Über das Rechtsverordnungsrecht im schweizerischen Bundesstaat

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Ueber das Rechtsverordnungsrecht im schweizerischen Bundesstaate. Von

Zaccaria Giacometti. Der Erlaß von Gesetzen im materiellen Sinne, d. h. von Rechtsiätzen erfolgt im schweizerischen Bundesstaate grundsätzlich durch die Bundesversammlung. Unter Rechtssätzen sollen dabei im Sinne der herrschenden Lehre alle abstrakten staatlichen Willensäußerungen, die verbietend und befehlend in Freiheit und Eigentum der Bürger eingreifen, deren Zweck also Schrankenziehung zwischen den Bürgern unter sich oder zwischen Bürger und Staat bedeutet, verstandenwerden 1). Diese Zuständigkeit der Bundesversammlung zur Rechtssetzung ist ohne weiteres aus Art. 84 der Bundesverfassung zu entnehmen; darnach haben Nationalrat und Ständerat alle Gegenstände zu behandeln, die in die Kompetenz des Bundes gehören und nicht einer andern Bundesbehörde übertragen sind. Die Rechtssetzungsgewalt ist nun aber von der Bundesverfassung keiner anderen Bundesbehörde überwiesen WOl'den. Die Bundesverfassung stellt somit, wenn man so sagen will, im Gegensatz zu den meisten übrigen modernen Verfassungsurkunden 2) . einen Vorbehalt der Rechtssetzung zugunsten der Legislative auf. Diese durch Art. 84 begründete Kompetenz der Bundesversammlung zur Rechtssetzung wird · dann durch Vgl. darüber JELLINEK, Gesetz und Verordnung S. 240 ff.; ANsCHÜTZ, Art. Gesetz in Wörterbuch des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts, Bd. 2, S. 212; STIER-Som.o, Reichs- und Landesstaatsrecht Bd. 1, S. 324. 2 ) Vgl. darüber R. THoMA: Der Vorbehalt des Gesetzes im preußischen Verfassungsrecht, in der Festgabe für Otto Mayer, S. 173. 1)


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Art. 85 Ziff. 2 der Bundesverfassung noch bestätigt 1 ); nach dieser Ietztern Vorschrift sind die beiden Räte zuständig, Gesetze und Beschlüsse über diejenigen Gegenstände zu erlassen, zu deren Regelung der Bund nach Maßgabe der Bundesverfassung befugt ist. Und zwar hat die Bundesversammlung ihre Rechtssätze in die Form des Bundesgesetzes im formellen Sinne zu kleiden 2 ). Das ergibt sich ohne· weiteres aus der soeben erwähnten Ziff. 2 des Art. 85, die sowohl den Begriff des Gesetzes im materiellen als auch im formellen Sinne enthält. Di~s folgt auch auf dem Wege des Schlusses a majori ad minus aus Art. 85 Ziff. 1 der Bundesverfassung; nach dieser Vorschrift müssen Organisation und Wahlart der Bundesbehörden durch Gesetz geordnet werden; organisatorische Vorschriften stellen aber, da sie den Bürger in der Regel nicht verpflichten, insoweit keine Rechtssätze dar 3 ), sondern sind in der Hauptsache Verwaltungsvorschriften 4); um so mehr muß daher .die Bundesverfassung die Einkleidung von Rechtssätzen in die Gesetzesform verlangen. Nach · weit verbreiteter Ansicht dürfen Rechtsnormen außerdem in Ausnahmefällen in der Form eines ·allgemeinverbindlichen Bundesbeschlusses nicht dringlicher Natur angeordnet werden 5 ). Bundesgesetze und allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse nicht dringlicher Natur unterstehen nun gemäß Art. 89 Abs. 2 der Bundesverfassung dem fakultativen Referendum; die Aktivbürgerschaft hat unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, gegen die von der Bundesversammlung sanktionierten Bundesgesetze und allgemeinverbindlichen nicht dringlichen Bundesbeschlüsse ein 1

) Vgl. dazu W. BuRCKHARDT, Kommentar der schweizerischen Bundesverfassung, ·S. 683. 2 ) FLEINER, Schweizerisch.es Bundesstaatsrecht S. 400. 3 ) A.NsCHüTz a. a. 0., Band 3, S. 675; STIER-SoMLO a. a. 0., S. 335; KE:rßEN; Hauptprobleme der Staatsrechtslehre S. 558 ff. 4 ) Sie können aber mitunter auch Rech.tssätze enth.alten; vgl. FLEINER, Institutionen des deutschen Verwaltungsrechts, S. 63 Anm. 38; JELLINEK a. a. 0. S. 387; NAWIASKY, Bayrisches Verfassungsrecht, S. 343 ff.; BURCKHARDT a. a. 0., S. 721. 5 · ) BuRCKHARDT a. a. 0., S. 717; GuHL, Bundesgesetz, Bundesbeschluß und Verordnung nach schweizerischem Staatsrecht, S. 43 und die dort zitierte Literatur.


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·za:ccaria Giacorrietti,

Veto einzulegen 1 ) .• Die Aktivbürgerschaft ist somit an der Rechtssetzung virtuell beteiligt. Bundesversammlung und Aktivbürgerschaft sind daher im weiteren Sinne des Wortes Bundesgesetzgeber und zwar sowohl im formellen als auch irn materiellen Sinne; anders ausgedrückt, jedes Bundesgesetz im materiellen Sinne ist auch ein solches im formellen Sinne. Dieser Grundsatz des schweizerischen Bundesstaatsrechts, daß ein Gesetz im materiellen Sinne zugleich auch ein Gesetz im formellen Sinne darstelle, erleidet nun aber gewisse Ausnahmen. Nicht alle Rechtssetzung erfolgt nämlich im Bunde auf dem Wege der Bundesgesetzgebung, d. h. in Form eines Bundesgesetzes oder eines allgemeinverbindlichen, nicht dringlichen Bundesbeschlusses. Viele Rechtssätze werden wie überall so auch im Bunde in anderen Formen erlassen als durch ein Gesetz im formellen Sinn und. durch ander!3 Staatsorgane als den Bundesgesetzgeber. Der staatliche Erlaß, der nebst dem Gesetz ini formellen Sinne allgemeine abstrakte Regeln enthält, ist aber vorab die Verordnung, die, ~oweit sie Rechtssätze ·zum Inhalte hat, Rechtsverordnung heißt. · Die Form, in der im Bunde die Rechtssetzung außer durch Ge-setz im formellen Sinne erfolgt 2 ), nennen wir daher Bundesrechtsverordnung und dementsprechend die Zuständigkeit .der betreffenden Bundesorgane zu deren Erlaß das Bundesrecbtsverordnungsrecht 3 ). 1 ) F~INER, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, S. 410; vgl. ·dazu auch JAGMETTI, Der Einfluß der Lehren von der Volkssouveränität und vom pouvoir constituant auf das schweizerische Verfassungsrecht (Zürcher Dissertation) S. 182 ff. / 2 ) Die autonome .Satzung spielt im Bund~ keine Rolle; es kommt als Selbstverwaltungskörper unseres Erachtens lediglich die schweizerische Unfallversicherungsanstalt in Frage, es sei denn, daß ma:ri die Kantone, insoweit sie als Bundesorgane tätig sind, als Selbstverwaltungskörper des Bundes und die von ihnen in Ausführung von Bundesgesetzen erlassenen Rechtssätze als eidgenössische autonome Satzungen betrachten wolle. 3 ) Wir sind uns dabei wohl bewußt, daß die Kompetenz von Staatsorganen zum Erlaß von Rechtsverordnungen kein subjektives Recht die~er Organe ist, sondern eine durch das objektive Recht auferlegte Organpflicht darstellt; von einem subjektiven Recht könnte nur dann gesprochen werden, falls man den Staatsorganen juristische Persönlichkeit zusprechen würde; wir behalten ·aber der Klarheit halber diesen in der Staatsrechtswissenschaft eingebürgerten Ausdruck bei.


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Gegenstand der nachstehenden Erörterungen sollen nun einzelne grundsätzliche Fragen über die verfassungsrechtlichen Grundlagen, die Träger und· den Umfang des. Bundesrechtsverordnungsrechts bilden. Dabei ist von vorneherein das selbständige und das unselbständige ·Bundesrechtsveror dnungsrecht auseinander zuhalten; das will heißen, es ist zu prüfen, inwiefern die Bundesverfassung neben dem Gesetzgeber noch andere Bundesorgane zur Rechtssetzung ermächtigt und inwieweit das ·Bundesrechtsverordnungsrecht lediglich auf einer Gesetzesdelegation beruht. c

I. Träger von selbständigem Bundesrechtsverordnungsrecht können selbstverständlich nur Bundesversammlung und· Bundesrat sein, erstere in ihrer Eigenschaft als Inhaberirr der obersten.Gewalt im Sinne von Art. 71 der Bundesyerfassung, letzterer kraft seiner ihm gerriäß Art. 95 der Bundesverfassung zustehenden Exekutivgewalt. 1. Wenn wir vorerst untersuchen wollen, ob die Bundesverfassung der Bundesversammlung ein selbständiges Rechtsverordnungsrecht verliehen habe, so muß der allgemeinverbindliche, nicht dringliche Bundesbeschluß im Sinne von Art. 89 Abs. 2 der Bundesverfassung den Ausgangspunkt unserer Erörterung bildßn. Art. 89 Abs. 2 .der Bundesver'fassung sieht als Formen für die Erlasse der Bundesversammlung neben dem Gesetz denallgemeinverbindlichen dringlichen und nicht dringlichen sowie den einfachen Bundesbeschluß vor. Weder die Bundesverfassung noch das Bundesgesetz von 1874 über die ·Volksabstimmungen haben eine Begriffsbestimmung des allgemeinverbindlichen Bundesbeschlusses aufgestellt, sondern diese Umschreibung der Praxis überlassen. In der Doktrin wird nun, wie bereits· oben bemerkt, .der Standpunkt vertreten, daß Rechtssätze in Ausnahmefällen auch in die Form eines allgemeinverbindlichen, nicht dringlichen Bundesbeschlusses gekleidet werden dürfen. Diese Ansicht stützt sich vor allem auf die grammatikalische Interpretation des deutschen und italienischen Textes des Art. 89 Abs. 2 der Bundesverfassung; unter dem Ausdruck "allgemeinverbindlicher Bundesbeschluß ", "risoluzione federale di carattere ob,ligatorio generale" wird ein an die Gesamtheit der Bürger gerichteter Befehl verstanden, also ein Beschluß, der Rechts-


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Zaccaria Giacometti,

sätze zu~ Inhalte hat 1). Diese Auffassung wird sodann auch durch historische Auslegung der genannten Verfassungsvorschrift beg~ündet; man weist darauf hin, daß bereits unter der Herrschaft der Bundesverfassung von 1848 Rechtssätze in die Form von Bundesbeschlüssen gekleidet worden sind und daß der Verfassungs- . gesetzgeber von 187 4 daher den Bundesbeschluß auch als Form für die Rechtssetzung übernommen, ihn aber insoweit zwecks praktischer Durchführung des Referendums zu einem allgemeinverbindlichen Bundesbeschluß -q.mgewandelt habe 2). Nach einer andern Lehre wiederum dürfen Rechtssätze nicht in der Form eines allgemeinverbindlichen Bundesbeschlusses erlassen werden; diese Ansicht wird auf Grund einer grammatikalischen Auslegung des französischen Textes des Art. 89 Abs. 2 der Bundesverfassung gewonnen; gestützt auf die französische Fassung desselben: "arretes d'une portee generale" werden unter allgemeinverbindlichen Bundesbeschlüssen nur Verwaltungsakte von besonderer Tragweite verstanden 3). Welches von diesen beiden Auslegungsresultaten eiitspricht nun eher dem Sinne der Bundesverfassung? Weder die eine noch die andere der auf Grund einer grammatikalischen bzw. historischen Interpretation gewonnenen Auffassungen werden durch andere Auslegungsmittel, so vorab durch eine teleologische oder systematisch teleologische Auslegung der betreffenden V erfassungsvorschrift. bestätigt. Diese beiden zuletzt genannten Auslegungsmittel führen hier zu keinem positiven Resultat. Wenn wir zwar berücksichtigen, daß nach Art. 89 Abs. 2 der Bundesverfassung die Möglichkeit besteht, wie unten noch näher dargelegt w~den soll, den allgemeinverbindlichen· Bundesbeschluß durch Hinzufügung der Dringlichkeitsklausei dem fakultativen Referendum zu entziehen, so müßte wohl eher derjenigen Auslegung der genannten Verfassungsnorm der Vorzug gegeben werden, die unter Zugrundelegung des französischen Textes den allgemeinverbindlichen Bundesbeschluß als die Form für den Erlaß wichtigerer Verwaltungsakte der Bundesversammlung ansieht. Denn in anderm Falle läuft man Gefahr, daß in der Form des allgemeinverbindlichen Bundesbeschlusses 1)

BURCKHARDT a. a. 0., S. 717. Gum.. a. a. 0. S. 43; BuRKHARDT a. a. 0. S. 719. 3 ) FLEINER a. a. 0., S. 403 ff. ..

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erlassene Rechtssätze durch die Dringlichkeitsklausel dem fakultativen Referendum entzogen werden, die Aktivbürgerschaft ihr verfassungsmäßig festgelegtes Mitwirkungsrecht an der Rechtssetzung im konkreten Falle also nicht ausüben kann. Derjenige Text der Bundesverfassung sollte aber, falls der deutsche, französische und italienische Wortlaut voneinander abweichen, den .Vorrang haben, der dem Bürger günstiger ist 1 ). Aber auch für die gegenteilige Auslegung des Art. 89 Abs. 2 der Bundesverfassung, dahin gehend, daß der allgemeinverbindliche Bundesbeschluß ebenfalls Rechtssätze enthalten darf, sprechen sehr gewichtige Momente. So vor allem nebst dem bedeutsamen Indiz, das der diesbezügliche Rechtszustand . unter der Bundesverfassung von 1848 bietet, der Umstand, daß die Diskrepanz im Verfassungswortlaut nicht etwa zwischen dem deutschen Text einerseits. und den beiden romanischen Texten andrerseits, wie zu erwarten wäre, besteht; es · weicht vielmehr der französische Wortlaut vom deutschen und italienischen ab; die Annahme liegt daher nahe, daß der französische Text lediglich eine ungenaue Uebersetzung des deutschen Wortlautes darstellt; hätte der V erfassungsgesetzgeber den wirklichen Sinn der Verfassungsvorschrift in die französische U ebertragung des deutschen Verfassungstextes niedergelegt, so wäre dies höchstwahrscheinlich ebenfalls in der italienischen Uehersetzung des deutschen Urtextes zum Ausdruck gekommen, schon wegen der Verwandtschaft zwischen den beiden romanischen Sprachen; es hätte hier ebenfalls "risoluzioni federali di una portata generale" heißen müssen, und nicht "di carattere obbligatorio generale". Wir sind daher derAuffassung, daß der deutsche und italienische Text eher den wirklichen Sinn der Bundesverfassung wiedergeben, und daß. daher von V erfassungswegen der Ein.:. kleidung von Rechtssätzen in die Form des allgemeinverbindlichen Bundesbeschlusses grundsätzlich nichts im Wege steht.· Die Bundesverfassung· hat also mit andern Worten unseres Er achtens für die Aufstellung von Rechtssätzen auf dem Wege der Bundesgesetzgebung zwei Formen zur Verfügung gestellt: das Bundesgesetz und den aflgemeinverbindlichen Bundesbeschluß. Auf diesem Standpunkte steht auch die Praxis der Bundesversammlung. Wir finden 1)

s.

GIAcoMETTr, Die Auslegung der schweizerischen. Bundesv.erfassung,

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z ·a c. c a r i a G i ac o

me t t i,

Rechtssätze außer in Bundesgesetzen auch in allgemeinverbindlichen Bundesbeschlüssen niedergelegt. Als typische Form für den Erlaß . von Rechtssätzen hat sich aber trotz des Vorhandenseins einer zweiten Form selbstverständlich das Bundesgesetz behauptet. Die eidgenössischen Räte haben in ihrer Rechtssetzung relativ sehr selten zum allgemeinverbindlichen Bundesbeschluß gegriffen: Und zwar kann im großen und ganzen, soweit wir die einschlägige Praxis zu überblicken· vermögen, gesagt werden, daß die Bundesversammlung sich des allgemeinverbindlichen Bundesbeschlusses nicht zur Regelung neuer Materien, also zur Aufstellung neuer Rechtssätze, sondern mehr zur Abänderung bzw. Ergänzung bereits bestehender Bundesrechtsnormen bedient hat. VVir verweisen zur Begründung des ·Gesagten beispielsweise auf den allgemeinverbindlichen Bundesbeschluß vom 10. Oktober 1874 betreffend Zollvergünstigungen für Eisenbahnmaterialien 1 ), aut den allgemeinverbindlichen Bundesbeschluß vom 15. April 1898 über die Ausdehnung des Bundesgesetzes betreffend die Oberaufsicht über die Forstpolizei im Hochgebirge von 1876 auf das gesamte G·ebiet der Schweiz 2), auf den allgemeinverbindlichen ·Bundesbeschluß vom 1. Juni 1905 betreffend Revision von Art. 9 des Bundesgesetzes von 1898 über die Fabrikation und den V erkauf von Zündhölzchen 3 ), auf den allgemeinverbindlichen Bundesbeschluß vom 21. Juni 1907 betreffend die Unterstellung der konzessionierten Schiffahrtsunternehmungen unter die Bundesgesetzgebung über die Verpflichtung zur Abtretung von Privatrechten 4 ). auf den allgemeinverbindlichen Bundesbeschluß vom s~ Juni 1902 betreffend Revision vori Art. 67 des Bundesstrafrechts von 1853 5 ), auf den allgemeinverbindlichen Bundesbeschluß vom 18. Februar 1921 betreffend die Anrechnung von geleistetem Militärdienst bei der Bemessung des Militärpflichtersatzes 6 ) usw. Hingegen wurden ausnahmsweise neue Rechtssatze im allgemeinverbindlichen Bundesbeschluß vom 27. Mai 1884 betreffend Förderung der Land .. wirtschaft aufgestellt 7 ). Ist nun aber der Erlaß von Rechtssätzen in der Form eines allgemei:riverbindlichen Bundesbeschlusses als verfassungsrechtlich Amtliche Sammlung der Bundesgesetze, Band 1, S. 239. 4 3 ) A. S. 21, 659. ) A . .S. 23, 661. A. S. 16, 825. 7 6 ) A. S. 37, 357. ) A. S. 7, 605 .. s) A. S. 19, 253.

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zulässig zu · betrachten, so kann folgerichtig auch der Aufstellung von Rechtssätzen ,in einem allgemeinverbindlichen Bundesbeschl_u ß dringlicher Natur von Verfassungswegen nichts im Wege stehen~ Denn auch in diesem Falle liegt ein allgemeinverbindlicher Bundesbeschluß im Sinne des Art. 89 Abs. 2 der Bundesverfassung vor; der Unterschied besteht nur darin, daß der allgemeinverbindliche Bundesbeschluß mit der Dringlichkeitsklausel versehen ist 1 ). Sollte aber in der Absicht des Verfassungsgesetzgebers gelegen haben, die Dringlichkeitsklausel bei allgemeinverbindlichen Bundesbeschlüssen rechtssetzenden Inhalts auszuschließen, so hätte dies ausdrücklich angeordnet werden müssen.· Ein solcher Ausschluß ist jedoch in der Bundesverfassung weder direkt noch indirekt enthalten; im Gegenteil, nach Art.113 Abs. 3 der Bundesverfassung sind auch die allgemeinverbindlichen dringlichen Bundesbeschlüsse dem Prüfungsrecht desBundesgerichts entzogen. Da nun aber die Bundes-:verfassung die ·Bundesversammlung . vorab als rechtssetzende Ge.walt im Bunde der Kontrolle des Bundesgerichts entziehen wollte, so folgt daraus, daß auch die allgemeinverbindlichen dringlichen Bundesbeschlüsse Rechtssätze enthalten dürfen 2 ). Man könnte zwar dagegen einwenden, daß der Ausschluß der Dringlichkeitsklausel bei : allgemeinverbindlichen Bundesbeschlüssen rechtssetzenden Inhalts sich aus deren Funktion, staatliche Anordnungen, die rasche Ausführungen erheischen 3 ), dem fakultativen Referendum zu entziehen, ergebe, da nur V erwa1tungsakte eine solche rasche Ausführung erfordern können. Dem ist aber nicht so; wohl wird der Staat vor allem in seiner Verwa1ttingstätigkeit in 'die Lage kommen, ,ra·sche Anordnungen treffen zu müssen; daneben können aber selbstverständlich auch Fälle ·sich ereignen, in denen rasches Handeln durch · Erlaß von Rechtssätzen notwendig . ist, wie die Praxis vieler Länder beweist 4 ); auch die Auffa~sung, die Bundesverfassung lasse für allgemeinverbindliche Bundesbeschlüsse rechts1 ) Nach BuRcK:HARDT a; a. 0. S. 719 scheint ein dringlicher Bundes.,. beschluß nur dann Hechtssätze enthalten zu dürfen, .falls er gleichzeitig auch Verwaltungsvorschriften , zum Inhalte hat. 2 ) Aehnlich BuRcKIIA.RDT a.· a. 0., S . .717. 3 ) FLEINER a. a. 0. S. 4·04. 4 ) PETERS, Das Notverordnungsrecht nach Art. 55 der Preußischen Verfassung im Verwaltungsarchiv, Bd. 31 (1926) S'., 375ff.


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Zaccaria Giacometti,

setzenden Inhalts die Dringlichkeitsklausel aus dem Grunde nicht zu, weil sie ebensowenig für die Bundesgesetze, die in erster Linie auch Gesetze im materiellen Sinne seien, vorgesehen habe 1 ), erscheint uns nicht stichhaltig; es ist selbstverständlich, daß der Verfassungsgesetzgeber für Bundesgesetze, die ja die typische Form des Gesetzes im materiellen Sinne darstellen, nicht die Möglichkeit des Ausschlusses des Referendums vorsehen konnte. Die Zulässigkeit des Erlasses von Rechtssätzen in einem allgemeinverbindlichen Bundesbeschlusse dringlicher Natur bedeutet nun aber, daß die Bundesversammlung auch kompetent ist zum Erlasse von Gesetzen im materiellen Sinne, die nicht in die Form des Gesetzes im formellen Sinn · gekleidet sind. Diese Zuständigkeit der Bundesversammlung beruht nach dem Gesagten ebenfalls auf Art. 84 und 85 Ziff. 2 in Verbindung mit Art. 89 Abs. 2 der Bundesverfassung. Der Bundesverfassung steht somit mit andern Worten ein selbständiges, d. h. direkt aus der Verfassung abgeleitetes Rechtsverordnungsrecht zu. Und zwar hat die Bundes . . verfassung dieses selbständige Rechtsverordnungsrecht ·der eidgenössischen Räte zu einem Notrechtsverordnungsrecht ausgestaltet; der Verfassungsgesetzgeber hat ·in der Form des allgemeinverbindlichen dringlichen Bundesbeschlusses das Institut der sogenannten Notverordnung in die Bundesverfassung eingeführt, die soweit der allgemeinverbindliche dringliche Bundesbeschluß rechtssetzenden Inhalts ist, zu einer Notrechtsverordnung wird . .Denn die Bundesversammlung kann, wie schon erwähnt,. Rechtssätze nur dann in einer ande"!'n Form als in derjenigen des Gesetzes im formellen Sinn erlassen, falls der Erlaß dieser Rechtssätze dringlich ist. Und zwar ist die Bundesversammlung mit den unten sich ergebenden Einschränkungen kompetent, jeden Rechtssatz, dessen Erlaß dringlich ist, in die Form des allgemeinverbindlichen dringlichen Bundesbeschlusses zu kleiden, d. h. sie kann in Fällen von Dringlichkeit Rechtssätze über alle möglichen Gegenstände, unter Ausschluß des Gesetzgebungsweges erlassen. Die Bundesversammlung besitzt also mit anderenWarten ein generellesNotrechtsverordnungsrecht. Einen Anwendungsfall dieses Notrechtsverordnungsrechts der Bundesversammlung sieht unseres Erachtens die B_undesverfassung in Art. 85 1) Gum. a .. a. O, S. 47.


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Ziff. 6 und 7 vor, und zwar insoweit, als die da selbst vorgesehenen Maßregeln zum Schutze der äußeren und inneren Sicherheit und der Unabhängigke~t des Landes die Aufstellung von Rechtssätzen bedingen. Neben diesem generellen Notrechtsverordnungsrecht der Bundesversammlung statuiert die Bundesverfassung aber auch ein spezielles Notrechtsverordnungsrecht der eidgenössischen Räte, und zwar ein Zollnotrechtsverordnungsrecht. Art. 29 der Bundesverfassung stellt nämlich für die Erhebung der Zölle bestimmte Grundsätze auf, behält aber daneben in Ziff. 3 dem Bunde das Recht vor, unter außerordentlichen Umständen in Abweichung der aufgestellten Prinzipien vorübergehend besondere Maßnahmen zu treffen. Wann ist nun der Erlaß von Rechtssätzen als dringlich zu bebezeichnen, mit andern Worten, welche sind die formellen und materiellen Voraussetzungen · dieses Notrechtsverordnungsrechts der Bundesversammlung ? Die Bundesverfassung hat selbstverständlich keine Bestimmungen darüber aufgestellt, unter welchen Bedingungen das Notrechtsverordnungsrecht der eidgenössischen Räte zur Geltung gebracht werden dürfe, sondern dies im großen und ganzen dem freien Ermessen der Bundesversammlung anheimstellen müssen, die naturgemäß allein in der Lage ist, im konkreten Falle festzustellen, ob der Erlaß eines Rechtssatzes als dringlich anzusehen sei. Bei der Prüfung der Frage, ob die Voraussetzungen zur Geltendmachung ihres Notrechtsverordnungs"" rechts erfüllt seien, ist jedoch die Bundesversammlung an ganz bestimmte, sich aus der Bundesverfassung ergebende Richtlinien gebunden. Die eidgenössischen Räte müssen an den Begriff der Dringlichkeit den strengsten Maßstab anlegen. Aus dem Wortlaut der Verfassungsvorschrift, dem Ausdrucke "dringlich" ergibt sich nämlich, daß eine Notrechtsverordnung nur dann zulässig ist, falls der Erlaß der Rechtsnorm keinen Aufschub duldet. Dies trifft aber allein im Falle eines Notstandes zu. Das Notverordnungsrecht der eidgenössischen Räte soll somit nur zur Beseitigung eines Notstandes geltend gemacht werden können; und zwar soll man nur dann zu einem allgemeinverbindlichen dringlichen Bundesbeschlusse greifen dürfen, falls der Notstand auf keine andere Weise behoben werden Festgabe für Fritz Fleiner ·

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Zaccaria Giacometti,

kann. Andrerseits darf die Notrechtsverordnung nur solange i Kraft bleiben, als der Notstand andauert und nicht länger. Di kraft des Notrechtsverordnungsrechts erlassenen Rechtssätze sin~ somit rein provisorischer Natur; sie müssen daher, falls der Not stand zu einem andauernden Zustande werden sollte, in die ordent liehe Gesetzgebung übergeführt werden; sollte dabei das betreffend~ Bundesgesetz in einer etwaigen Referendumsabstimmung ver worfen werden, so ist daraufhin der dringliche Bundesbeschlul von der Bundesversammlung trotzdem aufzuheben. Der Notstan< soll weiter nicht nur subjektiv, d. h. nach der Ansicht der Bundes versammlung, sondern auch objektiv, d. h. dem Dritten erkennbaJ vorhanden sein. Der Notstand kann nach der persönlichen Seit~ hin ein allgemeiner sein, d. h. der Staat, die Allgemeinheit selbe1 ist im Notstand, oder aber ein besonderer, das will heißen, nur eir Bevölkerungsteil erleidet einen Notstand. Nach der sachlicher Seite hin kann weiter der Notstand ein solcher polizeilicher Natm sein, d. h. die persönliche Sicherheit der Allgemeinheit .oder be· stirnroter Bevölkerungskreise ist gefährdet, oder aber wirtschaft· lieber Art, d. h. die wirtschaftliche Lage der Allgemeinheit odm gewisser Bevölkerungsteile läuft nach einer bestimmten Richtun~ hin Gefahr usw. Die Anlegung eines strengen Maßstabes an die Voraussetzungen des Notrechtsverordnungsrechts der Bundesversammlung rechtfertigt sich vor allem unter dem Gesichtspunkte, daß der allgemein· verbindliche Bundesbeschluß dringlicher Natur einen, wenn aucl verfassungsrechtlich zulässigen Einbruch in dq.s verfassungsmäßi! festgelegte Mitwirkungsrecht der Aktivbürgerschaft, und in ge wissem Sinne auch der Kantone, an der Rechtssetzung darstellt Ist ja das Verhältnis der Vorschrift über die Dringlichkeitsklause im Art. 89 Abs. 2 der Bundesverfassung zu diesem Artikel das jenige einer lex specialis zu einer lex generalis. Es ist aber selbst verständlich der Wille der Bundesverfassung, die die MitwirkunJ der Aktivbürgerschaft an der Rechtsetzung zu einer organischm Einrichtung des Bundesstaatsrechts gemacht hat, daß die Aus schaltung des Volkes .durch den dringlichen Bundesbeschluß di1 seltene Ausnahme bilden solle. Als Ausnahmebestimmung zu ungunsten der Bürger ist nun aber die Verfassungsvorschrift be. treffend die Dringlichkeitsklausel nach einem bekannten Rechts


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grundsatze sehr restrektiv auszulegen 1). Die Bundesversammlung darf mit andern Worten bei der Geltendmachung ihres Notrechtsverordnungsrechts n~cht die Form über den Inhalt stellen, d. h. sie soll nicht ihre formellrechtliche Kompetenz dazu mißbrauchen, um Rechtssätze, die ebensogut ohne Schaden für das Ganze auf dem Wege der Bundesgesetzgebung hätten .erlassen werden können, in einem allgemeinverhindlichen, dringlichen Bundesbeschlusse aufzustellen 2). Was so dann den Inhalt der Notrechtsverordnungen der Bundesversammlung anbetrifft, so hat er sich im Rahmen der Verfassung zu halten; dies geht ohne weiteres aus Art. 85 Ziff. 2 der Bundesverfassung hervor; dies ergibt ·sich grundsätzlich aber auch schon aus der Tatsache - es wäre denn, daß die Verfassung eine Derogation durch dringlichen Bundesbeschluß ausdrücklich zulassen würde - , daß Bundesverfassung und dringlicher Bundesbeschluß nicht gleichwertige Rechtsquellen sind, da jene diese erzeugt. Die dringlichen Bundesbeschlüsse sind nur intra constitutionem möglich. Die Bundesversammlung darf somit bei der Ausübung ihres Notrechtsverordnungsrechts weder den verfassungsmäßig fest .. gelegten Kompetenzhereich des Bundes erweitern noch in die verfassungsmäßigen Rechte der Bürger eingreifen. Dieser Grundsatz der Unahänderharkeit der Bundesverfassung durch dringlichen Bundesbeschluß wird aber nach einer Richtung hin durchbrachen; die Bundesverfassung läßt in einem . konkreten Falle die Abänderung einzelner bestimmter Verfassungsvorschriften durch dringlichen Bundesbeschluß zu; die Zollnotrechtsverordnungen der Bundesversammlung dürfen nämlich gemäß Art. 29 Ziff. 3 der Bundesverfassung den in diesem Verfassungsartikel aufgestellten Grundsätzen über die Erhebung der Zölle derogieren. Hingegen ist die Bundesversammlung befugt, durch dringlichen Bundesbeschluß dem Bundesgesetzesrecht sowohl materiell als auch formell zu derogi~ren, d. h. alle in Form eines Bundesgesetzes, eines allgemeinverbindlichen nichtdringlichen Bundesbeschlusses und der darauf beruhenden Rechtsverordnungen erlassenen Rechtssätze abzuändern; der allgemeinverbindliche, dringliche Bundesbeschluß darf, anders ausgedrückt, contra Iegern sein. Materiell I) GIAco:METTI a. a. 0., S. 22. 2)

In ähnlichem Sinne

FLEINER

a. a. 0. S. 405. 24*


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Zaccaria Giacometti,

wird das ·Bundesgesetzesrecht durch einen allgemein-verbindlichen dringlichen Bundesbeschluß dann abgeändert, wenn der Inhalt dieses Beschlusses mit ihm in Widerspruch steht; der allgemeinverbindliche, dringliche Bundesbeschluß geht in diesem Falle als lex posterior vor; mit dessen Aufhebung lebt dann aber das materiell abgeänderte Bundesgesetzesrecht wieder auf. Formell wird Bundesgesetzesrecht durch einen allgemeinverbindlichen dringlichen Bundesbeschluß in dem Falle abgeändert, daß letzterer dessen Außerkraftsetzung, bzw. Abänderung expressis verbis anordnet.. Diese materielle und formelle Abänderbarkeit von Rundesgesetzesrecht durch einen allgemeinverbindlichen, dringlichen Bundesbeschluß ergibt sich aus der Tatsache, daß die Kompetenz der Bundesversammlung zur·· Rechtssetzung im Wege einer Notrechtsverordnung ebenso aus der Bundesverfassung fließt, wie die Ermächtigung zur Rechtssetzung auf dem Wege der Bundesgesetzgebung. Bundesgesetzgeber und Bundesversammlung als Träger von Notrechtsverordnungsrecht sind vor der Verfassul).g gleichwertige rechtssetzende Organe: ihre Rechtssetzung ist inhaltlich gleichartig; Bundesgesetz im formellen Sinne und allgemeinverbindlicher dringlicher Bundesbeschluß stehen mit andern Worten in der Rangordnung der Bundesrechtsquellen auf derselben Stufe. Die Wirkung der materiellen oder formellen Abänderbarkeit von Bundesgesetzen durch allgemeinverbindliche dringliche Bundesbeschlüsse insbesondere folgt auch aus dem der Rechtsnotverordnung innewohnenden Zwecke der Beseitigung eines Notstandes. Die Beseitigung eines Notstandes ist ja in manchen Fällen nur durch Außerkraftsetzung bzw. Abänderung eines Gesetzes möglich, das will heißen, die formelle oder materielle Abänderung eines Bundesgesetzes kann ein notwendiges Mittel zur Beseitigung eines Notstandes bilden. Eine solche Abänderung darf daher aber auch nur insoweit vorgenommen werden, als sie wirklich ein notwendiges Mittel hiezu darstellt. Das Formalprinzip des Vorrangs des Gesetzes gilt somit, kann man sagen, im Verhältnis zu d€m selbständigen Rechtsverordnungen der Bundesversammlung nicht. Irgendwelche rechtliche Garantien gegen den Mißbrauch des Notrechtsverordnungsrechts durch die Bundesversammlung stellt das Bundesrecht nicht auf, ebensowenig wie gegen verfassungswidrige Bundesgesetze .. Es ist weder eine Gewähr vorhanden, daß


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nicht die eidgenössischen Räte ihr Notrechtsverordnungsrecht in Verkennung von dessen Funktion über Gebühr anwenden, noch daß sie sich bei der Geltendmachung desselben im Rahmen der Bundesverfassung bewegen. Ein richterliches Prüfungsrecht nach diesen beiden Seiten hin, das besonders . als eine solche Garantie in Frage käme, ist gemäß Art. 113 Abs. 3 der Bundesverfassung ausgeschlossen. Die einzige Gewähr gegen den Mißbrauch des Notrechtsverordnungsrechts der Bundesversammlung ist politischer Natur; sie liegt vorerst bei den eidgenössischen Räten selber, iri ihrem verfassungsmäßig gestimmten Willen; sie liegt weiter insbesondere in der in der Schweiz naturgemäß stark ausgebildeten und einflußreichen öffentlichen Meinung, die mitunter einen rich:. tunggebenden psychischen Zwang auf die Bundesversammlung ·auszuüben vermag 1 ). Welches ist nun die Praxis der Bundesversammlung bei der Geltendmachung ihres Notrechtsverordnungsrechts ? Die eidgenössischen Räte haben relativ selten, besonders vor Ausbruch des Weltkrieges, bei ihrer Rechtssetzung zu dem allgemein.:. verbindlichen, dringlichen Bundesbeschluß gegriffen; wo sie es aber taten; haben sie sich im großen und ganzen von den oben im Texte entwickelten Grundsätzen leiten lassen. Dies im erfreulichen Gegensatze zu ihrer zum Teile sehr extensiven Auslegung der Kompetenznormen der Bundesverfassung 2 ). Die wenigen bisher ergangenen allgemeinverbindlichen dringlichen Bundesheschlüsse rechtssetzenden Inhalts dienen im allgemeinen der Beseitigung eines Notstandes, und zwar vorab eines wirtschaftlichen Notstandes; Sie werden auch ausdrücklich als ein Provisorium aufgestellt; sei es, daß man sie auf einen bestimmten Termin, oder aber bis zum Zeitpunkte des Erlasses eines diesbezüglichen Bundesgesetzes befristet. Sie bewegen sich durchwegs- mit einer einzigen unten zu besprechenden Ausnahme - im Rahmen der Bundesverfassung, d. h~ sie stützen sich wenigstens ausdrücklich auf eine Verfassungsvorschrift und schaffen entweder neues Recht oder ändern materiell oder auch formell bereits bestehende Rechtssätze ab. Dabei begnügt sich die Bundesversammlung in der Regel mit der Aufstellung der allgemeinen Grundsätze und überläßt die nähere 1

)

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Fr.EINER a. a. 0., S. 763. Vgl. GIAcoMETrr a. a. 0. S. 19 ff.


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Zaccaria Giacometti,

Ausführung dem Bundesrate durch Delegation ihres Notrechtsverordnungsrechts. -Als eine solche Notrechtsverordnung der Bundesversammlung sei vorab der auf Art. 2 der Bundesverfassung gestützte allgemeinverbindliche dringliche Bundesbeschluß vom 21. Februar 1878 betr .. Vorkehrungen über die Reblaus erwähnt 1 ). Dieser Bundesbeschluß wurde zum Zwecke der vorläufigen Bekämpfung der immer mehr um sich greifenden Gefahr der Phylloxera erlassen und sollte durch ein Bundesgesetz abgelöst werden; er wurde denn auch durch den allgemeinverbindlichen nicht dringlichen Bundesbeschluß von 1884 betreffend die Förderung der Landwirtschaft ersetzt. Der genannte dringliche Bundesbeschluß von 1878 ermächtigte den Bundesrat zur Ueberwachung und Untersuchung der Weinberge, zur Anordnung der erforderlichen Schutzmaßregeln gegen die Verbreitung der Reblaus und zur Aufstellung von diesbezüglichen Strafbestimmungen. Als weitere Notrechtsverordnung der Bundesversammlung kommt der ehenfalls auf ·Art. 2 der Bundesverfassung gestützte allgemeinverbindliche dringliche Bundesbeschluß Über die Abgabe inländischer Wasserkräfte an das Ausland vom 31. März 1906 2 ) in Betracht. Dieser Beschluß wurde in der Hauptsache zwecks Sicherung des Inlandsbedarfs an elektrischer Energie, der gefährdet erschien, erlassen. Seine Dauer war zunächst auf 3 Jahre beschränkt und wurde dann durch dringlichen Bundesbeschluß von 1909 bis auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens eines diesbezüglichen Bundesgesetzes, was im Jahre 1916 geschah, verlängert. Durch diesen Bundesbeschuß wurde ebenfalls neues Bundesrecht geschaffen; derselbe verbot die Abgabe elektrischer Energie aus inländischen Wasserkräften ins Ausland ohne bundesrätliche Bewilligung 3 ). Eine dritte Notrechtsverordnung der Bundesversammlung ist sodann der gestützt auf Art. 24 bis der Bundesverfassung ergangene allgemeinverbindliche dringliche Bundesbeschluß über die Versorgung des Landes mit. elektrischer Energie im Falle eintretender Knappheit vom 23. Dezember 1921 4). Dieser Beschluß 1) A. S. 3, 337.

2) A. S. 22, 160.

Der Art. 2 der Bundesverfassung konnte aber keine verfassmigsrechtliche Grundlage der beiden Rechtsverordnungen bilden, da er keinen positiven Rechtssatz darstellt. 4 ) A. S. 37, 885. 3)


Ueber das Rechtsverordnungsrecht im schweiz. Bundesstaate. 375

wurde . vor allem mit Rücksicht auf die mangelnde ·Energie im Winter 1921;22 erlassen, mit Befristung bis 15. Mai 1922; er stellt in teilweiser materieller Abänderung sowie in Ergänzung des Bundesgesetzes über-die Wasserkräfte von 1916 eine Verpflichtung der Elektrizitätswerke zur gegenseitigen Aushilfe mit elektrischer Energie, sowie eine Verpflichtung der Werke zur vollen Ausnützung der· Energiequellen auf. Als weitere Notrechtsverordnungen der eigdenössischen Räte ist ferner . der unter Berufung auf Art. 29 Schlußsatz der Bundesverfassung erlassene allgemeinverbindliche dringliche Bundesbeschluß betreffend die Beschränkung der Einfuhr vom 18. Februar 1921 zu nennen 1}. Dieser Beschluß erfolgte zum Schutze der nationalen Produktion gegen die Konkurrenzierung durch ausländische, Valutawaren und zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit und ist sukzessive bis heute verlängert worden. Er ermächtigt in materieller Abänderung des Bundesrechts über das Zollwesen den Bundesrat, die Einfuhr bestimmter Waren- zu beschränken oder von einer Bewilligung abhängig zu machen usw. Im Zusammenhange damit erscheint der ebenfalls zum Schutze der nationalen Produktion erlassene und desgleichen auf Art. 29 Schlußsatz der Bundesverfassung gestützte allgemeinverbindliche dringliche Bundesbeschluß vom 18~ Februar 1921 über die Abänderung des Zolltarifs 2 ). Dieser Bundesbeschluß soll bis zum Erlaß des revidierten Bundesgesetzes über den Zolltarif von 1902 in Kraft bleiben. Er ermächtigt in formeller Abänderung des genannten Bundesgesetzes den Bundesrat, die Ansätze des Zolltarifs entsprechend den wirtschaftlichen Verhältnissen abzuändern. Derselbe stellt ebenfalls Rechtssätze · auf, bzw. ermächtigt den Bundesrat zur Rechtssetzung, da die Zölle Steuern darstellen und nicht Gebühren. Eine weitere Notrechtsverordnung der Bundesversammlung ist sodann die im allgemeinverbindlich'en, dringlichen Bundesbeschluß betreffend :Maßnahmen zur sofortigen Vermehrung der Einnahmen des Bundes erfolgte einstweilige V erdoppelung des :Militärpflichtersatzes 3 ). Endlich sei noch · auf d{m all2 ) A. S. 37, 129. A. S. 37, 130. A. S. 30, 672. Die in diesem Beschlusse erfolgten Erhöhungen der Tarife stellen hingegen Imine Rechtssätze dar, sondern bilden den Inhalt einer Notverwaltungsverordnung, da diese Tarife Gebühren und nicht Steuern sind. 1) 3)


376

Zaccaria Giacometti,

gemeinverbindlichen dringlichen Bundesbeschluß vom 20. De~ zember 1887 betr. Art. 32 bis der Bundesverfassung hingewiesen 1 ). Man kann sich zwar fragen, ob dieser Bundesbeschluß wirklich der Dringlichkeitsklausel bedurfte, da er lediglich eine Interpre~ 'tation des Art. 32 bis der Bundesverfassung darstellt. Er hat die Bestimmung . der genannten V erfassungsvorschrift, wonach das Brennen von Wein, Obst und deren Abfällen, von Enzian~ wurzeln, Wacholderbeeren und ähnlichen Stoffen betreffend die Fabrikation und Besteuerung nicht unter die Bundesgesetzgebung fällt, dahin ausgelegt, daß sich dieselbe lediglich auf die Stoffe inländischer Herkunft bezieht. In einem Falle ihrer Praxis des Notrechtsverordnungsrechts allerdings, wie oben schon angedeutet, --. wenn man von den beiden auf Art. 2' der Bundesverfass~ng beruhenden und daher ebenfalls verfassungswidrigen allgemeinverbindlichen dringlichen und zwar bei Erlaß Bundesbeschlüssen absehen will ihrer bis jetzt weitaus wichtigsten Notrechtsverordnung ist die Bundesversammlung von den oben dargelegten · Grundsätzen nach einer bestimmten Richtung hin abgewichen. 'iVir meinen den berühmten allgemeinverbindlichen Bundesbeschluß dringlicher Natur vom 3. August 1914 betreffend Maßnahmen zum Schutze des Landes und zur Aufrechterhaltung der Neutralität während der Dauer des Weltkrieges 2 ), durch welchen Beschluß die Bundesversammlung· dem Bundesrat unbeschränkte Vollmacht erteilte "zur Vornahme a.ller Maßnahmen, die für Behauptung der Sicherheit, Integrität und Neutralität der Schweiz und zur Wah~ rung des Kredites und der wirtschaftlichen. Interessen des Landes, insbesondere auch zur Sicherung des Lebensunterhaltes erforderlich werden". Diese Notrechtverordnung der eidgenössischen Räte bewegt sich entgegen den dargelegten Grundsätzen nicht intra constitutionem 3 }. Der Bundesrat hat sich nämlich auf Grund dieses 2 ) A. S. 30, 347. A. S. 10, 420. Man kann sich dabei auch fragen, ob nicht der oben im Texte erwähnte auf Art. 29 Schlußsatz BV. fußende dringliche Bundesbeschluß von 1921 über die Beschränkung der Einfuhr insoweit als er den Bundes~ . rat zu Einfuhrverboten, also zur Beeinträchtigung der Gewerbefreiheit ermächtigt, verfassungswidrig sei; mit anderen Worten, sind unter besonderen Maßnahmen im Sinne von Art. 29 Ziff. 3 BV. auch Einfuhr~ verbote verstanden, d. h. ist diese soeben erwähnte Verfassungsvor1) 3

)


Ueber das Rechtsverordnungsrecht im schweiz. Bundesstaate. 377

Bundesbeschlusses unter Billigung der Bundesversammlung für -befugt gehalten, nicht nur Bundesgesetzen, sondern auch Vorschriften der Bundesverfassung, so vor allem durch Eingriff in die verfassungsmäßigen -Rechte der Bürger und in den Kompetenz .. hereich der Kantone zu derogieren 1 }. Die Theorie hat zwar ihrerseits fast einstimmig diese Derogation von V erfassungsvorschritten durch die auf Grund des genannten Bundesbeschlusses ergq.ngenen bundesrätlichen Verordnungen als verfassungsgemäß betrachtet und somit auch den zu dieser Derogation ermächtigenden dringlichen Bundesbeschluß als nicht contra constitutionem verstoßend angesehen 2 }. Die Doktrin sucht die Verfassungsmäßigkeit dieses Bundesbeschlusses in der Weise zu begründen, daß sie letzteren aus einer besonderen Kompetenznorm der Bundesverfassung bzw. aus einer ungeschriebenen, den geschriebenen Verfassungsvorschriften gleichwertigen Kompetenzbestimmung neben der Bundesverfassung ableitet, welche besondere Kompetenzvorschrift als Iex specialis den übrigen Vorschriften der Bundesverfassung bzw. den geschriebenen · V erfassungsnormen derogiert. So wurde die verfassungsrechtliche Grundlage des Bundesb'eschlusses von 1914 vorab im Art. 85 Ziff. 6 der Bundesverfassung erblickt, demzufolge die Bundesversammlung Maßregeln für die äußere Sicherheit, für die Behauptung der Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz zu treffen hat; dieser Artikel wurde dahin ausgelegt, daß die qarin erwähnten Maßregeln nötigenfalls mit der Verfassung in Widerspruch geraten können, mit andern Worten, daß diese Verfassungsnorm als Iex specialis den andern Verfassungsvorschriften vorgehe 3 ). Daneben wird die Verfassungsmäßigkeit des Bundesbeschlusses auch aus Art. 85 Ziff. 6, 7 und 8 ·in Verbindung mit Art. 2 der Bundesverfassung erblickt 4 ). Diesen beiden Auffassungen ist vorerst entgegenzuhalten,. daß gemäß Art. 84 der Bundesverschrift auch eine Iex specialis im Verhältnis zu Art. 31 BV. und nicht nur zu Ziffer 1, 2 und 3, erster Satz von Art. 29 BV.? 1 ) Vgl. dazu FLEINER a. a. 0., S. 217 ff., 416 ff. 2 ) FLEINER a. a. 0., S. 217 ff., 416 ff. und die daselbst zitierte Literatur. 3 ) BURCKHARDT, Zeitschrift für schweizerisches Recht, N. F. Band 35, s. 618 ff. 4 ) v. WALDKIRCH, Die Notverordnungen im schweizer. Bundesstaatsrecht, Berner Dissertation, S. 17 ff.


378

Z a ec a r i a G i a c o m e t t i,

fassung die eidgenössischen Räte alle Gegenstände zu behandeln haben, welche ·nach Inhalt der Verfassung in die Kompetenz des Bundes gehören und nicht einer andern Bundesbehörde zugeschieden sind; Art. 85 Ziff. 6 seinerseits nennt als solche Gegenstände unter anderm die Maßregeln für die äußere Sicherheit, für Behauptung der Unabhängigkeit usw.; daraus folgt, daß die Bundesversammlung auch zu solchen Maßregeln im Sinne der genannten Verfassungsvorschrift nur insoweit zuständig ist, als sie mit der Verfassung im Einklang stehen 1 ). Das ergibt sich mit aller Deutlichkeit auch aus dem bereits mehrfach zitierten Art. 85 Ziff. 2 der Bundesverfassung. Gegen die genannte Auslegung des Art. 85 spricht weiter auch der Umstand, daß nach einem wichtigen Interpretationsgrundsatz der zweiteAbschnitt der Bundesverfassung keine neuen Bundeskompetenzen begründet 2 ). Was sodann die Heranziehung des Art. 2 der Bundesverfassung zur Begründung derVerfassungsmäßigkeit des Bundesbeschlusses von 1914 anbetrifft, so ist darauf hinzuweisen, daß ·dieser Artikel nach herrschender Lehre keine Kompetenznorm, überhaupt keinen positiven Rechtssatz enthält 3 ). Gegen die erwähnte Auslegung des Art. 85 spricht weiter auch die Erwägung, daß die Bundesverfassung, wollte sie wirklich der Bundesversammlung die eminent wichtige Befugnis zur Notrechtssetzung contra constitutionem zusprechen, dies auch expressis verbis angeordnet hätte, wie es hinsichtlich der Kompetenz des Bundes zur Abänderung der verfassungsrechtlichen Grundsätze über die Erhebung der Zölle geschehen ist 4 ). So wird weiter die Verfassungsmäßigkeit des Bundesbeschlusses von 1914 aus dem Wesen des Staates, aus dem staatlichen Selbsterhaltungstrieb mitteist der Inversionsmethode gewonnen 5 ). Die Inversionsmethode bildet jedoch kein taugliches Mittel zur Auslegung der Bundesverfassung. Denn die auf Grund dieser Methode erzielten ~esultate stellen überhaupt keine Interpretation 1 ) In ähnlichem Sinne auch Hrs, Zeitschrift für schweizerisches Recht N. F. Band 36, S. 287 ff. 2) FLEINER a. a. 0. S. 43. 3 ) GIAcoMETTr a. a. 0., S. 28 und die daselbst zitierte Literatur. 4) Vgl. oben S. 371. 5 ) FLEINER a. a. 0. S. 217 ff; HoERNI, De l'etat de necessite en droit public federal suisse, Genfer Dissertation, S. 1 ff.


Ueber das Rechtsverordnungsrecht im schweiz. Bundesstaate. 379

des positiven Rechts dar; es wird vielmehr auf diese Weise neues, der geschriebenen Verfassung widersprechendes materielles Recht geschaffen. Die Inversionsmethode dient eben nicht der Rechtsfindung, sondern der Lückenausfüllung durch Rechtsschöpfung 1 ). Dieses auf dem Wege der Inversionsmethode gewonnene neue Recht, ·in casu die ungeschriebene Bundeskompetenz zur Derogation · der geschriebenen Bundesve~fassung stellt somit als nicht auf dem Wege der V erfassungsgesetzgehung geschaffene und daher außerhalb der geltenden . Rechtsordnung stehende Norm nichts anderes als ein Stück Naturrecht dar 2 ). Vom Boden des Rechtspositivismus aus muß aber jede staatliche Kompetenz auf einen geschriebenen Verfassungsrechtssatz hegründet werden können. Der Bundesbeschluß von 1914 und die darauf fußende Notrechtssetzung des Bundesrates können also unseres Erachtens, soweit sie der Bundesverfassung derogiert haben, juristisch nicht konstruiert werden 3 ). .Es liegt hier . ein . durch höhere Staatsräson bedingter Verfassungsbruch vor 4 ). h) Neben dem selbständigen generellen und speziellen Notverordnungsrecht steht der Bundesversammlung auch ein selbständiges spezielles Rechtsverordnungsrecht schlechthin zu. Die Bundesverfassung hat der Bundesversammlung in zwei genau umschriebenen Fällen eine solche spezielle Rechtsverordnungsgewalt zugesprochen, und zwar in den beiden transitorischen Verfassungsartikeln von 1915 und 1919 über die Erhebung einer ersten und zweiten eidgenössischen Kriegssteuer 5 ). Dieselben haben nämlich, da siebereits die maßgehenden Ausführungsgrundsätze enthalten, die Bundesversammlung zur endgültigen Aufstellung der Ausführungsvorschriften ermächtigt unter Ausschluß des ordentlichen Gesetzgea. a. 0. S. 23. Vgl. über die geistesgeschichtliche Verwandtschaft zwischen Inversionsmethode und Naturrecht TRIEPEL, Staatsrecht und Politik, Rektoratsrede 1926, S. 27 ff. 3 ) J:EZE, L'executif en temps de guerre, S. 103 ff. bestreitet überhaupt die Existenz ~ines Staatsnotrechts im schweizerischen Bundesstaat. 4 ) In ähnlichem Sinne für das französische Recht HAuRrou Precis de droit constitutionel S. 503; vgl. auch KEI.SEN a. a. 0. S. 501 ff. 5 ) Vgl. darüber FLEINER a. a. 0., S. 673 ff.; GIACOMETTI, Das Verfassungsrechtsleben der schweizerischen Eidgenossenschaft in den Jahren 1914-1921 (Jahrbuch des öffentlichen Rechts XI, S. 320 ff.). 1)

· 2)

GIACOMETTI,


380

Zaccaria GiacomettJ.,

bungsweges. Dementsprechend sind ~ie beiden "Kriegssteuergesetze" in der Form eines dem Referendum entzogenen einfachen Bundesbeschlusses ergangen 1 ). Inhaltlich können dieselben als selbständige Rechtsverordnungen nach dem oben Ausgeführten in gleicher vVeise Bundesgesetze abändern wie die dringlichen Bundesbeschlüsse. Untersteht nun der noch geltende Kriegssteuerbeschluß vom 28. September 1920 dem richterlichen Prüfungsrecht? Diese Frage muß unseres Erachtens verneint werden. Einfache Bundesbeschlüss!3 sind allerdings gemäß Art. 113 letztein Absatz der ·Bundesverfassung für das Bundesgericht nicht verbindlich. Die in Frage stehende Rechtsverordnung der Bundesversammlung vertritt hier aber von V erfassungswegen die Stelle eines Gesetzes; sie ist eine dem Gesetze gleichwertige Rechtsquelle und teilt somit bezüglich des richterlichen Prüfungsrechts das gleiche Schicksal wie das Gesetz. Art. 113 Abs. 3 der Bundesverfassung stellt den Niederschlag der Idee des Vorrangs der Volksvertretung als gesetzgebende. Gewalt dar; mit andern Worten, der genannten Verfassungsvorschrift liegt das Prinzip zugrmide, daß alle von der Bundesversammlung kraft unmittelbarer verfassungsrechtlicher Ermächtigung erlassenen, also auf gleicher Rangstufe stehenden Rechtssätze dem richterlichen Prüfungsrecht entzogen sind. 2. Besteht neben dem selbständigen Rechtsverordnungsrecht der Bundesversammlung q.uch ein solches des Bundesrates ? Theorie und Praxis haben dies wiederholt bejaht, und zwar sowohl mit Bezug auf ein spezielles als auch auf ein generelles selbständiges Rechtsverordnungsrecht. Eine spezielle selbständige Rechtsverordnungsgewalt des Bundesrates wird zunächst im Art. 102 Abs. 9 und 10 der Bundesverfassung bzw. im gleichlautenden Art. 90 Ziff. 9 und 10 der Bundesverfassung von 1848 erblickt, denen zufolge der Bundesrat über die äußere und innere Sicherheit des Landes; für die Handhabung von Ruhe und Ordnung und für die Behauptung der Neutralität wacht 2). Es handelt sich hier somit um ein Notrechtsverordnungsrecht bei ganz bestimmten Notständen. Ein solches selbständiges Notrechtsverordnungsrecht des Bundesrates wird 1) A. S. 31, 445, 36, 667. 2 ) FLEINER a. a. 0. S. 414; BuRCKHARDT in der Zeitschrift für schweizerisches Recht, N. F. 35, S. 623.


Heber das Rech,tsverordnungsrecht im schweiz. Bundesstaate.

381

außerdem auch aus. der im Art. 102 Ziffer 8 der Bundesverfassung niedergelegten hundesrätlichen Kompetenz zur Führung der auswärtigen Angelegenheiten abgeleitet 1 ) •. Man kann sich zwar fragen, ob. aus Art. 102 der Bundesverfassung wirklich ein selbständiges Notrechtsverordnungsrecht des Bundesrates herausgelesen werden dürfe. Der Wortlaut der Verfassungsvorschrift spricht eher da . . gegen; es heißt im Artikel 102, im Gegensatz zu Art. 85 Ziffer 6, nicht daß der Bundesrat Maßregeln für die äußere Sicherheit usw .. zu treffen, sondern nur, daß er darüber zu wachen habe. Jedenfalls kann aber der Bundesrat sein spezielles selbständiges Notrechtsverordnungsrecht, sollletzteres überhaupt einen Sinn haben, nur für den Zeitraum da di.e Bundesversammlung noch nicht versammelt ist, ausüben; ansonst würde das bundesrätliche Notrechtsverordnungsrecht mit demjenigen 'der Bundesversammlung kollidieren .und wäre insoweit überflüssig, da der Bundesrat, wie gesehen, sowieso letzteres bereits· auf dem Wege der Delegation ausübt. Inhaltlich haben sich diese selbständigen bundesrätlichen Notrechtsverordnungen selbstverständlich ebenfalls im Rahmen der Bundesverfassung zu bewegen, im übrigen dürfen sie wie die Notrechtsverordnungen der Bundesversammlung Gesetze abändern, unterstehen jedoch im Gegensatz zu jenen dem richterlichen Prüfungsrecht. Auf Grund des Art. 90. Ziffer 9 der Bundesverfassung von 1848 hat der Bundesrat beispielsweise in den Kriegsjahren 1866 und 1870 derartige Notrechtsverordnungen zur Handhabung der Neutralität erlassen 2 ). Aus Art. 102 Ziffer 9 und 10 der Bundesverfassung von 1874 wird jedoch, im Gegensatz zum Gesagten, ein Notrechtsverordnungsrecht des Bundesrates in dem Sinne abgeleitet, daß letzterer und zwar subsidiär neben der Bundesversammlung zu Maßregeln befugt sei, die mit der Bundesverfassung in Widerspruch stehen 3 ). Diese Auffassung ist aus den bei Besprechung des Notrechtsverordnungsrechts der Bundesversammlung dargelegten Gründen abzulehnen. Die Unzulässigkeit der Derogation der Bundesverfassung durch eine selbständige bundesrätliche Notrechtsverordnung ergibt sich jedoch im übrigen schon aus Art. 102 Absatz 1 in Verbindung 1) 2) 3)

BuRCKHARDT a. a. 0., S. 623. FLEINER a. a. 0., S. 414 Anm. 13. v. WALDKIRCH a. a. 0. S. 25 ff. BuRcKHARDT a. a. 0., S. 623; v. WALDKIRCH S. 17 ff.


Zaccaria Giacometti,

382

mit Art. 102 Ziffer 9 der Bundesverfassung. Der zitierte Absatz 1 des Art. 102 bestimmt nämlich, daß der Bundesrat nur innert den Soliranken der Verfassung die . in den verschiedenen Ziffern des Art. 102 aufgezählten Befugnisse und Obliegenheiten habe. Neben dem speziellen selbständigen Notrechtsverordnungsrecht, wird aber in der -Praxis mitunter auch ein generelles selbständiges Rechtsverordnungsrecht des Bundesrates schlechthin geltend gemacht. So hat der Bundesrat mitUnter schon eine generelle Kompetenz zum Erlasse von Rechtsverordnungen aus der ihm g~mäß Art. 102 Ziff. 5 der Bundesverfassung zustehenden Vollziehungsgewalt abgeleitet 1 ). So ist beispielsweise die Rechtssätze enthaltende Vollziehungsverordnung vom 17. März 1879 zum Bundesgesetz vom 24. Juni 1877 ohne Gesetzesdelegation, also anscheinend kraft der bundesrätlichen Vollziehungsgewalt erlassen worden. Dies sind aber nur vereinzelte Ausnahmefälle. In der Regel übt der Bundesrat in seinen Vollziehungsverordnungen Rechtssetzung nur kraH ausdrücklicher Ermächtigung durch das zu vollziehende Bundesgesetz aus. Und dies mit Recht. Die Vollziehung der Bundesgesetze stellt, insoweit sie durch Rechtsverordnungen, also mitteist Erlaß von Rechtssätzen erfolgt, ein Stück Rechtssetzung und nicht ein Stück Verwaltungstätigkeit dar und fällt also prinzipiell in die Kompetenz der gesetzgebenden Behörde und nicht der Exekutive. Die generelle bundesrätliche Kompetenz zum Erlaß von Vollziehungsverordnungen rechtssetzenden Inhalts würde somit gegen Art. 84 und 85 Ziff. 2 der Bundesverfassung, d. h. gegen den auch von der Bundesverfassung insoweit rezipierten Grundsatz der Trennung der Gewalten, als die gesßtzgebende Gewalt unter Vorbehalt der Volksrechte prinzipiell der Bundesversammlung übertragen ist, verstoßen. Die Unzulässigkeit eines derartigen generellen selbständigen Rechtsverordnunsrechts des Bundesrates folgt aber schon ohne weiteres aus dem Wortlaut des Art. 102 Ziffer 5 der Bundesverfassung selbst, dahingehend, daß der Bundesrat die Bundesgesetze vollzieht. 1

)

v.

SALIS

II N r. 375.


Ueber das Rechtsverordnungsrecht im schweiz. Bundesstaate. 383

11.

Neben dem selbständigen, d. h. neben dem unmittelbar aus der Bundesverfassung abgeleiteten Rechtsver.o rdnungsrecht besteht nach der Praxis der .Bundesbehörden auch ein unselbständiges, d. h. auf einer gesetzlichen Ermächtigung, der sog. Gesetzesdelegation, und zwar entweder auf einem Gesetz im formellen und materiellen Sinne oder aber nur im materiellen Sinne .beruhendes Bundesrechtsverordnungsrecht 1). Dieses unselbständige Bundesrechtsverordnungsrecht ist nur ein spezielles; es wird lediglich von Fall.zu Fall delegiert, d. h. das Delegationsgesetz kann nach der Praxis der Bundesversammlung nur die Ermächtigung zum Erlasse von Rechtssätzen über Materien, auf die es sich erstreckt, enthalten. Innerhalb dieser Schranken darf aber die Gesetzesdelegation nach der Praxis eine generelle sein, mit andern Worten: die gesetzliche Ermächtigung ist nicht auf den Erlaß von Rechtssätzen über einzelne genau umschriebene Gegenstände des betreffenden delegierenden Gesetzes beschränkt 2 ), sondern kann allgemein auf Rechtssetzung über alle in diesem Gesetze behandelten Materien gehen 3 ). Träger desselben ist vor allem der Bundesrat. In der Regel beruht dabei das Rechtsverordnungsrecht des Bundesrates auf einem Bundesgesetze, also auf einem Gesetz im formellen und materiellen Sinne und die auf Grund der Gesetzesdelegation erlassenen Rechtsverordnungen stellen sog. Vollziehungsverordnungen zum Gesetze dar. Solche Vollziehungsverordnungen rechtssetzenden Inhaltes erläßt der Bundesrat zu den meisten Bundesgesetzen im formellen und im materiellen Sinne. ·Es ist zwar nicht leicht, diese Vollziehungsverordnungen in · allen Fällen auf eine ausdrückliche Gesetzesdelegation zurückzuführen, so daß man sich mitunter fragen könnte, ob der Bundesrat einzelne Vollziehungsverordnungen nicht vielmehr kraft seiner Vollziehungsgewalt habe erlassen wollen. So beschränkt sich beispielsweise der Gesetzgeber Vgl. für das Zürcherische Recht die soeben - erst nach Drucklegung dieser Arbeit erschienene Zürcher Dissertation von HANs RUEGG, Die Verordnung nach zürcherischem Staatsrecht. 2 ) Beispiele: Art. 5 Abs. 2, Art. 7 letzter Absatz, Art. 13 Abs. 2 usw. des Lebensmittelgesetzes 1907 (A. S. 22, 337). 3 ) Beispiele: Art. 46 Abs. 2 des Bundesgesetzes über den Telegraphenund Telephonver kehr. (A. S. 39, 26); Art. 29 des Bundesgesetzes betreffend die Betäubungsmittel (A. S. 41, 444) usw. 1)


384

Zaccaria Giacometti,

manchmal darauf, den Bundesrat mit der Vollziehung des Gesetzes zu beauftragen 1 ) oder den Bundesrat anzuweisen, die zur Vollziehung des Gesetzes erforderlichen Vorschriften aufzustellen 2 ) bzw~ die Vollziehungsvorschriften zu erlassen 3 ). Liegt hier auch eine Gesetzesdelegation vor? Nach dem Wortlaute prima facie jedenfalls nicht. Wohl aber muß eine solche aus verschiedenen Umständen trotzdem angenommen .werden. Das Vorhandensein einer Gesetzesdelegation ergibt sich vorerst daraus, daß die Vollziehung eines Gesetzes ohne Erlaß von Rechtssätzen durch den Bundesrat. als die Exekutivgewalt eine Selbstverständlichkeit ist; sie gehört zu den spezifischen verfassungsmäßigen Funktionen des Bundesrates und bedarf somit keines Auftrages des Gesetzgebers, der hiezu auch gar nicht kompetent wäre; der in manchen Bundesgesetzen enthaltene Auftrag zur · Gesetzesvollziehung Dies wird muß .daher einen weitgehenderen Sinn haben. durch die Tatsache bestätigt, daß einzelne Bundesgesetze, die keine Vollziehung durch Rechtssätze bedürfen, auch keinen solchen Auftrag an den Bundesrat enthalten 4). Das Vorhandensein einer Gesetzesdelegation auch in den oben dargelegten Fällen folgt weiter daraus, ~aß der Bundesrat sich in seinen Rechtsverordnungen gewöhnlich auch dann auf einen bestimmten Ermächtigungsartikel des Gesetzes stützt, wenn letzteres nur einen allgemeinen Auftrag zur Gesetzesvollziehung enthält 5 ), und daß umgekehrt der Bundesrat mitunter Rechtsverordnungen ohne Hinweis auf einen delegierenden Gesetzesartikel, sondern lediglich in Vollziehung des betreffenden Bundesgesetzes erläßt, obwohl dieses eine ausdrückliche Gesetzesdelegation ap.fweist 6 ). 'iVenn so1 ) Vgl. beispielsweise Art. 20 des Bundesgesetzes von 1919 über die Arbeitszeit in den Verkehrsanstalten (A. S. 36, 772). 2 ) Art. 47 des Postgesetzes von 1924 (A. S . .41, 350). 3 ) Art. 68 des Bundesgesetzes über Vogelschutz (A. S. 41, 742). 4 ) Vgl. z. B. Bundesgesetz über die Militärversicherung von 1914 (A. s. 33, 1121). s) Vgl. GUHL a. a. 0. S. 86, Anm. 112. 6 ) Z. B. Art. 55 des Bundesgesetzes über das Lotteriewesen in Verbindung mit dessen Vollziehungsverordnung (A. S. 39, 353, 40, 241.) Art. 68 des Bundesgesetzes über Stempelabgabe lin Verbindung mit dessen Vollziehungsverordnung (A. S . . 34, 59, 247).


Ueber das Rechtsverordnungsrecht im schweiz. Bundesstaate. 385

mit auch in diesen Fällen eine Gesetze~delegation angenommen werden muß, so ist nichtsdestoweniger die diesbezügliche Terminologie als höchst unkorrekt zu b~zeichnen. Aber nicht nur hier, sondern auch in seiner sonstigen Delegationspraxis bedient sich der Gesetzgeber ein.er willkürlichen, sprunghaften Terminologie. Bald erfolgt die Gesetzesdelegation in der Weise, daß der Bundesrat die zur Ausführung der Gesetze erforderlichen Vorschriften oder V er:. ordnungen zu erlassen hat 1 ), bald wird der _Bundesrat mit dem Vollzuge des Gesetzes und mit dem Erlaß der erforderlichen V oll., Eugsverordnungen be~uftragt 2 ), , oder hat die zum Vollzuge des Gesetzes erforderlichen Verordnungen 3 ) bzw. näheren Vorschriften , zu erlassen 4 ) 5}. Das unselbständige Rechtsverordnungsrecht des Bundesrates kann aber außer auf einem Bundesgesetze auch auf einer selbständigen Rechtsverordnung der Bundesversammlung beruhen 6). Nicht nur der Gesetzgeber delegiert somit sein Gesetzgebungsrecht, sondern auch die Bundesversammlung ihr selbständiges Rechtsverord., nungsrecht. So hat die Bundesversammlung vor allem ihr Notrechtsverordnungsrecht im speziellen Falle zum großen Teil an

r

Art. 66 des Bundesgesetzes über das Schiffahrtsregister (A. S. 40, 80) Art. 25 des Bundesgesetzes über die Kaution der Versicherungsgesell-. schaften. 2 ) Art. 16 des Bundesgesetzes über die Beaufsichtigung der Privat .. versicherungsunternehmungen. 3 ) Art. 24 des Bundesgesetzes betreffend die Betäubungsmittel (A. s. 41, 444). 4 ) Art. 17 des Bundesgesetzes über die Arbeitszeit in den Verkehrsanstalten. (A. S. 36, 772). 5 ) Vgl. für das deutsche Recht: 0, BÜHLER, Der zulässige Inhalt von Ausführungsbestimmungen zu Steuergesetzen nach der Rechtsprechung des preußischen Oberverwaltungsgerichts. und derjenigen des Reichsfinanzhofs in der Festgabe zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens des Preußischen Oberverwaltungsgerichts, 1925~ · ' · · · 6 ) Es kann in Ausnahmefällen aber auch auf einer unselbständigen Hechtsverordnung der Bundesversammlung beruhen (vgl. darüber unten S. 387) Beispiel: Bundesratsbeschluß vom 26. Dezember 1917, betreffend _B ehandlung von Streitigkeiten aus der Militärversicherung, der teilweise auf Art. 177 des auf Grund des Art. 122 des Bundesgesetzes über die Kranke~- und Unfallversicherung von 1911 erlassenen einfachep. Bundesbeschlusses vom 28. März 1917 betr. Organisation und Verfairren des eidgen. Versi~l1erungsgerichts beruht._ · ' 1)

Festgabe für Fritz Fleiner.

25


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Zaccaria Giacometti,

den Bundesrat delegiert, der dasselbe; in Form von hundesrätlichen Notrechtsverordnungen zur Geltung gehracht hat. Die oben erwähnten · allgemeinverhindlichen, · dringlichen . Bundesbeschlüsse haben ja, wie schon bemerkt, in der Hauptsache nichts anderes als die. Delegation von Notrechtsverordnungsrecht an den Bundes., rat zum Inhalte. Als solche unselbständige Notrechtsverordnungen des Bundesrates fallen vorab alle vom Bundesrat auf Grund des all-genieinverhindlichen dringlichen Bundesbeschlusses vom 3. August 1914 erlassenen Rechtssätze in Betracht· 1 }. Dazu kommen die auf Grund · der andern · allgemeinverbindlichen, dringlichen Bundes,.. beschlüsse ergangenen Rechtsverordnungen, so die Vollziehungs.verordnung vom 14. März 1921 und die Bundesratsbeschlüsse zum Bundesbeschluß über Beschränkung der Ausfuhr 2 ) · usw. Weiter hat . die Bundesversammlung ihr auf Grund' der beiden transito". rischen Verfassungsbestimmungen über .die Erhebung der Kriegs·.,. steuer-zustehendes Rechtsverordnungsrecht zumTeile dem Bundesrat übertragen 3 ): Außer dem Bundesrat kann aber in ge:dngem Umfange auch das Huridesgericht Träger von •unselbständigem Rechtsverordnungs .. r~cht sein 4 ). Subjekt desselben kann weiter nach der Praxis auch die BundesversaJl1mlung sein, jedoch naturgemäß allein kraft Dele:gation durch ein Bundesgesetz im formellen Sinne, nicht kraft Delegation durch eine selbständige Rechtsverordnung, da sie ja selber Träger dieser selbständigen Rechtsverordnungsgewalt ist. So wurde in einigen Fällen die nähere Regelung einer Materie auf dem Wege der: R,echtssetzung durch Bundesgesetz endgültig der Bundesversammlung übertragen, die das delegierte Rephtsverordnungsrecht in ·Form eines einfachen Bundesheschlusses ausübt 5 )·. Nach der F. BAER, Sammlung der schweizerischen Kriegsverordnu:itgen. A. S. 37, '1 93 ff. 3 ) Vollziehungsverordnungen vom 30. Dezember 1915 (A. S. 31, 445) und vom .6. Dezember 1920 (A. S. 36; 817). ' 4 ) Auch den Kantonen kann kraft Delegation durch Bundesgesetz ein Rechtsverordnungsrecht zustehen. Die kraft derselben erlassenen Rechtsverordnungen stellen aber keine Bundesrechtsverordnungen, ·s ondern kantonale Rechtsverordnungen dar. FLEINER a. a. 0., S. 415. Vgl. aber oben S. 362 Anm. 2. 5 ) Beispiele bei BuRCKIIARJ)T, ·Kommentar, S. 684, sowie in Stenographischen Bulletins der Bundesversammlung. 1916. StänderatS. 54 ff. 1 )' 2)


Ueber das Rechtsverordnungsrecht im schweiz. Bundesstaate. 387

Praxis der Bundesversammlung stellt somit neben dem Bundesgesetz, allgemeinverbindlichen nichtdringlichen oder dringlichen Bundesbeschluß auch der einfache Bundesbeschluß eine Form dar, in die·die eidgenössischen Räte Rechtssätze einkleiden können. Es sei beispielsweise erinnert an Art. 38 des Schlußtitels des Zivilgesetzbuches, wonach die nähere Ordnung der Kostentragung anläßlich der Grundbuchvermessungen durch die -Bundesversammlung erfolgt. Es sei weiter auf Art. 7 des Bundesgesetzes über die Militärversicherung von 1914 hingewiesen, demzufolge die Bundesversammlung die Versicherung· auf andere als die im Gesetze genannten Personen ausdehnendarf 1 ). Hierher gehört sodann auch Art. 122 des Bundes .. gesetzes über die Kranken..: und Unfallversicherung von 1911, der die Bundesversammlung ' mit der Regelung der Organisation und des Verfahrens des ~idgenössische:ä Versicherungsgerichts betraut 2 )~ Auf Grund dieser letzten Gesetzesdelegation ist der einfache Bu:tidesbeschluß vom 28. März 1917 über 'die Organisation und das V erfahren des eidgenössischen Versicherungsgerichts ergangen 3 ), der nicht nur V erwaltungsvorschriften, sondern auch Rechtssätze zum Inhalte hat, und somit insoweit eine unselbständige Rechtsverordnung der ·Bundesversammlung darstellt. Die Träger von unselbständigem Rechtsverordungsrecht können nach der Praxis der Rundesbehörden dasselbe subdelegieren. So hat der Bundesrat ·zu · verschiedenen Malen seine tinselbständige Notrechtsgewalt an 'die Departemente übertragen 4); desgleichen hat die Bundesversammlung ihr · unselbständiges Rechtsverordnungsrecht in Ausnahmefällen an den Bundesrat weiter delegiert 5 ). Welches sind nun · die verfassungsrechtlichen · Grundlageil der sog. Gesetzesdelegation, d. h. der Delegation des ' Gesetzgebungs-· rechts und des selbständigen Rechtsverordnungsrechts? Um diese· Frage beantworten zu können, istvon der Funktion dieser Gesetzesdelegation auszugehen. Dieselbe will im konkreten Fall die rechtssetzende Gewalt von deren verfassungsmäßigen Trägern auf ein anderes staatliches Organ überwälzen; mit anderen Worten, es sollen im besonderen Falle die Kompetenzen der rechtssetzenden Organe zugunsten anderer staatlicher Organe ~in geschränkt wer.den. 3) A. S. 33, 517.' 2) A. S. 28, 398. 'Fr..EINER a. a~ 0., S. 418 Anr:h. 30; v. WALDKIRCH a. a. 0~ S. 58 ff.' Vgl. oben S. 385 Anm. 6, sowie FLEINER a. a. 0., S. 414 Anm. 1 L' 25*

1) A. S. 33, 1121. · 4) 5)


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z ·a c c a r i a G i a c o m _e t.ti .;

Die sog. Gesetzesdelegation bedeutet eine Verschiebung der verfassup.gsmäßig statuierten Kompetenzgrenzen zwische:p. den obersten Staatsorganen durch Gesetz oder selbständige Rechtsveror<lnung im Sinne einer Einschränkung der Zuständigkeiten des Gesetz_gebers oder des Trägers _von selbständigem Rechtsver-. ordnungsrecht 1 ); sie stellt, .formaljuristisch ausgedrückt, eine Abänderung der Verfassungsvorschriften über die Organkompetenzen durch Bundesgesetz oder allgemeinverbindlichen~ dringlichen Bun~. desbeschluß im Sinne einer teilweisen Aufhebung dieser Kompetenzen im konkreten Fall dar. Ist nun diese durch das Delegationsgesetz oder die .Delegationsrechtsverordnung erfolgende Kompe-. tenzverschiebung bzw. Verfassungsänderung verfassungsrechtlich zulässig? Diese Frage ·kann nicht ohne weiteres beja~t oder ver:r;reint werden. Eine solche Verschiebung der verfassungsmäßig festgelegten Organkompetenzen bzw. Verfassungsänderung durch delegierendes Gesetz oder Rechtsverordnung ist selbstverständlich dann verfassungsrechtlich zulässig, falls die betreffende Staatsververfassung dieselbe ausdrücklich vorsehen, also das Institut . der sog. Gesetzesdelegation expressis verbis statuieren sollte. Die erwähnte Kompeten~verschiebung bzw. Verfassungsänderung auf dem Wege der Gesetzesdelegation ist weiter in denjenigen Ländern verfß_ssungsgemäß, deren Verfassung keine starre ist, sondern durch Ge·setz ohne weiteres formell abänderbar ist, -die also einen rechtlichen Vorrang des V erfassungsrechts gegenüber dem Gesetzesrecht nicht kennen. Die in einem formell verfassungsändernden Gesetze enthaltene Delegation steht dann im Einklang mit dem Staatsgrundgesetz 2 ). Wo aber eine der bejden genannten Bedingungen nicht erfüllt ist, muß eine solche Verschiebung der Organkompetenzen bzw. Verfassungsänderung zuungunsten der 1) Nach A.NscHÜTz, Kritische Studien zur Lehre vom Rechtssatze, S. 88 bedeutet die gesetzliche Delegation einen Verzicht auf die Gesetzesform - des Rechtssatzes ; Nach KErBEN a. a. 0., S. ·537 stellt die gesetzliche Delegation einen Blankettrecht1?satz dar; die Rechtsverordnung setzt den Inhalt dessen fest, was -formal schon das delegierende Gesetz feststellt. • 2 ) Zu einer ähnlichen Schlußfolgerung kommt auch F. WEYR in seinem erst n,ach Drucklegung die~ er Arbeit erschienenen Aufsatze: La question Q.e la .deleg:;1.tipn de puissance -legi1;lative in de:J;' Internationalen Zeitf:~Chrjft für Theorie des Rechts, Jahrgang I (1926) S. 72 ff.


Ueber das Rechtsverordnungsrecht im schweiz.: Bundesstaate. 389

Legislative oder des Trägers von selbständigem Rechtsverordnungs~ .recht als verfassungsrechtlich unzulässig angesehen werden. Dies gilt nun auch vom unselbständigen Bundesrechtsverordnungsrecht~ Die Bundesverfassung sieht die Möglichkeit. einer Verschiebung -der von ihr festgesetzten Kom-p etenzen der obersten Staatsorgane durch Gesetz oder dringlichen Bundesbeschluß nicht ausdrücklich vor; auch läßt. sich unseres Er achtens die Zulässigkelt einer solchen Gesetzesdelegation durch keine Interpretationsmittel aus der Bun.:. verfassung herauslesen. Im Gegenteil, die Bundesverfassung verbietet vielmehr indirekteine solche Verschiebung der Gesetzgebungs.:. gewalt. Die gesetzliche U ebertragung der Rechtssetzungsgewalt im Einzelfalle vor allem an die E~ekutive, gleichgültig in welchem Umfange diese Deh~gation erfolgt, steht im Widerspruche zum Prinzip der Trennung der Gewalten; dieser Grundsatz ist aber wie oben schon erwähnt, auch von der schweizerischen Bundesverfassung im großen und ganzen rezipiert· worden. Weiter besteht im Bunde der Vorrang des V erfassungsrechts· gegenuber dem Gesetzesrecht, so daß eine Verfassungsänderung durch Bundesgesetz und dring.:. -liehen Bundesbeschluß formell ausgeschlossen ist. Die herrschende Lehre bejaht nun aber die verfassungsrechtliche Zulässigl\eit einer solchen Verschiebung der Gesetzgebungskompetenz durch Gesetz oder Rechtsverordnungapriori 1 )~ Manweist darauf· hin, daß die Verfassungen lediglich die Form der Gesetzgebung vorschreiben, nicht -a ber worin der Inhalt eines Gesetzes bestehen dürfe, so daß ein . Gesetz wohl auch anstatt selbst Rechtsregeln aufzustellen, nur eine Gesetzesdelegation enthalten könne 2); man ·b eruft sich weiter auf die rechtlich ungebundene Gewalt der Legis-:lative 3 ). Demgegenüber ist mit Bezug auf das schweizerische Recht darauf hinzuweisen, daß die Bundesverfassung dem Gesetzgeber hinsichtlich des Inhalts der Gesetze selbstverständlich freie Hand läßt, der Gesetzgeber also insoweit eine rechtlich ungebundene Gewalt besitzt, aber dies immer nur intra constitutionem; eine Verschie.,. 1 ) LABAND, Deutsches Reichsstaatsrecht 5 Bd. II, S. 96 ff.; JELLINEK a. a. 0. S. 333. ANscHÜTz, Die gegenwärtigen Theorien über den Begriff der gesetzgebenden Gewalt S. 14, 17; FLEINER, Institutionen 71, Bundesstaatsrecht S. 414; TRIEPEL, Archiv für öff. Recht 39, S. 470; BuRcKHARDT a. a. 0. S. 683. 3 ) ANSCHÜTZ a. a. 0. S. 17. 2) LABAND a. a. 0., S. 97.


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Zaccaria Giacometti,

bung der verfassungsmäßigen Kompetenzen der Legislative durch Gesetz oder selbständige Rechtsverordnung ist jedoch, wie oben gesehen, verfassungsrechtlich ausgeschlossen. Es ist auch nicht angängig, die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzesdelegation mit dem Hinweis auf die praktischeN otwendigkeit derselben zu begründen 1); dies führt auf nichts anderes hinaus, als auf die Annahme, daß die Verfassung die Gesetzesdelegation voraussetze; insoweit würde aber letztere nicht auf dem positiven Recht, sondern auf Naturrecht beruhen. Die Einführung der Gesetzesdelegation in das Bundesstaatsrecht bedeutet somit eine verfassungsrechtlich unzulässige materielle Abänderung von V erfassungsrecht durch Gesetzesrecht. Dieser durch die praktischen Bedürfn~sse des Lebens 2) bedingte V erfassungsbruch muß aber nunmehr a,ls durch die Zeit geheilt betrach:.. tet werden; mit andern Worten, die Gesetzesdelegation hat sich als Gewohnheitsrecht durchgesetzt, d. h. genauer ausgedrückt, sie kann heute auf einen Gewohnheitsrechtssatz zurückgeführt werden 3 ). Die Voraussetzungen hierfür sind erfüllt. Die Delegierung der Gesetzes- b~w. Rechtsverordnungskompetenz an den Bundesrat· bedeutet eine ununterbrochene vieljährige Uebung der Bundesbehörden; auch die U eberzeugung von der Notwendigkeit dieser U ebung ist eine allgemein geteilte. Es liegt hier also der seltene Fall einer Gewohnheitsrechtsbildung im schweizerischen Bundesverfassungsrecht vor. Diese Gewohnheitsrechtsbildung stellt eine Ergänzung der Bundesverfassung dar; sie bringt dem Grundsatz der Bundesverfassung, daß die Rechtssetzung s·ache der Bundesversammlung sei, eine von den praktischen Bedürfnissen des Lebens gebotene Korrektur zugunsten der Et:ekutive an. Sie be:.. deutet mit anderen Worten eine durch die Verhältnisse bedingte gewisse Abbröckelung bzw. Ueberwindung des Prinzipes der Trennung der Gewalten im schweizerischen Bundesstaatsrecht. Besteht nun diese gewohnheitsrechtliche Grundlage der Gesetzes;. delegation an den Bundesrat auch für die Gesetzesdelegation · an die Bundesversammlung? Dies ist wohl zu bejahen. Allerdings liegen die Voraussetzungen einer Gewohnheitsrechtsbildung mit Bezug auf die Gesetzesdelegation an die eidgenössischen Räte 2) FLEINER, Institutionen, S. 71. 1) GuHL a. a. 0. S. 74. 3 ) In ähnlichem Sinne auch ScHNEIDER, Die Verordnung im ..Rechtsstaate (Zürcher Dissertation 1918) S. 70 f.


Ueber das Rech,tsverordnungsrechtim schweiz. Bundesstaate. 391

kaum vor, da diese Delegation in der Praxis selten vorkommt und .die U eberzeugung von deren Notwendigkeit nicht allgemein ist 1 ) Trotzdem muß wohl aus der rechtlichen Zulässigkeit der Gesetzes~ delegation an den Bundesrat auch auf die rechtliche Zulässigkeit derselben an die Bundesversammlung geschlossen werden. Diese Schlußfolgerung ergibt sich aus der Erwägung heraus, daß die Delegation an den ·Bundesrat als an die Exekutivgewalt die weit~ gehendere ist, daher auch diejenige an die Bundesversammlung .in sich schließt, sowie aus der weiteren Ueberlegung, daß die Bundesversammlung viel bessere Garantien bietet für die Aus~ übung der Rechtssetzungsgewalt als der Bundesrat. Daraus folgt dann im weitern; daß die Bundesversammlung sich bei der Delegierung ihres · Gesetzgebungs~. oder. selbständigen Rechts~ verordnungsrechts an den Bundesrat auch die Genehmigung der vom Bundesrate zu erlassenden Rechtsverordnungen vorbehal~ ten darf; denn eine solche Gesetzesdelegation an den Bundes.r at mit Genehmigungsvorbehalt der eidgenössische:n Räte stellt in Wirklichkeit nichts anderes dar, als eine Gesetzesdelegation an die Bundesversammlung mit dem Auftrag an den Bundesrat, den Rechtsverordnungsinhalt festzustellen 2 ) • . Die streitige Frage, ob die derart genehmigten Bundesratsverordnungen dem ·richter~ liehen Prüfungsrecht unterstehen, ist somit zu bejahen; diese sind ebensowenig für das Bundesgericht verbindlich, wie die andern in· Form eines einfachen B.undesbeschlusses ergangenen unselb:ständigen Rechtsverordnungen der Bundesvers~mmlung. Hingegen is.t eine Subdelegation in dem Sinne, daß der Buudes~ rat bzw. die · Bundesversammlung ihr unselbständiges Rechts~ verordnungsrecht untern Instanzen übertragen, nicht zulässig 3 ), es sei denn; daß dies in der Gesetzesdelegation ausdrücklich vorgesehen wäre. Eine Subdelegation stellt sich nämlichjuristisch dar als eine weitere auf dem Wege einer unselbstß_ndigen Rechtsver:ordnung erfolgende V erschiehung · der bereits,~durch · Gesetz oder 1 ) Vgl. Stenographische Bulletin der Bundesversammlung,. Ständ~­ rat, 1916, s. 54 ff.; SALIS rr Nr. 377. 2) Im selben Sinne, nur anders begründet FL.EiNEJR, Bl.indesstaatsrech't s.· 166 Anm. 15; GuHL a. a. 0. S. 88 ff;; anderer Ansicht BURc.KIIA.RnT a. a. 0., S. 683 ff. 3 ) FLEINER a. a. 0., S. 414.


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Zaccaria Giacometti,

·selbständige Rechtsverordnung delegierten Rechtsetzungsgewalt, '.mit anderen Worten als eine. Abänderung eines Bundesgesetzes oder selbständiger Rechtsverordnung durch eine unselbständige Rechtsverordnung; eine solche Kompetenzverschiebung hzw. Abänderung ist aber, da Gesetz und unselbständige Rechtsverordnung in der Rangordnung der Rechtsquellen nicht auf derselben Stufe stehen, ausgeschlossen, es wäre denn, daß hier ehenfalls eine Gewohnheitsrechtsbildung vorliegen sollte, was aber unseres Erachtens, da die Voraussetzungen hierfür nicht erfüllt sind, nicht der Fall ist. In welchem Umfange darf nun das Gesetzgebungsrecht oder das selbständige Rechtsverordnungsrecht delegiert werden ? Dies ·läßt sich naturgemäß nicht durch ein generelles Kriterium für jeden konkreten Fall genau feststellen 1 ). Insbesondere ist von vornherein zu betonen, daß über den möglichen Umfang des unselbständigen Verordnungsrechts, d. h. über den Inhalt der un.selbständigen Rechtsverordnungen sich naturgemäß keine Ge'Wohnheitsrechtssätze haben bilden können, im Gegensatz zur gewohnheitsrechtlichen 'Bildung des unselbständigen Rechtsverord.nungsrechts an sich. Immerhin lassen sich bestimmte Grundsätze über die Grenzen des unselbständigen Rechtsverordnungsrechts gewinnen, und zwar teils aus allgemeinen Rechtsprinzipien, sowie aus besonderen Vorschriften der Bundesverfassung, teils aus dem ·Zwecke der Gesetzesdelegation selbst. So ist vorerst darauf hinzuweisen, daß die un.s elbständige Rechtsverordnung das Gesetz bzw. die selbständige Rechtsverordnung, worauf sie beruht, selbstverständlich nicht abändern kann; dies folgt ohne weiteres wie oben schon erwähnt, aus dem Umstande, d3:ß Gesetz hzw. selbStändige Rechtsverordnung und unselbständige Rechtsverordnung nicht gleichwertige Rechtsquellen sind, sondern daß jene dieser im Range vorgeht. Daraus ergibt sich dann weiter auch, daß die unselbständige Rechtsverordnung auch anderen Gesetzen bzw. selbständigen Rechtsverordnungen als dem delegierenden Gesetz nur insoweit derogieren darf, als das nelegationsgesetz bzw. die delegierende Rechtsverordnung dies ausdrücklich vorsehen. Die uns~lbständige Rechtsverordnungkann sic}_l mit andern Wortengrund1)

JELLINEK

a. a. 0., 8. 382;

BURCKHARDT

a. a. 0., 8. 683.


Ueber das Rechtsverordnungsrecht im schweiz. Bundesstaate. 393

sätzlich nicht contra Iegern bewegen. Weder die auf Grund eines Bundesgesetzes erlassenen hundesrätlichen Rechtsverordnungen und ,einfachen Bundesbeschlüsse rechtssetzenden Inhalts noch die Kraft eines allgemeinverbindlichen dringlichen Bundesbeschlusses ergangenen bundesrätlichen Notverordnungen dürfen dem Delegationsgesetze derogieren. Darf sich aber die unselbständige Rechts·verordnung praeter legem bewegen, d. h. neue nicht bereits im Delegationsgesetz ausgesprochene Rechtsgedanken enthalten, in~ ·soweit diese nur nicht das Delegationsgesetz bzw. andere Gesetze ·abändern 1 )? Dies ist unseres Erachtens prinzipiell zu bejahen. Di~ Funktion der Gesetzesdelegation besteht vor allem darin, das R echtsetzungsverfahren bei der Regelung rasch wechselnder V erhältnisse zu beschleunigen, das Gesetz von Einzelbestimmungen ·-zu entlasten usw. 2 ). Der Träger des unselbständigen Rechtsver:. ordnungsrechts hat somit in Grenzen der Delegation die dem Gesetze zugrundeliegenden Zwecke durch Rechtssetzung zu verwirklichen. Die unselbständige Rechtsverordnung stellt mit andern Worten ein Mittel zur Erreichung einzelner vom Delegationsgesetz erstrebter Zwecke dar. Sie darf daher alle Rechtssätze zum Inhalte haben, die ein taugliches Mittel zum Zwecke bilden, d. h'" zur Ver;. wirklichung des Gesetzes notwendig sind. Diese Rechtssätze brauchen dann als :Mittel zum Gesetzeszweck nicht direkt auf einer ausdrücklichen Vorschrift des Delegationsgesetzes zu beruhen, sondern können lediglich Folgerungen derselben d~ustellen; mit andern Worten, der Träger des unselbständigen Rechtsverordnungs~ rechts schließt hier von seinen durch die Gesetzesdelegation ver'liehene Kompetenz auf stillschweigende Kompetenzen. Die. un.:. selbständige Rechtsverordnung stellt sich somit nicht nur als nähere Ausführung der im Delegationsgesetze bereits enthaltenen ::rechtlichen Regelung einer Materie dar, sondern kann auch· neue, im Delegationsgesetze nicht ausdrücklich ausgesprochene Rechtsgedanken zum Inhalte haben; das will heißen, die unselbständige Rechtsverordnung darf außer ·als Ausführungsverordnung auch als gesetzesvertretende Verordnung erscheinen. Daraus ergibt sich, 1 ) Praktisch wird es allerdings nicht immer leicht sein, festzustellen, ob eine unselbständige Rechtsverordnung im konkreten Falle sich contra oder aber nur praeter Iegern bewegt. 2) FLEINER, Institutionen S. 71.


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Zaccaria Giacometti,

daß das delegierende Geset,z hzw. die delegierende selbständige Rechtsverordnung ·auch. lediglich ein Blankettgesetz sein kann. So ~teilen beispielsweise die auf Grund des allgemeinverbindlichen .dringlichen Bundesbeschlusses vom 3. August 1914 erlassenen Notverordnungen nichts. anderes als Verwirldichungen eines Blankettrechtssatzes dar. Desgleichen sind auch die anderen oben erwähnten allgemeinverbindlichen dringlichen Bundesbeschlüsse in der Hauptsache Blankettgesetze. Solche gesetzesvertretende unselbständige Rechtsverordnungen sind nun aber im schweizerischen Bundesstaatsrecht nur insoweit zulässig, als sie auf einer selbständigen Rechtsverordnung, also vor allem auf einer Notrechtsverordnung beruhen; insoweit sie sich hingegen auf ein Gesetz im materiellen und formellen Sinne stützen, müssen sie als unstatthaft erklärt wer:den. Die Bundesgesetze im formellen und materiellen Sinne unterstehen gemäß Art. 89 Abs. 2 der Bundesverfassung dem fakultativen Referendum. Sie können daher den Träger von unselbständigem Rechtsverordnungsrecht nicht zum Erlasse von ;neue!l, nicht bereits in ihnen enthaltenen Rechtssätzen, die sonst ~uf dem Gese.t zgebungswege hätten . angeordnet werden müssen; ermächtigen. Denn die auf Grund eines Bundesgesetzes im formellen und materiellen Sinne erlassene .gesetzesvertretende Rechtsverordnung würde da$ .Referendumsrecht der Aktivbürger tangiere!l, d. h. die Aktiv .. bürgerschaft in ihrer verfassungsmäßigen virtuellen Mitwirkung an der . Rechtssetzung einschränken. Der Umstand, daß die Aktivbürgerschaft gegen das delegierende Bundesgesetz nicht das Refe· rendum ergriffen und das genannte Gesetz in der Volksabstimmung verworfen ha_t, bedeutet natürlich keinen Verzicht des Volkes an der Rechtssetzung im konkreten Falle, wie vielfach angenom· .m en wird 1). Denn ein solcher allgemeiner Verzicht wäre erstens juristisch undenkbar;. er hätte, sollte .er juristische Bedeutung be:anspruchen wollen,. individuell zu erfolgen, d. h. jeder Aktivbürger müßte eine Verzichterklärung abgeben. Aber ganz abgesehen davon könnte die Aktivbürgerschaft auf ihre verfassungsmäßigen Rechte überhaupt nicht verzichten, denn das käme auf eine · materielle Abänderung der Verfassung hinaus. Die Möglichkeit eines Verzichtes Vgl. Stenographische. Bulletin . der Bundesversammlung, Ständerat, 1916, S. 54 ff. 1)


Ueber das Rechtsverordnungsrecht im schweiz. Bundesstaate. 395

müßte in der Verfassung ausdrücklich vorgesehen sein .. Wohl stellt heute, wie gesehen, die Gesetzesdelegation einen gewohnheitsrechtliehen Verfassungsrechtssatz dar. Ein solcher kann aber die geschriebenen Verfassungsnormen wie den Art. 89 der Bundesverfassung nur ergänzen 1 ), nicht aber, schon um der Rechts:.. sicherheit willen, abändern, insbesondere dann nicht, wenn der geschriebene Verfassungsrechtssatz wirklich geübtes Recht darstellt. Die kraft Delegation durch Bundesgesetz oder allgemeinverbindlichen Bundesbeschluß nicht dringlicher Natur erlassenen Rechts~ Verordnungen können sich somit im Gegensatz zu den auf Grund eines allgemeinverbindlichen dringlichen Bundesbeschlusses oder einer · andern selbständigen Rechtsverordnung ergangenen Rechts:.. Verordnungen nicht praeter Iegern bewegen, sondern haben sich intra 1egem zu halten. Sie dürfen mit andern Worten nur als sog. Ausführungsverordnungen erscheinen, d. h. sie haben lediglich die bereits im Gesetze für die rechtliche Regelung einer bestimmten Materie nach allen Seiten festgelegten Direktiven näher auszuführen, nicht aber neue Rechtsgedanken aufzustellen. Nur die nähere Ausführung einer rechtlich durch Bundesgesetz bereits geordneten Materie darf also Gegenstand einer unselbständigen Rechtsverordnung sein,.nicht hingegen die ausschließliche rechtliche Regelung eines ·ganzen Lebensgebietes. Daraus ergibt sich, daß im schweizerischen Bundes.staatsrecht ein Blankettgesetz bzw. ein Blankettrechtssatz nie eine Gesetzesdelegation enthalten darf, anders ausgedrückt, daß Bundesgesetze im· formellen Sinne nie Blankettgesetze darstellen bzw. nicht Blankettrechtssätze zum Inhalte haben können, da letztere ohne Delegation sinnlos wären. · Die Pra:x:is der Bundesbehörden bewegt sich in der Ausübung der Gesetzesdelegation hzw. in der Geltendmachung des unselb:.. ständigen Rechtsverordnungsrechts, soweit wir zu sehen vermögen; im großen und ganzen im Rahmen der dargelegten Grundsätze,. Immerhin sind auch Ausnahmefälle zu konstatieren. Sowohl Bun(iesversammlung als Bundesrat sind zu verschiedenen Malen von ·den oben aufgestellten Prinzipien abgewichen, die Bundes-' Versammlung insbesondere durch Aufnahme von Blankettrechts'" ~~n in Bundesgesetze, der Bundesrat durch Ueberschreitung 1) FLEINER,

Bundesstaatsrecht S. 421.


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Zaccaria Giacometti,

seines .delegierten Rechtsverordnungsrechts in Ausführungsverordnungen~ So enthält das eidgenössische Lebensmittelgesetz voil 1905 wenig materiellen Inhalt, sondern hat die rechtliche Regelung ganzer Materien dem Bundesrate überlassen. Die Ausführungsvor-schriften zu diesem Bundesgesetze stellen dementsprechend keine bloßen Ausführungsverordnungen dar, sondern vielmehr neue Rechtssätze _über das Gesundheitswesen und den V erkehr mit Lebensmitteln. Vor allem stellt dann ferner Art. 122 des Bundesgesetzes über die ·Kranken- und Unfallversicherung von 1911, der die Organisation und das V erfahren des eidgenössischen Versicherungsgerichts der Bundesversammlung überträgt, einen -Blankettrechtssatz dar. Dementsprechend bilden die Ausführungsbe·stimmungeri ·zu diesem Gesetzesartikel, der Bundesbeschluß betreffend die Organisation und das V erfahren des eidgenössischen V ersiche-rungsgerichts vom 28. März . 1917, eine das Referendumsrecht tangierende gesetzesvertretende Hechtsverordnung 1 ).· So hat weiter der Bundesrat, gestützt auf· Art. 8 des -Bundesgesetzes über das Postregal von 1894, wonach Dampfschiffe und andere Transportanstalten · mit Motorenbetrieb . der Kontrolle des Bundes unter'" stehen, im Jahre 1896 eine Rechtsverordnung über · Bau und ·Betrieb von Dampfschiffen erlassen~ obwohl der genannte Art.· 8 keine diesbezügliche Gesetzesdelegation enthält. Desgleichen er.,. ging 1906, gestützt auf Art. 87 desselben Gesetzes eine Rechts~ verordnung betreffend die Konzessionierung und Kontrolle det· Automobilunternehmungen, der ebenfalls -als gesetzesvertretende Rechtsverordnung anzusehen ist 2 ). Weiche Garantien bestehen gegen den Mißbrauch der Gesetzes~ / delegation · hzw. · des ·unselbständigen Rechtsverordnungsrechts ? Gegen die mißbräuchliche Anwendung der Gesetzesdelegation durch die Bundesversammlung besteht ebensowenig irgendwelche rechtliche Gewähr wie gegen den unbefugten Gebrauch ihres seih~ 1 ) Der bundesrätliche Gesetzesentwurf über die eidgenössische Verwaltungsrechtspflege von 1925 will ebenfalls die Umschreibung der verwaltungsgerichtlichen Kompetenzen ini weiteren Umfange einer Rechts,verordnung der Bundesversammlung überlassen. Vgl. dazu auch meinen Aufsatz: Verfassungsrechtliches zur bundesrätlichen Vorlage über die Verwaltungsgerichtsbarkeit, in Nr. 1699 der Neuen Zürcher Zeitung; J ährgang 1925. 2) GuHL a. a. 0., S. 87.


Ueber das Rechtsverordnungsrecht im schweiz. Bundesstaate. 397.

ständigen Rechtsverordnungsrechts. Wir ..verweisen diesbe~üglich auf das. oben bei Besprechung des letzteren Gesagte. So ist inshesondere dem · Bundesgericht gemäß Art. 113 der Bundesver·fassung die Prüfung der delegierenden Bundesgesetze daraufhin, ob sie nicht Blankettrechtssätze, d. h. dem Bundesrat bzw. der Bundesversammlung die Kompetenz zum Erlaß .von gesetzes:vertretenden Rechtsverordnungen einräumen, entzogen. Nur im seltenen Falle der Gesetzesdelegation durch unselbständige Rechtsverordnung der Bundesversammlung in Form eines einfachen Bundesbeschlusses, d. h. im F'alle einer - unzulässigen - Subdelegation wäre eine Prüfung des Delegationsgesetzes durch das Bundesgericht möglich. Gegen mißbräuchliche Anwendung des un"' selbständigen Rechtsverordnungsrechts des Bundesrates bestehen hingegen bestimmte rechtliche Garantien. So darf die Bundesver.,. sammlung kraft ihres Oberaufsichtsrechtes im Sinne von Art. 85 Ziff. 11 der Bundesverfassung alle Rechtsverordnungen des Bundesrates, sowohl Ausführungsverordnungen als Notrechtsverordnungen, die sich nicht im Rahmen des bundesrätlichen Rechtsverordnungs,rechts halten, aufheben 1 ). Auß.e rdem unterliegen die unselbständigen Rechtsverordnungen des Bundestates - und der Bundesversammlung- dem bundesgerichtliehen Prüfungsrecht. Es dürfen somit auch die hundesrätlichen Notrechtsverordnungen vom Bundes~ gericht überprüft werden. Wohl können dieselben gesetzesvertretende Rechtsverordnungen darstellen, aber nicht von Verfassungs., wegen, sondern lediglich kraftErmächtigungdurch eine selbständige. Rechtsverordnung; nur Erlasse der Bundesversammlung auf Grurid verfassungsrechtlicher Ermächtigung sind aber, wie bereits oben aus-; geführt, dem richterlichen Prüfungsrecht entzogen. Daher ist auch die Weigerung des Bundesgerichts zur Prüfung einer bundesrät.lichen Notrechtsverordnung-unter Berufung.darauf, daß sie materiell ein Bundesgesetz darstelle 2), unseres Erachtens unbegründet. Die richterliche Prüfung einer unselbständigen Rechtsverordnung erstreckt sich jedoch lediglich auf die U ehereinstimrriung derselben mit dem Delegationsgesetz, . nicht·. auch auf. · deren · Ver;.;. fassungsmäßigkeit, da sonst indirekt auch die Verfassungs~ lfiäßigkeit des Delegationsgesetzes, das· ja fur das Gericht verbind:. 1)

2)

FLEINER a. a. Ü. S. 170. Entscheidungen des Bundesgerichts, Band 41, Teil I,

s:

551.


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Zaccaria Giacometti,

lieh ist, überprüft würde. Die richterliche Ueberprüfung der bundesrätlichen Notrechtsverordnungen wird sich daher, insoweit der delegierende dringliche Bundesbeschluß ein Blankettgesetz dar~ stellt, was die Regel ist, allein darauf beschränken, zu untersuchen, ob der Bundesrat. sich im Rahmen seiner Vollmachten gehalten habe.

*

*

*

· Die Rechtsverordnung weist somit im schweizerischen Bundes.;. . staate ganz bestimmte, sich aus dessen demokratischen Einrichtungen ergebende Merkmale auf und weicht insofern vielfach vom ausländischen Recht ab. So bildet vor allem in der schweize.:. rischen Eidgenossenschaft ·die Grenze zwischen Legislative und Exekutive nicht zugleich diejerlige zwischen Gesetz und Rechts~ verordnung, wie die Doktrin vom Rechtsverordnungsrecht all .. gemein annimmt. Träger des Rechtsverordnungsrechts ist vielmehr neben dem Bundesrate in weitgehendem Maße auch die .Bundes~ versanimlung. Dies .wird durch das Institut des fakultativen ·Referendums bedingt, das bewirkt, daß die Erlasse der Bundesversammlung nur insoweit Gesetze im formellen Sinn darstellen, als sie dem Referendum unterstehen. Außer diesem besondern formellen Merkmal besitzt das schweizerische Bundesrechtsverordnungsrecht jedoch auch besondere materielle Eigentümlichkeiten. So dürfen die Rechtsverordnungen einschließlich der Notrechtsverordnungen der Verfassung nicht derogieren; sodann können die unselbständigen Rechtsverordnungen, soweit sie wenigste~s auf einem Bundesgesetz beruhen, nur Ausführungsverordnungen, nicht aber ·gesetzes~ . vertretende Verordnungen darstellen; -weiter sind die Verfassungs~ rechtlichen Grundlagen des unselbständigen Rechtsverordnungs .. rechts lediglich gewohnheitsrechtlicher Natur. Ein;. allgemeingültiger Begriff der Rechtsverordnung besteht somit nur mit Bezug auf deren Funktion, die darin liegt, eine Form abzugeben, in die staatliche Rechtsnormen außer in Gesetze in formellem Sinne gekleidet werden dürfen, mit anderen Worten, die Rechtsverordnungen der verschiedenen Rechtsordnungen . erfüllen _dieselbe ·Funktion, sind aber im übrigen, so hinsichtlich


Ueber das Rechtsverordnungsrecht im schweiz. Bundesstaate. 399

ihrer Träger und ihres Inhalts, wofür das schweizerische Bundesrechtsverordnungsrecht ein klassisches Beispiel ist, jeder Rechtsordnung eigentümlich. Damit münden aber auch unsere Ausführungen in das große staatsrechtliche Problem der V erallgemeinerung öffentlichrechtlicher Begriffe überhaupt.


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