Die dunkle Seite des Bösen

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Die dunkle Seite der Seele Robert I. Simon

Serienmörder, Vergewaltiger und Verbrecher üben eine starke Faszination aus, die sich in Büchern, Filmen oder Fernsehserien niederschlägt. Aber tatsächlich sind Psychopathen in modernen Gesellschaften oft sehr erfolgreich – soziale Chamäleons, die nicht erkannt werden und die ­geschickt ihre Mitmenschen manipulieren und schädigen. Der forensische Psychiater Robert I. Simon berichtet aus langjähriger Erfahrung über die «bösen Menschen». Aber er zeigt auch, welch schmaler Grat liegt zwischen ihren tatsächlichen Gewalthandlungen und den Träumen aller anderen. Erst wenn man dem «Bösen» mit Empathie begegnet und begreift, warum bei manchen Menschen die Schutzmechanismen versagen, erkennt man sich selbst und die eigene dunkle Seite besser.

Verlag Hans Huber, Bern

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ISBN 978-3-456-84926-3

Simon Die dunkle Seite der Seele

Ein faszinierendes Buch über die Abgründe im Menschen

Psychologie des Bösen


Simon Die dunkle Seite der Seele

Aus dem Programm Verlag Hans Huber Psychologie Sachbuch Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Dieter Frey, München Prof. Dr. Lutz Jäncke, Zürich Prof. Dr. Meinrad Perrez, Freiburg i. Ü. Prof. Dr. Franz Petermann, Bremen Prof. Dr. Hans Spada, Freiburg i. Br.

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Im Verlag Hans Huber sind ferner erschienen – eine Auswahl:

Sven Barnow (Hrsg.) Persönlichkeitsstörungen: Ursachen und Behandlung Mit fünf Fallbeispielen ISBN 978-3-456-84406-0 Harald Dreßing / Peter Gass Stalking! Verfolgung, Bedrohung, Belästigung ISBN 978-3-456-84196-0 Christine Gallas / Ulrike Klein / Harald Dreßing Beratung und Therapie von Stalking-Opfern Ein Leitfaden für die Praxis ISBN 978-3-456-84874-7 Gaby Gschwend Nach dem Trauma Ein Handbuch für Betroffene und ihre Angehörigen ISBN 978-3-456-84305-6 Monica McGoldrick / Randy Gerson / Sueli Petry Genogramme in der Familienberatung ISBN 978-3-456-84647-7 Brigitte Vetter Pervers, oder? Sexualpräferenzstörungen – 100 Fragen 100 Antworten Ursachen, Symptomatik, Behandlung ISBN 978-3-456-84672-9 Danny Wedding / Mary Ann Boyd / Ryan M. Niemiec Psyche im Kino Wie Filme uns helfen, psychische Störungen zu verstehen ISBN 978-3-456-84884-6

Informationen über unsere Neuerscheinungen finden Sie im Internet unter: www.verlag-hanshuber.com © 2011 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus: Robert I. Simon; Die dunkle Seite der Seele, 1. Auflage.


Robert I. Simon

Die dunkle Seite der Seele Psychologie des Bösen Aus dem Englischen übersetzt von Jürgen Neubauer

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Das englische Buch ist unter dem Originaltitel BAD MEN DO WHAT GOOD MEN DREAM BY ROBERT I. SIMON erschienen. First published in the United States by American Psychiatric Pubslihing, Inc., Washington D. C. und London, UK. Copyright 2008. All rights reserved.

Lektorat: Monika Eginger Herstellung: Daniel Berger Umschlag: Claude Borer, Basel Satz: Claudia Wild, Konstanz Druck und buchbinderische Verarbeitung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Printed in Germany Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen sowie die Einspeicherung und Verarbeitung in elektroni-

schen Systemen. Anregungen und Zuschriften bitte an: Verlag Hans Huber Hogrefe AG Länggass-Strasse 76 CH-3000 Bern 9 Tel: 0041 (0)31 300 4500 Fax: 0041 (0)31 300 4593 1. Auflage 2011 © 2011 für die deutschsprachige Ausgabe by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern (E-Book-ISBN 978-3-456-94926-0) ISBN 978-3-456-84926-3

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Für Ann, deren Güte vieles möglich und alles lebenswert macht

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Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt. Blaise Pascal, Pensées

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Inhalt Vorwort von Dr. med. Thomas G. Gutheil

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Einleitung

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1. Das Böse in uns Warum böse Menschen tun, was gute Menschen träumen

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2. Mordmaschinen Eine Psychologie des Bösen

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3. Psychopathen Raubtiere in Menschengestalt

43

4. Vergewaltiger Das Seelenleben der Sexualverbrecher

71

5. Stalker Auf immer dein

95

6. Amokläufer Endstation Büro?

115

7. Multiple Persönlichkeiten Ein wahrer Krimi

151

8. Der schlimmste Vertrauensbruch Wenn Helfer missbrauchen

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9. Mord oder Selbstmord? Der Gerichtspsychiater als Detektiv

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Die dunkle Seite der Seele

10. Religiöser Wahn Todessekten und Heilige Krieger

231

11. Serienmörder Ein Leben für einen Orgasmus

261

12. Charakter und Schicksal Das Geheimnis von Gut und Böse

291

Danksagung

307

Bibliografie

309

Sachregister

323

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Vorwort Alles verstehen, heißt alles vergeben. Madame de Staël

Der Film Mr. Brooks – Der Mörder in dir erzählt die Geschichte eines bösartigen Serienmörders, der eine ganze Reihe von Fremden umgebracht hat. Zu Beginn des Films erhält ausgerechnet dieser Mr. Brooks einen Preis als «Bürger des Jahres». Dieser Widerspruch steht auch im Mittelpunkt dieses Buchs von Dr. med. Robert I. Simon, einem erfahrenen und herausragenden klinischen und forensischen Psychiater. In oftmals erschreckenden Details beschreibt Simon hier den «Wolf, der verkleidet unter den Schafen lebt». Doch seine ­Analyse geht noch einen Schritt weiter: Er beschreibt den Wolf, der in jedem von uns steckt. Nach Ansicht von Soziologen hat die menschliche Psyche im Laufe der Geschichte drei narzisstische Kränkungen hinnehmen müssen. Die erste habe sie von Nikolaus Kopernikus erhalten, der erklärte, dass der Planet Erde, die Heimat der Menschen, nicht der Mittelpunkt des Universums war. Die zweite gehe auf das Konto von Charles Darwin, der verkündete, der Mensch sei keineswegs eine einmalige Spezies, sondern habe sich aus Vorfahren entwickelt. Den letzten Schlag habe ihr schließlich Sigmund Freud versetzt, als er behauptete, der Mensch verfüge nicht einmal über eine bewusste Kontrolle seiner Gedanken, Impulse und Entscheidungen, sondern werde durch unbewusste Kräfte beeinflusst und vielleicht sogar von ihnen gesteuert. Letzteres bringt uns zum Thema dieses Buchs. In seinen forensischen Darstellungen der Männer, die er so sorgfältig analysiert hat, zeigt Robert Simon die Parallelen zwischen den Handlungen der vermeintlich «bösen» Menschen und den unzensierten Träumen der übrigen Menschheit auf und fordert uns gleichzeitig zu Toleranz und Verständnis auf. Er zeigt, warum es so wichtig ist, dem «Bösen» mit Empathie zu begegnen und es zu verstehen, um unsere eigene dunkle Seite besser erkennen und akzeptieren zu können. In diesem Punkt stimme ich vollkommen mit ihm überein: Simon zitiert ein Motto, das ich angehenden Psychiatern bezüglich der regressivsten, psychotischsten und perversesten ihrer Patienten © 2011 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus: Robert I. Simon; Die dunkle Seite der Seele, 1. Auflage.


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Die dunkle Seite der Seele

mit auf den Weg gebe: «Das könnte ich sein, wenn ich nicht bessere Abwehrmechanismen hätte». Simon verfolgt seine These in zwei Richtungen. Zum Ersten geht es ihm darum zu zeigen, dass eindeutig «böse» Menschen rein äußerlich oft kaum von anderen zu unterscheiden sind. Dr. med. Leston Havens hält fest, dass zu einer Differenzialdiagnose eines als «psychopathisch» beschriebenen Menschen auch das Etikett «normal» gehört. Diese Menschen sind ausgezeichnete soziale Chamäleons, sie passen sich hervorragend an ihre Umgebung an und zeigen ihre wahre Natur erst, wenn sie entdeckt und gefasst werden. Der Extremfall ist der Hochstapler, der unerkannt sein Doppelleben führt. Die modernen literarischen Fassungen dieser Geschichte sind lediglich Variationen über das Thema von Thomas Manns Klassiker Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Diese Anpassungsfähigkeit erklärt auch, warum Psychopathen in der gesamten Gesellschaft vorkommen, nicht nur unter Gefängnisinsassen. Juristische Fakultäten sind genausowenig in der Lage, Psychopathen auszusieben wie Managementschulen, medizinische Fachbereiche oder Priesterseminare; diese Bildungseinrichtungen bewerten nämlich nicht die Persönlichkeit (was ohnehin unmöglich wäre), sondern die Leistung ihrer Absolventen, und viele Psychopathen sind ex­­ trem kompetent und manipulativ, wenn es darum geht, ihre Ziele zu erreichen. Aber Simons These geht noch in eine zweite Richtung, wenn er die Gemeinsamkeiten erforscht, die «jeder von uns» mit den verschiedenen Psychopathen und Verbrechern in seinem Buch hat. Wenn Simon uns auffordert, unsere eigenen dunklen Seiten anzuerkennen, geht es ihm nicht nur um Einfühlungsvermögen mit den «Bösen», sondern auch darum, die Polarisierung «wir sind die Guten und die sind die Bösen» zu überwinden. Simon zeigt, warum diese Polarisierung für ein ganzes Spektrum neuer Probleme verantwortlich ist, vom selbstgerechten Egozentrismus bis hin zum Völkermord. Viele psychische kranke Menschen sehen die Welt in krassem Gegensatz von Schwarz oder Weiß, Alles oder Nichts. Nach Simons Überzeugung muss eine reifere Sicht der Dinge auch die Grautöne beinhalten. Ein Ausspruch des bekannten Psychiaters Harry Stack Sullivan ließe sich in leicht abgewandelter Form auf Simons Untersuchungen anwenden; Sullivan erklärte nämlich, Schizophrene seien in erster Linie Menschen. Selbst bei den schwersten psychischen Erkrankungen, die das Denken, Fühlen und Handeln eines Menschen von Grund auf beeinträchtigen können, fordert Sullivan uns auf, jenseits der Symptome das wesentlich Menschliche zu erkennen und den humanistischen Kern aufzuzeigen, den alle Menschen gemeinsam haben, selbst wenn sie sich scheinbar unmenschlich verhalten. © 2011 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus: Robert I. Simon; Die dunkle Seite der Seele, 1. Auflage.


Vorwort

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Von einer ähnlichen Prämisse ausgehend, verweist Simon auf das Böse, das «gute» Menschen tun, die nicht unter psychischen Störungen leiden: Die nationalsozialistischen Beamten beispielsweise, die genauestens Buch über die Opfer der Gaskammern führten und für Hannah Arendt der Inbegriff der «Banalität des Bösen» waren. Aber wir müssen gar nicht bis zum Zweiten Weltkrieg zurückgehen, um ganz gewöhnlichen Menschen zu begegnen, die vermeintliche Terroristen in Gefangenenlagern foltern und dies in genau dieselben psychologischen Rationalisierungen kleiden, die Simon beschreibt: «Sie sind unsere Feinde und haben es nicht besser verdient.» Diejenigen Leser, die auch nach der Lektüre nicht an die dunkle Seite in gewöhnlichen Menschen glauben, könnte man auf die anhaltende Begeisterung der Öffentlichkeit für Bücher, Filme oder Fernsehsendungen verweisen, die sich mit Serienmördern, Polizeieinsätzen, kriminalpolizeilichen Ermittlungen und ähnlichen Themen beschäftigen. Diese unterschiedlichen Medien scheinen Bedürfnisse und Fantasien zu befriedigen, wie Simon sie hier beschreibt. Schließlich sollte dieses Buch nicht nur wegen seiner faszinierenden, fesselnden und verstörenden Fallgeschichten gelesen werden, sondern vor allem wegen seiner tiefen Menschlichkeit, mit der es uns auffordert, selbst das abnormalste menschliche Verhalten zu verstehen und das Böse in uns selbst zu akzeptieren, von dem die meisten von uns glücklicherweise nur träumen. Dr. med. Thomas G. Gutheil

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Einleitung Vielen Menschen fällt es schwer, die Vorstellung zu akzeptieren, dass sich sogenannte «gute» Menschen kaum von den vermeintlich «bösen» unterscheiden. Für jemanden, der sich selbst als «gut» bezeichnen würde, ist diese eine abscheuliche Unterstellung. Meiner Ansicht nach ist es jedoch ein Märchen, zu glauben, dass wir gut sind und das Böse immer nur die anderen sind – ein Märchen noch dazu, das Vorurteile, Diskriminierung, und in größerem Maßstab auch Terrorismus, Krieg und Völkermord den Boden bereitet. Dieses Märchen zerstört die heilende Kraft des Mitgefühls, nicht nur mit anderen, sondern mit uns selbst. Die dunkle Seite des Menschen zu leugnen und sie auf andere zu projizieren, ist ein erster Schritt auf dem Weg zur Verteufelung und zur Ermordung anderer Menschen und ganzer Völker. Die Serienmörder, Verbrecher und Psychopathen, die ich in diesem Buch beschreibe, rechtfertigen ihre verbrecherischen Handlungen, indem sie ihre Opfer als «Abfall» und «Müll» bezeichnen, wie dies der Green River Killer tat. Die Wahrheit ist, dass «gute» Menschen nicht immer gut sind, und «böse» nicht immer böse. Wir sind keine Heiligen. In diesem Buch gehe ich einer Frage nach, die schwer und vielleicht auch unmöglich zu beantworten ist: Warum tun böse Menschen das, was gute Menschen nur träumen? Der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewski war diesem Rätsel auf der Spur, als er schrieb: «Nichts ist leichter, als einen Bösewicht zu verteufeln, und nichts schwerer, als ihn zu verstehen.» In meinen Analysen der Bösewichte in diesem Buch ist es mir zumindest zum Teil gelungen, die Frage nach dem Warum zu beantworten, auch wenn sie sich in einigen Fällen einem letzten Verständnis entziehen. Dieses Buch verfolgt ein Ziel, das über die bloße Analyse hinausgeht. Wenn wir nämlich akzeptieren, dass kein grundsätzlicher Unterschied zwischen «guten» und «bösen» Menschen besteht, dann können wir nach innen blicken, statt nach außen. Henry David Thoreau war der Auffassung, die große Masse der Menschen führe ein unerforschtes «Leben in stiller Verzweiflung». In diesem Dunkel fühlen sich unsere Dämonen besonders wohl. Es zu erhellen, ist keine leichte Aufgabe. Was uns zu Menschen macht, ist die Fähigkeit, uns selbst zu sehen, unsere Dämonen zu beleuchten, sie zu bändigen und sie produktiv zu nut© 2011 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus: Robert I. Simon; Die dunkle Seite der Seele, 1. Auflage.


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zen. Psychopathen sind dazu nicht in der Lage, bei ihnen versagen Selbstreflexion und Selbstbeherrschung in spektakulärer Weise. Wir, die wir uns als «gute» Menschen begreifen, haben dagegen die Wahl. Wir können dieses Dunkel in uns weiter verteufeln, oder wir können den menschlichen Geist feiern, indem wir unsere dunkle Seite nutzen, um nach einem aufgeklärten Leben zu streben – und zwar nicht nur für uns, sondern für die gesamte Menschheit.

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Das Böse in uns Warum böse Menschen tun, was gute Menschen träumen Der Mensch ist dem Menschen das Interessanteste. Alexander Pope

Die Menschheit hat ihre dunkle Seite, und deren Existenz sollte uns, die wir uns für «gute Menschen» halten, eigentlich nicht überraschen. Die meisten Religionen beschreiben den Menschen als böse, uneinsichtig und dringend erlösungsbedürftig. Die Geschichte von Adam und Eva schildert den Sündenfall des Menschen und den Abstieg in die Verzweiflung. Seit jener Vertreibung aus dem Paradies ist die Welt ein Ort der Gewalt. Heute verkaufen uns Zeitungen, Fernsehsender und das Internet eine nicht enden wollende Flut an menschlichen Tragödien. Zwischenmenschliche Gewalt ist das tägliche Brot der Nachrichtensendungen, die genausogut «Grausige Morde um 23 Uhr» heißen könnten. In den vergangenen dreißig Jahren wurden in den Vereinigten Staaten zig Millionen Menschen Opfer von Gewaltverbrechen. Alle 22 Sekunden wird hierzulande irgendjemand geschlagen, erstochen, erschossen, ausgeraubt oder vergewaltigt. In dieser Zeit der willkürlichen Gewalt fühlt sich niemand mehr sicher. In anderen Ländern werden unvermindert ethnische Säuberungen – wie Völkermorde beschönigend genannt werden – durchgeführt. In Somalia verhungerten Zehntausende, während sich die Warlords untereinander bekriegten und schließlich ihre Gewalt gegen die internationalen Helfer richteten, die gekommen waren, um die Somalis vor dem Hungertod zu retten. In der sudanesischen Region Darfur wurden seit 2003 Tausende Menschen vergewaltigt und gefoltert, oder sie verhungerten, während Regierung und Rebellen einander bekämpften. Große Schriftsteller wie Johann Wolfgang von Goethe, Fjodor ­Dostojewski, Edgar Allan Poe, Robert Louis Stevenson und William Shakespeare, Autoren klassischer Erzählungen über die menschlichen Abgründe, geben uns eine leise Ahnung von den Dämonen, die im Dunkel unserer Seele lauern. ­François © 2011 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus: Robert I. Simon; Die dunkle Seite der Seele, 1. Auflage.


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de La Rouchefoucauld sagte einmal: «Wir müssten uns oft für unserer besten Taten schämen, wenn die Welt unsere Motive kennen würde.» Und Joseph Conrad schrieb in Das Herz der Finsternis: «Selbst die offensten Taten eines Menschen haben ihre verborgene Seite.» Auch aus dem wirklichen Leben kennen wir genügend Geschichten. So können zum Beispiel sadistische Jungen später berühmte Chirurgen werden. Diese grausamen Jungen sind auch das Thema von William Goldings Roman Der Herr der Fliegen, der das Tier im Menschen untersucht: Englische Schüler, die an einer unbewohnten Insel stranden, verwandeln sich in gefährliche Wilde und führen vor, wie Gewalt durch den Wegfall von kontrollierenden und zivilisierten Strukturen freigesetzt wird. Sigmund Freud erforschte dieses Thema in einer ganzen Reihe seiner Werke. In seinem Klassiker Das Unbe­ hagen in der Kultur aus dem Jahr 1930 beschrieb er beispielsweise den Menschen als ein Wesen, das von einem mächtigen Aggressionstrieb und anderen primitiven Leidenschaften angetrieben wird; das Ergebnis sind Vergewaltigung, Inzest und Mord, die von den gesellschaftlichen Kontrollinstanzen und den eigenen Schuldgefühlen nur ungenügend in Zaum gehalten werden. Diese dunkle Seite ist so erschreckend wie faszinierend. Millionen rechtschaffener Bürger konsumieren begeistert Kinofilme, Fensehsendungen, Videos, Bücher und Zeitungsartikel, in denen Mord, Vergewaltigung und alle nur erdenklichen anderen Formen der Gewalt dargestellt werden. Interaktive Videospiele sind ein Millionengeschäft. Ein besonders gewalttätiges Spiel mit dem Titel Halo erschien in drei Ausgaben und verkaufte sich zig Millionen Mal. Das Motto des sogenannten Ego-Shooters lautet «Du sollst töten», und die Mitspieler müssen sich gegenseitig erschießen, um ein Raumschiff zu erobern. Viele Videospiele basieren auf brutalen Abenteuerszenarien, und die Spieler erhalten umso mehr Punkte, je mehr und je schneller sie ihre Gegner töten. In jedem achten Hollywoodfilm wird eine Vergewaltigung dargestellt. Wenn ein durchschnittlicher amerikanischer Jugendlicher das achtzehnte Lebensjahr erreicht, hat er oder sie im Fernsehen eine Viertelmillion Gewalttaten gesehen, darunter 40 000 Morde. Krimiautoren verdienen gutes Geld, indem sie beschreiben, wie fast jeder Mensch zum Mord getrieben werden kann. Die elektronische Kommunikation – Internet, DVD und selbst Handys – trägt dazu bei, dass diese gewalttätigen Bilder immer weiter verbreitet werden. Aber was ist mit den guten Menschen unter uns? Die meisten Menschen gehen ihrem Alltag nach, ohne zu rauben, zu vergewaltigen oder zu morden. Doch nach vierzig Jahren als Therapeut und forensischer Psychiater bin ich absolut davon überzeugt, dass sich zwischen der Psyche eines gewöhnlichen Verbrechers und der eines gesetzestreuen Bürgers kein unüberwindlicher Abgrund auftut. Jeder von uns © 2011 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus: Robert I. Simon; Die dunkle Seite der Seele, 1. Auflage.


1. Das Böse in uns

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hat eine dunkle Seite. Es gibt keinen unüberbrückbaren Gegensatz zwischen «uns», den anständigen Bürgern, und «denen», den Kriminellen. Wer hat nicht schon einmal den Wunsch oder das Bedürfnis verspürt, etwas Verbotenes zu tun? Wenn wir einfach einen Knopf drücken und damit ungestraft Gegenspieler oder Feinde aus dem Weg räumen könnten, wie viele von uns würden dem widerstehen? Wenn es diesen Knopf tatsächlich gäbe, dann gäbe es vermutlich kaum noch Menschen auf der Welt. Niemand kann Jahre lang zuhören, wie Patienten und Verbrecher ihre geheimsten Gedanken ausbreiten, ohne zu dem Schluss zu kommen, dass böse Menschen lediglich das tun, wovon gute Menschen nur träumen. Auch die vermeintlich guten Menschen verhalten sich nämlich alles andere als perfekt. Kein Mensch ist völlig gut oder böse. Wir sind eine Mischung aus beidem. In einer unerwarteten Situation könnte die eine oder andere Seite die Oberhand behalten. Im Krieg kann beispielsweise dieselbe Person je nach den Umständen zum Helden oder zum Feigling werden. Und in Friedenszeiten kann der einstige sadistische Aufseher eines Konzentrationslagers zum angesehenen und gefürchteten Streifenpolizisten werden. Der Unterschied zwischen dem, was die Gesellschaft als «böse» oder «gut» ansieht, ist nicht qualitativer, sondern quantitativer Natur, und liegt eher in der Fähigkeit der Bösen, ihre finsteren Impulse in finstere Taten umzusetzen. Böse Menschen, beispielsweise Serienmörder, haben intensive, zwanghafte und detaillierte sadistische Fantasien, wie sie gute Menschen selten haben; doch jeder von uns trägt ein gewisses Maß an Feindseligkeit, Aggression und Sadismus in sich. Grundsätzlich ist jeder Mensch in der Lage, Gewalt auszuüben und sogar zum Mörder zu werden. Psychotherapeuten, die selbst eine Analyse oder Therapie durchlaufen haben, wissen um die Universalität intrapsychischer Erfahrungen und erkennen in sich selbst viele der psychischen Konflikte ihrer Patienten. Es wäre zu hoffen, dass sie mit ihren Problem besser umgehen als der Rest der Welt, aber das ist nicht unbedingt der Fall. Dr. med. Thomas G. Gutheil, Professor für Psychiatrie an der Universität Harvard und berühmter forensischer Psychiater, spricht deshalb offen an, was die meisten Therapeuten ahnen: «Das könnte ich sein, wenn ich nicht bessere Schutzmechanismen hätte». Vielen von uns fällt es schwer, diese Vorstellung zu akzeptieren. Vielleicht stammt unsere dunkle Seite noch aus unserem evolutionären Erbe und ist der Tatsache zu verdanken, dass Aggression unser Überleben sicherte. Vielleicht handelt es sich auch um eine Fehlentwicklung unseres Gehirns. Der Mangel an bestimmten Neurotransmittern wie beispielsweise dem Serotonin hängt erwiesenermaßen mit aggressiven Verhaltensweisen zusammen. Unser Gehirn scheint auf Gewalt ausgelegt und kann kurzschlussartig auf Gewalt umschalten. Jeder von © 2011 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus: Robert I. Simon; Die dunkle Seite der Seele, 1. Auflage.


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Die dunkle Seite der Seele

uns hat aggressive Impulse. Seine Heiligkeit Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama, der 1989 den Friedensnobelpreis erhielt, sprach in einem Interview über die dunkle Seite seiner Träume: In meinen Träumen kommen manchmal Frauen auf mich zu, und ich denke sofort: ‹Ich bin bhiksbu, ich bin ein Mönch.› Das ist in gewisser Hinsicht sexuell... Ich habe auch Träume, in denen ich geschlagen werde und reagieren will. Dann erinnere ich mich sofort: ‹Ich bin ein Mönch und darf nicht töten.›

Man sollte nicht unterschätzen, wie sehr die meisten Menschen davon überzeugt sind, dass sich gute und böse Menschen grundsätzlich unterscheiden oder dass böse Menschen «verrückt» sein müssen. Während Sie diese Zeilen lesen, denken Sie vielleicht auch: «Ich gehöre nicht dazu. So etwas würde ich nie tun.» Vielleicht ist es Ihnen nie in den Sinn gekommen, die hier beschriebenen Verbrechen zu begehen, oder wenn es Ihnen in den Sinn gekommen ist, dann haben Sie sie vermutlich schnell als «krank» abgetan. Doch Psychiater wissen, dass sich Menschen, die ihr normales Umfeld mit seinen vertrauten Kontrollinstanzen verlassen, mit einem Mal Freiheiten herausnehmen, die sie sich zuvor bestenfalls in ihrer Fantasie vorstellen konnten. Beispielsweise kommt es nach großen Naturkatastrophen häufig zu Plünderungen. Die meisten Plünderer sind Menschen, die niemals zuvor an Diebstahl gedacht hatten. Oft nehmen die Plünderungen derartige Ausmaße an, dass die Behörden das Kriegsrecht verhängen müssen, um die Situation unter Kontrolle zu bekommen. In der Masse legen Menschen plötzlich Verhaltensweisen an den Tag, die sie allein nie gezeigt hätten. Sie verlieren nicht etwa die Kontrolle oder das Bewusstsein, sondern vor allem ihr Gewissen. Die Fernsehbilder der Plünderungen in New Orleans nach dem Hurricane Katrina Ende August 2005 sind unvergesslich. Unsere antisozialen Impulse sind opportunistisch. Nach Naturkatastrophen in den Vereinigten Staaten zahlen Versicherungen zig Milliarden Dollar für falsche oder überzogene Schadensangaben. Abertausende Bürger geben falsche oder gar keine Steuererklärungen ab. Bei Einstellungsuntersuchungen mit Lügendetektor gestehen ganz normale Menschen eine schier unglaubliche Zahl von verbotenen Handlungen, sexuellen Perversionen, Suchtverhalten und alle möglichen anderen, kaum vorstellbaren und bizarren Aktivitäten. Während der Initiationsrituale in Studentenverbindungen und Militärakademien kommt es zu extremen Verhaltensweisen und Grausamkeiten, die in Einzelfällen sogar den Tod der Beteiligten zur Folge haben. Diese Foltern werden nicht von teuflischen Monstern © 2011 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus: Robert I. Simon; Die dunkle Seite der Seele, 1. Auflage.


1. Das Böse in uns

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erdacht, sondern von privilegierten, «normalen» jungen Männern und Frauen und der vermeintlichen Elite des Landes. Ich zähle diese scheinbaren Widersprüche auf, weil ich glaube, dass Sie am meisten von diesem Buch profitieren, wenn Sie nicht in die Gut-Böse-Falle tappen und sich in dem Glauben wiegen, dass gute Menschen keine dunkle Seite haben können. Nichts wäre falscher. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Sie in den hier dargestellten kriminellen Verhaltensweisen widerwillig Aspekte von sich selbst wiedererkennen. Einige Leser könnten diese Erkenntnis als bedrohlich empfinden und das Buch entrüstet weglegen. Ich hoffe nicht, dass es Ihnen so ergeht. Ich hoffe vielmehr, dass Ihnen die Erkenntnisse aus Ihrer Lektüre helfen, sich zu ändern und zu akzeptieren, dass Sie auch nur ein Mensch sind, genau wie alle anderen. Wenn Sie nach der Lektüre dieses Buches immer noch glauben, dass Welten zwischen guten und bösen Menschen liegen, dann werden Sie diese dunkle Seite vielleicht immer noch verteufeln und ihre Menschlichkeit leugnen. Damit versäumen Sie jedoch eine Möglichkeit, diese dunkle Seite, die wir alle haben, zu erkennen, zu bändigen und produktiv für sich zu nutzen. Wenn Sie nach der Lektüre jedoch erkennen, dass es sich hierbei wirklich um eine Chance handelt, dann habe ich mit diesem Buch mein Ziel erreicht und hoffentlich Ihr Leben bereichert.

Zwei Sichtweisen Wenn ich als Sachverständiger vor Gericht aussage, muss ich angeben, was mich qualifiziert, ein Gutachten zu erstellen beziehungsweise meine Meinung abzugeben. Diese Frage möchte ich Ihnen an dieser Stelle ebenfalls beantworten. Als Gerichtspsychiater und Therapeut bin ich in der Lage, die dunkle Seite des Menschen aus zwei unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Als Sachverständiger vor Gericht muss ich beispielsweise immer wieder psychiatrische Gutachten über Männer anfertigen, die des Exhibitionismus angeklagt sind. Exhibitionisten sind meist passive Männer, die sich vor allem in ihren Beziehung zu Frauen als unzulänglich wahrnehmen. Nach außen sind sie alles andere als Machos, doch das ändert nichts daran, dass sie gefährlich sind und möglicherweise irgendwann zu aggressiveren sexuellen Verhaltensweisen übergehen. Mit seinem Verhalten will der Exhibitionist Frauen im Grunde beweisen, dass er nicht unzulänglich ist. Der Schock, den er bei der Frau bewirken will und der in ihrer Überraschung oder ihrem Schrecken zum Ausdruck kommt, soll seine eigenen Ängste und Komplexe überwinden. Durch die Entblößung erlangt der Exhibitionist die erwünschte dominante Position und seine Angst legt sich. © 2011 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus: Robert I. Simon; Die dunkle Seite der Seele, 1. Auflage.


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Die dunkle Seite der Seele

In meiner therapeutischen Praxis begegne ich einem steten Strom von Männern, die unter demselben Gefühl der Unzulänglichkeit leiden wie der Exhibitionist, bei denen sich dieses Gefühl jedoch in Form von Impotenz und Ejakulationsstörungen äußert. Der Exhibitionist lebt seine Fantasien aus, während der Patient mit denselben Dämonen ringt und stattdessen sexuelle Funktionsstörungen und Hemmungen entwickelt. Der «gute» Mann begibt sich in psychotherapeutische Behandlung, der «böse» übt psychische Gewalt gegen Frauen aus. Warum der Exhibitionist sein Problem auslebt und der Patient nur psychische Symptome entwickelt, ist ein klinisches und theoretisches Rätsel, das Psychiater seit langem beschäftigt. Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort, sie muss von Fall zu Fall betrachtet werden. Gerichtspsychiater müssen häufig psychiatrische Gutachten über Angeklagte erstellen, die sich aller möglichen Vergehen und Verbrechen schuldig gemacht haben und sich niemals einer Therapie unterziehen würden. Unsere Aufgabe ist es, die Zurechnungsfähigkeit der Angeklagten zu beurteilen, das heißt, wir müssen feststellen, ob sie zum Zeitpunkt des Verbrechens unter einer psychischen Krankheit litten oder nicht. Gerichtspsychiater werden zu verschiedenen Zeitpunkten eines Prozesses hinzugezogen, etwa um zu beurteilen, ob ein Angeklagter vernehmungsfähig ist, oder, was sehr kontrovers ist, ob die Todesstrafe verhängt werden kann. Wir geben vor dem Urteil Gutachten ab, empfehlen Strafen und Behandlungen und beraten Richter, Geschworene und andere Institutionen. Gerichtspsychiater werden aber auch bei Zivilprozessen hinzugezogen und beraten beispielsweise Anwälte bei Prozessen um medizinische Fehler, bei Sorgerechtsstreitigkeiten nach einer Scheidung, bei Entschädigungsklagen etwa nach einem Autounfall, bei arbeitsrechtlichen Streitigkeiten, bei Versicherungsfällen (etwa in der Frage, ob es sich um Unfall oder Selbstmord handelt), bei Anfechtungen von Testamenten sowie einer Vielzahl von juristischen Streitigkeiten an der faszinierenden Schnittstelle von Recht und Psychiatrie. Sogar bei Gesetzgebungsverfahren werden gelegentlich Gerichtspsychiater als Sachverständige gehört, etwa bei der Erörterung von Gesetzen zur sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz oder zur aktiven und passiven Sterbehilfe. In meiner Praxis sehe ich dagegen Menschen, denen es nicht um ihr Recht, sondern um ihre Gesundheit geht. Patienten suchen einen Psychiater auf, weil sie seelisches Leid empfinden. Sie sind deprimiert oder besorgt, sie werden von Panikanfällen oder unerwünschten Gedanken heimgesucht, oder sie haben persönliche Probleme, die sie bei der Verrichtung ihrer alltäglichen Aufgaben beeinträchtigen und ihre Lebensqualität mindern. Einige dieser Patienten leben ihre Probleme aus, doch in der Regel manifestiert sich ihr Leid in unangenehmen © 2011 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus: Robert I. Simon; Die dunkle Seite der Seele, 1. Auflage.


1. Das Böse in uns

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und schmerzhaften Symptomen und Hemmungen, die sich oftmals negativ auf ihre persönlichen Beziehungen auswirken. Doch aus meiner Erfahrung als Gerichtspsychiater weiß ich, dass ihre Träume den Taten von Verbrechern thematisch verwandt sein können. Als Therapeut erlebe ich es immer wieder, dass eine intime und wechselseitige Beziehung zwischen den psychischen Symptomen und dem destruktiven Ausleben besteht. Wenn beispielsweise ein Patient, der seine persönlichen Konflikte in schädlicher Weise ausgelebt hat, in der Behandlung diese destruktiven Verhaltensweisen einstellt, kann er plötzlich stattdessen Depression und Angst empfinden. Sigmund Freud war der Auffassung, das Ziel der Psychoanalyse bestehe darin, neurotisches Leid durch gewöhnliches menschliches Unglück zu ersetzen. Das ist durchaus ein sinnvolles Ziel. Die Psychotherapie kann schließlich keine Wunder vollbringen. Sie kann den Patienten jedoch helfen, mit Unterstützung des Psychiaters den eigenen Dämonen ins Auge zu sehen, sie zu bändigen und ihre psychischen Probleme zu überwinden. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Irgendwann müssen sich die meisten von uns mit ihren persönlichen Dämonen auseinandersetzen. Niemand kann ewig vor ihnen davonlaufen. Man entkommt ihnen nicht, indem man den Kopf in den Sand steckt oder sich in einer Abhängigkeit versteckt, denn diese Lösungen sind oft mindestens genauso schmerzhaft und lähmend wie das eigentliche Problem. Ich habe Patienten behandelt, die buchstäblich vor ihren Problemen davonliefen, indem sie dauernd umzogen, nur um sie am neuen Ort jedes Mal aufs Neue zu erleben. Psychiater wollen ihren Patienten die Kontrolle über ihr Leben zurückgeben, indem sie ihnen helfen, alternative und angepasstere Problemlösungsstrategien zu entwickeln. Patienten lernen, automatische Denk-, Handlungs-, Fühl- und Verhaltensweisen abzulegen und auf neue Art und Weise mit ihren Problemen umzugehen. In einer erfolgreichen Behandlung treten Autonomie und Verantwortung für das eigene Leben an die Stelle der früheren Hilflosigkeit und der destruktiven Wiederholungen.

Verrückt oder böse? Gesellschaft, Religion und Gesetz legen moralische Maßstäbe an, um Richtig und Falsch zu unterscheiden und Urteil über die Taten «böser» Menschen zu fällen. Als Mediziner mit einem wissenschaftlichen Selbstverständnis meiden Psychiater in der Regel den moralisch aufgeladenen Begriff «böse», selbst bei der Beurteilung der abnormalen Verhaltensweisen, die sie gelegentlich verstehen und © 2011 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus: Robert I. Simon; Die dunkle Seite der Seele, 1. Auflage.


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erklären müssen. Ihre Aufgabe besteht darin, Ursache und Wirkung im menschlichen Verhalten zu verstehen und nicht, Werturteile zu fällen. Was die Gesellschaft als «böse» bezeichnet, versucht der Psychiater im Rahmen der Psychopathologie psychischer Krankheiten oder des Alltags zu verstehen. Obwohl es natürlich stimmt, dass jeder von uns über einen freien Willen verfügt und sich zwischen Richtig und Falsch entscheiden kann, sehen Psychiater den Menschen zumeist als ein Wesen, das durch mächtige innere Triebkräfte gesteuert wird und nicht immer in der Lage ist, rationale Entscheidungen zu treffen. Jeffrey Dahmer ist für viele Menschen der Inbegriff des Bösen. Die Einzelheiten der siebzehn Sexualmorde, derer er angeklagt wurde und die in den internationalen Medien ausführlichst dargestellt wurden, haben bei vielen Menschen in aller Welt Erschütterung und Ekel hervorgerufen. In seiner Wohnung wurden zerstückelte Leichen gefunden. Verfaulte Leiber schwammen in Säure­ bädern. In einem Kühlschrank lagen menschliche Köpfe, in einem Gefrierschrank Herzen und männliche Genitalien. Dahmer gestand, seine Opfer betäubt und erwürgt und danach mit den Leichen Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Danach zerstückelte er sie und zertrümmerte ihre Knochen mit einem Vorschlaghammer in kleine Stücke. Er kochte die Köpfe, um ihnen die Haut abzuziehen und die Schädel weiß anzumalen. Aus den verschiedenen Körperteilen bereitete er Mahlzeiten zu. Er gab an, der Geschmack eines Bizepses erinnere an ein Steak. War Dahmer böse oder war er verrückt? Das Gesetz macht eine Ausnahme von der Regel, dass Angeklagte für ihre kriminellen Handlungen verantwortlich sind, wenn sie aufgrund einer psychischen Erkrankung entweder nicht wussten, was sie taten; wenn sich nicht erkannten, dass eine Tat falsch war; oder wenn sie ihr Verhalten nicht kontrollieren konnten, obwohl sie wussten, dass es falsch war. In Dahmers Prozess behauptete die Verteidigung, Dahmer habe fortgesetzt morden müssen, weil er psychisch krank gewesen sei. Aufgrund seiner Krankheit «musste er tun, was er tat, weil er nicht damit aufhören konnte». Sein Anwalt beschrieb ihn als «Tötungsmaschine» auf der Straße des Wahnsinns. Sämtliche der beteiligten Gerichtspsychiater diagnostizierten eine psychische Störung in der einen oder anderen Form und Ausprägung – wie konnte auch jemand, der ein derart unerhörtes und grausames Verhalten an den Tag legte, nicht psychisch krank sein? Die Sachverständigen waren sich jedoch nicht einig, ob Dahmer in der Lage gewesen wäre, sich zu beherrschen oder nicht. Die Geschworenen kamen jedoch zu dem Schluss, dass Dahmer nicht psychisch krank war und dass er sehr wohl die Fähigkeit gehabt hatte, sein mörderisches Verhalten zu beherrschen. Daher verurteilten sie ihn zu Mord in fünfzehn Fällen. Das heißt, die Geschworenen kamen zu dem Schluss, dass Dahmer böse © 2011 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus: Robert I. Simon; Die dunkle Seite der Seele, 1. Auflage.


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war, und dass sein schreckliches Verhalten, so sehr es vielleicht von einer psychischen Krankheit herrühren mochte, nicht von der Gesellschaft zu entschuldigen war. Strafe, nicht Behandlung, lautete das Urteil. Der Richter verurteilte Dahmer zu fünfzehn Mal lebenslänglich, oder rund 950 Jahren Haft ohne Möglichkeit einer Begnadigung. Dahmer wurde im Gefängnis ermordet.

Die Normalität des Bösen Jeffrey Dahmer scheint in der Tat die Personifizierung des Bösen und damit ein Gegenbeweis gegen die These dieses Buches zu sein, dass böse Menschen das tun, was gute Menschen träumen. Doch der Sadismus von Serienmördern wie Dahmer findet sich in zahmerer Form auch bei Therapiepatienten, die niemals ein sadistisches Sexualverbrechen begehen: angesehenen Stützen der Gesellschaft, liebevollen Vätern und Müttern und erfolgreichen Unternehmern. Ich habe ehrenwerte Bürger behandelt, die im Geiste ihre Partner, Kinder oder Eltern foltern, die jedoch nie auf den Gedanken kämen, ihnen im wirklichen Leben auch nur ein Haar zu krümmen. Sexueller Sadismus, Beherrschung und Unterwerfung gehören seit langem zum Spektrum des menschlichen Verhaltens. Macht und Aggression sind Bestandteil des menschlichen Paarungsverhaltens, in primitiven Kulturen genauso wie in modernen und vermeintlich zivilisierten. Diese Verhaltensweisen reichen von intensiven Fantasien und privaten, nicht-kriminellen Akten zwischen zwei willigen Partnern bis hin zu den gesellschaftlich nicht akzeptablen Verhaltensweisen wie Vergewaltigung und barocken und bizarren sexuellen Fantasien, die in ritualisierte, sadistische Serienmorde münden. Die Dahmers sind selten, doch die Motive Sadismus und Macht sind allen Menschen gemein. Patienten, die ihre Fantasien offen aussprechen, enthüllen häufig eine breites Spektrum von sadistischen sexuellen Fantasien, die ihren dysfunktionalen Symptomen und Verhaltensweisen zugrundeliegen. Aber auch weniger offenherzige Menschen sind in der Lage, ihre sadistischen Impulse in andere, weniger destruktive Aktivitäten zu kanalisieren. Haben Sie in letzter Zeit einen Box- oder Ringkampf gesehen? Wie wäre es mit Rugby oder Football? Nicht umsonst erreichen Horrorfilme, schockierende Krankenhausserien und die dauernden Verbrechensmeldungen in den Fernsehnachrichten beste Einschaltquoten. In diesem Buch möchte ich mit dem grundlegenden Irrtum aufräumen, dass Zerstörung und Gewalt auf die Taten böser Menschen beschränkt sind und nicht auch in den Gedanken der guten Menschen vorkommen können. Wir alle haben mit dunklen Kräften zu ringen. Die Kleriker des Mittelalters dachten, © 2011 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus: Robert I. Simon; Die dunkle Seite der Seele, 1. Auflage.


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Aggression und Gewalt wären das Produkt böser Geister, die einen Menschen heimsuchten. Wer im 21. Jahrhundert glaubt, Aggression und Gewalt seien ausschließlich das Resultat einer Krankheit, sitzt demselben Denkfehler auf wie die Geistlichen des Mittelalters. Es besteht kein Zweifel, dass die extremen Gewalttaten, die ich in diesem Buch beschreibe, zum Teil auf Psychopathien und Psychosen der Täter zurückzuführen sind – aber vieles davon eben nicht. Der Großteil der Gewalt dieser Welt geht gerade nicht von psychisch kranken Menschen aus, sondern von Menschen und Gesellschaften, die nach herkömmlichen Maßstäben als gesund gelten. Die Antwort nach den Ursprüngen dieser Gewalt ist nicht in der Psychopathologie des Bösen zu finden. Kein seriöser Psychiater würde ernsthaft glauben, dass sich menschliche Motivation und Verhaltensweisen vollständig mit den gängigen medizinischen und psychologischen Theorien erklären lassen. Nur Gott kennt das Herz und die Gedanken der Menschen. Ich werde nie die gerichtspsychiatrische Untersuchung einer Frau vergessen, die eine hinrichtungsartige Ermordung beobachtet hatte und von diesem Erlebnis traumatisiert wurde. Beim Überfall auf das Fastfood-Restaurant, in dem sie arbeitete, musste sie von einem Nebenzimmer aus mitansehen, wie einer ihrer Kollegen erschossen wurde, der auf Knien um sein Leben flehte. Der Mörder war ein dreizehnjähriger Junge. Während sie die schreckliche Szene und ihren Schrecken schilderte, spürte ich mein eigenes Unbehagen. Ein wenig umständlich versuchte ich ihr zu erklären, dass der Junge möglicherweise selbst in der einen oder anderen Form ein Opfer sein könnte. Sie unterbrach mich: «Doktor, Sie sollten wissen, dass es in dieser Welt wirklich das Böse gibt.» Leider findet sich dieses «wirkliche Böse» überall in der Geschichte der Menschheit, in Grausamkeiten, Kriegen, Massakern und Völkermorden. Adolf Hitler und die Nationalsozialisten töteten bis zu zehn Millionen Menschen. Joseph Stalin und seine Schergen deportierten und ermordeten zwanzig Millionen Landsleute. In der Türkei wurden zu Beginn des 20. Jahrhunderts rund eine Million Armenier Opfer eines Völkermords. Die Roten Khmer in Kambodscha töteten zwei Millionen Menschen. Im Jahr 1994 wurden in Ruanda eine halbe Million Menschen Opfer eines Völkermords. Und während dieses Buch in den Druck geht, werden in Darfur Hunderttausende Menschen ermordet. Aber Stalin hatte nicht selbst den Finger an jedem Abzug, und Hitler drehte nicht eigenhändig den Hahn in der Gaskammer auf. Waren alle Beteiligten psychisch krank? Nehmen wir nur Adolf Eichmann, den nationalsozialistischen Beamten, der die Deportation von Millionen von Menschen in Konzentrationsund Vernichtungslager leitete. Obwohl er damit schier unvorstellbare Verbrechen beging, wurde er von einem halben Dutzend Psychiater als normal diagnostiziert. © 2011 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus: Robert I. Simon; Die dunkle Seite der Seele, 1. Auflage.


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