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paralegal Behindertengleichstellungsgesetz – gleiche Chancen für alle? Bernadette Dupasquier*

Menschen mit einer Behinderung haben seit jeher unter Diskriminierung und Ausgrenzung zu leiden. Dabei haben sie die gleichen Rechte und Pflichten wie wir alle. Sie sind aber in ihrem täglichen Leben zahlreichen Benachteiligungen ausgesetzt, sei es beim Zugang zu Gebäuden, bei der Benutzung des öffentlichen Verkehrs, in der Schule oder bei der Bildung. Diesen Ungleichheiten entgegenzuwirken ist Aufgabe des Behindertengleichstellungsrechts.

In den letzten Jahren sind wichtige Fortschritte in der Gleichstellung von Menschen mit Behinderung erzielt worden. Auf Bundesebene sind seit 1. Januar 2004 das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) und die Behindertengleichstellungsverordnung (BehiV) in Kraft. Daneben sind weitere Verordnungen des Bundes sowie kantonale Bestimmungen zur Behindertengleichstellung erlassen worden. Menschen mit Behinderung haben nun die Möglichkeit, sich gegen Benachteiligung bzw. Diskriminierung insbesondere in den Bereichen Bau, Dienstleistungen, Aus- und Weiterbildung sowie öffentlicher Verkehr über den Rechtsweg zu wehren1. Das BehiG bezweckt, Benachteiligungen, denen Menschen mit Behinderungen ausgesetzt sind, durch gesetzliche Massnahmen zu verhindern, zu verringern oder zu beseitigen. Hierfür werden Rahmenbedingungen geschaffen, die es Menschen mit Behinderungen erleichtern, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und insbesondere selbständig soziale Kontakte zu pflegen, sich fortzubewegen, sich aus- und fortzubilden und eine Erwerbstätigkeit auszuüben2. Im Wesentlichen geht es dabei also um die Stärkung der Stellung behinderter Menschen und um die Verhinderung einer Ausgrenzung aus der Gesellschaft.

Anwendungsbereiche des BehiG Das BehiG sieht insbesondere in vier zentralen Bereichen Massnahmen zur Beseitigung von Hindernissen vor:

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n beim

Zugang zu öffentlich zugänglichen Bauten und Anlagen; n bei der Inanspruchnahme des öffentlichen Verkehrs sowie öffentlich zugänglicher Einrichtungen des öffentlichen Verkehrs; n bei der Inanspruchnahme privater und staatlicher Dienstleistungen; n beim Zugang zu Aus- und Weiterbildung. Dabei ist immer der Grundsatz der Verhältnismäs­ sigkeit zu beachten. Wenn die Kosten für die Beseitigung von baulichen Hindernissen so hoch sind, dass sie in keinem vernünftigen Verhältnis zum erwarteten Nutzen stehen, verlangt das Gesetz keine Beseitigung3. Menschen mit Behinderungen sollen Dienstleistungen des Bundes, des öffentlichen Verkehrs oder anderer konzessionierter Unternehmen sowie öffentlich angebotene Dienstleistungen Privater ohne Benachteiligungen in Anspruch nehmen können4. Das BehiG bietet allerdings einen unterschiedlichen Schutz, je nachdem, wer Dienstleistungsanbieter ist. Es unterscheidet zwischen staatlichen und privaten Dienstleistungen.

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Paralegal ZHAW, Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil. Art. 7 bis 10 BehiG. Art. 1 Abs. 1 und 2 BehiG. Art. 11 Abs. 1 BehiG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 und 2 BehiV. Art. 5 Abs. 1 BehiG i.V.m. Art. 9 Abs. 1 BehiV.

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Staatliche Dienstleistungen Staatliche Dienstleistungen müssen barrierefrei sein. Bund, Kantone und Gemeinden sind zum Schutz vor jeder Benachteiligung verpflichtet. Sie haben ihre Dienstleistungen für die Öffentlichkeit im Rahmen der Verhältnismässigkeit so anzubieten, dass sie von jedermann, also sowohl von Menschen mit einer Behinderung als auch von Menschen ohne Behinderung, unter den gleichen Bedingungen in Anspruch genommen werden können. Dazu notwendige bauliche und technische Massnahmen zur Erfüllung dieses Auftrages müssen ergriffen werden5. Die Verpflichtung zur Beseitigung von Benachteiligungen gilt insbesondere auch für staatliche Internet-Dienstleistungsangebote, d.h., die im Internet angebotenen Dienstleistungen des Bundes müssen für Menschen mit ­Behinderung, z.B. für Sehbehinderte, ohne erschwerende Bedingungen zugänglich sein6. In diesem Bereich steht dem Bund und den Kantonen ein Instrumentarium an Richtlinien zur Verfügung, das die Anforderungen des BehiG und der BehiV nahezu erfüllt7.

Private Dienstleistungen Dienstleistungsangebote von privaten Anbietern unterliegen lediglich einem Diskriminierungsverbot8. Eine Diskriminierung gemäss BehiG liegt vor, wenn Menschen mit Behinderung eine besonders krass unterschiedliche und benachteiligende Behandlung erfahren, die herabwürdigend und ausgrenzend ist9. Dazu gehören beispielsweise Vorurteile oder Ängste gegenüber Menschen mit einer

5 Art. 9 BehiV.   6 Art. 14 Abs. 2 BehiG.   7 Art. 10 Abs. 1 und Art. 11 BehiV.   8 Art. 6 BehiG.   9 Art. 2 lit. d BehiV. 10 Schefer Markus, Bericht über die Grundlagen einer Evaluation des Behindertengleichstellungsgesetzes vom 17.7.2009, Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen, 125, www.edi.admin.ch/ ebgb/00564/00566/00567/index.html 11 Botschaft BehiG, 1780.

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geistigen oder körperlichen Behinderung als Grund für die Verweigerung der Dienstleistung10. Eine (öffentlich angebotene) Dienstleistung eines privaten Anbieters darf somit einem behinderten Menschen nicht allein wegen seiner Behinderung verweigert werden. Im Gegensatz zum Staat sind private Dienstleistungsanbieter jedoch nicht verpflichtet, bestimmte Massnahmen zur Beseitigung von tatsächlichen Benachteiligungen zu ergreifen, um ihre Leistungen den Bedürfnissen von behinderten Menschen anzupassen. Sie sind weder zur Gleichbehandlung von behinderten und nicht behinderten Menschen gezwungen, noch müssen sie auf Differenzierungen zwischen Kunden verzichten11. Es besteht nach Art. 8 Abs. 3 i.V.m. Art. 11 Abs. 2 BehiG nur – aber immerhin – die Möglichkeit einer Klage auf Schadenersatz bis höchstens CHF 5000.

6 Jahre BehiG Insgesamt wurde in den vergangenen sechs Jahren in der Behindertengleichstellung erfreulich viel erreicht. Dennoch besteht weiterhin Handlungsbedarf. Das Behindertengleichstellungsrecht ist sowohl in der Bevölkerung als auch bei privaten Unternehmen und auch bei Behörden oft immer noch unbekannt. Obwohl die Interessenvertretung, welche Behindertenorganisationen und Fachstellen wahrnehmen, sowie die vom Bund unterstützten Integrationsprojekte wichtige Beiträge zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung leisten, sind weitere Massnahmen zur Prävention und zur Sensibilisierung auf das Thema Behindertengleichstellung notwendig. Es braucht Ergänzungen des BehiG im Bereich des privaten Arbeitsmarktes und der privaten Dienstleistungen. Zudem müssen kantonale Gleichstellungsgesetze Lücken im Behindertengleichstellungsrecht schliessen. Hier stehen die Fachstellen zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung vor weiteren Herausforderungen. Für Menschen mit einer Behinderung ist eine vollwertige Teilnahme am gesellschaftlichen Leben besonders wichtig. Dies verlangt gegenseitige Toleranz und Solidarität zwischen allen Menschen unserer Gesellschaft und liegt in der Verantwortung jedes Einzelnen. Nicht nur der Gesetzgeber bleibt somit gefordert, sondern wir alle.

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