die Bundesverfassung bezüglich einzelner Gegenstände bestimmte Rechtsgrundsätze auf, deren nähere Ausführung der.Bundesgesetzgebung überlassen wird. Solche beschränkte Gesetzgebungskompetenzen des Bundes mit teilweiser Positivierung enthalten z. B. die Art. 23 Abs. 2, 27bis, 32ter, 46, 49 letzter Absatz · BV 67 • Die Bundeskompetenz geht hier naturgemäß weniger weit als in den zuletzt genannten Fällen, da der ·Bundesgesetzgeber nur frei ist in der Art der Ausgestaltung eines bestimmten materiellen Rechtsgrundsatzes und nicht in der Art der Regelung einer wenn auch beschränkten l\iaterie schlechthin. 64

Vgl. S t r ä u l i : a. a. 0. S. 28 ff. Vgl. z. B. die . Art. 34 Abs. 1 BV, 37bis Abs. 1 .BV, 69bis BV. . 66 Ein Beispiel hiefür bietet vor allem Art. 69 BV, der auch in seinerneuen -Fassung aus dem Jahre 1912 eigentlich dem Bund nur ein Stück Sanitätspolizei übertragen wollte (BBl 1911 :V_ 311), der aber meines Erachtens. die Grundlage ·zu einer umfassenden Sanitätsgesetzgebung des .Bundes bildet, da sich unter den •Begriff der übertragbaren oder stark verbreiteten · oder bösartigen Krankheiten wohl die meisten Krankheiten subsumieren lassen können. So wurde z. B. auch das Betäubungsmittelgesetz von 1924 auf Art. 69 BV gestützt, indem man auch den Kokainismus, und den Morphinismus al~ ·Krankheiten im Shme der erwähnten Verfassungsbestimmung auffaßte . 67 • Vgl. S t r ä u l i : a. a. 0. S. 36. 65


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Bund und Kantone.

Daneben stellt die Bundesverfassung eine größere Anzahl von Grundsätzen des materiellen Rechtes auf, die zur unmittelbaren Anwendung bestimmt sind. Es kommen vorab die individuellen Freiheitsrechte der Bürger 68 sowie allgemeine Rechtsgrundsätze strafrechtlicher oder; politischer Natur, die zum Teil mit den Freiheitsrechten in ilinerem Zusammenhang stehen 69 • 70 , in Frage. Hieher gehören ferner die Verbote und Gebote der · Bundesverfassl'l:ng, die den Kantonen gegenüber der Bundesgewalt und für ihren wechselseitigen Verkehr bestimmte Pflichten auferlegen 71 , oder die unmittelbar den Einzelnen ein bestimmtes Verhalten vorschreiben 72 • Zum Erlaß von Ausführungsgesetzen ist hier der Bund nicht befugt, es wäre denn, daß die Bundesverfassung ihm eine solche Kompetenz für ein einzelnes Gebiet ausdrücklich zusprechen würde 73 • Die er68

Handels- und Gewerbefreiheit (Art. 31 BV), Niederlassungsfreiheit (Art. 45 BV), Glaubens- und Gewissens- und Kultusfreiheit (Art. 49 und 50 BV), Preßfreiheit (Art. 55 BV), Vereinsfreiheit (Art. 56 BV), Petitionsfreiheit (Art. 57 BV), Sprachenfreiheit (Art. 116 BV). 69 Vgl. unten S. 884. 7 () Beispiele: Verbot der Todesstrafe für politische Vergehen und Verbot körperlicher Strafen (BV Art. 65); 'Aufhebung des Schuldverhafts (Art. 59); Abschaffung der geistlichen Gerichtsbarkeit (Art. 58); Verbot der Militärkapitulationen (Art. 11); Grundsatz des obligatorischen, unentgeltlichen und konfessionslosen Primarunterrichts (Art. 27); Art. 52, 53 BV. 71 Z. B.: Pflicht der Kantone, für ihre Kantonsverfassungen die Bundesgarantie einzuholen (BV Art. 6); Verbot der Selbsthilfe (BV Art. 14); Verpflichtung der Kantone, gegenseitig ihre rechtskräftigen Zivilurteile zu vollziehen (Art. 61) u. a. m. 72 Verbot der Spielbanken (Art. 35), Schächtverbot (Art. 25bis), Jesuitenverbot (Art. 51). 73 So behält z. B. die Verfassungsvorschrift über die Gewährleistung der Kultusfreiheit (BV Art. 50) den Kantonen sowie dem Bunde das Recht vor, "zur Handhaöung der Ordnung und des öffentlichen Friedens unter den Angehörigen der verschiedenen Religionsgenossenschaften, sowie gegen Eingriffe kirchlicher Behörden in .die Rechte der Bürger und des ~Staates die · geeigneten Maßnahmen zu treffen". Darin ist auch die Kompetenz zum Erlaß eines Bundesgesetzes enthalten. -Die Gewährleistung der Handels- und Gewerbefreiheit in Art. 31 der BV von 1874 hat für den Bund nicht die Kompetenz zur Aufstellung, einer einheitlichen Gewerbeordnung in sich geschlossen. Diese Zuständigkeit bat der Bund erst durch Partialrevision der BV (Art. 34ter) im Jahre 1908 erlangt. Vgi. dazu F I einer in der Ztschr. f. schweiz. R. n. F. XXV, S. 391 f. - Es ist eine reine Interpretationsfrage, ob eine Vorschrift der BV der näheren Ausgestaltung durch ein Bundesgesetz bedarf oder eine solche zuläßt. Dieses Bedenken wurde besondei's lebhaft in den Diskussionen über die Tragweife des Schulartikels der BV (Art. 27) erörtert (S a Ii s IV [1. Aufl.] Nr. 1580, 1581). Man hat nicht immer, nament-


§ 6. Die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes.

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wähnten Verfassungsvorschriften sind deshalb von den Kantonen ohne weiteres .anzuwenden. Dies gilt vorab für die Freiheitsrechte, die als absolute Rechte inhaltlich nicht durch den einfachen Gesetzgeber bestimmt werden können 74 • IL 1. Nicht ausschließliche Gesetzgebungskompetenzen des Bundes liegen in den Fällen vor, in denen die Bundesverfassung dem Bundesgesetzgeber eine sogenannte 0 b er a, u f s i c h t überträgt 75 • Hier -darf nämlich der Bundesgesetzgeber den Gegenstand der Kompetenz: der umfassend oder beschränkt sein .kann, ·nicht erschöpfend regeln sondern ist vielmehr darauf beschränkt, in dieser :Materie gewisse allgemeine verbindliche Richtlinien im Sinne einer sogenannten Grundsatzgesetzgebung aufzustellen, währe~d im übrigen das betreffende Sachgebiet der kantonalen Regelung unterliegt 76 • Damit . soll in diesen Angelegenheiten der Oberaufsichttrotz der kantonalen Verschiedenheiten in der Ordnung der betreffenden Materie die Wahrung gewisser allgemeiner schweizerischer Interessen durch den Bund sichergestellt werden können. Dabei kann diese Grundsatzgesetzgebung sowohl Anweisungen an die Kantone als auch unmittelbar die Einzelnen bindende Vorschriften enthalten 77 • Solche Bundeskompetenzen zur Grundsatzgesetzgebung sind vorab in den Artikeln 24, 24bis und 25 BV vorgesehen. Die Regelung des Forstwesens und der Forstpolizei, der Nutzbarmachung der Wasserkräfte sowie der Jagd und Fischerei ist grundsätzlich kantonale Sache. Der Bund hat aber die Befugnis, allgemeine Vorschriften zur Erhaltung des Forstbestandes, zur zweckmäßigen Ausbeutung der Wasserkräfte 78·, zum Schutze des Hochwildes, der nützlichen Vögel und lieh in den Reihen der Gegner des Schulartikels, zwei Fragen genügend auseinandergehalten: es ist unbestritten und heute auch durch BV Art. 27bis anerkannt, daß die Organisation des Volksschulwesens ausschließlich in die Kompetenz der Kantone fällt; der Bund ist zum Erlaß eines Bundesgesetzes nach dieser Richtung nicht befugt. Andrerseits jedoch ist der Bund zuständig, den Sinn und die Tragweite der im Art. 27 BV aufgestellten Forderungen in einem Bundesgesetz · näher zu umschreiben. Der Bund würde sich dadurch keine neue Kompetenz beilegen. 14 Vgl. unten S. 242 f. 75 Vgl. dazu S t r ä u 1i: a. a. 0. S. 39 f[ 76 Vgl. F I ein er : Bundesstaatliche und gliedstaatliche Rechtsordnung, Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 6, s. 15. 77 Vgl. Fleiner: a.a.O. S.15. 78 Vgl. I s I e r : Die Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Kantonen auf dem Gebiete der Wasserkraftausnutzung. Zürcher Diss. 1935.


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Bund und Kantone.

der Fische aufzustellen, weil es sich dabei um allgemeine Landesinteressen handelt. Als derartige Bundeskompetenzen kann man weiter diejenige zur Bürgerrechtsgesetzgebung gemäß Art. 44 Abs. 2 BV sowie die Gesetzgebungszuständigkeiten im Sinne der Art. 47 und 66 BV ·ansehen 79 • Nicht ausschließliche Gesetzgebungskompetenzen der Eidgenossenschaft sind ferner diejenigen Bundeskompetenzen, die Materien betreffe~, in denen die Bundesverfassung gleichgerichtete kantonale Zuständigkeiten zuläßt 80 •

§ 7. Der Grundsatz : Bundesrecht bricht kantonales Recht. I. Die Bundesverfassung sowie das kompetenzgemäße Bundesrecht 1 . bestimmen, indem ·sie die Bundeskompetenzen aufzählen ull.d ausführen, negativ den ·Inhalt des kantonalen Rechtes, das will aber heißen, sie begrenzen die kantonalen Kompetenzen 2 • Das kantonale Recht muß sich daher im Rahmen der Bundesverfassung,. und des kompetenzgemäßen Bundesrechts halten. Nicht nur die eigentlichen Kompetenzvorschriften der Bundesverfassung, sondern auch · die materiellen Bestimmungen derselben sowie das gesamte kompetenzgemäße Bundesgesetzesrecht und Verordnungsrecht sind ja wie oben hemerkt 3 für die Kantone Kompetenzbestimmungen. Dieses eidgenössische Kompetenzrecht ist daher negativer materieller Geltungsgrund der kantonalen Kompetenzen sowie des materiellen ·kantonalen ·Rechtes. Das will heißen, das kantonale Recht gilt nur, insoweit es sich innerhalb der Schranken des kompetenzgemäßen Bundesrechts hält. Die Kantone können eben an.g esichts des Art. 3 BV auf Gebieten, in denen sie keine Gesetzgebungsko.mpetenz me'l:ir besitzen, auch kein Recht schaffen. Jeder kantonale Rechtssatz, der . im Gegensatz zu ·'d en Bestimmungen der Bundesverfassung oder dem darauf gestützten kompetenzgemäßen Bundesrecht steht, ist 79 Vgl. S t rä u li :. a. a. 0. S. 40. Hi!lgegen kann Art. 33 BV kaum dazu gezählt werden, da der Bund diese Materie abschließend ordnen darf. Insofern die Grundsatzgesetzgebung weit -geht, wie. beim eidgenössischen Forstgesetz, nähert sie sich ihrem Umfange nach einer fragmentarischen Gesetzgebungskompetenz, da sie dann eine Materie teilweise ordnet; siebleibt aber eine nicht ausschließliche Kompetenz, da eben die Kantone in dieser · Materie noch legiferieren können. 80 So können Burid und Kantone die Kompetenz zU:r Erhebung dergleichen Steuer haben, z. B. von Einkommenssteuern. 1 Vgl. oben S. 68 f. 2 Vgl. die letzte Anmerkung. 3 Vgl. die vorletzte Annierkung.


§ 7. Der Grundsatz: Bundesrecht _b richt kantonales Recht.

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infolgedessen· kompetenzwidrig und somit ungültig 4 • Dasselbe muß folgerichtig auch von den kantonalen Verwaltungsakten und richterlichen Entscheidungen gelten, die sich auf eine bundesrechtswidrige kantonale Norm stützen 5 , oder einen bun~esrechtsmäßigen kantonalen Rechtssatz in bundesrechtswidriger 'Veise anwenden 6 • 7 • Diese Ungültigkeit der kompetenzwidrigen kantonalen Norm ergibt sich wie gesehen daraus, daß das kompetenzwidrige kantonale Recht keinen rechtlichen Bestand neben dem Bundesrecht haben kann, dieses somit mit andern Worten dem kompetenzwidrigen kantonalen Recht derogiert. Sie ist also non:J!·ati,v betrachtet .die v\i"irkung der derogatorischen Kraft des Bundesrechtes gegenüber dem kompetenzwidrigen kantonalen ·Recht. Artstatt vom Prinzip der derogatorischen Kraft des Bundesrechts spricht man auch unter Übernahme eines Satzes der Normkonkurrenz ·vom Grundsatz: ;,Bundesrecht bricht kantonales Recht" Dieses Prinzip kann aber im Bundesstaate

·s:

4 So ist z. B. die Bestimmung eines kantomilen Beschlusses ungültig, wonach die Verkehrsbewilligung für Motorfahrzeuge nur erteilt wird, wenn der Bewerber . sich verpflichtet, für die durch den Betrieb des Motorfahrzeuges herbeigeführten Unfälle in einem über die Schadenersatzpflicht . des schweizerischen Ob1igationenrechts hinausgehenden Umfange zu haften; BGer 51 1423. VgLferD.er BG:er 53 I 80, 137; 58 I 173 (ein kantonales .Verbot des Sammelns · wildwachsender . Beeren am Sonntag . ist ungültig; weil gegen Art. 699 ZGB .v erstoßen4); BGer 64 I 16; BGer 65 I 248 (ein kantonales •Gesetz, das die Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamta'r beitsverträgen vorsieht, ist rechtsungültig), 65 I 79 (eine Vorschrift, die. für den Mäklervertrag die schriftliche Form verlangt, ist bmidesrechtswidrig); BGer 70 I 237; BGer 63 I 178. (Die Ungültigkeitserklärung privatrechtliche:t," Verträge sowie die Einführung einer Belastungsgrenze für Grundpfan.dver~ schreibungen und die Beschränkung ihrer Kündbarkeit durch kantonales Gesetz sind 'bundesrechts'\Vidrig.) 5 Vgl. z. B. BGer 47 I 184; 50 I 55; BGer 64 I 23 (Rechtsungültig~eit der· ·,·aüf kantonales Gesetz gestützten Allgemeinverbindlicherklärung eines Gesamtarbeitsvertrages); 71 I 433. 6 Vgl. z. B. BGer 63 1295 (die gemäß dem kantonalen Steuergesetz erteilte Rechtsöffnung widerspricht . Art. 81 SchKG und ist daher ungültig) ; BGer 50 I 224; 53 I 394 (die Anwendung des Patentzwanges einer , lmntonalen Geschäftsagenturverordnung auf gewisse Handlungen eines Gläubigervertreters, dessen Geschäftsdomizil nicht im betreffenden Kanton .liegt, verstößt gegen Art. 27 Sch.KG); BGer 56 III 23(; BGer 70 I 152. In diesen Fällen sowie in denjenigen der letzten Anmerkung kommt aber nur ·eine nachträgliche Nichtigkeit in Frage. 7 Nicht _zu verwechseln damit ist der kantonale Einzelakt, der eine Bundesrechtsnorm unmittelbar verletzt, also unrichtig anwendet. 8 Dieser Grundsatz gilt nur im Verhältnis zwischen eidgenössischen und kantonalen Rechtssätzen, also nicht im Verhältnis zwischen_ eidgenössischen


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primär nur den Sinn eines Satzes der Kompetenzkonkurrenz und nicht der Normkonkurrenz haben 9 • Damit sollen Kompetenzkonkurrenzen aufgelöst werden. Denn jede inhaltliche Diskrepanz zwi.:. sehen einer Bundesnorm und einem kantonalen Rechtssatz stellt wie gesehen angesichts der Tatsache, daß das materielle Bundesrecht zugleich Kompetenznorm ist, außer einer Normkonkurrenz immer eine Kompetenzkonkurrenz dar. Insofern sagt der Grundsatz: "Bundesrecht bricht kantonales Recht" etwas Selbstverständliches aus; denn nur das kompetenzgemäße kantonale Recht kann wie gesehen rechtsgültig sein. Das Prinzip "Bundesrecht bricht kantonales Recht" gilt somit, da es die Folge der Tatsache ist, daß die Bundesver.:: fassung und das kompetenzgemäße Bundesgesetzesrecht Kompetenzrecht und daher negative materielle Gültigkeitsbedingung des kantonalen Rechtes bilden, auch ohne ausdrückliche Verankerung in der Bundesverfassung. Dieser Grundsatz ist denn auch in der Bundesverfassung nicht expressis verbis ausgesprochen. Man kann ihn aber mit der Praxis im Art. 2 der Übergangsbestimmungen zur Bundesverfassung erblicken 10 • ' Der Grundsatz "Bundesrecht bricht kantonales Recht" gilt selbstverständlich für das kompetenzgemäße Bundesrecht. Hingegen sollte er als Satz der Kompetenzkonkurrenz nicht auch für das kompetenzwidrige Bundesrecht Geltung haben. Dies ist jedoch kraft ausdrücklicher Vorschrift der Bundesverfassung der Fall. Gemäß Art. 11a letzter Absatz BV hat das kompetenzgemäße kantonale Recht <;lern kompetenzwidrigen Bundesrecht zu weichen, insofern dieses in einem Bundesgesetz oder allgemeinverbindlichen Bundesbeschluß enthalten ist 11 • 12 • und kantonalen Einzelakten, oder zwischen eidgenössischen Rechtssätzen und kantonalen Einzelakten. Vgl. oben S. 92. 9 Vgl. Im b 0 den: Bundesrecht bricht kantonales Recht, Zürcher Diss. 1940, S. 60, (166 ff. Im Verhältnis zwischen reiner Kompetenzvorschrift der Bundesverfassung und kantonalem materiellem Rechtssatz kann dieses Prinzip überhaupt nur die Bedeutung eines Satzes der Kompetenzkonkurrenz haben. 10 Allerdings spricht Art. 2 diesen Grundsatz nicht direkt aus, · sondern bestimmt nur den Zeitpunkt des Inkrafttretens der Bundesverfassung und der Außerkraftsetzung der dem Bundesrecht widersprechenden kantonalen Vorschriften. Damit setzt jedoch m. E. diese Bestimmung die derogatorische Kraft des Bundesrechts voraus. 11 Vgl. unten S. 9ä5 ff. 12 Insofern sich der Grundsatz der derogatorischen Kraft des Bundesrechts auf Art. 113 letzter Abs. BV stützt, kann er jedoch m. E. wohl nur als Satz der Normkonkurrenz angesehen: werden. ·Die kompetenzgemäße kantonale


§ 7. Der Grundsatz: Bundesrecht bricht kantonales Recht.

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Voraussetzung des Grundsatzes "Bundesrecht bricht kantonales Recht" ist - wenn man vom Art. 113 letzter Absatz BV absieht - der Gegensatz zwischen den bundeskompetenzbegründenden Bestimmungen der Bundesverfassung oder dem kompetenzgemäßen materiellen Bundesrecht einerseits und dem kantonalen Recht anderseits. Ein solcher Gegensatz kommt selbstv~rständlich in erster Linie dann in Frage, wenn eine kantonale Vorschrift und eine materielle Norm der Bundesverfassu.ng oder des kompetenzgemäßen Bundesgesetzesrechtes sich inhaltlich irgendwie widersprechen, also ausschließen 13 . Ein solcher Gegensatz besteht_ weiter auch in dem Falle, daß eine kantonale Vorschrift mit einer reinen bundeskompeten~begrün.den­ den Bestimmung der Bundesverfassung in \Viderspruch steht 14 • Dasselbe gilt aber ferner auch dann, wenn ein kantonaler Rechtssatz mit dem materiellen kompetenzgemäßen Bundesrecht inhaltlich übereinstimmt 15• Auch in diesem Fall muß nämlich das Prinzip der derogatorischen Kraft des Bundesrechtes Anwendung finden; denn auch liier liegen Kompetenzüberschreitungen seitens eines Kantons wie im Falle eines inhaltlichen Widerspruchs zwischen Bundesrecht und kantonalem Recht vor, indem eben der Kanton eine Materie ordnet, die der Bund kraft seiner Zuständigkeit bereits geregelt hat. Der Unterschied besteht nur darin, daß im letzten Fall Norm, die einem kompetenzwidrigen Bundesgesetz oder allgemeinverbindlichen Bundesbeschluß inhaltlich widerspricht, löst nur eine Normkonkurrenz aus; dahinter steht kein Kompetenzkonflikt, denn diese kantonale Norm entspricht dem geltenden eidgenössischen Kompetenzrecht 13 Vgl. über die verschiedenen Möglichkeiten eines solchen Widerspruches Im b o den : a. a. 0. S. 91 ff. sowie schweizerische juristische Kartothek, Karte Nr. 507 S. 3 f. Der nächstliegende Fall liegt dann vor, wenn Bund und Kanton Gebote· oder Verbote aufstellen, die sich inhaltlich widersprechen. Vgl. z. B. BGer 58 I 173 (das Bundesrecht gestattet die Aneignung wildwachsender Beeren,. das kantonale Recht verbietet sie am Sonntag) ; vgl. die Beispiele oben S. 9~, Anm.4. . 14 Ein Beispiel bildet die kantonale Gesetzesinitiative von Basel-Stadt aus dem Jahre 1938 auf Verbot staatsgefährlicher Vereinigungen von Auslän-. dern, die in die Bundeskompetenzen eingriff, indem die Regelung der Beziehungen der Schweiz zum Auslande Bundessache ist. Vgl. BGer 64 I 16 ff. 15 So wenn z. B. Bundesverfassung und Kantonsverfassung die gleichen Freiheitsrechte im gleichen Umfange gewährleisten. Vgl. G i a c o m e t t i: Über die rechtliche Tragweite des Prinzipes: Bundesrecht bricht kantonales Recht, Schweiz. Juristenzeitung, Jahrg. 26 (f930), S. 293. Eine Übereinstimmung zwischen einer reinen Kompetenzbestimmung der Bundesverfassung und einer kantonalen Norm kommt hingegen naturgemäß nicht in Frage.


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die Kompetenzkonkurrenz nicht zugleich eine Normkonkurrenz bildet. Dies ist aber unerheblich, da der Grundsatz "Bundesrecht bricht kantonales Recht" wie gesehen einen Satz der Kompetenzkonkurrenz darstellt 16 •' 1 7, 1 8. Die Wirkung-des Grundsatzes der derogatorischen Kraft des Bundesrechtes im Sinne der Ung~ltigkeit des kompetenzwidrigen kantonalen Rechts hat nun eine verschiedene Bedeutung, je nachdem der kantonale Rechtssatz, der einer Norm des Bundesrechtes inhaltlich widerspricht oder mit ihr materiell übereinstimmt, älter oder jünger als diese Bundesnorm ist. Im ersteren Falle vernichtet die neue Vorschrift des Bundesrechtes die ältere kantonale Norm ipso· ju-r e endgültig; diese ist nicht etwa nur in ihrer Geltung suspendiert; das kantonale Recht .tritt also nicht automatisch wieder · in Kraft, falls die derogierende Bundesnorm nachträglich aufgehoben wird 19 • 20 • Im letzteren Falle ist der kantonale Rechtssatz mit ur.; sprünglicher Nichtigkeit behaftet; er hat überhaupt nie rechtliche Existenz, das ist Rechtsgeltung erlangt. Eine formelle Aufhebung 16 Unrichtig erscheint daher m. E. die Auffa-s sung· des -· Bundesgerichtes, wonach sich das Prinzip der ·derogatorischen Kraft des Bl;lndesrechts nicht auf den Fall der Übereinstimmung zwischen Bundesrecht und kantonalem Recht bezieht. Vgl. BGer 5, 335; 11, 158; 64 I 189. (Das gleichlautende kantonale Recht habe während der Geltung des Bundesrechts keine selbständige Bedeutung.) Analog wie das- Bundesgericht auch :a ur c k h a r d t : Kommentar, S: 823. 17 Die derogatorische Kraft des Bundesr·e chts tritt jedoch nicht ein gegenüber dem kantonalen Recht, das kraft bundesgesetzlieber Vorschrift das Bundesrecp.t ergänzt oder· ersetzt; vgl. unten S. 118 ff. · 18 Analog verhält es sich, insofern der Grundsatz der . derogatorischen Kraft des Bundesrechts gemäß Art. 113 Abs. 3 BV auf' das kompetenzwidrige Bundesrecht Anwendung findet. Dieses .Prinzip ist ·anwendbar sowohl in dem Fall, daß kompetenzwidriges Bundesrecht und kantonales Recht sich inhaltlich ausschließen, als auch .· dann, wenn sie inhaltlich übereinstimmen. 19 Vgl. BGer 15, 157; 30 I 47; Salis: li Nr.930; Burckhardt:. Kommentar S. 823. Die meisten Kantone kannten unter der Herrschaft dej· BV von 1848 die Bedürfnisklausel für . das Wirtschaftsgewerbe; ·diese··wurde durch das lnkrafttreten der BV von 1874 aufgehoben. Nach der Annahme der Partialrevision ·von 1885 lebten die Bedürfnisklauseln der kantonalen Gesetze nicht ipso iure wieder auf; sie mußten durch den kantonalen Gesetzgeber wieder neu · eingeführt werden. BGer 15 (1889), S; 157. S ali s II, Nr. 930. 2 ~ Es bestehen hier aber Ausnahmen. •So vernichten die -befristeten, also vorab die sich auf Notrecht stützenden Bund:>snormen (vgl. unten S. 775 ff.) die ihnen widersprechenden kantonalen Rechtssätze nicht, sondern suspendieren ·sie lediglich in ihrer Geltung. Vgl. Im b o d e n : Kartothek, S. 5.


§ 7. Der Grundsatz: Bundesrecht bricht.kantonales Recht.

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der bundesrechtswidrigen kantonalen Norm erscheint daher recht· lieh nicht erforderlich 21 • Hingegen ist der kantonale Einzelakt, der einen bundesrechtswidrigen kantonalen Rechtssatz anwendet, od~r eine bundesrechtsmäßige kantonale Norm in bundesrechtswidriger \Veise zur Anwendung bringt, nicht ursprünglich nichtig sondern mit nachträglicher Nichtigkeit behaftet, d. h. mit Wirkung ex tune vernichtbar 22• 23 • Der Grundsatz "Bundesrecht bricht kantonales Recht" kann von allen Behörden, die eine bundesrechtswidrige kantonale Norm anwenden, also vorab von den kantonalen richterlichen und Verwaltungsi~stanzen verletzt werden 24 • Eine erste Sicherung dieses Prinzips besteht darin, daß es von allen eidgenössischen und kantonalen rechtsanwendenden Behörden von Amtes wegen zu berücksichtigen ist 25 • Eine weitere Garantie des Grundsatzes der derogatorischen Kraft des Bundesrechts liegt in der Möglichkeit der Anfechtung von richterlichen und Verwaltungsakte;n, die ihn mißachten, also kantonales Recht anstatt des maßgebenden Bundesrechts anwenden, auf dem normalen Rechtsmittelweg 26 sowie subsidiai." mittels der zivilrechtliehen Beschwerde 27 oder des staatsrechtliches Rekurses 28 , 21 Das Bundesrecht verpflichtet aber mitunter die Kantone, ihre Gesetze, die .dem Bundesrecht widersprechen, auch formell. aufzuheben; vgl. z. B. Art. 67 des eidg. Stempelsteuergesetzes. 22 Dies wird in der Praxis als selbstverständlich angesehen, Salis I, Nr. 352; BGer 36 I 618. Das ergibt sich daraus, daß zwei spezifische Rechtsmittel zur Geltendmachung einer Verletzung des Grundsatzes der derogatorischen Kraft des Bundesrechts durch Einzelakte bestehen, nämlich die staatsrechtliche Beschwerde und die zivilrechtliche Nichtigkeitsbeschwerde; vgl. unten S. 839 u. 884 f. Vgl. zu diesen Fragen I m b o d e n : Bundesrecht bricht kantonales Recht, S. 111 f.; vgl. über Ausnahmen, wo diese Anwendungsakte nichtig sind, I m b o d e n : a. a. 0. S. 112 ff. 2 s. BGer 36 I 618; Im b o den: a.a. 0. S. 110 und Kart.othek, S. 5. 24 Diesen Grundsatz kann aber auch der Große Rat verletzen, indem er ein bundesrechtswidriges kantonales Gesetz durch Verordnung vollzieht. 25 BGer 12, 507; 48 I 231. Giacometti: Die Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundesgerichtes, S. 14, Anm. 29. So darf die kantonale Legislative eine bundeswidrige Volksinitiative nicht der Volksabstimmung unterbreiten; vgl. BGer 64 I 16; vgl. auch BGer 61 I 336; 63 I 172. 26 So durch zivHrechtliche Berufung, BGer 53 II 459, durch verwaltungsgerichtliche Beschwerde, BGer 52 I 212, durch Beschwerde an den Bundesrat, BGer 54 I 153, 70 I 7; vgl. unten S. 838 f., 909 ff., 922 ff. 27 Art. 68, lit. a OG. Vgl. unten S. 839. 28 Vgl. unten S. 884 f.

8 Fleiner I Giacometti, Bundesstaatsrecht.


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Bund und Kantone.

nachdem Art. 2 der ·Ü bergangsbestimmungen der Bundesverfassung vom Bundesgericht als verfassungsmäßiges Recht der Bürger betrachtet wird 29 • 30 • 31 • Darüber hinaus läßt sich aber auf Grund der staatsrechtlichen Beschwerde oder staatsrechtlichen Klage auch die Diskrepanz z~ischen Bundesrecht und kantonalem Recht selber und damit die Voraussetzung für die .Anwendbarkeit dieses Grundsatzes beseitigen, indem kantonale Rechtssätze ebenfalls mit der staatsrechtlichen Beschwerde wegen Verletzung des Art. 2 der Übergangsbestimmungen der Bundesverfassung sowie mit der staatsrechtlichen Klage im Sinne der Erhebung des Kompetenzkonfliktes durch den Bund, angefochten werden können 32 • • II. Die ·derogatorische Wirkung des Bundesrechtes tritt · mit der Inkraftsetzung der Bundesvorschriften ein :~s. Insofern Bundesgesetzesrecht und Bundesverordnungsrecht in Frage kommen, bietet die Frage des Zeitpunktes dieses Eintrittes keine Schwierigkeiten; dieser Zeitpunkt wird entweder ·im Bundeserlaß selber oder durch die zuständige Behörde imo Einzelfall ·bestimmt 34 • Hingegen wird der Zeitpunkt des . Inkrafttretens, d. h. des Eintrittes der derogatorischen Wirkung der einzelnen Bundeskompetenzen ·und · damit der Termin der Vernichtung der entsprechenden kantonalen Zuständigkeiten und des darauf gestützten materiellen · kantonaleil Rechts durch die bundeskompetenzbegründenden Bestimmun-gen ·der Rundesverfassung nicht eindeutig festgesetzt. Damit verhält es sich f9lgendermaß_e n: 1. J?ie Zuständigkeitsvorschriften der Bundesverfassung, die Rechtssetzungskompetenzen der Eidgenossenschaft begründen, haben im allgemeinen nur den Sinn von Ermächtigungen an den Bund. Solange und soweit die Eidgenossenschaft von ihren Ermächtigungen nicht Gebrauch macht; bleibt die entsprechende kantonale Vgl. Im b o d e·n.: a. a. 0. S. 154 ff. Die huridesgeriChtliche . Praxis, die im Art. 2 Übergangsbestimmungen BV .ein Individualrecht erblickt, wird von Bur c k h a r d t: Kommentar, S. 824, mit Recht beanstandet, denn diese Vorschrift dient nicht Individualinteressen. 31 Die staatsrechtliche Beschwerde im umgekehrten Falle, d. h. wegen Anwendung eidgenössichen anstatt kantonalen Rechts, die von der Praxis zugelassen wurde {BGer 48 I 233; · 51 I 85) wird angesichts des Art. 68, lit. a neu OG nicht mehr möglich sein. 32 Vgl. unten S. 871ff. 33 Vgl. unten S. 737, 756 f., 773. 34 ·Vgl. die letzte Anmerkung. 29

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§ 7. Der Grundsatz:. Bundesrechtbricht kantonales Recht.

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Gesetzgebungsl~ompetenz

. in ·aktueller Geltung 35 • 36 • Erst _. die eidgenössische Ausführungsge~etzgebung zu einer solchen ermächtigenden Kompetenzbestim1nung der Bundesverfassung zer.s tört die kantonale . Zuständigkeit, :-hat somit derogierende Wirkung 37 • Dabei wird durch ·das Ausführungsgesetz des Bundes die 'ganze kantonale Kompetenz auf dem Gebiete, das das betreffende Bundesgesetz ordnet, vernichtet. Es gilt mit anderen Worten, da die Bundesverfassung mit der Begründung einer Gesetzgebungskompetenz des Bundes in der betreffenden Materie, mag diese auch .noch so klein sein, die Rechtseinheit verwirklichen will, der Grundsatz der. Vollständigkeit der Bundesgesetzgebung 37a. Das Bundesgesetz enthält eine vol~stän­ dige Regelung des Gegenstandes 38• Ausnahmen von diesem Prinzip der Vollständigkeit der Bundesgesetzgebung müssen ausdrücklich vorgesehen 39 oder sich. klar aus dem Gesetz ergeben 40 • 41 • Es ist aber VgL Bur c k h a r d t : B~.mdesreeht I,. Nr. 288 11; lfl, Nr. 1242, Dies schließt aber nicht aus, daß solche lediglich ermächtigende J{.ompetenzvorschriften der Bundesverfassung auch die Pflicht des Bundesgesetzgebers zur Gesetzgebung begründen können. (Vgl. z ...B. Art. 34~is und 34quaterBV), obwohl das angesichts der Tatsache, daß diese Kompetenznormen Ieges imperfectae sind, und den Zeitpunkt der Ausführung der Kompetenz dem Gesetzgeber überlassen, im allgemeinen von · nicht großer praktischer Bedeutung sein wird. 37 Auch unter diesem Gesichtspunkte haben die ·Bundesgesetze die Bedeutung von Kompetenzvorschriften. Vgl. oben S. 68. 37 a Dieses Prinzip gilt allerdings unter dem Vörbehalt der Grundsallgesetzgebung des Bundes, die ja ihrem Wesen nach keine Rechtseinheit schafft. 38 Vgl.S t r ä u I i: a. a. 0. 186; BGer 43 I 317. Sa I i s V,. Nr. 21. 3 ~~' Vgl. ·B u r c k h a r d t : Bundesrecht 111, S. 350. 40 · So sieht z. B. das Tuberkulosegesetz des Bundes nur ein Minimum von, Maß.n ahmen zur Bekämpfung der Tuberkulose vor; die Kantone dürfen darüber hinausgehen: Verwaltungsentscheide, Heft 4. Nr. 34 und Heft 9 Nr. 51. Ebenso schließt z. B. das KUVG eine Ausdehnung des Obligatoriums der Unfallversichertmg auf Lehrlinge ·durch . das kantonale Recht . nicht aus; vgl. Verwaltungsentscheide, Heft 12 Nr. 124 und Heft 13 Nr. 89. Ebenso läßt das BG über berufliche Ausbildung weitere kantonale Schutzbestimmungen zu; vgl. Verwaltungsentscheide, Heft 13 Nr. 89. Ebenso sind unvollständig Bundesgesetze, · die auf spätere GeS'etze oder Verordnungen verweisen, vgl. S t r ä u I i: a. a. 0. S. 189 (Art. 176 OR, Art. . 918 ZGB). 41 . Keine Ausnahmen von diesem Grundsatz der VoUständigkeit der Bundesgesetze sind die im Bundesrecht enthaltenEm Vorbehalte des kantonalen Rechts ·(vgl. unten S. 118 ff.), da das kantonale Recht hier auf einer Gesetzes,delegation seitens des Bundesgesetzgebers und nicht a11f einer bundesverfassungsmäßigeR kantonalen Kompetenz beruht. Anderer Ansicht S t r ä u I i : a a. 0. S. 186. Auch im Heft 9, S. 62 der Verwaltungsentscheid~ wird clie 35

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Bund und Kantone.

eine Auslegungsfrage, welches das Gebiet ist, das der Gesetzgeber hat ordnen wollen 42. Bei dieser Art der Gesetzgebungskompetenz des Bundes bestehen also, solange die entsprechende eidgenössische Ausführungsgesetzgebung nicht erfolgt ist, die virtuell geltende Bundeskompetenz und die aktuell geltende kantonale Zuständigkeit nebeneinander. Man bezeichnet daher solche Bundeskompetenzen auch als konkurrierende Gesetzgebungskompetenzen der Eidgenossenschaft 43 • Diese Bezeichnung erscheint jedoch meines Erachtens irreführend, da Bund und Kantone nicht in Konkurrenz miteinander treten, d. h. nicht gleichzeitig dieselbe Kompetenz ausüben. Mit dem Moment, in welchem der Bund von seiner Zuständigkeit Gebrauch macht, fällt vielmehr die kantonale Kompetenz dahin, und vor diesem Zeitpunkt ist nur die kantonale Kompetenz wirksam. Eine konkurrierende Kompetenz liegt somit allein dann vor, wenn Bund und Kanton gleichzeitig dieselbe aktuelle Zuständigkeit besitzen 44 • Infolgedessen sind diese Bundesgesetzgebungskompetenzen, die erst mit dem Zeitpunkte aes Frage, ob das Bundesgesetz vollständig sei, mit der anderen Frage, ob das ·Bundesgesetz Vorbehalte zu Gunsten der Kantone enthalte, verwechselt. 42 So stellt sich z. B. die Frage~ welches Gebiet das eidg. Fabrikgesetz ordnen will; Bur c k h a r d t: I Nr. 288. So will z. B. das Fabrikgesetz nicht das ganze Gebiet der Sonntagsruhe für die der Fabrikgesetzgebung unterstellten Personen erfassen, da diese Gesetzgebung nur den Arbeiterschutz bezweckt. So können Arbeiten, die im Einklang mit der Fabrikgesetzgebung stehen, gegen gesetzliche Vorschriften betr. die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung an allgemeinen Ruhetagen verstoßen; vgl. Bur ckh a r d t : li Nr. 507 VI. Mit Bezug auf die Fabrikgesetzgebung hat ferner die Praxis einmal entschieden, daß das Fabrikgesetz die gesamte Fabrikpolizei regle, so daß z. B. kantonale Gesetze über bezahlte Ferien für Fabrikarbeiter nicht zulässig seien; Verwaltungsentscheide Heft 4 Nr. 11. Später ·wurde aber ·in der Praxis die gegenteilige Auffassung vertreten; vgl. Schweiz. Zentralblatt für Staats- u. Gemeindeverwaltung, Jahrgang 47 (1946) S. 42 ff. So kann z. B. das eidg. Jagdgesetz nicht ·ein Sonntagsjagdverbot aus Gründen der Sonntagsruhe einführen, da die Wahrung der Sonntagsruhe kantonale Sache ist; Bur c k h a r d t III Nr. 1099 II. Ebenso können die Kantone den Gebrauch von Betäubungsmitteln in Gesellschaft mit Strafe androhen, da das BG über Betäubungsmittel nur den Verkehr mit diesen regelt; Bur c k h a r d t 111, S. 557. So schließt eine direkte Bundessteuer nicht ohne weiteres eine kantonale Ste~er, aus; vgl. dazu Bur c k h a r d t V, S. 97 111; vgl. oben S. 92 Anm. 80. 43 Vgl. z. B. S t r ä u l i , a. a. 0. S. 70. Dieser Ausdruck stammt aus der deutschen Literatur; ·vgl z. B. Lass a r im Handbuch des deutschen · StaatsTechts, Bd 1, S. 304. ' H Einen solchen Fall bildet · z. B. die Befugnis von Bund und Kantonen zu Maßnahmen gemäß Art. 50, Abs. 2 BV.


§ 7. Der Grundsatz:. Bundesrecht bricht kantonales Recht.

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EJ,"lasses der Ausführungsgesetzgebung derogierende Wirkung erlan~ gen, als Gesetzgebungskompetenzen mit nachträglich derogierender Kraft zu bezeichnen. Die Tatsache, daß die meisten Rechtssetzungskompetenzen des Bundes den Sinn von Ermächtigungen haben, und die derogatorische \Virkung der Bundeskompetenz niCht schon mit deren Begründung in der Bundesverfassung sondern erst im Zeitpunkt der gesetzgeberischen Ausführung der Zuständigkeit eintritt, ergibt sich durch Umkehrschluß aus Art. 2 der Übergangsbestimn1ungen der Bundesverfassung 45 • Die praktische Bedeutung dieses Charakters der meisten Rechtssetzungskompetenzen der Eidgenossenschaft besteht darin, daß mit der \Veitergeltung der kantonalen Zuständigkeit bis zur gesetzgeberischen Ausführung der entsprechenden Bundeskompetenz auch das auf die kantonale Kompetenz gestützte mate-rielle kantonale Recht als solches von Bundesverfassungs wegen in Geltung bleibt und vom Kanton auch nach Belieben abgeändert werden kann 46 • 47 • Damit wird der Eintritt eines rechtlosen Zustandes für die Zeit zwische!l)der Begründung und der Ausführung der Bundeskompetenz vermieden 48 • So sind beispielsweise die Kompetenzen der Kantone im Gebiete des Privat-· und Strafrechtes und damit das kantonale Privat- und Strafrecht nicht schon mit der Begründung der Bundeskompetenz zur Vereinheitlichung dieser Materien sondern erst mit dem InJuafttreten des. schweizerischen Obligationenrechtes, Zivilgesetzbuches und Strafgesetzbuches vernichtet worden 49 • 2. Es gibt aber auch einzelne Gesetzgebungskompetenzen des Bundes, die bereits mit ihrer Begründung in der Bundesverfassung die entsprechenden kantonalen Zuständigkeiten vernichten, also ur45

Vgl. Sträuli: a.a.O. S.70 .. So haben sich einzelne Kantone noch kurz vor dem Erlaß des schweizerischen Strafgesetzbuches neue Strafgesetzbücher gegeben, so Freiburg· im Jahre 1924. Vgl. dazu Hafte r: Das neue Strafgesetzbuch für den Kanton Freiburg, Schweiz. Juristenzeitung, 21. Jahrgang, S. 233 ff. 47 Umgekehrt wird das kantonale Gesetzesrecht, das der Bund unter Vernichtung der kantonalen Kompetenz beibehalten sollte, mit diesem Moment in Bundesrecht verwandelt. 48 Vgl. I m b o d e n : a. a. 0. S. 3 7. 49 Einen Sonderfall der Gesetzgebungskompetenz des Bundes mit nachträglich derogierender Wirkung bilden die bedingten Bundcskompetenzen, bei denen die Zuständigkeit vom Eintritt einer Bedingung abhängig gemacht wird. Vgl. S t r ä u li: a. a. 0. S. 74 ff. Eine bedingte Bundesgesetzgebungskompetenz enthält Art. 19, Abs. 3 BV, während Art. 16, Abs. 2 BV eine bedingte Verwaltungskompetenz der Eidgenossenschaft begründet. 46


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Bund und- Kantone.

sprünglich derogatorische .Kraft besitzen. Diese . Art .von Rechts;. setzungskompetenzen der Eidgenossenschaft· bilden aber angesichts des Art. 2 der Übergangsbestimmungen der Bund·esverfassung nur Ausnahmefälle. Als solche Gesetzgebungskompetenzen des Bundes mit ursprünglich derogatorischer vVirkung kommen in erster Linie diejenigen Vorschriften der Bundesverfassung in Betracht, die bestimmte·· Grundsätze, wie die Freiheitsrechte, polizeiliche Verbote bzw. gewisse· Gebote an die Kantone oder andere Prinzipien enthalten, irrelevant, ob diese Grundsätze durch Gesetz noch näher ausgeführt werden dürfen oder nicht 50 • 5 ~. Denn diese Verfassungsbestim"mungen begründen nicht nur Bundeskompetenzen sondern enthal. ten bereits materielles Recht.' Im übrigen ist es Auslegungsfrage, welche bundeskompetenzbegründende Bestimmungen der Bundesverfassung derartige Gesetz~­ gebungszuständigkeiten des Bundes mit ursprünglich derogatorischer Kraft ·enthalten. Als- solche ers-cheinen selbstverständlich in. erster Linie die formellen· Gesetzgebungskompetenzen · der Eidgenossenschaft iin· Sinne ihrer Organisationsgewalt 52 sowie diejenigen Zuständigkeiten, die den Schutz des Bundes betreffen 53 • Hieher gehören ferner. die Gesetzgebungskonipetenzen, die. den :Machtbereich der Kantone übersteigen, wie die Zuständigkeiten zur Regelung der Beziehungen der· Kantone unter· sich 54 • Dazu können sodann die Rechtssetzungskompetenzen des Bundes auf dem Gebiete des Zoll-, Post-, Telegraphen-, Eisenbahnwesens, Münzwesens gezählt werden 55 • Außerdem gehören alle Verwaltungszuständigkeiten des Bundes, die nicht lediglich Gesetzesvollziehungskompetenzen sind, so vorab seine Regierungsgewalt 56, zu dieser Art von Bundeskompetenzen. Man bezeichnet die Bundeskompetenzen mit ursprünglich derogierender Kraft auch als ausschließliche Kon1petenzen 57 • Die50

Vgl. oben S. 68 f. So. werden z. B. vom Bundesgericht außer den Freiheitsrechten auch Art. 46, Abs. 2 und 49, Abs. 6. BV als unmittelbar anwendbare Normen angesehen. Vgl. unten S. 168 u. 318 f. 52 · Vgl. S t r ä u l i : a. a. 0. S. 79 ff. 53 Art. 20 BV. 54 Art. 46, 47, 48, 61, 67 BV. 55 Dies ergibt sich aus der Geschichte dieser Zuständigkeiten. Vgl. s·t r ä u l i : a. a. 0. s. 78_ f. 56 Vgl. unten S. 106; vgl. auch Art. 8 BV. 57 Vgl. z. B. S t r ä u l i : S. 76 ff. Dieser Ausdruck stammt aus der deutschen Literatur; vgl. Lass a r im Handbuch des deutschen Staatsrechts I, S. 304. M e ye r- Ans c h ü-t z: Deutsches Staatsrecht, 7.Aufl., S. 261.~ ' 51


§ 8. Die Kompetenzen d. Bundes ifu Gebiete der Verw. u. d. R'sprechung.

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set · Ausdruck ist aber irreführend, da darunter ·viel eher die erschöpfenden Gesetzgebungskompetenzen der Eidgenossenschaft zu verstehep. sind. Dementsprechend .hahen wir ~enn auch als ausschließliche Bundeskompetenzen die erschöpfenden Gesetzgebungskompetenzen der Eidgenossenschaft bezeichnet 58 •

. § 8. Die Kompetenzen des Bundes -

im Gebiete der Verwaltung und der Rechtsprechung.-- Außer den genannten Gesetzgebungskompetenzen stehen deni Bunde als einem Bundesstaate naturgemäß auch \veitgehende Befugnisse im Bereich der beiden anderen staatlichen Funktionen, der Verwaltung und Rechtsprechung, zu. I. 1. Die Bundesverfassung hat die Frage, , ob der Vollzug der Bundesverwaltungsgesetze defl1 Bund oder den Kantonen -obliegt, nicht -grundsätzlich gelöst 1 • Nur mit Be~ug auf ei!}zelne Materien ist eine Regelung durch -die Bundesverfassung erfolgt. " a) Die Bundesve!fassung hat die Vollziehung bestim1Uter Bundesverwaltungsgesetze den Kantonen übertragen 2 • Sö liegt den Kantonen unter -gewissen wichtigen Vorbehalten der Vollzug der ·Militärgesetzgebung ob 3 • Desgleichen ist das Bundesgeset~ über Maß und Gewicht durch die Kantone auszuführen 4• Dasselbe gilt von der Bundesgesetzgebung über die Lebensmittelpolizei 5 und -_ Fremdenpolizei 6• Ebenso sind die Kantone an der Durchführung der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung beteiligt'· Ferner ist der Vollzug der Ausführungsgesetze, die der Bund zu den neuen Wirt58

Vgl. oben S. 86. Während z. B. nach Art.14 der Weimarer Verfassung· die Reichsgesetze durch die Landesbehörden vollzogen ·wurden, soweit nicht die Reichsgesetze etwas anderes bestimmten. In den Vereinigten Staaten von Nordamerika erfolgt hingegen die Durchführung der Bundesgesetzgebung grundsätzlich durch den Bundesstaat. Vgl. Trip p: Der schweizerische und der amerikanische Bundesstaat, aus dem Englischen übersetzt und bearbeitet von H. Huber: S. 187. · 2 Unter dem Vorbehalt eines Aufsichtsrechtes des Bundes; vgl. unten S. 127 ff. 3 Art. 20, .1\bs. 1 u. 3 BV. 4 Art. 40, Abs. 2 BV. 5 Art. ß9bis BV. 6 Art. ßgter BV. 1 • Art. 34quater Ahs. 3 BV. ·

1


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Bund und Kantone.

Schaftsartikeln 31bis, 31ter Abs. 2, 31quater und 31 quinqnies BV erläßt, in der Regel den Kantonen zu übertragen 8• b) Umgekehrt sind bestimmte andere Bundesverwaltungsgesetze gemäß ausdrücklicher Verfassungsvotschrift durch die Eidgeno'ssenschaft zu vollziehen. Dies ist der Fall mit Bezug auf die Bundesgesetzgebung über die Bundesmonopole, wie das ~ost-, Telegraphund Telephonregal, das Banknotenmonopol und das Schießpulverregal, sowie hinsichtlich der Bundesgesetzgebung über das Zollwesen, Münzwesen und Eisenbahnwesen 9 • Desgleichen ist die Militärverwaltung im Sinne des Militärunterrichtes und der Bewaffnung von Verfassungs wegen Bundessache 10• Dasselbe gilt von der Unfallversicherung, wie auch von der Vollziehung der Bundesgesetzgebung über die privaten Versicherungsunternehmungen und die Auswanderungsagenturen 11 • 12. Alle diese. Verwaltungsaufgaben sind somit durch Behörden und Beamte des Bundes zu besorgen. Es liegt hier eigene und unmittelbare Bundesverwaltung vor. Die Kantone sind von der Verwaltung dieser Angelegenheiten kraft ausdrücklicher Verfassungsvorschrift ausgeschlossen. Sie werden hier höchstens insoweit .berücksichtigt, als der Bund seine eigenen Verwaltungsbezirke nach Möglichkeit an die Kantonsgrenzen anlehnt 13 • c) Mit Bezug auf die Vollziehung der übrigen Bundesverwaltungsgesetze schweigt sich hingegen die Bundesverfassung aus. Daraus folgt, daß die Vollziehung dieser Bundesgesetze gleich dem Gesetzesvollzug, den die Bundesverfassung dem Bunde ausdrücklich überläßt: 8

Vgl. Art. 32 Abs. 2 BV. Art. 26, 28, 36, 38, 39, 41 BV; darum heißt es in den Artikeln 28 und 36 BV: Das Zollwesen, das Post- und Telegraphenwesen ist Bundessache. 10 Art. 20, Abs. 2 BV. 11 Art. 34bis und 34 Abs. 2 BV. 12 Art. 24bis 13V sieht ebenfalls Vollzugsfunktionen des Bundes vor im Sinne der Erteilung von Wasserrechtskonzessionen in bestimmten Fällen. 13 Die Bundesgesetzgebung hat sowohl bei der Bildung der Zollgebiete als auch der Postkreise und Telegraphenkreise auf die Kantone Rücksicht genommen und soweit dies mit den verwaltungstechnischen Anforderungen vereinbar gewesen ist, Kantone nicht unter verschiedene eidgen. Verwaltungsbezirke aufgeteilt. Vgl. Art. 132 des Zollgesetzes von 1925, Art. 1 der Vollziehungsverordnung von 1908 über die Einteilung der Telegraphen~ und Telephonkreise (A. S. 24, 819), Art. 175 der Vollziehungsverordnung von 1910 zum BG betr. das schweiz. Postwesen von 1910 (AS 24, 1305). Vgl. ferner BV Art. 21, Abs. 1: "Soweit nicht militärische Gründe entgegenstehen, sollen die Truppenkör-per aus der Mannschaft desselben Kantons gebildet werden ... " Gründe, die eine Aufteilung der Mannschaft unter verschiedene Truppenkörper rechtfertigen, können auf dem sprachlichen Gebiet liegen. 9


§ 8. Die Kompetenzen d. Bundes im Gebiete der Verw. u. d. R'sprechung.

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unter die Zuständigkeit der Eidgenossenschaft fällt. _Denn in der Gesetzgebungskompetenz des Bundes ist grundsätzlich unter dem Vörbehalt einer nicht gegenteiligen Regelung durch die Bundesverfassung auch dessen Vollzugskompetenz enthalten. Dies ergibt sich durch den Schluß vom Größeren auf das Kleinere. Solche stillschweigende Verwaltungskompetenzen der Eidgenossenschaft lassen sich auch auf Grund der Schlußfolgerung vom Zweck auf die Mittel feststelle~; denn ohne eine solche Kompetenz könnten ja die diesbezüglichen Verwaltungsgesetze nicht vollzogen werden 14 • Es liegt nun jedoch im freien Ermessen des Bundesgesetzgebers, der· für die Vollziehung seiner Verwaltungsgesetze zu sorg~n hat, über diese Verwaltungskompetenz des Bundes zu befinden und sie den Kantonen zu übertragen 15, oder den Gesetzesvollzug beim Bunde zu belassen und damit auch in diesem Bereiche eine e_igene unmittelbare 'Bundesverwaltung zu schaffen. In der Praxis verhalten sich nun die Dinge so, daß der Bundesgesetzgeber jeweilen ·bestimmt, ob das betreffende Verwaltungsgesetz durch die Eidgenossenschaft oder aber durch die Kantone zu vollziehen sei. Zweckmäßigke~ts­ gründe sind dabei für diese Entscheidung maßgebend. Der Vollzug wird unter anderem dann · den Kantonen überlassen, wenn diese bereits geeignete Behörden und Einrichtungen für die Verrichtung der betreffenden Verwaltungsgeschäfte besitzen 18 •.19 • Der Bundesgesetzgeber hat nun die Vollziehung einzelner solcher Verwaltungsgesetze, mit Bezug auf deren Vollzug die Bundesverfassung keine ausdrückliche Regelung getroffen hat, beim Bund belassen. In Frage kommen z. B. die Eisenbahngesetzgebung 20, die 14 Aus der Tatsache, daß die Bundesverfassung in einzelnen Fällen den Gesetzesvollzug · der Eidgenossenschaft ausdrücklich überläßt, ließe sich nicht durch Umkehrschluß folgern, daß somit der Bund im übrigen die Verwaltungskompetenz nicht besitze, da die Begründung solcher ausdrücklicher Gesetzeskompetenzen in der Bundesverfassung auf , Zufälligkeilen beruht. 15 Auch darin zeigt sich, daß die Kantone nicht souverän sind. 18 Vgl. Sträuli: a .. a.O. S.26. u In den meisten Fällen sind Zweckmäßigkeitserwägungen und namentlich politische Rücksichten ebenfalls dafür maßgebend gewesen, ob schon bei der Erwähnung einer Materie in der BV die Kompetenz der Kantone zur Vollziehung der betr. Ausführungsgesetze des Bundes ausgesprochen worden i&t, oder ob man die Entscheidung darüber erst der Ausführungsgesetzgebung überlassen hat. Man vgl. z. B. einerseits BV Art. 20 (Militärverwaltung), Art. 40 (Maß und Gewicht), Art. ß9llis (Lebensmittelpolizei), andrerseits Art. 34 (Fabrikgesetzgebung) usf. 20 Art. 26 BV. Art. 1 ff. 35 des Eisenbahngesetzes von 1872.


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Bund und Kantone.

Bundesgesetzgebung über die Erfindungspatente 2 \ über Banken und Sparkassen 22 usw. In der Hauptsache wird jedoch der Vollzug dieser Bundesverwaltungsgesetzgebung den Kantonen übertragen 23 • 2. Neben der Gesetzesvollziehung im erwähnten Rahmen; · die gebundene oder relativ freie Verwaltung ist, steht dem .Bund ferner auch ein StUck absolut gesetzesfreier Verwaltung -im Sinne von verhaltensrechtlicher Ungebundenheit zu 24 • Und zwar handelt es sich dabei vorab um eigentliChe Regierungskompetenzen, .d."h. um solche Zuständigkeiten, die die Oberleitung des Staates betreffen 25• Dazu gehört vor allem die auswärtige Verwaltung im Sinne der Besorgung der auswärtigen Angelegenheiten und des ·Vertragsrechtes sowie des Schutzes der äußeren Sicherheit, der Unabhängigkeit und Neutralität des Landes 26• 27 und der politischen Fremdenausweisung 28 , sowie die Kompetenz der Eidgenossenschaft zu Maßregeln für die innere Sicherheit, für Ruhe _und Ordnung 29 • Als solche gesetzesfreie Verwaltung erscheint sodann z. B. die Oberaufsicht über Straßen und Brücken, an deren Erhaltung die Eidgenossenschaft ein Interesse hat 30, die Errichtung oder Subventionierung öffentlicher Werke_31 und höherer Unterrichtsanstalten 32 • 33 •- 34 • II. Im Gegensatz zur Vollziehung der Bundesverwaltungsgesetze ist die Anwendung der Justizgesetzgebung des Bundes im Sinne des Bundesprivatrechtes und des eidgenössis~hen Strafrechtes unter Vorbehalt der Fälle der Art. 110 und 112 BV sowie des Bundes21 BG ·hetr. die Erfindungspatente vom 21. Juni 1907, mit Abänderungen von 1926 u. 1928. 22 Art. 23 des BG über Banken und Sparkassen. 23 Vgl. unten S. 125 ff. 24 Unter Vorbehalt der Freiheitsrechte und des Völkerrechts in den auswärtigen Angelegenheiten. 25 Vgl. unten S. 522. 26 Art. 8 BV, 85 Ziff. 6 ff. BV. 27 Die Vorbereitung solcher .Maßnahmen ist aber Vollziehung der Militärgesetzgebung. 28 Art. 70 BV. 29 Art. 16 und 85 Ziff. 9 BV. so- Art. 37 Abs. 1 BV. 31 Art. 23 BV. 32 Art. 27 Abs. 1 BV. 33 Aus diesen Venvaltungskompetenzen des Bundes lassen sich vielfach stillschweigende formelle Gesetzgebungskompetenzen ableiten, vgl. oben s. 79f. 34 Es liegt in der Natur der Sache, daß diese Regierungskompetenzen unmittelbar derogatorische Kraft besitzen; vgl. oben S. 102.


§ 8. Die Kompetenzen d. Bunderirn Gebiete der.Verw. u. d. R'sprechung.

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.Verwaltungsstrafrechtes 35 und des Militärstrafrechts ganz den Kantonen · überlassen. Und zwar ·sind diese kantonalen Zuständigkeiten gleich den Gesetzgebungskompetenzen der Kantone in der Bundesverfassung negativ umschrieben 36 • Die Zivil.:. und Strafrechtspflege nebst der Organisation und dem Verfahren der Zivil- und Strafge.,. richtsbarkeit gehören somit zum eigenen vVirkungskreis der ·Kantone 37• Die ·Bundesverfassung hat auf. diesem Gebiete dem Bunde -lediglich die Befugnis eingeräumt, an der Spitze der kantonalen Gerichtsorganisation das Bundesgericht als oberste Reyisionsinstanz zum Zwecke der Sicherstellung einer einheitlichen Anwendung des eidgenössischen Privat- und Strafrechtes einzusetzen 38 • Mit Bezug auf die Anwendung des Bundesverwaltungsstrafrechtes und des Militärstrafrechtes ·schweigt sic_h hingegen die Bundesver~ fassung ·aus, so daß in der Bundeskompetenz zur Militärstrafgesetzgebung und zum Erlaß von Verwaltungsstrafnormen zweifellos, als Minus die stillschweigende Zuständigkeit der Eidgenossenschaft zur Militär- und Verwaltungsstrafrechtspflege enthalten ist. Infolgedessen besitzt auch hier der Bundesgesetzgeber die Möglichkeit, dieses Stück Strafrechtspflege beim. Bund zu belassen_ oder es den Kantonen zu übertragen. Das Bund~srecht hat nun die Rechtssprechung im Gebiete des . Bundesverwaltungsstrafre.c htes in weitgehendem Maße den Kantonen überwiesen 39 , während die l\tlilitärstrafgerichtsbarkeit bei der Eidgenossenschaft belassen wurde 40 • Was sodann die Rechtsprechung im Gebiete des Bundesverwaltungsrechts anbetrifft, so ist die oberste Stufe der Rechtsprechung in denjenigen Gebieten des eidgenössischen Verwaltungsrechtes, 35

Vgl. unten S. 107. Die ausdrückliche Erwähnung der kantonalen Zivil~ und Strafrechtspflege in den Art. 64 letzter Absatz und 64bis letzter Absatz BV ist nicht kompetenzbegründend (vgl. oben s·. 66 Anm. 4) , obwohl man beim Schwei gen der Bundesverfassung aus der Bundeskompetenz zur Kodifikation dts Privat- und Strafrechtes die ·stillschweigende Kompetenz der ·Eidgenossenschaft zur Vol:lziehung ihrer Justizgesetzgebung ableiten könnt~. Denn diese kantonalen Kompetenzen würden sich schon aus den Art.106 ff. BV sowie 3US einer historischen Auslegung des Art. 64 und 64bis BV ergehen. Die stillschweigenden Bundeskompetenzen dürfen eben nicht den Verfassungsvorschriften, aus denen sie abgeleitet werden, oder anderen Verfassungsbestimmungen widersprechen; _vgl. oben S. 77 f. 37 Vgl. oben S. 66; vgl. bundesgesetzliche Ausnahmen von diesem Prinzip unten S. 852 Anm. 51. 38 Vgl. Art. 114 BV. 39 Vgl. unten S. 843 ff. 40 Vgl. unten S. 64:5. 36


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Bund und

Kantone~

dessen Vollzug durch Verfassung oder Gesetz den Kantonen über- . tragen ist 41, von Verfassungs. wegen Bundessache und wird durch die Eidgenossenschaft ausgeübt 42 , während die Verwaltungsrechtsprechung in denjenigen Materien des Bundesverwaltungsrechts: dessen Vollzug dem Bunde obliegt, vo_n Verfassungs wegen selbstverständlich auf allen Stufen eine eidgenössische ist und durch Bundesorgane erfolgt 43 • Die untere Stufe der zuerst genannten Verwaltungsrechtsprechung hat der- Bundesgesetzgeber hingegen den Kantonen überlassen 44 • 45 • 46 • Bundesstaatliche Institutionen sind die Kompetenzgerichtsbarkeit mit Bezug auf Kompetenzkonflikte zwischen Bund und Kantonen oder zwischen Kantonen sowie die Verfassungsgerichtsbarkeit im Sinne eines Schutzes der verfassungsmäßigen Rechte des Einzelnen gegen die kantonale Gewalt, und können daher naturgemäß nur eidgenössische Gerichtsbarkeit sein 47 • 41

Vgl. unten S. 125 ff. Art. 114bis BV, Art. 102 Ziff. 2 BV, Art. 85 Ziff. 12 BV. Vgl. dazu Art. 102 und 125 OG 43 Vgl. Art. 103 BV. Die Streitigkeiten zwischen der Suval und ihren Versicherten sind aber in erster Instanz durch ·kantonale Gerichte zu beurteilen; vgl. Art. 121 KUVG. 44 So ist nach Art. 102 OG die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht und gemäß Art.125 OG die Verwaltungsbeschwerde an den Bundesrat nur gegen letztinstanzliehe kantonale Verfügungen zulässig. 45 Dementsprechend schreibt das Bundesrecht den Kantonen die Schaffung erstinstanzlieber Rekursinstanzen zur Beurteilung von Streitigkeiten; die in Anwendung von Bundesverwaltungsrecht durch die Kantone entstehen, vor; vgl. z~ B. Art. 12 des BG über den Militärpflichtersatz von 1878; Art. 69 des bundesrätlichen Wehrsteuerbeschlusses von 1940. 46 Ganz vereinzelt ist allerdings die Weiterziehung letztinstanzlieber kan.; tonaler- Entscheide in Anwendung von Bundesverwaltungsvorschriften an den Bundesrat ausgeschlossen; vgl. Art. 126, lit. b OG. 47 Art. 113 . BV ; vgl. unten S. 870 ff., 881 ff. 42


§ 9. Die Mitwirk. der Kantone an der Bildung des obersten Bundeswillens. 109

3. Abschnitt.

Der übertragene Wirkungskreis der Kantone

1 •

Aus den vorstehenden Erörterungen ergibt sich, worin der eigene Wirkungskreis der Kantone, der, wie oben bemerkt 2, alle in der Bundesverfassung negativ umschriebenen kantonalen Kompetenzen umfaßt, besteht. Zu diesem Wirkungskreis gehören in erster Linie djejenigen Angelegenheiten, in denen die Eidgenossenschaft überhaupt keine Kompetenzen besitzt. Hier können die Kantone im Rahmen des Bundesrechts alle funktionellen Kompetenzen, Gesetzgebung, Verwaltung, Rechtsprechung 3 nach freiem Ermessen ausüben, ohne Ermessenskontrolle durch den Bund 4• Zum eigenen Wirkungskreis der Kantone zählt außerdem eine funktionelle. Kompetenz auf einem Gebiet, in dem auch der Bund, zuständig ist, nämlich die Anwendung der Justizgesetze der Eidgenossenschaft im Sinne der Zivil- und Strafrechtspflege 5• Außer im eigenen Wirkungskreis werden aber die Kantone in weitem Maße auch als Bundesorgane im engeren Sinne tätig, indem sie an der Ausübung von Bundeskompetenzen mitwirken. Sie besitzen insofern einen umfassenden übertragenen Wirkungskreis. Ja dieser dehnt sich infolge der Zunahme der Bundeskompetenzen immer mehr auf Kosten des eigenen \Virkungskreises aus. B:und und Kantone wirken hier zusaminen an der Erfüllung von Bundesaufgaben. Diese J\fitwirkung der Kantone bei der Ausübung von Bundeskompetenzen besteht nun nach verschiedenen Richtmigen.

§ 9. Die Mitwirkung der Kantone an der Bildung

des obersten ·aundeswillens. Die Kantone haben zunächst gemäß der Bundesverfassung Anteil an der Bildung des obersten Bundeswillens, d. h. an der RechtsM. V e i t h : Der rechtliche Einfluß der Kantone auf die Bundesgewalt, Straßburger Diss. 1902; M es s m er: Föderalismus und Demokratie, Zürcher Diss. 1946. 2 Vgl. oben S. 66. 3 Als Rechtsprechung kommt hier nur Verwaltungsrechtsprechung sowie die Anwendung des kantonalen Übertretungsstrafrechtes in Frage. 4 Wie bei der Gemeindeautonomie. Vgl~ über das Wesen der Gemeindeautonomie G i a c o m e t t i: Staatsrecht der Kantone, S. 75. 5 Vgl. oben S. 107. 1


110

Bund. und Kan:toue.

setzung des Bundes und an der Bestellung des Bundesparlamentes 1• Diese kantonale Mitwirkung ist durch historische Gründe und politische Erwägungen bedingt 2• Die besagte Stellung der Kantone als Faktoren der eidgenössischen Rechtssetzung neben den Stimmberechtigten; der Bundesversammlung und. dem Bundesrat ist denn auch von ·großer politischer Bedeutung. Auf Grund einer solchen J\1itwirkung können die Kantone einen direkten Einfluß 3 auf die Bundesgewalt- ausüben 4 und darin einen gewissen Ausgleich für den Verlust ihrer Staatlichkeil ·finden. Die Beteiligung der Kantone an der Bildung des obersten Bundeswillens bedeutet ferner auch die Garantie eines gewissen Gleichgewichtes zwischen den Kantonen. Die formelle Ausgestaltung dieser kantonalen Befugnisse ist verschieden. Bei -einzelnen von ihnen bestimmt das Bundesrecht das kantonale Organ, das den Willen des Kantons bilden soll, bei anderen nicht. Einige dieser "Zuständigkeiten können sodann nur durch mehrere Kantone zusammen ausgeübt werden, während andere durch den einzelnen Kanton zur Geltung: zu bringen sind. Nach anderen Richtungen wiederum sind alle -Kantone obligatorisch bzw. automatisch an der Bildung des-Bundeswillens beteiligt. I. Der Antei~ der Kantone an der Rechtssetzu~g des Bundes ist folgender: 1.. Die Kantone wirken in allererster Linie bei der Verfassungsgesetzgebung der Eidgenossenschaft miL Und zwar sind sie am let~ten Stadium der Verfassungsgesetzgebung, nämlich an der Volksabstimmung über Revisionen der.· Bundesverfassung beteiligt. In der Verfassungsgesetzgebung des Bundes ist somit das föderalistische Prinzip neben dem Grundsatz der Volkssouveränität gewahrt. Es besteht hier das obligatorische Doppelreferendum. Eine Abänderung der Bundesverfassung im Sinne einer Total- oder Partialrevision 5 kommt nur dann zustande, wenn die betreff enden Vorschriften von 1

Man kann aber nicht von politischen Rechten der Kantone im Sinne von subjektiven Rechten sprechen, wie es vielfach geschieht. Es liegen nur Organkompetenzen, d. h~ objektive Normen im Sinne von Ermächtigungen oder Pflichten der Kantone, das ist aber der zur Ausübung dieser Aufgaben zuständigen kantonalen Organträger, vor. Vgl. G i a c o m e t t i: Das Staatsrecht der Kantone, S. 182. 2 Vgl. Vei t h: a. a. 0. S. 72 sowie oben S. 48. 3 Neben dem indirekten Einfluß durch das Mittel ihrer Stimmberechtigten. 4 _ ~Darum. nennt Ve i t h diese Kompetenzen geradezu Einflußrechte _·der Kantone. · 5 Vgl. unten S. 703 ff.


§ 9. Die Mitwirk. der Kantone an der Bildung des obersten Bundeswillens. l l l

der Mehrheit der an der Abstimmung .teilnehmenden Bürger und von der Mehrheit der Kantone angenommen werden 6• Eine Volksmehrheit vermag somit ihren ·Willen gegen eine Mehrheit · der Stände nicht durchzusetzen~ Die Kantone sind daher notwendige Organe der Verfassungsgesetzgebung des · Bundes. Das ist das wichtigste Stück der . Mitwirkung der Kantone an der Bundesgesetzgebung und zugleich auch, wie oben bereits gesehen 7, das wesentliche Merkmal des bundesstaatliehen Charakters der Eidgenossenschaft; indem eben der eigene Wirkungskreis der Kantone ohne Zustimmung der Mehrheit der Stände keine Schmälerung erfahren darf, und überdies ·die Existenz des einzelnen Kantons durch die Mehrheit der Stände gesichert wird 8• Die Kantone können aber bei den eidgenössischen Verfassungsabstimmungen keine besondere Standesstimme abgeben. Als Standesstimme gilt vielmehr das Ergebnis der Volksabstimmung im betreffenden . Kanton, wie es nach Maßgabe der einschlägigen Bundesgesetzgebung festgestellt worden ist 9• 10, wobei die St~mme eines Halbkantons als halb~ Stimme gezählt wird 11 • Das Resultat der · Volksabstimmung jedes Kantons wird also bei Verfassungsabstimmungen doppelt berücksichtigt: Es liefert die Ständestimme und eine· Ziffer zu dem Abstimmungsergebnis des Gesamtvolkes 12• Die 6

Art. 123 Abs. 1 BV; vgl. unten S. 715·, 718 ff. Vgl. oben S. 4 7 f. 8 Während die Existenz der Kantone als Institutionen und damit die föderalistische ·Struktur des Landes durch die Revisionsvorschriften der Bundesverfassung, die eine absolute rechtliche Schranke gegen die Beseitigung der Kantone darstellen, sichergestellt ist; vgl. unten S. 705 f. 9 Vgl. unten S. 715. 10 Das kantonale Recht darf nicht vorschreiben, wie das Volk die Standesstimme abgeben soll; vgl. die letzte Anmerkung. 11 Die halben Stimmen kommen in der Weise zur Geltung, daß in dem Schlußergebnis z. B. drei halbe Stimmen als eine ganze und eine halbe Standesstimme gezählt werden. Die Mehrheit der Staudesstimmen beträgt 80mit 22:2 +% == 11%; BBl 1893 IV, 399 ff. AS 13, 1020. )3Bl 1920 III, 791 (Völkerbundsabstimmung). B ur c k h a r d t : Kommentar S. 820. S c h o l 1 e n b er g er : Bundesstaatsrecht S. 169. R a u s t ein : Halbkantone S. 135. Unter der Bundesverfassung von 1848 ·kannte man hingegen keine selbständigen halben Stimmen. Die drei zusammengesetzten Kantone Basel, Unterwalden und Appenzell kamen beim Ständevotum nur dann in Betracht, wenn beide Halbkantone in gleichem Sinne entschieden. Ebenso kam auf der Tagsatzung unter dem Bundesvertrag von 1815 die Stimme des zusammengesetzten Kantons nur im Falle der Einigung der beiden Halbkantone zustande. Vgl. V e it h: a. a. 0. S. 135 ff. 12 . Unter der Herrschaft der BV von 1848 bezeichneten die Kantone das 7


112

Bund und Kantone.

Standesstimme wird somit automatisch durch die Volksabstimmung im betreffenden Kanton gebildet. Eine in einer Mehrheit der Stände verkörperte Minderheit des Volkes kann daher, da jede Standesstimme gleicht wiegt 13 , eine Verfassungsvorlage gegen den \Villen der Volksmehrheit zum Scheitern bringen 14 • Insofern steht der Grundsatz der Gleichheit der Standesstimmen, die durch ganz verschieden große Volksmehrheiten gebildet werden, in einer Spannung zum demokratischen Prinzip, wonach die Volksn1ehrheit entscheidet. Der Grundsatz der Gleichheit der Standesstimmen steht aber außerdem auch im Gegensatz zum Prinzip der Gleichheit der Bürger, da bei Verfassungsabstimmungen die Stimme des Bürgers in kleinen Kantonen eine viel größere Kraft besitzt als in größeren 15• Andererseits ist aber das föderalistische Prinzip bei der Verfassungsgesetzgebung nicht im seihen 1\Iaße verwirklicht wie dasjenige der Volkssouveränität, indem neben der Volksinitiative kein Initiativrecht der Kantone auf Revision der Bundesverfassung besteht 16. Ebensowenig sind die Kantone an den Abstimmungen über Organ frei, das die Standesstimm-e abzugeben hatte, Vgl. darüber V e i t h : a. a. 0. S. 124 f. Noch im BG vom 31. Januar 1874 betr. Revision der BV von 1848 (AS XI, 512) war bestimmt (Art. 8, Abs. 2}: "Es bleibt den kantonalen Oberbehörden unbenommen, einfach das Ergebnis der eidgenössischen Abstimmung im Kanton als Votum desselben zu erklären,'' Das ist auch in der Tat in 19 Kantonen und Halbkantonen geschehen. In den anderen dagegen wurde eine besondere Standesstimme abgegeben~ entweder durch die Landsgemeinde (Uri, Nidwalden, Glarus), oder durch den Großen Rat (Tessin), oder durch eine besondere Abstimmung, für welche der Kanton den Kreis der Stimmberechtigten umschrieb (Graubünden und Genf); BBl 1874 I, 699 f., besonders 706-708. 13 Vgl. oben S. 64. 14 In der R~visionsabstimmung vom 14. Januar 1866 sprachen sich fiir den von der BVers. revidierten Art. 37 der BV ("Die Festsetzung von Maß und Gewicht ist Bundessache") 159 202 Bürger (gegen 156 396) und 91 ~ Stände (gegen 12~ Stände) aus; der Artikel war somit abgelehnt. BB11866 I, 117. - Die Voten der Stände und des Gesamtvolkes sind auch in der Abstimmung vom 23. Oktober 1910 über das Initiativbegehren betr. Proportionalwahl des Nationalrates auseinandergegangen. Das Initiativbegehren wurde vom Volke mit 265 194 gegen 240 305 Stimmen verworfen, aber von 12 Ständestimmen (gegen 10) angenommen. Das Begehren war somit verworfen. BB11910 V, 425f.; vgl. auch Burckhardt, Kommentar S.ß20. 15 Vgl. Messmer: a.a.O. S.217. 16 Bestrebungen im Sinne der Einräumung eines Verfassungsinitiativrechtes an die Kantone führten weder im Jahre 1848 noch in den Jahren 1874 und 1891 zum Ziele. Vgl. V e i t h: a. a. 0. S. 120, Anm. 2 und 5.


§ 9.· Die Mitwirk. der Kantone an der Bildung des obeqten Bundeswillens. 113

nicht formulierte Volksinitiativen auf Partialrevision und über Volksinitiativen auf Totalrevision der Bundesverfassung 17 beteiligt. 2. Jeder Kanton und jeder Halbkantou 18 hat sodann die Befugnis, durch schriftliche Eingaben 19 der Bundesversammlung Anträge zu unterbreiten 20 • Diese Anträge dürfen sich auf jede 1\faterie beziehen, die in den Kompetenzbereich der Bundesversammlung fällt 21 • Der Kanton kann also in erster Linie den Erlaß eines Gesetzes oder eine Verfassungsrevision beantragen bzw. einen fertigen diesbezüglichen Entwurf vorlegen. Die Bundesversammlung ist verpflichtet: einen solchen Antrag in Beratung zu ziehen und zu be~chließen, ob ihm Folge gegeben werden soll. Dem Kanton steht hier somit dasselbe Initiativbegehrensrecht zu, das der Bundesrat und die beiden Abteilungen der Bundesversammlung besitzen 22• Diese kantonale Zuständigkeit stellt eine Reminiszenz an den Staatenbund vor 1848 dar, in dem jeder Kanton an der Tagsatzung Anträge einbringen konnte 23• In der Ausübung der erwäl1nten Kompetenz sind die Kantone ganz frei. So bestimmt das kantonale Recht das Organ, das diese · Zuständigkeit zur Geltung zu bringen hat. Die meisten Kantone haben den Großen Rat damit betraut, unter dem Vorbehalt des fakultativen Referendums, falls ein solcher Beschluß dem Referendum unterstellt werden kann ~. In einigen Kantonen darf neben dem Großen Rat auch das Volk 25 bzw. die Regierung 26 diese Befugnis 17

Vgl. unten S. 711, 727. W. R aus t ein : Die schweizerischen Halbkantone, Zürcher Diss. 1912, s. 135. 19 Der Kanton darf seinen Antrag in der Bundesversammlung nicht mündlich darlegen lassen. 2 (} Art. 93, Abs. 2 BV. 21 Vgl. unten § 53. 22 Vgl. unten S. 54 7 f. 23 Vgl. His: Geschichte des neueren Schweizerischen Staatsrechtes Bd 2 S.l73. 24 Vgl. G i a c o m e t t i: a. a. 0. S. 334 Anm. 74. 25 Indem eine bestimmte Anzahl von Stimmberechtigten das Begehren um eine Volksabstimmung über diese Frage stellen können; vgl. z. B. Art. 38 der Luzerner Verfassung. Neben dem Großen Rate steht z. B. dem Volke ein direktes Vorschlagsrecht auch in Zürich zu (KV Art. 35: "Das in Art. 93 der BV den Ständen eingeräumte Vorschlagsrecht (Initiative) kann sowohl durch den, Kantonsrat, als auf dem Wege des Volksbeschlusses ausgeübt werden"), ebenso in Zug~ Solothurn, Schaffhausen und Thurgau. Aber auch in diesen Kantonen hat der Regierungsrat die Cbermittlung des Antrags an die Bundesversammlung· zu besorgen. 26 Ein selbständiges Vorschlagsrecht besitzt der Regierungsrat (Kleiner 18

9 Fleiner I Giacometti, Bundesstaatsrecht.


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Bund und Kantone.

ausüben. Von dieser Antragskompetenz haben .die Kantone bis heute keinen sehr ausgiebigen Gebrauch gemacht 27• 3. Ferner können acht Kantone ein devolutives Vetarecht bezüglich der Bundesgesetze, der allgemein verbindlichen nicht dringlichen Bundesbeschlüsse sowie der Staatsverträge mit dem Auslande, die unbefristet oder für die Dauer von mehr als fünfzehn Jahren abgeschlossen werden, ausüben 28 • Wenn nämlich acht Kantone verlangen, daß ein von der Bundesversammlung erlassenes einfaches Bundesgesetz ·oder ein allgemein verbindlicher Bundesbeschluß nicht dringlicher Natur bzw. ein Staatsvertrag der oberi erwähnten Art dem Referendum, d. h. der Volksabstimmung unterbreitet werde, so muß der Bundesrat diesem Antrag entsprechen 29 • 30 • :n. Bei der GelRat) neben dem Großen Rat in den Kantonen St. Gallen (KV Art. 67} und Graubünden (KV Art. 36). Nähere Nachweisungen siehe bei V e it h: Einfluß der Kantone S. 98-100. 27 Aus der Praxis seien folgende Fälle angeführt: a) Anträge der Kantone Zürich u. Solothurn (1877) betr. Militärpflichtersatz. S a 1 i s 111, Nr. 1264.b} Antrag des Kantons Neuenburg (1880} betr. Militärpflichtersatz. S a 1 i s III, Nr. 1264, S. 558. - c) Initiativantrag der Großen Räte von Schaffhausen · und Aargau im Jahre 1890 auf Abanderung des Art. 64 der BV zum Zwecke der Vereinheitlichung des Strafrechts. BBl 1890, II, 875; Verb. der BVers. 1890, Juni, Nr. 238; BBl 1896 IV, 733. - d) Initiativantrag des Großen Rats des Kantons Tessin im Jahre 1902 auf Abänderung der Art. 142 und 329 des SchKG. BBI 1902, I, 732; 1903, I, 550. - e) Initiativantrag des zürcherischen Kantonsrats vom Jahre 1904 a1if Einführung der Gesetzesinitiative im Bund. BBl 1906, III, l. Verb. der BVers. 1907 Juni Nr. 3; siehe unten S. 444; f) Initiative der Kantone Waadt, Genf, Neuenburg betr. Protestkundgebung gegen die Deportationen französischer und belgiseher Staatsangehöriger, 1917. Vgl. dazu Bur c k h a r d t, Kommentar S. 720. g) Antrag des Großen Rates von Genf aus dem Jahre 1919 auf vollständige Aufhebung der Kriegsvollmachten, Bur c k h a r d t :. Bundesrecht II S. 812. h) Initiative des Kantons Genf von 1946 betr. die Revision der Militärversicherung; BBI 1946 JII 882. i) Initiativen der Kantone Schwyz und Luzern von 1944 betr. Alters- und Hinterlassenenversicherung. BBl 1947 I 1073. 28 Vgl. darüber unten S. 753 u. 822. 29 Art. 89, Abs. 3 BV. 3 () D u b s : Öffentliches Recht der Schweiz II S. 182 gibt folgende Erklärung dafür, daß es acht Kantone sein müssen: Der Sonderbund (184 7) habe aus sieben Kantonen bestanden; diese Gruppe bilde auch noch in der Gegenwart einen engeren politischen Kreis. Deshalb habe die BV bestimmt, daß wenigstens noch ein Element aus einem anderen. Kreis mitwirken müsse. 31 Maßgebend ist auch für das von den Kantonen anbegehrte Referendum das BG betreffend Volksabstimmung über Bundesgesetze und Bundesbeschlüsse vom 17. Juni 1874. AS 1, 116. Es gilt also namentlich die Vor-


§ 9. Die Mitwirk. der Kantone an der Bildung des obersten Bundeswillens. 115

tendmachung dieser Kompetenz wird die Stimme eines Halbkantons nur als halbe Stimme gezählt. In der Ausübung_der erwähnten Zu., ständigkeit sind jedoch die Kantone nicht so frei wie im Falle ihres Vorschlagsrechtes. Das Begehren auf eine Referendumsabstimmung ist nämlich von Bundesgesetzes wegen von den Großen Räten der Kantone zu stellen 32 ; doch kann das kantonale Recht dem Volke die Abänderung solcher großrätlicher Schlußnahmen vorbehalten, d.h. das fakultative Referendum gegen derartige Beschlüsse der Legis:. lative vorsehen 33 • 34 • 85 • Obwohl die Kantone das Referendum gegen Bundesgesetze, allgemein -verbindliche Bundesbeschlüsse und Staatsverträge verlangen schrift des Art. 4, demzufolge -das Verlangen innert 90 Tagen, vom Tage der Veröffentlichung des Bundesgesetzes an gerechnet, gestellt werden muß. 32 Art. 6 des Referendumsgesetzes; die Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift ergibt sich aus Art. 90 BV. Vgl. V e i t h: a. a. 0. S. 109. 33 Nicht das obligatorische Referendum, da damit die Schlußnahme selber und nicht nur deren Abänderung dem Volke vorbehalten wäre·, indem der Große Rat im Falle des obligatorischen Referendums nur vorbereitende Instanz wäre; vgl. G i a c o m e t t i : Das Staatsrecht der Kantone S. 438. Wenn dies der Sinn des Art. 6 des Referendumsgesetzes wäre, so hätte Art. 6 diese Schlußnahme wohl -d em Gesetzgeber und nicht dem Großen Rate vorbehalten. Anderer Ansicht: V e i t h: a. a. 0. S. 111. 34 So sieht Zurich das fakultative Referendum vor. Vgl. das Verfassungsgesetz von 1877~ Ein solches Referendum braucht aber nicht ausdrücklich vorgesehen zu sein; es besteht auch in den Fällen, in welchen der Großrats-beschluß über die Ausübung dieser kantonalen Kompetenz gemäß Art. 89 BV als allgemeinverbindlich und nicht dringlich erklärt werden sollte, insofern eben der allgemeinverbindliche und nicht dringliche Großratsbeschluß der fakultativen Volksabstimmung unterliegt; vgl. V e i t h: a. a. 0. S. 95 ff., 113. Ebenso könnte das Referendum bezüglich solcher Großratsbeschlüsse dort in Frage kommen, wo auch _nicht allgemeinverbindliche Großratsbeschlüsse dem fakulbitiven Referendum unterstehen (vgl. solche Fälle bei Giacometti: a.a.O. S.476, 481). Die soeben genannten beiden Möglichkeiten des Referendums gelten aber nur unter dem Vorbehalt, daß die Kantonsverfassung das Referendum bei der Geltendmachung des kantonalen Vetorechts nicht ausdrücklich ausschließt, wie dies z. B. in Uri KV 59 lit. d, Glarus KV 44 Ziff. 4, Baselstadt KV 39 lit. a der Fall ist. 35 Nichtig, weil im Widerspruch zu Art. 6 des eidgenössischen Referendumsgesetzes stehend, sind die Verfassungsvorschriften von Luzern, Zug; Solothurn und Graubünden, wonach die kantonale Kompetenz gemäß Art. 89 BV auch direkt vom Volke auf dem Wege der Volksinitiative bzw. vorn Regierungsrat (so in Graubünden) ausgeübt werden kann. Dasselbe gilt von Art. 23 und 42 der Schaffhauser Kantonsverfassung, die hierfür das obligatorische Referendum vorsieht. Vgl. V e i t h: a. a. 0. S. 114. G i a c o" rn e tt i : a. a. 0. S. 334.


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können, sind sie aber an solchen Referendumsabstimmungen nicht beteiligt, indem bei der Ermittlung des Abstimmungsergebnisses die Standesstimmen nicht in Betracht gezogen werden; die Mehrheit der stimmenden Bürger gibt allein den Ausschlag. Bei Gesetzesabstimmungen gilt somit np.r das Volkssouveränitätsprinzip, während das föderalistische Prinzip keine -Berücksichtigung findet 36• ~ 7 • Dies mag als folgewidrig erscheinen, war aber politisch erforderlich, da das Ständevotum wohl eine zu große Schwächung des Bundes nach sich gezogen hätte. Von dieser Kompetenz auf Ergreifung des Gesetzesreferendums haben die Kantone bis heute noch nie Gebrauch gemacht. Praktische Gründe sind hiefür maßgebend 38 . - Insofern kann man · sagen, daJ3 sich das föderalistische Prinzip im Gesetzesreferendum überhaupt nicht auswirkt. 4. Eine weitere, wenn auch nur indirekte Beteiligung der Kantone an der Bundesgesetzgebung besteht sodann darin, daß fünf Kantone eine außerordentliche Einberufung der Bundesversammlung verlangen können 39 • Diese kantonale Zuständigkeit bildet eine Reminiszenz ·an · den Staatenbund unter der Herrschaft des Bundesvertrages von 1815, wonach die Tagsatzung auf Begehren von fünf Kantonen außerordentlicherweise einberufen werden mußte 40 • Die Stimme. eines Halbkantons wird auch hier nur als "halbe Stimme gezählt 41 • In der Ausübung dieser Kompetenz sind die Kantone ganz frei, d. h. das kantonale Recht bestimmt, welches kantonale Organ beim Bundesrat ein solches Begehren auf Einberufung der Bundesversammlung stellen kann 42 • Die meisten Kantone haben die Gel36

Art. 89 BV und Art. 4 des Referendumsgesetzes; vgl. unten S. 756. Anläßlich der Totalrevision der Bundesverfassung im Jahre 1874 bestand eine föderalistische Stromung für ein Ständevotum bei Volksabstimmungeil über Bundesgesetze. Diese Tendenz auf Einführung des Doppelreferendums in Gesetzesmaterien konnte sich aber nicht durchsetzen. VgJ. B 1 um er- More I : a. a. 0. III S. 12 ff. Cu r t i: Geschichte der schweizerischen Demokratie, S. 289. 38 Indem eher 30 000 Stimmberechtigte als 8 Kantone zusammenzubringen sind. 39 Art. 86, Abs. 2 BV. 40 Art. 8 des Bundesvertrages von 1815. 41 Vgl. Raustein: a. a. 0. S. 135 f.; vgl. oben S. 49. 42 Das Begehren _ist dem Bundesrat einzureichen, denn dieser erläßt die Einladungsschreiben an die Mitglieder der Bundesversammlung für die Sessionen; Art. 18 des Geschäftsverkehrsgesetzes; vgl. unten S. 544. 37


§ 9. Die Mitwirk. der Kantone an der Bildung des obersten Bundeswillens. ll i

teridmachung dieser Befugnis dem Großen Rat übertragen unter Vorbehalt des fakultativen Referendums, falls ein solcher Beschluß dem fakultativen Referendum unterstellt werden kann 43 ; einzelne Kantone räumen daneben dieses Recht auch direkt den Stimmberechtigten ein 44 • 45 • Zu welchem Zweck die Einberufung erfolgt, ist rechtlich bedeutungslos 46 • Die Kantone haben auch von dieser Kompetenz bis heute nie Gebrauch gemacht. Il. Die Beteiligung der Kantone ap. der Bestellung des Bundesparlamentes besteht darin, .daß . sie Kreationsorgaue des Bundes sin_d für die Bildung der einen parlamentarischen Kammer "der Eidge~ nossenschaft, nämlich des Ständerates. Gemäß Art. 80 BV hat jeder Kanton zwei Abgeordnete und der Halbkanton einen Vertreter in den Ständerat zu entsenden. Dabei sind die Kantone in der Bestimmung des Organes, welches die beiden Ständevertreter zu wählen hat, und der wählbaren Personen sowie in der Regelung des Wahlverfahrens und der Amtsdauer frei. Daher gelten die Ständeratswahlen als kantonale Wahlen, obwohl der Ständerat selber kein kantonales Organ. sondern eine parlamentarische Kammer des Bundes ist 47 ~ Mit dem erfolgten Wahlakt ist die Kompetenz der Kantone erschöpft, da die Mitglieder des Ständerates, gleich denjenigen des Nationalrates, ohne Instruktionen stin1men 48 • Die Beeinflussung des Bundes durch die Kantone ist somit hier im Gegensatz zum Falle der kantonalen. Beteiligung an der eidgenössischen Rechtssetzung nur indirekt. Auch hier besteht im Falle der Volkswahl der Ständevertreter ~ 9 eine Diskrepanz zwischen dem Grundsatz der Gleichheit der Kantone und dem Prinzip der. Gleichheit der Bürger, indem jedes Kantonsvolk 43

~Wie

z. B. in Zürich KV 30, Baselstadt KV 29. Vgl. z. B. Luzern KV 38, Zug KV 33, Solothurn KV 19, Schaffhausen KV 24. 45 Einzelne Kanton~ (z. B. Graub\!nden) erwähnen in ihrer Gesetzgebung dieses Recht gar nicht. Vgl. dazu V e i t h :. a. a. 0. S. 89 ff. 46 In der Vorschrift, derzufolge die Kantone, nicht aber die. Mitglieder des Ständerates eine außerordentliche Einberufung der Bundesversammlung anbegehren können, klingt die alte Auffassung nach, die. in.· den Ständeratsmitgliedern die. Nachfolger der Tagsatzungsgesandten, d .. h. der Vertreter der kantonalen Regierungen erblickt. An die. Stelle der Ständeräte treten somit in diesem Falle die Kantone selbst. 47 Vgl. darüber unten S. 477 f. 4.S Art. 91 BV; vgl. unten S. 478. 49 Vgl. unten S. 504 f. 44


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Bund und Kantone.

ohne Rücksicht auf seine Größe die gleich starke politische Vertretung im Ständerat besitzt. Eine, wenn auch nur mittelbare Berücksichtigung finden weiter die Kantone auch bei der Bestellung des Nationalrates und des Bundesrates, indem sie Nationalratswahlkreise sind 50 , wenigstens einen Vertreter in den Nationalrat entsenden 51, und aus dem nämlichen Kanton nicht mehr als ein Mitglied im Bundesrat sitzen darf 52•

§

10. Die Gesetzesdelegation des Bundes an die Kantone.

Die Kantone werden ferner durch den Bundesgesetzgeber und Bundesverordnungsberechtigten zur Rechtssetzung im Kompetenzbereich der Eidgenossenschaft herangezogen. Dies geschieht dadurch, daß die Bundeslegislative oder der Verordnungs}?erechtigte ihnen Rechtssetz.ungsko.mpetenzen zur Ausübung im Einzelfall delegiert, wenn die Regelung einer bestimmten Frage aus Zweckmäßigkeitsgründen durch die Kantone erfolgen oder die Vollziehbarkeit einzelner Bundesnormen vmn . Kanton abhängig gemacht werden soll. Dalllit begibt sich der Bund selbstverständlich nicht seiner Rechtssetzungskompetenzen, die ja nur auf dem Wege der Verfassungsrevision vernichtet werden können 1• I. Die Bundesgesetze, die die kantonale Rechtssetzungskompetenz in den Materien, die sie regeln, vernichtet haben 1\ räumen vielfach den Kantonen die Zuständigkeit zum Erlaß von ergänzenden. materiellen Vorschriften, die Lücken der Bundesgesetzgebung ausfüllen sollen, ein. Das war im Bundesrecht von jeher der Fall. Auf diese vV eise sollen die örtlich verschiedenen Verhältnisse bei der Ausgestaltung des Bundesrechts ange1nessene Berücksichtigung finden. Man bezeichnet solche Gesetzesdelegationen an die Kantone als 50

Art. 73 BV; vgl. unten S. 492. Auch diese Tatsache bewirkt daher einen Gegensatz zwischen dem Prinzip der Gleichheit d2r Kantone und dem Grundsatz der Gleichheit der . Bürger, indem die Stimmkraft der Stimmberechtigten bei den Nationalratswahlen in größeren Kantonen entsprechend größ~r ist als in kleineren. Der Grundsatz der Gleichheit der Kantone wirkt sich aber hier ausnahmsweise zu Ungunsten der Stimmberechtigten der kleinen Kantone aus. 51 Art. 73 BV; vgl. unten S. 481. 52 ' Art. 96 BV; vgl. unten S. 572. 1 Vgl. oben S. 70. ta Vgl. oben S. 101.


§ 10. Die Gesetzesdelegation des Bundes an die Kantone.

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eigentliche Vorbehalte des ergänzenden kantonalen Rechts 2 • 3• 4 • Solche Vorbehalte des ergänzenden kantonalen Rechts müssen jedoch, da damit auf dem Wege der Bundesgesetzgebung oder Bundesverordnung kantonale RechtssetzungskompetenzE:m begründet werden, d. h. eine gesetzliche Verschiebung der Kompetenzgrenzen zwischen Bund und Kantonen stattfindet, in der Bundesgesetzgebung ausdrücklich vorgesehen sein, oder sich ganz klar aus deren 'Vortlaut ergeben 5• Es gibt keine stillschweigenden Gesetzesdelegationen 6• Diese Vorbehalte können fakultativ oder obligatorisch sein, d. h. die Bedeutung von Ermächtigungen oder Verpflichtungen für die Kantone zum Erlaß ergänzender Normen hab.en 7• 8• Dabei hat ein verpflichtender Vorbehalt meistens den Sinn, daß die beVgl z. B. Art. 5, Abs. 1 ZGB. Im Gegensatz zu uneigentlichen, unechten Vorbehalten des kantonalen Rechts in Bundesgesetzen, die die verfassungsmäßige Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Kantonen für bestimmte Materien wiederholen, also nur deklaratorische Bedeutung haben, wie z. B. Art. 6 ZGB, wonach die Kantone in ihren öffentlichrechtlichen Befugnissen durch das Bundeszivilrecht nicht beschränkt werden. Einen uneigentlichen Vorbehalt enthält z. B. auch Art. 1, Abs. 3 des BG über die -privaten Versicherungsunternehmungen von 1885 (vgl. dazu Bur c k h a r d t : Bundesrecht II Nr. 963 I). 4 Eine große Rolle spielen diese Vorbehalte vorab im Zivilgesetzbuch. Vgl. die nächsten Anmerkungen. 5 Vgl. BGer 53 I, 317; vgl. z. B. Art. 400, Abs. 2 StGB; Art. 5 ZGB; Art. 364, Abs. 2 der eidg. Lebensmittelverordnung. 6 Darum kann es sich hier nicht um Auslegungsfragen handeln, wie E g g er : Kommentar zum Personenrecht, S. 94, und S t r ä u I i : a. a. 0. S. 190 f. meinen. Unrichtig auch Verwaltungsentscheide, Heft 9 Nr. 50, wo stillschweigende Vorbehalte unter Umständen als genügend angesehen werden. Hier handelte es sich aber um die Frage, ob das Tuberkulosegesetz eine vollständige Regelung der Materie enthalte, oder ob die kantonale Kompetenz in diesem Umfange weiterbesteht, was Auslegungsfrage ist, vgl. oben S. 99, und nicht um die Frage, ob das Bundesrecht einen Vorbehalt enthalte; die beiden Fragen sind auseinanderzuhalten. Vorbehalte kommen begrifflich nur für Gebiete in Frage, die vom betreffenden Bundesrecht erfaßt werden; andernfalls besteht noch die kantonale Kompetenz von Bundesverfassungs wegen zu Recht. 7 Auch in einer solchen Pflicht der Kantone zur Rechtssetzun:g zeigt sich das Fehlen einer kantonalen Souveränität. 8 Ein fakultativer Vorbehalt ist z_ B. Art. 2 des KUVG, der die Kantone zur Einführung des Obligatoriums der Krankenversicherung ermächtigt. Ein obligatorischer Vorbehalt bildet hingegen Art. 22 KUVG, wonach die Kan· tone die Tarife der ärztlichen Leistungen und der Arzneien festzusetzen haben, sowi,e Art. 664 Abs. 3 ZGB, wonach das kantonale Recht die erforderlichen Bestimmungen über die Aneignung herrenlosen Landes, die Ausbeutung und- den Gemeingebrauch der öffentlichen Sachen aufstellt. 2

3


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B:und und Kantone.

treffende 1\faterie ausschließlich durch das ergänzende kantonale Recht zu ordnen ist~. während die Ermächtigungen an die Kantone auch die Bedeutung haben können, daß nui.n es bei ·Nichtgehrauch der Ermächtigung bei den Bestimmungen des Bundesrechts bewenden lassen so11 10 • 11 • Der Umfang dieser Vorbehalte· ergänzenden kantonalen Rechts kann sehr verschieden sein. Die ergänzenden kantonalen Vorschriften sind mitunter auf die Regelung ganz bestimmter Rechtsfragen 12 bzw. auf die Ergänzung eines bundes~ rechtlichen Grundsatzes beschränkt 13, oder sie betreffen die Ergäü~ zung bestimmter Rechtsinstitute 14 • Die Kantone können aber auch :Zur Erweiterung eines Bundesgesetzes schlechthin 15 , oder einzelner Gesetzesbestimmungen 16, bz'\v. zur ausschließlichen Regelung von Teilgebieten einer :Materie, die Gegenstand der Bundesgesetzgebung ist, angewiesen werden usw. 17• 9

Vgl. z. B. Art. 22 und 25 KUVG, Art. 425 ZGB. (Die Kantone haben Bestimmungen aufzustellen über die Anlage und Verwahrung des Mündelsvermögens.) 10 ' Vgl. S t r äu I i: S. 199f.; so z. B. im Falle des Art. 2 · KUVG, des Art. 349, 685, 694, _705 ZGB. 11 Beispiele, bei denen der Kanton auf Grund des fakultativen Vorbehaltes einen Gegenstand ausschließlich regeln darf, bilden Art. 59 Abs. 1 und 3 sowie Art. 664,697 ZGB, Art. 362 OR (öffentliche Beamte)·, Art. 2 des Lotteriegesetzes. 12 Vgl. z. B. Art. 697 ZGB (das kantonale Recht bleibt bezüglich der Pflicht und der- Art· der Einfriedigung eines Grundstückes· vorbehalten). 13 Vgl. z. B. Art. 349 ZGB (Heimstätten), Art. 686 Abs. 1 ZGB, Art. 1 BG über die öffentlichrechtlichen Folgen der fruchtlosen Pfändung und des Konkurses von 1920. 14 . Vgl. z. B. Art. 425, · 4 72 ZGB (Ausdehnung des ·Pflichtteiles der Geschwister auf die Nachkommen), Art. 705, 915 ZGB (Versatzpfand). 15 Vgl. z. B. Art. 29 BG über Jagd und Vogelschutz von 1925; vgl: dazu BGer 54 I 366; Ru r c k li a r d t III Nr. 1044 111; Verwaltungsentscheide Heft 9 Nr. 45; Art 8 BG über den Handel mit Gold und Silberabfällen von 1886. 16 Art. 609 Abs. 2, 686 Abs. 2 ZGB. 17 Vgl. darüber S t r ä u I i: a. 0. S. 198 f. VgL z~ B. Art. 335 StGB (Vorbehalt ·des Übertretungsstrafrechtes, soweit es nicht Gegenstand der Bundesgesetzgebung ist, sowie gewisser Gebiete des Verwaltungsstrafrechtes, des Prozeß- und Steuerstrafrechtes, wenn es sich ·um den Schutz kantonaler Normen handelt). Vgl. H a f t e r : Das eidgenössische Strafrecht und die Vorbehalte- zugunsten der Kantone, Referat am Schweiz. Juristentag 194'0, Zeitschrift für Schweiz. Recht 1940, S. Ja ff. und das analoge Referat von Pan c hau d: a. a. 0. S. 55a ff.· Jucker: Die kantonalen Vorbehalte ·im Sch\veiz. Strafgesetzbuch, Zürcher Diss.· 19·46. Vgl. weiter' Art. 28 Abs. 2 BG über die wöchentliche' Ruhezeit von 1930, ·

a.


§ 10. Die Gesetzesdelegation des Bundes an die Kantone.

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II. Ferner kommt es vor, daß einzelne Vorschriften des materiellen Bundesrechtes nur dann gelten sollen, wenn das kantonale Recht in der betreffenden Materie selbst keine besondere Regelung getroffen hat. ·Es besteht hier infolgedessen Subsidiarität des Bundesrechtes 18• Die aktuelle Geltung solCher subsidiärer Bundesnormen ist mit anderen Worten resolutiv bedingt. Die Kantone werden somit hier: durch den Bundesgesetzgeber zum Erlaß von Vorschriften in einer bundesrechtlich geordneten :Materie ermächtigt. Die bundesgesetzJiche Ermächtigung muß aber angesichts der Tatsache, daß damit der Vorrang des Bundesrechts dürchbröchen wird, ausdrücklich ausgesprochen sein oder sich ganz klar aus· den betreffenden Bundesvorschriften ergeben 19 • Durch solche Ersatzvorschriften wird jedoch selbstverständlich das Bundesrecht nur in seiner normativen Geltung. suspendiert, nicht aufgehoben 20 • Derartige kantonale Ersatzvorschriften können das betreff ende sUbsidiäre Bundesrecht entweder vollständig ersetzen 21, oder. aber bloß ·Ausnahmen von der Regel des Bundesrechts· aufstellen 22 • Art. 19, 23 BG über Jagd und Vogelschutz, Art. 4 BB von 1934 betr. den passiven Luftschutz (Die Kantone werden zur Organisation des passiven Luftschutzes verpflichtet). 18 Vgl. darüber eingehend S t r ä u I i: a. a. 0. S. 159 ff. sowie F I einer ·: nundesstaatliche und gliedstaatliche R'e chtsordnung: a. a. 0. S. 16. 19 Vgl. z. B. BGer 58 I, S. 212 f., wo das Bundesgericht feststellt, daß Art. 885 ZGB die Viehverschr~ibung als Institut des Bundesrechtes für das ganze Gebiet der Schweiz eingeführt habe, und daß ein Vorbehalt zugunsten des kantonalen Rechts fehle und die Fassung des Artikels keinen ·Zweifel an seinem imperativen Charakter zulasse. Vgl. auch Bur c k h a r d t II Nr. 1273 I (Die Kantone können keine Vorschriften über Familienfideikommisse aufstellen; Art. 335 ZGB). Vgl. S t r ä u I i: a. a. 0. S. 161. Die bundesrechtliche Ermächtigung kann daher auch nicht vermutet werden; BGer 42 I 346 uird Verwaltungsentscheide, Heft 1 Nr. 2. 20 Da im letzteren Falle ·der Bundesgesetzgeher die Kantone zur Vernichtung der Bundesge-setzgebungskompetenz ermächtigen würde, was er nicht darf, da ·diese durch die Bundesverfassung. begründet wird. 21 . Vgl. ·z. B. Art. 666 und 659 ZGB, Art. 844 OR (das kantonale .Recht kann einschränkende Bestimmungen über die Kündbarkeit der Schuldbriefe aufstellen), Art. 4 72 ZGB (Möglichkeit der Aufhebung des Pflichtteilanspruchs der Geschwister durch die Kantone), Art. 30 KUVG. 22 · · Vgl. S t r ä u I i: a. a. 0. S. 162. Vgl. z. B. Art. 61 OR '(die Vorschriften des OR über unerlaubte Handlungen sind auf kantonale Beamte nür dann anwendbar, wenn der Kanton keine abweichende Bestimmungen aufgestellt hät), 376 Abs. 2 und 795 ZGB, Art. 366 StGB, wonach die Kantone die strafrechtliche Verantwortlichkeit ihrer Parlamentarier wegen 'Äußerungen im Rate a:u:fheben öder beschränken können.


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Bund und Kantone.

III. Außer .solchen Varbehalten ergänzenden und ersetzenden kantonalen Rechts enthält das Bundesrecht auch Vorschriften, deren Anwendbarkeit vom Erlaß eines kantonalen Hoheitsaktes, eines Gesetzes- oder Verwalturigsaktes, abhängt. Die aktuelle Geltung solcher Bundesnormen ist somit suspensiv bedingt 23 • Dabei sind die Kantone zur Setzung derartiger Hoheitsakte entweder befugt oder verpflichtet 24 • IV. Die auf Grund der genannten bundesrechtlichen Vorbehalte von den Kantonen erlassenen Vorschriften, die das Bundesrecht ergänzen, ersetzen oder die Bedingung seiner Anwendbarkeit bilden, stellen kantonales Recht dar; denn · die kantonah~n rechtssetzenden Behörden werden als solche, das ist gestützt auf kantonales Imperium tätig. Darum bestimmt auch das kantonale Staatsrecht die Form, Gesetz oder Verordnung, in die diese Normen gekleidet wer- . den müssen. Mitunter schreibt aber das Bundesrecht aus praktischen · oder politischen Gründen den Kantonen die Rechtsseti:ungsfotm vor 25 • 26 • Vielfach bestimmt es dabei auch die kantonalen Behörden, 2

~

Vgl. darüber S t r ä u I i : a. a. 0. S. 170 ff. Vgl. z. B. Art. 515 OR (aus Lqtterie und Spielgeschäften entsteht nur dann eine Forderung, wenn die Unternehmung von der zuständigen Behörde bewilligt worden ist), Art. 1 Abs. 4 BG von 1900 betr. Erleichterung der Ausübung des Stimmrechtes (in den Kantonen, in denen für kantonale Angelegenheiten die Stimmabgabe am Vorabend möglich ist, soll dies auch _b ei eidgenössischen Wahlen und Abstimmungen der Fall sein), Art. 349 ZGB (Familienhehnstätten). Weitere Beispiele bei S t r ä u I i : a. a. 0. S. 172 ff. Hieher gehören auch die Fälle, in denen der Bundesgesetzgeber die Anwendbarkeit eines ganzen Normenkomplexes von den Kantonen abhängig macht. Vgl. z. B. Art. 1 BRB vom 15. Oktober 1941 betr. Maßnahmen gegen die Wohnungsnot (AS 57, 1148), der die Kantone ermächtigt, die Bestimmungen dieses Beschlusses für das ganze Kantonsgebiet oder einzelne Teile desselben anwendbar zu erklären, wenn und-insoweit dies zur Bekämpfung der Wohnungsnot erforderlich ist. 25 Vgl. F I ein e r : Die bundesstaatliche und gliedstaatliche Rechtsordnung, S.15. 26 Die Gesetzesform ist z. B. vorgeschrieben in Art. 61 OR (anderer Ansicht BGer 45 I 73), Art. 5 des eidg. Bürgerrechtsgesetzes. Da seinerzeit in verschiedenen Kantonen die zum Bundesgesetz über Schuldbetreibung _und Konkurs erlassenen Einführungsbestimmungen am Referendum beinahe gescheitert wären (S a I i s Il, Nr. 380), so haben die Einführungsbestimmungen zum Zivilgesetzbuch Art. 52, Abs. 2 bestimmt: "Soweit das neue Recht zu seiner Ausführung notwendig der Ergänzung , durch kantonale Anordnungen bedarf, sind die Kantone verpflichtet, solche aufzustellen und können sie auf dem Verordnungswege erlassen". Nur im Kanton Wallis hat man von dieser Ermächtigung Gebrauch gemacht, in den übrigen Kantonen sind Einführungsgesetze ergangen. Zu beachten ist, 24


§ 10. Die Gesetzesdelegation des Bundes an die Kantone.

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die die Verordnung zu erlassen haben; als solche erscheint in der Regel der Regierungsrat 27• Als Bundesorgan kommt jedoch auch hier wohl der Kanton und nicht der Regierungsrat in Frage, so daß man auch in diesen Fällen nicht von einer administrativen De'zentralisation sprechen kann 28 • Die Gesetzesdelegation an die Kantone in der Gestalt der erwähnten Vorbehalte sowie der Ermächtigung, Bundesrecht als anwendbar zu erklären, ist im Gegensatz zur Gesetzesdelegation an den Bundesrat und an andere .Bundesorgane wohl als verfassungsmäßig anzusehen, auch wenn dadurch eine Verschiebung der verfassungsmäßigen Kompetenzgrenzen zwischen Bund und Kantonen auf dem Wege der einfachen Bundesgesetzgebung erfolgt. Der- Bundesgesetzgeber besitzt die stillschweigende Kompetenz ·hiezti. Denn in gleicher Weise wie er stillschweigende inateiielle Rechtss.etzlingskompetenzen des Bundes in Anspruch nehmen kann, wenn diese. zur Durchsetzung einer ausdrücklichen Zuständigkeit der Eidgenossenschaft erforderlich erscheinen 29 , muß er auch das fonnelle Recht zur Übertragung materieller Gesetzgebungskompetenzen an die Kantone haben, bzw. die Befugnis besitzen, Bundesrecht als anwendbar zu erklären, wenn die Berücksichtigung der Verschiedenheit der örtlichen Verhältnisse bei der Ausgestaltung des Bundesrechts dies als notwendig erscheinen läßt, ·und die Bundesverfassung eine solche Delegation nicht ausschließt 30 • Die Zulässigkeif der Gesetzesdaß nur solche kantonale Einführungsbestimmungen ·auf dem Verordnungsweg haben erlassen werden dürfen, ohne die das Zivilgesetzbuch gar nicht hätte in Kraft treten können. Vgl. zum zitierten Artikel den Aufsatz von B 1 um e n s t ein in Ztschr. des bern. Juristenvereins 26, 1909.· Die Verordnung ist weiter zugelassen bzw. vorgeschrieben in Art. 22 KUVG, Art. 2 BRB vom 15. Oktober 1941 betr. Maßnahmen · gegen die -Wohnungsnot. 27 So in Vollmachtenverordnungen gestützt auf die Vollmachten von 1914 und 1939; vgl. z. B. Art. 2 des BRB vom 15. Oktober 1941 über 'd ie Bekämpfung der Wohnungsnot. 28 Der Regierungsrat ist nur das kantonale Organ, das diese Funktion des Kantons als Bundesorgan auszuüben hat. Vgl. z. B. den oben erwähnten BRB von 1941 über die Bekämpfung der Wohnungsnot, der in Art. 1 die Kantone ermächtigt, diesen Beschluß für ihr Territorium anwendbar zu erklären, und in Art. 2 den Regierungsrat ermächtigt, die nötigen Ausführungsbestimmungen auf dem Verordnungsweg zu erlassen. 2 9- _Vgl. oben S. 77. 30 Dies ist Auslegungsfrage. So schließen die Verfassungsvorschrifb~n, die eine Materie schlechthin als Bundessache erklären, die Delegation wohl aus. Dies gilt aber nicht ohne weiteres auch von den Verfassungsartikeln, die die Schaffung einheitlichen Rechts vorsehen; denn das trifft mit Ausnahme


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Bund und Kantone.

delegation an die Kantone sowie der Ermächtigung an diese, Bundesrecht anwendbar zu erklären, ergibt sich somit aus der bundesstaatlichen Struktur des Landes. Ja, auch aus der verfassungsmäßigen Stellung der Kantone als Selbstverwaltungskörper des Bundes folgt, daß dieser die Kantone zur Lösung sein~r gesetzgeberischen Aufgaben heranziehen und sie zur Rechtssetzung im eidgenössischen Kompetenzbereich ermächtigen öder verpflichten darf. Diese Befugnis der Eidgenossenschaft wird im Art. 85 Ziff. 8 und 102 Ziff. 13 BV gewissermaßen voräusgesetzt 31 • 32•. Infolgedessen darf der Bundesgesetzgeber in solChen Delegationen auch die kantonale RechtssetzlJngsform, Gesetz oder Verordnung, vorschreiben, wenn dies nötig erscheint. Die Bundeslegislative- soll sich aber hier große Zurückhaltung ·auferlegen, da solche Anordnungen Eingriffe in die kantonale Organisation, die ·gemäß Art. 6 BV kantonale Sache · ist, bilden. V. Neben solchen formellen .N orm~tivbestim~ungen im Sinne von Ziffer I, II, III enthält aber das Bundesrecht auch Vorschriften an die Kantone über die inhaltliche Ausgestaltung des kantonalen Recht~, das das Bundesrech~ ~u ergän:Zen oder zu ers~tzen hat, sogenannte materielle Normativbestimmungen ini Sinne von Geboten und Verboten 33 • der Grundsatzgesetzgebung bei jeder Rechtssetzungskompetenz des Bundes zu; vgl. oben S. 86, 91. Anderer Ansicht S t r ä u 1 i: a. a. 0. S. 215. So schließen z. R ·Art. 64 und 64bis BV, die ja das Privat- ·und Strafrecht vereinheitlichen, solche Vorbehalte nicht aus; diese kommen denn auch vorab im ZGB vor. 31 Analog, wenn auch mit etwas anderer Begrundung F I e i n er·: Bundesstaatliche und gliedstaatliche Rechtsordnung, S. 12 f.; S t r ä u I i: a. a. 0. S. 211 ff. 32 Diese Momente . treffen für die Gesetzesdelegation an Bundesbehörden, so an den Bundesrat, nicht zu, denn dort handelt es sich ja nicht um Verschiebung der Kompetenzgrenzen ·zwischen Bund und Kantonen zugunsten der let_ztern,sondern um eine Verschieb"!Jng _der Kompetenzgrep.zen zwischen Bundeslegislative und Bundesexekutive durch die erstere, also . um eine Ver:schiebung innerhalb der Bundesorganisation. Eine solche ist daher verfassungswidrig, da die Bundesverfassung eine Verschiebung der Kompetenzgrenzen zwischen den Bundesbeh(;>rden nicht vorsieht, und diese überdiec; dem Grundsatz der Gewaltentrennung und dem Prinzip der Volksgesetzgebung widerspricht; vgl. unten S. 800 f · 88 Vgl. S t r ä u I i: a. a. 0. S. 223.ft Zum Beispiel Art. 1 BG übe,r öffentlichrechtliche Folgen der fruchtlosen Pfändung .und des Korikurs~s.


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