Die Ausgleichung der schweizerischen Bundesverfassung

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RECHT UND STAAT IN GESCHICHTE UND GEGENWART EINE SAMMLUNG VON VORTRAGEN UND SCHRIFTEN AUS DEM GEBIET DER GESAMTEN STAATSWISSENSCHAFTEN ,...iiiiiiiiiHiiiillliiiiiiEiiiiiiliiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii--iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii 39

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DIE AUSLEGUNG DER SCHWEIZERISCHEN BUNDESVERFASSUNG Antrittsrede gehalten am, I I. :Juli I925 VON

DR. Z. GIACOMETTI PRIVATDOZENT AN DER UNIVERSITÄT ZüRICH

RECHTSWISSENSCHAFTLICHES SEMINAR DER UNIVERSITÄT ZÜRICH

Dieses Buch ist ein Geschenk von

Dr. Paul Szöllösy, Pfaffenhausen

TOBINGEN

\

Alle Rechte vorbehalten.

Druck von H, Lau p p jr in T端bingen .

Das staatliche Grundgesetz, die Verfassung, ist, wie jedes andere Gesetz, ja wie jede soziale Institution überhaupt, dynamischer Natur, d. h. einem steten Fortbildungsprozesse unterworfen. Die Verfassung kann sich zunächst auf gewalttätige Weise, nämlich durch revolutionäre Umwälzung fortbilden 1).

So stellt z. B. die geltende deutsche Verfassung eine auf dem Wege der Revolution erfolgte Aenderung der früheren Reichsverfassung dar. Die Verfassung wird weiter, soweit sie überhaupt in einer Urkunde niedergelegt ist, durch formelle Aenderung gemäß dem im Staatsgrundgesetz selbst vorgeschriebenen Wege der Verfassungsrevision fortgebildet. Es sei nur an die verschiedenen Partialrevisionen der schweizerischen Bundesverfassung erinnert. Von diesen beiden Formen der Fortbildung staatlicher Grundgesetze soll hier aber weiter nicht die Rede sein. Die Verfassung kann sich so dann auch ohne formelle Aenderung des Verfassungstextes weiterbilden. So durch Gewohnheitsrecht. Dieses spielt aber bei der Fortbildung der geschriebenen Verfassung keine große Rolle; denn es vermag nach herrschender Lehre gesetztes V erfassungsrecht nur zu ergänzen, nicht aber abzuändern 2 ) 3). Die Fortbildung der Ver1) G. Je 11 in e k: Verfassungsänderung und Verfassungswandlung {Igo6)

s.

3 ff.

F. F 1 e i n e r : Schweizerisches Bundesstaatsrecht S. 42 I. Institutionen des deutschen Verwaltungsrechts & S. 85. Lab an d: Staatsrecht, Band II r., 2)

s. 75.

3)

Ja das Gewohnheitsrecht vermag nach det unten im Texte (S. 2I) vertretenen Theorie der Lückenlosigkeit der Verfassung das geschriebene Ver~ fassungsrecht auch nicht zu ergänzen.

I*

4

fassung ohne formelle Aenderung ihres Textes vollzieht sich vielmehr vor allem auf dem Wege der Interpretation des Staatsgrundgesetzes durch Gesetz, Verwaltungsakt und richterliches U rteil 1). Die wenigsten Verfassungsbestimmungen, und Gesetze überhaupt, sind nämlich von vornherein so klar und eindeutig, daß ein Zweifel über ihre Bedeutung ausgeschlossen wäre.

Gewöhnlich muß die Verfassung ausgelegt werden, d. h. der Sinn und die Tragweite vieler Verfassungsnormen muß von den Behörden, die sie auszuführen oder anzuwenden haben, im einzelnen Fall noch ermittelt werden. Der Gesetzgeber nun, der, zur näheren Ausführung der Verfassung berufen, durch Gesetz eine V erfassungsbestimmring zu interpretieren hat, unterliegt den jeweilen herrschenden politischen Anschauungen ; der Inhalt der auszulegenden Verfassungsnorm wandelt sich für ihn trotz gleichbleibendem Wortlaut mit den politischen Anschauungen und mit den wechselnden Bedürfnissen 2); d~r Inhalt der Verfassung . geht anders ausgedrückt mit der Zeit vorwärts.

Auf diese Weise wird die Anpassung der Verfassung an die veränderten Verhältnisse ermöglicht, ohne welche sie toter Buchstabe bleiben und jede staatliche Entwicklung hemmen müßte. So kann der Gesetzgeber, ohne den Rahmen der Verfassung zu sprengen, aus den einzelnen V erfassungsnormen eine ganz andere Bedeutung herauslesen als sie, dem nackten Wortlaut nach beurteilt, prima facie besaßen; er bildet mit andern Worten die Verfassung, wenn auch ohne Abänderung Ihre~ Wortlautes, fort. Dasselbe gilt mutatis mutandis vom Richter und von den V erwaltungsbehörden. So spricht beispielsweise die Verfassung der Vereinigten Staaten von Nordamerika nirgends von einem Rechte der Union, neues Gebiet zu erwerben; aus dem Rechte der Kriegsführung hat man aber die 1) G. Je 11 in e k a. a. 0 . S. 9 nennt die Fortbildung der Verfassung durch Interpretation Verfassungswandlung; ebenso auch L a b a n d : Wandlungen der deutschen Reichsverfassung (I 895) S. 3 ff.

2 ) G. Je ll in e k a. a. 0. S. 9·

5 Kompetenz abgeleitet, das Unionsgebiet durch Eroberung zu vergrößern 1 ). Es ist nun aber möglich, daß der Gesetzgeber oder der Richter die Verfassung contra constitutionem auslegen, d. h., daß das in Ausführung bzw. in Anwendung der Verfas" sung ergangene Gesetz oder Urteil sich nicht im Rahmen der Verfassung bewegt, sondern gegen dieselbe verstößt. Hier vollzieht ·sich· dann die Fortbildung der ·Verfassung nicht mehr auf dem Wege der Interpretation, sondern durch materielle Abänderung des Staatsgrundgesetzes. Die Möglichkeit der Fort:.. bildung der Verfassung durch materielle Abänderung derselben ist besonders dort gegeben, wo ein richterliches Prufungsrecht der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze nicht besteht 2).

Die Verfassungsinterpretation übt somit, indem sie die Verfassung fortbildet, eine überaus wichtige Funktion im Verfassungsrechtsleben eines Staates aus. Diese Funktion erfüllt sie in erster Linie durch Fortbildung der Kompetenznormen des Staatsgrundgesetzes und zwar vorab im Sinne einer Erweiterung des staatlichen Kompetenzbereiches. Das ist angesichts der immer zunehmenden Ausdehnung des sta~tlichen Aufgabenkreises, die den Staat · ununterbrochen · zur Prüfung seiner Kompetenzen zwingt, ohne weiteres verständlich. Die Fortbildung der Verfassung auf dem Wege der Auslegung wird daher besonders im Bundesstaate einewichtige Rolle spielen. Denn hier treten zu den Normen der Verfassung über die Abgrenzung der staatlichen Zuständigkeiten gegenüber dem Bürger und der Zuständigkeiten der einzelnen Staatsorgane noch diejenigen über die sachliche Ausscheidung der Kompetenzen zwischen Bundesstaat und Gliedstaaten hinzu. Und zwar wird die Fortbildung der Verfassung durch Interpretation naturgemäß in denjenigen Bundesstaaten von ganz besonderer Bedeutung sein, die eine starre Verfassung aufweisen, d. h. deren Verfassung nicht auf dem Wege der 1)

H. Tri e p e I: Die Kompetenzen des Bundesstaats und die geschriebene in der Festgabe für Laband (1908) Band II S. 266.

G. J e.ll in e k: Allgemeine Staatslehre 8 S. 538.

V~rfassung, 2)

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6

ordentlichen Gesetzgebung, sondern nur nach Maßgabe strengerer Formen revidiert werden kann 1). Ja ~die V erfassungsinterpretation bildet in einzelnen dieser Bundesstaaten praktisch überhaupt die einzige Form der Fortbildung des Staatsgrundgesetzes, und somit das einzige Mittel einer gedeihlichen Entfaltung der staatlichen Tätigkeit. So ist beispielsweise die Fortbildung der Nordamerikanischen Bundesverfassung, die für ihre Revision ein sehr verwickeltes Verfahren vorschreibt, beinahe ausschließlich auf dem Wege der Auslegung erfolgt 2). Hingegen kann z. B. die Fortbildung der Verfassung durch Interpretation in Deutschland nicht annähernd dieselbe Rolle spielen, wie in der Union, da dort gesetzgebende und verfassungsgebende Gewalt identisch sind, die Reichsverfassung also durch verfassungsänderndes Reichsgesetz jederzeit revidiert werden kann 3).

Die Verfassungsinterpretation muß nach dem soeben Ausgeführten- auch im Verfassungsrechtsleben der schweizerischen .E idgenossenschaft, bei der Fortbildung der Bundesverfassung, eine gewisse Rolle spielen. Denn auch die Schweiz ist ein Bundesstaat; außerdem stellt die schweizerische Bundesverfassung ebenfalls eine sogenannte starre Verfassung dar, wenn auch · nicht in dem Grade, wie das nordamerikanische Staatsgrundgesetz. Verfassungsgebende und gesetzgebende Gewalt decken sich auch in der Schweiz nicht. Die Verfassungsrevision erfolgt gleich wie in Amerika nicht auf dem Wege der einfachen Gesetzgebung, sondern ist an die Mitwirkung von Volk und Ständen gebunden 4 ). Andrerseits kann die Verfassungs.interpretation in der Schweizangesichts der leichteren Revisionsmöglichkeiten der Bundesverfassung nicht dieselbe ausschlaggebende Bedeutung wie in Amerika haben. Dies wird durch 1)

Vgl. über den Begriff der starren Verfassung G. Je 11 in e k a. a. 0.

534 ff~ 2 ) G .. Je 11 in e k: Verfassungsänderung und Verfassungswandlung S. 20 ; H. T .r i e p e 1 a. a. 0. S. 254 ff.

3 ) Art. 76 der Reichsverfassung. ~) Art. 118 ff. der Bundesverfassung.

s.

7 die Tatsache bestätigt, daß die Bundesverfassung seit dem Jahre 1848 durch eine Totalrevision und eine ganze Reihe von Partialrevisionen fortgebildet worden ist 1).

Na~h welchen Richtungen hin hat nun die Bundesverfassung eine Fortbildung auf dem Wege der Auslegung erfahren?

Welcher Interpretationsmittel hat man sich bedient? Dabei beschränken wir uns auf die Auslegung der Bundesverfassung durch gesetzgebende und vollziehende Behörde d. h. durch Bundesversammlung und Bundesrat; die Fortbildung der Bundesverfassung durch die bundesgerichtliche Judikatur bleibt außer Betracht.

Der Bundesgesetzgeber hat auf dem Wege der Verfassungsauslegung entsprechend der immer größeren Erweiterung des \ staatlichen Aufgabenkreises vor allem die Kompetenzen des Bundes gegenüber den Kantonen sowie im bestimmten Umfange auch gegenüber den Bürgern fortgebildel. Und zwar ist diese Fortbildung vorab durch teleologische Auslegung der Bunlesverfassung, -mittelst. -Ä;,;~nd~ng -des sogenannten- . logischen Verfahrens des Schlusses vom Zweck auf die Mittel, erfolgt 2). Die Verfas~ungsmäßigkeit vieler in Ausführung von Kompetenznormen der Bundesverfassung ergangener Erlasse wird nämlich in der Weise begründet, daß man diese Erlasse als taugliche Mittel zur Erreichung der von der betreffenden Kompetenznorm der Bundesverfassung erstrebten Zwecke hin . . stellt, als Folgerung bestimmter Bundesverfassungsrechtssätze dartut. Der Bundesgesetzgeber schließt also hier mit andern Worten von gegebenen auf stillschweigende Kompetenzvor1) V gl. darüber F. F 1 ein e r : Die Fortbildung der Schweizerischen Bundesverfassung seit dem Jahre 1874 (Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, Band I (1907, S. 392 ff.). F. F 1 einer: Die Partialrevisionen der Schweizerischen Bundesverfassung in den Jahren 1906-1913 (daselbst Band VIII, 1914, S. 461 ff.). Z. G i a c o m e t t i: Das Verfassungsrechtsleben der Schweizerischen Eidgenossenschaft in den Jahren 1914-1921 (daselbst Band XI, 1922, S. 313 ff.).

2 ) Vgl. darüber vor allem Tri e p e 1 a. a. Q. S. 287.

8 schriften der Bundesverfassung. Er huldigt somit dem berühmten Prinzip der stillschweigenden Komp_etenzen, der :dmplied powersc, wie es vor allem im amerikanischen Bundesstaatsrecht -~-·''iiisgebildet worden ist und das beispielsweise allein die fortschreitende Zentralisation . der Nordamerikanischen Union ermöglicht hat 1).

So hat sich der Bund in Anwendung dieses Verfahrens der Konsequenz schon bevor er durch die Partialrevision des Jahres 1 8g8 das Recht zur Gesetzgebung im Gebiete des Strafrechts erhalten hatte, die Befugnis zum Erlaß einer ganzen Reihe von strafrechtlichen Normen zugesprochen. Die Kompetenz zur Auf-:stellung der eigenen staatlichen Organisation h?-t beispielsweise für den Bund ohne weiteres die Zuständigkeit zum Erlasse des Bundesgesetzes über das Bundesstrafrecht vom Jahre 1 8 53, das dem Schutze dieser Organisation dien~, nach sich gezogen 2).

Aus der Uebertragung des Zollwesens, - des Post- und Tele~ graphenwesens usw., an den Bund durch Art. 28 und 36 der Bundesverfassung hat der Bundesgesetzgeber die Befugnis abgeleitet, die Ausübung dieser Kompetenzen durch Strafbestimmungen zu sichern und in den Bundesgesetzen, die diese V erwaltungszweige des Bundes regeln, den sog. Fiskalgesefzen, die erforderlichen Strafandrohungen gegen ihre Uebertretung aufgestellt3). Der Bund hat weiter aus seiner in den Art. 25 und 34. der Bundesverfassung niedergelegten Kompetenz zum Erl~sse der sog. Polizeigesetze des Bundes, d. h. der Verwaltungsgesetze über das Fabrikwesen, das Auswanderungswesen, das Privatversicherungswesen, Jagd- und Vogelschutz, Fischerei usw·. die Befugnis gefolgert, zu deren Schutze strafrechtliche Normen aufzustellen 4). Ebenso hat der Bund vor Erlangung der Gesetz-

......,...---~~ --· - -- · · ~

1)

Tri e p e 1 a. a; 0. S, 254 ff., 265.

F 1 einer: Zeitschrift für Schweizerisches Recht, n, F. 25 (1906) S. 395· B ur c k h a r d t: Kommentar der schweizerischen Bundesverfassung 2 · S. 61 5· s) Burckhardt a, a. 0. S. 615. ') F 1 einer a. a. 0. S. 395, 396. F 1 einer: Bundesstaatsrecht S. 45, Anm. 18. Bur c k h a r d t a, a. 0. S. 615.

2

)

9 gebungs,k ompetenz auf dem gesamten Gebiete des Zivilre·c hts sich unter Berufung auf Art. 34 der Bundesverfassung im Gesetz von I 88 I die Befugnis zur Regelung der Haftpflicht aus Fabrikbetrieb zugesprochen 1 ); dieses Gesetz stellte sich als Mittel der Durchführung der Arbeiterfürsorge im Sinne des Art. 34 der Bundesverfassung dar.

Außer zum Erlasse von Strafbestimmungen und Zivilrechtsnormen vor Vereinheitlichung des Strafrechts und Zivilrechts hat sich der Bund auf dem Wege der ~chlußfolgerung aus gegebenen Kompetenzen aber noch andere Befugnisse beigelegt.

So hat der Bundesgesetzgeber gestützt auf Art. 54 der Bundesverfassung, wonach das Recht zur Ehe unter dem Schutze des Bundes steht, sich im Bundesgesetz über die Feststellung und Beurkundung des Zivilstandes und der Ehe vom Jahre 1874 die Kompetenz zur gesetzlichen Regelung der Voraussetzung und Form der Eheschließung zugesprochen 2). So hat der Bund weiter aus seiner in den Art. 23 und 34 bis der Bundesverfassung enthaltenen Kompetenz zur Errichtung und zum Betrieb der Bundesbahnen und der Unfallversicherungsanstalt die stillschweigende Kompetenz zur Aufstellung eines besonderen Steuerprivilegs zugunsten dieser Anstalten gegenüber den Kantonen abgeleitet 3). Ebenso hat der Bund aus seiner Befugnis zur gesetzlichen Regelung einer bestimmten Materie die Kompetenz zur Schaffung von Bundesämtern, die die bezüglichen Gesetze zu vollziehen oder deren Durchführung durch die Kantone . zu überwachen haben; gefolgert. So ist z. B. ohne ausdrückliche Verfassungsbestimmung das Bundesamt für Sozialversicherung zur Durchführung des Bundesgesetzes über die Kranken- und Unfallversicherung, das Amt für Wasserwirtschaft zur Vollziehung des Bundesgesetzes über die Nutzbarmachung der 1)

F I einer: Bundesstaatsrecht S. 45, Anm. 18.

F le in er a. a. 0. S. 45, Anm. 17.

3) Art. 10 des Eisenbahnrückkaufsgesetzes von 1897; Art. 53 des Bundesgesetzes über die Kranken- und Unfallversicherung von 1911, 2

)

10

Wasserkräfte, das eidgenössische Gesundheitsamt zur V ollziehungund Ueberwachung der Bundesgesetze über die Seuchenbekämpfung und über den Verkehr mit Nahrungs- ·und Genußmitteln 1) geschaffen worden.

Der Bundesgesetzgeber hat auch aus den im Art. 2 der Bundesverfassung aufgezählten Zwecken des Bundes einen Schluß auf stil1schweigende Bundeskompetenzen gezogen. Das Subventionswesen des Bundes stützt sich beispielsweise zum großen Teile einzig und allein auf diesen Art. 2. So hat der Bund unter Berufung auf die zitierte Verfassungsbestimmung unter anderem Subventionen für die Landwirtschaft, für Handel und Gewerbe, sowie zur Förderung von Kunst und Wissenschaft gewährt; es sei nur an die Errichtung des Landesmuseums erinnert. Auch die Subventionierung des Arbeitsnachweises und der Arbeitslosenversicherung erfolgte gestützt auf Art. 2 der :Bundesverfassung. Auf Art. 2 fußt weiter beispielsweise auch der Bundesbeschluß von 1 go6 über · das Verbot der Ausfuhr elektrischer Energie 2).

Ein Beispiel der V erfassungsauslegurig mitteist des V erfahrens der K-onsequenz stellt sodann auch das Bundesgesetz von 1924 über die Hilfe an die bei deutschen Lebensversicherungsgesellschaften Versicherten dar 8). Dieses Gesetz erscheint u .. a. als Mittel zur Verwirklichung des im Art. 34 Abs. 2 der Bundesverfassung vorgesehenen Schutzes der privatrechtlich V ersicherten durch den Bund.

Der Bundesgesetzgeber legt nun aber mitunter in Anwendung des Verfahrens der Konsequenz der gegebenen Kompetenznorm der Bundesverfassung, von der er den Schluß auf eine stillschweigende Kompetenz zieht, einen Zweck bei, der sich aus dem Wortlaut der betreffenden Verfassungsvorschrift nicht heraus1)' Amtliche Sammlung der Bundesgesetze, Band 13 S. 689, Band 28 S. 802, Band 30 S. 292 ff. :~) B ur c k h a r d t a, a, 0. S. 45 ff, 8 ) Amtliche Sammlung der Bundesgesetze, Band 40, S. 323.

I I

lesen läßt. Die Kompetenznormen der Bundesverfassung werden also hier teleologisch extensiv ausgelegt, d. h. genauer ausgedrückt die auf Grund einer teleologischen Methode erfolgende ·Interpretation ist in ihrem Resultate extensiv. Man kann hier mitunter auch von Analogie reden-;- denn .AD.~iogie und extensive Auslegung lassen sich begrifflich voneinander nicht unterscheiden 1); auch der Analogie liegen, wenn vielleicht nicht immer bewußt, teleologische Erwägungen zugrunde.

So hat beispielsweise der Bundesgesetzgeber aus .Art. 33 der Bundesverfassung von 1848, der das Postwesen, d. h. das Recht zur Beförderung von Korrespondenzen und Personen als Bundessache erklärt, die Befugnis abgeleitet, auch das Telegraphenwesen, d. h. das Recht der Nachrichtenübermittlung auf elektrischem Wege durch Zeichen, zur Bundessache zu stempeln 2) ; er legt somit dem Art. 33 einen Zweck bei, der. durch den Wortlaut der Verfassungsbestimmung nicht ohne weiteres gedeckt wird. Das Telegraphenwesen ist dann ausdrücklich im Art. 36 der Bundesverfassung von I 874 als Bundessache erklärt worden. Unter diese letztere Kompetenznorm hat wiederum der Bundesgesetzgeber auch das Telephonwesen subsumiert; er leitet aus der Zweckbestimmung des Art. 36 der Bundesverfassung, der Uebertragung des Telegraphenwesens an den Bund, über den Wortlaut dieser Verfassungsvorschrift hinausgehend auch die Befugnis zum Betrieb und Regelung des Telephonwesens, d. h. der Uebermittlung von Gedanken durch Laute mit Hilfe der Elektrizität 3), ab. So stellt weiter beispiels- . weise das Bundesgesetz über die Betäubungsmittel vom Jahre 1924 4) ein Mittel zur Bekämpfung des Kokainismus und der Opiumsucht dar; die Befugnis zur Bekämpfung des Kokainismus und der Opiumsucht läßt sich aber aus der Kompetertz~orrn, auf 1) Vgl. darüber Rumpf: Gesetz und Richter S. 144• Tri e p e 1 a. a. 0.

S. 313. Heck: Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz (1914) S. 194 ff.

2) F 1 e in e r a. a. 0. S. 508.

B ur c k h a r d t a. a. 0. S. 328.

3 ) F 1 einer a. a . 0. S. 508, 509.

B ur c k h a r d t a. a. 0 •. S. 328.

4 ) Amtliche Sammlung der Bundesgesetze, Band 41, S. 439·

12

die das genannte Bundesgesetz sich stützt, nämlich aus Art. 69 der Bundesverfassung nicht ohne weiteres entnehmen. Denn Art ..69 der Bundesverfassung gibt dem Bunde die Befugnis zur Bekämpfung übertragbarer oder stark verbreiteter oder bösartiger Krankheiten; es ist aber höchst · fraglich, ob Kokainismus und Opiumsucht überhaupt als Krankheiten im Sinne der Verfassungsvorschrift oder zum mindesten als bösartige, stark verbreitete oder übertragbare Krankheiten bezeichnet werden können 1). · Dieselbe teleologisch extensive Methode wendet der Bundesgesetzgeber sodann auch, und zwar in zweifacher Hinsicht, bei der Auslegung des Art. 34 ter der Bundesverfassung an, der dem Bund das Gesetzgebungsrecht auf dem Gebiete des Gewerbewesens überträgt. Der Bundesgesetzgeber geht davon aus; daß unter Gewerbe gemäß dem Verfassungsartikel nicht nur das Gewerbe im engern Sinne, sondern auch Handel und Industrie überhaupt zu verstehen seien, obwohl der französische Verfassungstext ausdrücklich von :. arts et metiers « redet, und daß die Gesetzgebungskompetenz des Bundes sich nicht nur auf gewerbepolizeiliche Vorschriften; sondern auch auf die Ordnung des Dienstverhältnisses zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer erstrecke 2). So hat der Bund beispielsweise aus dem genann.,. ten Verfassungsartikel die Befugnis abgeleitet zur Mitwirkung bei der Begründung des privatrechtliehen Dienstverhältnisses ; das diesbezügliche Bundesgesetz über die Ordnung des Arbeitsverhältnisses vom Jahre 1919 ist dann in der Referendumsabstimmung verworfen worden 3). So hat der Bundesgesetzgeber weiter gestützt auf Art. 34 ter der Bundesverfassung das Bundesgesetz vom] ahre I 922 über die Beschäftigung von jugendlichen 1 ) Vgl. hiezu F i c k : Soll die Schweiz die Haag er Opiumkonvention ratifizieren ? (I 92 3 ).

2) B u r c k h a r d t : Auslegung und Revision des Art. 34 ter der Schweizerischen Bundesverfassung, in der Schweizerischen Juristenzeitung, Jahrgang 21, 1924/25, S. 313 ff.

3 ) Bundesblatt 1919, Band III, S. 846.

14 gesetzgeberzieht hier nicht aus gegebenen ausdrücklichen Korn;;. petenzbestimmungen Schlüsse auf das v; orhandensein gewisser Zuständigkeiten des Bundes. Er geht jetzt vielmehr vom Wesen der Bundesverfassung aus, vom Begriffe des Bundes als eines Zwecksubjektes, wie es seinen Ausdruck in der Bundesverfassung gefunden hat, und sucht daraus bestimmte Bundeskompetenzen abzuleiten. Der Bundesgesetzgeber stellt sich hier mit andern Worten auf den Standpunkt, daß der Bund gewisse Kompetenzen besitze 1 die nicht aus irgendwelchen ausdrücklichen V erfassungsnormen herausgelesen werden können, sondern die dem Bunde gewissermaßen im~~E~~~ sind, die die Bundesverfassung voraussetzt. Der Bundesgesetzgeber macht sich hier also das besonders im nordamerikanischen Bundesstaatsrecht ausgebildete Prinzip der .. resultings powers« 1 ) zu eigen. Diese Inversionsmethode hat der Bund vor allem zur Begründung seines während · des Weltkrieges zur Geltung gebrachten Staatsnotrechts angewendet. Die Zuständigkeit der Bundesversammlung zum Erlasse des berühmten Bundesbeschlusses vom · 3· August 1914 2), der die Volksgesetzgebung durch eine.bundesrätliche Verordnungsgewalt ersetzte, auf Grund welcher der Bundesrat in den Kompetenzbereich der Kantone und in die verfassungsmäßigen Freiheitsrechte der Bürger ein~ griff 3), kann aus keiner ausdrücklichen Bestimmung der Bundesverfassung gefolgert werden. Die Kompetenz des Bundes zur Notrechtssetzung ist aus dem Wesen der Eidgenossenschaft als eines ·Zweckverbandes zur Wahrung der Unabhängigkeit des Landes und des Wohles der Bürger abgeleitet worden 4). Iri ähnlicher Weise 1 wie die Zuständigkeit zur Staatsnotrechtsge- · 1

Tri e p e 1 a. a. 0. S. 2 72.

Amtliche Sammlung der Bundesgesetze Band 30 S. 347· 3 ) Vgl. Fleiner a. a. 0. S. 416 ff.

Giacometti im Jahrbuch des öffentlichen Rechts Band IX, (1922), S. 340 ff. und die dort zitierte Literatur.

4) Vgl, Bundesblatt 1916, Band I, S. 122 (II. Neutralitätsbericht vom 9· Februar 1916). )

2)

15 setzgebung sucht der Bundesgesetzgeber auch andere Kompedes Bundes mittels der Inversionsmethode zu gewinnen; so verzichtet er mitunter, falls für die Regelung bestimmter Materien keine Stütze in der Bundesverfassung zu finden ist, er aber über diese Materie legiferieren will, sich im betreffenden Erlaß überhaupt auf eine Kompetenznorm der Bundesverfassung zu berufen. Die Bundeskompetenz gilt ihm in solchen Fällen als selbstverständlich; sie ergibt sich für den Bundes~ gesetzgeber also aus dem Wesen des Bundes. So hat sich die Bundesversammlung beispielsweise zum Erlaß des Bundesgesetzes über die Patenttaxen der Handelsreisenden vom Jahre 1892, sowie des Bundesgesetzes über die Förderung der Landwirtschaft vom Jahre 1893 für kompetent gehalten, da aber keine Verfassungsvorschrift sie dazu ermächtigte, im Eingange der genannten Bundesgesetze die Berufung auf einen kompetenzbegründenden Verfassungsartikel weggelassen 1 ).

Der Bundesgesetzgeber bedient sich aber weiter dieser sogenannten !~\'~rsionsm~t~ode nicht nur in de.m Sinne, daß er aus dem Wesen der Bundesverfassung, des Bundesstaates bestimmte Bundeskompetenzen ableitet, sondern auch ~}Ir Auslegung aus' clrückli_cher Kompetenzno~men der Bundesverfassung. Er sucht unter Berufung auf das Wesen des Bundes, den Begriff des Bund~sstaates, bestimmten Kompetenznormen eine Bedeutung beizulegen, die durch denWortlautder Verfassungsvorschrift nicht gedeckt wird. Die Inversionsmethode führt also hier ebenfalls zu einer extensiven Auslegung der Bundesverfassung. Diese .Methode wendet der Bundesgesetzgeber beispielsweise bei Auslegung des Art. 8 der Bundesverfassung an, wonach dem Bunde allein das Recht zusteht, Bündnisse und Verträge mit dem Ausland abzuschließen. Er geht davon aus, daß dieser Verfassungsartikel .dem Bund die Befugnis habe übertragen wollen, über alle beliebigen Materien Staatsverträge zu schließen, mögen dieten~en

1

s.

)

Amtliche Sammlung der Bundesgesetze, Band 13, S. 63 und Band 14,

209.

16 selben in die Kompetenz der Kantone oder des Bundes fallen.

Dieser Sinn ist aus dem Wortlaut der genannten ·Verfassuf!gsvorschrift nicht zu entnehmen, denn dieselbe sagt nichts aus über den Inhalt der Staatsverträge 1). Die Befugnis, auch solche Gegenstände, die in die Kompetenz der Kantone fallen, in einem Staatsvertrage zu ordnen, leitet der Bundesgesetzgeber aus dem Wesen des Bundes als Bundesstaat ab 2). Ich erinnere an die verschiedenen Niederlassungsverträge der Schweiz mit dem Auslande, die in . die Befugnis der Kantone zur Regelung der Niederlassung der Ausländer in der Schweiz eingegriffen haben 3 ). Ich erinnere beispielsweise weiter an den im Jahre 1888 zwischen dem Bunde und der Kurie abgeschlossenen Vertrag über die Abänderung der Organisation des Bistums Basel ; dieser Vertrag hat die Kompetenz der Kantone zur Regelung der Beziehungen zwischen Staat und Kirche tangiert 4). Es sei weiter an den Beitritt des Bundes zur Raager Konvention betreffend das Zivilprozeßrecht vom Jahre 1896 erinnert, das in die Kompetenz der Kantone zur Regelung des Zivilprozesses eingegriffen hat 5), sowie an den Beitritt der Schweiz zur internationalen Automobilübereinkunft vom Jahre 1910 6). Hieher gehört endlich auch beispielsweise der Grenzregulierungsvertrag zwischen Baden und der Schweiz vom Jahre 1906, durch welchen Gebietsteile des Kantons Basel Stadt ohne dessen Zustimmung gegen badische ausgetauscht wurden 7). In diesen Zusammenhang gehört sodann auch, obwohl es sich hier nicht um eine eigentliche Kompetenznorm handelt, die Auslegung von Art. I I 3 Ziff. 3 der Bundesverfassung durch den berühmten Art. 178 Abs. 2 des 1

Fleiner a, a. 0. S. 751.

Vgl. beispielsweise Bundesblatt 1864, Band li, S. 257 ff.

3 ) v. Fr i s c h : Widersprüche in der Literatur und Praxis des schweizerischen Staatsrechts (1912) S. 32.

4 ) Fleiner a, a. 0. S. 751.

5) F 1 einer a. a. 0. S. 751.

6 ) Amtliche Sammlung der Bundesgesetze, Band 27, S. 49· 7) v. Fr i s c h a. a. 0. S. 37, Anm. 2. )

2)

17 Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege, der die Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundesgerichts auf die Fälle beschränkt hat, in denen ein verfassungsmäßiges Recht durch kantonale Verfügungen. und Erlasse verletzt worden ist.

Dieser Ausschluß der Erlasse der Bundesbehörden von der Kognition des Bundesgerichts ist aus dem Wortlaute des Art. I I 3 Ziff. 3 der Bundesverfassung nicht zu entnehmen ; dieser Ausschluß wurde mit dem Hinweis auf seine Selbstverständlichkeit begründet 1), mit andern Worten, aus der Naturder Sache, die eine Ueberprüfung der Erlasse der vollziehenden und gesetzgebenden Bundesbehörden durch den Richter nicht gestattet, abgeleitet.

DieFortbildung der Bundeskompetenzen hat sich dann weiterhin außer durch teleologische Auslegung der Bundesverfassung und Interpretation auf dem Wege der Inversionsmethode in weitgehendem Maße auch durch Interpretation der Bundesverfassung mitteist der sogenannten 2:istorischen Methode vollzogen. Der Bundesgesetzgeber sucht hier die Bunde&verfassung historisch auszulegen, d. h. den Willen des historischen Verfassungsgesetzgebers zu eruieren. Er greift dabei auf die Entstehungsgeschichte der einzelnen Verfassungsbestimmungen zurück. Er steigt zu den Verfassungsmaterialien hinunter und sucht aus den Botschaften des Bundesrates, aus den anläßlich der parlamentarischen Beratung der betreffenden Verfassungs·· bestimmung in der Bundesversammlung gefallenen Voten den Sinn und die Tragweite der auszulegenden Verfassungsnorm festzustellen. Die meisten durch Auslegung der Bundesverfassung mitteist der teleologischen Methode gefundenen Kompetenzen ist er bestrebt, gleichzeitig nochmals auf dem Wege der historischen Auslegung zu gewinnen. Die historische Interpretation dient ihm gewissermaßen, kann man sagen, als Prüfstein für die Richtigkeit der durch andere Auslegungsarten bereits erzielten Resultate. So hat der Bundesgesetzgeber - und der Bundesrat - um nur wenige Beispiele anzuführen, die Zü1) Bundesblatt 1874, Band I, S. 1076; Bundesblatt 1892, Band II, S. 377• G i acomet ti

1

Die Auslegung.

2

18 ständigkeit zur Einführung der Bedürfnisklausel für das Hotelgewerbe unter anderem auch mit Hinweis auf die Entstehungsgeschichte des Art. 34 ter der Bundesverfassung für gegeben erachtet 1). Ebenso hat er die extensive Auslegung des Begriffes Gewerbe gemäß Art. 34 ter der Bundesverfassung als im Sinne des historischen Verfassungsgesetzgebers gelegen, zu rechtfertigen gesucht 2). Desgleichen ist die Zuständigkeit des Bundes zum Erlasse des Bundesgesetzes über die Betäubungsmittel vom Jahre 1924 unter Hinweis auf- die Materialien zu Art. 69 der Bundesverfassung mitbegründet worden 3 ).

Außer den Kompetenznormen der Bundesverfassung hat der Bundesgesetzgeber noch andere Vorschriften der B11n~esver-. . fassung durch Interpretatio;-f~tg~bildct.- U~d -z~a~ g~s~hieht diese Fortbildung hauptsächlich durch eine extensive grammatikalische Auslegung der Bundesverfassung. -Der :If~"nde~g~~-et~~ geberlegt-hi~r """di; Bundesverfassung nach ihrem Wortsinne aus, aber diese Auslegung ist in ihrem Resultate eine ausdehnende. So bestimmte beispielsweise ·der ursprüngliche Art. 103 der Bundesverfassung von 187 4 daß der Entscheid in allen dem .

Bundesrate zustehenden Geschäften voni Bundesrat als Behörde ausgehen müsse. Durch die Zunahme der Bundesaufgaben wurde man aber bald gezwungen, den einzelnen Departementen des Bundesrates bestimmte Geschäfte zur Erledigung zu übertragent unter Vorbehalt des Rekurses an den Gesamtbundesrat. Die Verfassungsmäßigkeit dieser Maßnahme ist unter Berufung darauf, daß man unter Entscheid im Sinne des Verfassungsartikels auch den im Rekursverfahren ergangenen Entscheid verstehen könne, begründet worden 4 ). So sagt weiter beispielsweise Art. 8 5 1 ) Stenographische Bulletins der Bundesversammlung, Nationalrat 1924~ S. 545 ff.; Ständerat 1924, S. 203 ff.; Bundesblatt 1924, Band I, S. 545· 2) Stenographische Bulletins der Bundesversammlung 1919, Nationalrat S. 573 ff.; 1924, Nationalrat S. 560 ff.

3 • ) Bundesblatt 1924, Band I, ~. 279 ff.; Stenographische Bulletins der Bundesversammlung 1924, Nationalrat S. 13 ff.

4) Fleiner a. a. 0~ S. 191.

19

Zifi. I d,e r Bundesverfassung, daß die Organisation der Bundes.. behörden durch Gesetz zu erfolgen habe. Der Bundesgesetzgeber hat nun den Gesetzesbegriff im Sinne der erwähnte,n Verfassungsbestimmung dahin ausgelegt, daß darunter auch Bundesbeschlüsse und zwar nicht nur allgemein verbindliche, sondern auch einfache Bundesbeschlüsse zu verstehen seien. So wurde das eidgenössische Versicherungsgericht durch einfachen; dem Referendum entzogenen Bundesbeschluß errichtet!). Ebenso wurde der Art. 49 Abs . .3 der Bundesverfassung, wonach über die religiöse Erziehung der Kinder der Inhaber der väterlichen oder vormundschaftlichen Gewalt entscheidet, im Art. 277 des Zivilgesetzbuches dahin extensiv ausgelegt, daß man an die Stelle der väterlichen die elterliche Gewalt setzte. vVir haben somit in den vorgehenden Ausführungen die Fort-" bildung der Bundesverfassung durch Interpretation an einigen wenigen Beispielen darzustellen versucht. Es erhebt sich nun die weitere Frage nach der Verfassungsmäßigkeit dieser Fort_ biJd~~g.,_ I,n;i~;-~ithäü --~i~-h,--~~ - i;~g~~ -;i~- jet~t, di~ geschilderte Fortbildung der Bundesverfassung im Rahmen der Verfassung, inwieweit ist sie contra constitutionem erfolgt, d. h. verfassungswidrig? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir vorerst feste Kriterien, bestimmte leitende Grundsätze für die

-Äu~legu-ng-cl~r- j3~~de;v~ri~~-;~-ng zu -g~'~inne,n ~~eh_(!~· E~~t-- ~nItana ders~lb-~-n- Täßt-sich'·d~~~ ~rmes~~n, ob und inwieweit die Fortbildung der Bundesverfassung auf dem vVege der Auslegung den verfassungsrechtlichen Rahmen gesprengt hat. Wir fragen uns also: nach welchen Regeln ist die Bundesverfassung auszulegen ? Diese Fragestellung ist nun aber nicht in dem Sinne zu verstehen, als ob dadurch das Problem der Interpretation, der Rechtsanwendung überhaupt aufgerollt werden sollte, als ob man dadurch also z. B. in erster Linie Stellung zur großen Streitfrage der subjektiven und objektiven Auslegung nehmen 1 )

Amtliche Sammlung der Bundesgesetze, Band 33, S. 3 I 7.

z*

1

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wolle 1). Unsere Fragestellung hat ein anderes Problem im Auge, nämlich das Problem, ob alle /die für _die Auslegung der Gesetze und Rechtsgeschäfte üblichen Regeln auch für die Interpretation der Verfassung Geltung haben sollen oder nicht.

Wir fragen also mit andern Worten in erster Linie nicht, ob die Verfassung versuchsweise nach der sogenannten objektiven oder subjektiven Methode, sondern ob sie wie ein Gesetz also z. B. wie die Privatrechtsnormen auszulegen sei. Diese unsere Frage ist dabei nicht eine rechtsdogmatische, sondern eine positivrechtliche, d. h. wir fragen nicht, ob die Staatsverfassung an sich, sondern nur ob die schweizerische Bundesverfassung nach den für die Gesetzesauslegung geltenden Regeln ausgelegt werden könne oder nicht. Immerhin wird die Beantwortung dieser Frage zugleich in weitgehendem Maße auch die Antwort auf jene enthalten. Um nun die Frage nach den für die schweizerische Bundesverfassung zulässigen Auslegungsarten beantworten zu können, müssen wir vom Zwecke und von der Struktur der Bundesverfassung selbst ausgehen. Die Bundesverfassung stellt keine Kodifikation eines gesamten Rechtsgebietes dar, wie z. B. das schweizerische Zivilgesetzbuch. ·Sie ist das Grundgesetz der Eidgenossenschaft und hat in dieser Eigenschaft vor allem zwei bestimmte Zwecke zum Inhalt: sie will vorab den Kompetenzbereich zwischen Bund und Kantonen abgrenzen, sowie die Beziehungen zwischen Bund und Bürger regeln. Die Bundesverfassung enthält also nebst der Ordnung der obersten Staatsorgane und ihrer Funktionen zwei große Rechtssysteme; das eine umfaßt die Kompetenznormen des Bundes gegenüber den Kantonen, das andere die Kompetenznormen gegenüber dem Bürger und zwar sowohl positive Kompetenznormen, indem der Bund die Freiheitssphäre des Bürgers einschränkt, als auch negative Zuständigkeitsvorschriften, indem er die Freiheiten des Bürgers gewährleistet. Soweit nun eine. solche Kompetenznorm die Be1 ) Vgl. darüber Heck a. a. 0. S. 1 ff.

Hans Reiche 1: Gesetz und Richterspruch (1915) S. 67 ff. und die daselbst zitierte Literatur.

21

fugnis des Bundes zur Regelung einer bestimmten Materie nicht enthält, steht diese Befugnis den Kantonen zu, beziehungsweise ist dann der Bürger hinsichtlich dieser Materie in seiner Frei:;. heitssphäre durch den Bund nicht beschränkt. Dies ergibt sich bezüglich der Kantone aus Art. 3 der Bundesverfassung, wonach die Präsumtion zugunsten der kantonalen Kompetenz besteht 1).

Dies ergibt sich bezüglich ·der Bürger aus dem allgemeinen Grundsatz des Rechtsstaates, nach welchem die Vermutung für die Freiheit des Bürgers spricht 2 ). Die Bundesverfassung hat somit jede zwischen Bund und Kanton oder Bund und Bürger auftauchende Kompetenzfrage negativ .oder. positiv erschöpfend normiert, sei es im Sinne det:SeJah~n-g derBundeskompetenz oder aber der kantonalen Zuständigkeit bzw. der Freiheitssphäreder Bürger. Die Bundesverfassung ist also lückenlos, im Gegensatz beispielsweise zum Zivilgesetzbuch, das Lücken · aufweist, da es als Kodifikation 'alle in diesem Rechtsgebiete / vorkommenden Fälle positiv zu normieren hat, für viele Tat. - - _,_ . .-. bestände aber keine positive N9rm enthält. Die Bundesverfassung bedarf daher auch nfcht der Lückenergänzung. Diese Lücken- ' ausfüllung erfolgt nun vor allem durch extensive Auslegung und Analogie 3). Extensive Interpretation und Analogie sind also bei der Auslegung der Bundesverfassung im Gegensatz zur Auslegung von Privatrechtssätzen zwecklos. Die Auslegung, die in ihrem Resultate extensiv ist, beziehungsweise die Analogie stellen daher kein taugliches Mittel zur Interpretation der Bundesverfassung dar.

Extensive Auslegung und Analogie können aber weiter auch deswegen nicht zur Interpretation der Bundesverfassung heran. . gezogen werden, weil sie in ihren Resultaten eine willkürliche Rechtsschöpfung bedeuten. Extensive Auslegung und Analogie ,~. , . _ .r __

1

F l e i n e r a. a. 0. S. 42, B u r c k h a r d t a. a. 0. S. 50.

F I e in e r: Institutionen des deutschen Verwaltungsrechts 6 S. 362.

3 Heck a. a. 0, ) Vgl. darüber Hans Reichel a. a. 0. S. 103, 113.

174, 194 ff.

2

s.

·.~·~- ·-··.

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22

führen nämlich, da sie, wie betont, der Lückenergänzung dienen, nic~_~_z:u_r__ j\bl~itung stgls_chwelg<?~cler V ~rfassungsrechts­ sätze aus geschriebenen Verfassungsnormen, also zur Rechtsfindung, sondern zur Schaffung neuen, der geschriebenen Bundesverfassung widersprechenden materiellen Rechts. Sie bewirken somit, daß das durch die Bundesverfassung erschöpfend geregelte Grundverhältnis zwischen Bund und Kanton einerseits, Bund und Bürger andererseits verschoben, allmählich in seinen Fundamenten erschüttert wird.

Die Unzulässigkeit von extensiver Auslegung und Analogie ergibt sich weiter auch aus dem Umstande, daß die Vorschriften der Bundesverfassung, insbesondere die Normen über die Kompetenzabgrenzung zwischen Bund und Kantonen sich als Aus~ nahmebestimmungen zuungunsten der Kantone erweisen und als solche nach einem bekannten Rechtsgrundsatze nicht zu deren Nachteile extensiv ausgelegt werden dürfen. Daher soll auch, falls der deutsche, französische und italienische Text einer Verfassungsbestimmung, die ja rechtlich gleichwertig sind, voneinander abweichen, immer derjenige Text den Vorrang haben, der den Kantonen, bzw. dem Bürger günstiger istl).

Die in extensiver, analoger Auslegung der Bundesverfassung ergangenen Bundesgesetze können daher nicht als verfassungsgemäß angesehen werden. So können sich beispielsweise weder die Regelung des Telegraphenwesens unter der Verfassung von 1848 noch die heutige Ordnung des Telephonwesens auf die 1) Gegen die Analogie im Verwaltungsrecht Ans c h ü t z: Lücken in Verfassungs- und Verwaltungsgesetzen, Verwaltungsarchiv Band 14 (1906) S. 315 ff.; er erklärt (S. 329) die Analogie als unstatthaft, soweit es sich um die Gewährung von administrativen Eingriffsmöglichkeiten, also um die Aufstellung von Tatbeständen handelt, welche die Verwaltung zu einem Einschreiten mit Befehl und Zwang berechtigen. - Für die Zulässigkeit der Analogie im Verfassungsrecht Triepel a. a. 0. S. 312ff. W. Jellinek: Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmäßigkeitserwägung S. 158 · vertritt den Standpunkt, daß im Verwaltungsrecht, das ein Recht für ungleichartige Subjekte ist, immer diejenige Auslegungsmethode zu wählen sei, die für den Bürger die günstigere ist.

23 Bunde~verfassung stützen.

Ebenso stehen beispielsweise unseres Erachtens das Bundesgesetz über die Betäubungsmittel!) sowie die in Anwendung des Art. 34 ter der Bundesverfass~mg ergangenen Bundesgesetze über das Hotelbauverbot 2), über die Beschäftigung jügendlicher und weiblicher Personen usw. nicht im Einklang mit der Bundesverfassung 3). Desgleichen ist der Bundesbeschluß über die Errichtung des eidgenössischen Versicherungsgerichts verfassungswidrig.

Nebst der extensiven, analogen Interpretation soll aber weiter auch die Auslegung mitteist der Inversionsmethode nicht zulässig sein 4), denn die letztere dient wie die extensive, analoge Auslegung ebenfalls der Lückenausfüllung 5 ) und führt daher angesichts des Umstandes, daß die Bundeskompetenzen durch die Bundesverfassung erschöpfend geregelt sind, gleich wie die extensive Auslegung und die Analogie zu willkürlicher Rechtsschöpfung; ja sie öffnet noch in höherem Maße als die extensive, analoge Auslegung der Willkür Tür und Tor; denn aus dem Wesen des Staates kann je nach Bedürfnis jede überhaupt denkbare Kompetenz herausgelesen werden. Somit sind alle auf dem Wege der Auslegung mitteist der Inversionsmethode gewonnenen Bundeskompetenzen als nicht verfassungsgemäß 1 ) Für die Verfassungsmäßigkeit diesesBundesgesetzesDie tri c h Schind1 er: ~Die Verfassungsmäßigkeit eines Bundesgesetzes über Betäubungsmittel<, in der Neuen Zürcher Zeitung 1924 Nr, 399· 2 ) Die große prinzipielle Tragweite dieses an sich ja unwichtigen Erlasses besteht darin, daß damit der Bund in seiner Gewerbegesetzgebung am Grundsatze der Handels- und Gewerbefreiheit nicht mehr gebunden ist. So hat denn auch bereits der Bundesrat (Bundesblatt 1925 Band 2 S. 569 den Bund für befugt erklärt, zur Einführung eines Bedürfnisnachweises für das Kinogewerbe.

3 ) Für die Verfassungsmäßigkeit dieser Bundesgesetze B ur c k h a r d t in der Schweizerischen Juristenzeitung, Jahrgang 21 1 S. 313 ff. Germann: Die Gesetzgebungsbefugnis des Bundes auf Grund von Art. 34 ter der Bundesverfassung, in der Zeitschrift des Hernischen Juristenvereins, Band 40, S. 408 ff., 465 ff.

4 ) So auch Tri e p e 1 a. a. 0. S, 326.

5 ) Hans Reiche 1 a. a. 0. S. 105 ff., 118 ff.

24 zu bezeichnen. So bewegt sich vor allem das Staatsnotrecht des Bundes contra constitutionem l); desgleichen sind die Bundesgesetze über die Patenttaxen der Handelsreisenden und über die Förderung der Landwirtschaft, sowie der Art. 178 des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege verfassungswidrig: Wir beantworten somit die früher gestellte Frage, ob die Bundesverfassung wie ein gewöhnliches Gesetz, beispielsweise das Zivilgesetzbuch, ausgelegt werden dürfe, dahin, daß dies insoweit nicht ·der Fall ist, als die Bundesverfassung weder eine extensive, analoge Interpretation noch eine solche mitteist der Inversionsmethode zuläßt.

Nach welchen Regeln ist denn, so fragen wir uns jetzt weiter, die Bundesverfassung auszulegen? Die Vorschriften der Bundesverfassung sind restrektiv teleologisch auszulegen, d. h. nach dem Zwecke, der sich aus ihrem Wortlaut ergibt und zwar, da unter den Wortlaut zugleich verschiedene Zwecke subsumiert werden könn.en, nach demjenigen dieser Zwecke, der den jeweilen herrschenden politischen Anschauungen am besten entspricht.

Dies.e teleologische Methode ist ohne weiteres in der Erwägung begründet, daß alle Rechtssetzung Zwecksetzung ist. Dies trifft 1) Die einschlägige schweizerische Literatur hält die Notrechtsgesetzgebung des Bundes, wenn auch mit verschiedener Begründung, für nicht verfassungs:.. widrig. Nach Bur c k h a r d t .(Zeitschrift für Schweizerisches Recht, n: F., Band 35, S, 618 ff.) und v. W a 1 dk i r c h (Die Notverordnungen im Schweizerischen Bundesstaatsrecht, 1915) ist die verfassungsrechtliche Grundlage des Notrechts im Art. 2 der Bundesverfassung in Verbindung .mit den Bestimmungen der Art. 85 Ziff. 6, 7, 8 und Art. 102 Ziff. 2 1 9, 10 der Bundesverfassung gegeben. Nach His (Zeitschrift für Schweizerisches Recht, n. F. 36 S. 287 ff.) sind die bundesrätlichen Notverordnungen zwar außerhalb der Verfassung stehende, nicht auf ihr beruhende, aber ihr gleichwertige Rechtssätze, die eine Lücke in der Bundesverfassung ausfüllen. Nach F 1 e in e r (Bundesstaatsrecht S. 217) besteht das Notverordnungsrecht neben der Verfassung kraft des jedem Staate innewohnenden Triebes zur Selbsterhaltung.

In ähnlichem Sinne auch Ho er n i (De l'etat de necessite en droit public federal suisse, 1917). Je z e (L'executif en temps de guerre 1917 S. 106 ff.) bestreitet die Existenz eines Staatsnotrechts im schweizerischen Bundesstaatsrecht.

25 bei der· Bundesverfassung besonders klar zutage; hat sie doch, wie oben schon betont, zwei große Zweckbestimmungen zum Inhalt. Die teleologische Auslegung der Bundesverfassung besteht in einer Schlußfolgerung von der auszulegenden Verfassungsbestimmung auf deren Zweck verbunden mit einer Rückschlußfolgerung von dem ermitteltenZweckauf die Verfassungs-' bestimmung 1). Ist beispielsweise die Frage zu entscheiden, ob das Verbot der Annahme von Orden, Pensionen oder Gehältern im Sinne von Art. 12 der Bundesverfassung sich auch auf die Uebernahme einer ausländisch.en Amtsstelle durch ein Mitglied einer eidgenössischen Behörde erstrecken solle, so ist vom Wortlaut der genannten Verfassungsbestimmung auszugehen, und deren Zweck zu ermitteln; es ergibt sich dann, daß der Art. 12 der Bundesverfassung jede Abhängigkeit der Bundesbehörden von auswärtigen Staaten ausschließen will; daraus folgt, daß auch die Uebernahme von ausländischen Stellen unter das Verbot des Art. 12 fällt 2). Dieser teleologischen Auslegung bedient sich denn auch, wie oben gesehep, der Bundesgesetzgeber zur Auslegung der Kompetenznormen der Bundesverfassung in weitgehendem Maße. Die Zulässigkeit dieses Verfahrens der Schlußfolgerung vom Zweck auf die Mittel bei der Auslegung der Zuständigkeitsbestimmungen des Staatsgrundgesetzes ergibt sich ohne weiteres aus Art. 3 der Bundesverfassung, wonach es nicht erforderlich ist, daß jede Bundeskompetenz in der Bundesverfassung ausdrücklich statuiert sei 3).

Die Ableitung stillschweigender Kompetenzen aus ausdrücklichen Zuständigkeitsnormen der Bundesverfassung hat aber ihre Grenzen. So dürfen von einer ausdrücklichen Kompetenz1)

Vgl. hiezu Hans Reiche 1 a. a, 0. S. 76. Germann: Grundsätze der Gesetzesauslegung in der Zeitschrift für Schweizerisches Recht n. F. 43 (1924) s. 193 ff.

2) Vgl. da?:u meinen Aufsatz ~Liechtenstein und die Schweiz< in der Neuen Zürcher Zeitung, Jahrgang 1922, Nr. 699.

8 B u r ck h ar d t : ) F 1 e i n e r : Schweizerisches Bundesstaatsrecht S. 44· Kommentar S.

so.

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norm nur diejenigen stillschweigenden Kompetenzen abgeleitet werden, die sich zur Ausübung der verliehenen Zuständigkeit als notwendig erweisen. Ein sicheres Kriterium dafür, was notwendig ist, läßt sich aber nicht aufstellen. Das subjektive Werturteil des Auslegers wird bei der Schlußfolgerung vom Zweck auf das notwendige Mittel mehr oder weniger immer mitspielen 1).

Weiter dürfen aus den von der Bundesverfassung dem Bunde gegenüber den Kantonen verliehenen ausdrücklichen Zuständigkeiten selbstverständlich nicht stillschweigende Kompetenzen gefolgert werden, die andern ausdrücklichen Vorschriften der Bundesverfassung widersprechen. So darf beispielsweise eine stillschweigende Kompetenz ein verfassungsmäßig garantiertes Freiheitsrecht nicht tangieren.

Es gibt nun Fälle, in denen der Zweck einer Verfassungsbestimmung nicht ohne weiteres aus ihrem Wortlaut ermittelt werden kann. So ist es manchmal fraglich, ob eine Norm der Bundesverfassung, die den Kompetenzbereich der Kantone einschränkt, zugleich auch in die Freiheitssphäre des Individuums eingreife. So legt beispielsweise das Bundesgesetz über das Hotelbauverbot den Art. 34 ter der Bundesverfassung dahin aus, daß er nicht nur eine Kompetenz des Bundes gegenüber den Kantonen begründe, sondern auch die Befugnis für den Bund zu Eingriffen in die Substanz der Handels- und Gewerbefreiheit enthalte. In diesen Fällen müssen dann die V erfassungsvorschriften mit Hilfe einer systematisch-teleologischen Methode interpretiert werden. Der Zweck der auszulegenden Verfassungsnorm ist aus dem Verhältnis der letzteren zu den anderen Bestimmungen der Bundesverfassung, aus ihrer Stellung im System der Verfassung zu eruieren. So will, um weiter den Gewerbeartikel als Beispiel zu gebrauchen, der Art. 34 ter der Bundesverfassung im Zusammenhange mit den übrigen Verfassungsnormen besehen, lediglich die Gesetzgebungsgewalt auf dem Gebiete des Gewerbewesens von den Kantonen auf den Bund 1

)

Vgl. dazu T r i e p e l a. a. 0. S. 293.

27 übertragen. Dieser Verfassungsartikel kann somit dem Bunde auf diesem Gebiete nicht mehr Kompetenzen überweisen, als ·die Kantone selber besaßen; die Kantone hatten aber . gemäß Art. 3 I lit. e der Bundesverfassung lediglich die Befugnis, Bestimmungen über die Modalitäten der Ausübung der Gewerbefreiheit aufzustellen, nicht aber die Kompetenz zu Eingriffen in die Substanz dieses individuellen Freiheitsrechtes. Daß Art. 34 ter lediglich eine Kompetenz des ·Bundes gegenüber den Kantonen aufstellt, ergibt sich auch aus dem Umstande, daß diejenigen Normen der Bundesverfassung, die nebst einer Grenzziehung zwischen dem Kompetenzbereich des Bundes und demjenigen der Kantone zugleich dem Bunde die Befugnis zu Eingriffen in die Gewerbefreiheit einräumen, diese Beeinträchtigung des Grundsatzes der Gewerbefreiheit im Artikel selbst ausdrücklich vorsehen, oder daß ein Vorbehalt der betreffenden V erfassungsbestimmung im Art. 3 I der Bundesverfassung angebracht ist. .Es sei -h ier nur an die Art. 32 bis und ter (Alkoholgesetzgebung), 34 bis {Kranken- und Unfallversicherung), 35 (~pielbanken), 36 (Post und Telegraphenwesen) 39 (Banknotenmonopol), 4I (Schießpulvermonopol), 69 (Epidemiengesetz) erinnert. Die Ausfüh·rungsgesetze zu denjenigen Kompetenznormen der Bundesverfassung hingegen, die dem Bunde keine ausdrückliche Befugnis zu Eingriffen in die Gewerbefreiheit einräumen wie Art. 34 (Fabrikgesetzgebung, Beaufsichtigung der Auswanderungsagenturen und der privaten Versicherungsunternehmungen) und Art. 69 bis (Nahrungsmittelpolizei) haben, soviel wir sehen, auch -d ie Gewerbefreiheit in ihrer Substanz nicht berührt, sondern sich lediglich zur Aufstellung von polizeilichen Vorschriften im Sinne des Art. 3 I lit. e der Bundesverfassung beschränkt 1 ).

Die systematische teleologische Methode ist weiter auch in 1

1 ) Vgl. auch meinen Aufsatz: »Zur Verfassungsmäßigkeit der bundesrätlichen Vorlage über das Hotelbauverbotc: in der :tNeuen Zürcher Zeitungc 1924, Nr. I 168. Anderer Ansicht Bur c k h a r d t in der Schweizerischen Juristenzeitung, Jahrgang 21, S. 317, sowie Germann in der Zeitschrift des Hernischen Juristenvereins, Band 40, S. 460 ff.

28 denjenigen Fällen die einzig mögliche Auslegungsart, in denen Zweifel bestehen, ob überhaupt eine Kompetenznorm derBundesverfassung vorliege. So kann beispielsweise . die Bedeutung des Art. 2 der Bundesverfassung allein aus seiner Stellung im Systeme der Bundesverfassung ermittelt werden. Aus der systematisch-teleologischen Auslegung des genannten Artikels ergibt sich, daß diese Verfassungsvorschrift keine Kompetenznorm, überhaupt keinen positiven Rechtssatz enthält, sondern n.ur ein politisches Programm der Aufgaben des Bundes gibt 1). Die ganze unter Berufung auf diesen Artikel ergangene Bundesgesetzgebung entbehrt somit der verfassungsrechtlichen Grundlage.

Wenn der Zweck einer Verfassungsbestimmung weder aus ihremWortlaut noch durch systematisch-teleologische Auslegung ermitt~lt werden kann, so ist auf die historische Methode abzustellen und der Zweck, den der Verfassungsgesetzgeber mit der Norm verfolgt, aus den Materialien der auszulegenden Verfassungsvorschrift zu eruieren. Der Ausleger hat hier ein Stück historischer Interessenforschung vorzunehmen. Aufdiese historische Auslegung soll aber nur subsidiär, gewissermaßen nur als auf eine ultima ratio gegriffen werden. Denn es bestehen gegen diese Auslegungsart schwere Bedenken 2). Ich verweise nur auf das sogenannte Willensargument, das gegen die historische Aus . . legung erhoben wird, und das darin besteht, daß ein willensfähiger Gesetzgeber überhaupt nicht existiert 3 ); dieser Einwand trifft insbesondere gegen die historische Auslegung der Bundesverfassung zu, da Bundesverfassungsgesetzgeber Bundesversammlung und Volk zugleich sind; dieses Argument trifft weiter insbesondere gegen die historische Auslegung der Bundesverfassung 1)

Burckhardt: KommentarS. 47. F1einer a. a. 0. S. 43· Vgl. darüber Hans Reiche 1 a. a. 0. S. 67 ff. und die dort zitierte Literatur. Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie (1914) S. 190 fl'.

Vgl. auch Wie 1 an d : Die historische und die kritische Methode in der Rechtswissenschaft (1910), Egge r: Schweizerische Rechtssprechung und Rechts8 ) Heck a. a. 0. S. 70 ff. wissenschaft (1913).

2)

29 auch a'Us dem Grunde zu, weil die historische Auslegungstheorie aus der Zeit des Absolutismus stammt, wo der Wille des Gesetzgebers der Wille des Landesherrn war 1) und somit in einer Republik von vornherein keinen Sinn hat 2 ). Es sei ferner auf das sogenannte Formargument hingewiesen, wonach es unzulässig ist, aus den Gesetzesmaterialien den Gesetzessinn zu ermitteln, weil nur die in Gesetzesform gekleideten Worte Gesetzeskraft haben 3). Ich verweise ferner auf das sogenannte Ergänzungsargument , nach welchem der historische Inhalt des Gesetzes zur Befriedigung der Lebensbedürfnisse nicht ausreicht 4). Dieser Einwand trifft ebenfalls in ganz besonderem Maße gegen die historische Auslegung der Bundesverfassung zu. Die Verfassung ist nämlich der Ausdruck der politischen Anschauungen eines Volkes. Die politischen Anschauungen und Bedürfnisse sind nun aber im Gegensatz zu den durch die Privatrechtskodifikationen geregelten Bedürfnisse sehr wandelbar; sie wechseln verhältnismäßig rasch und mit ihnen ändert sich auch der Sinn der einzelnen Verfassungsrechtssätze. Es findet bei letzteren also, wie überhaupt bei den sozialen Institutionen, ein Zweckwandel statt. Darum kann der wirkliche Inhalt der einzelnen Verfassungsnorm aus deren Entstehungsgeschichte nicht oder wenigstens nicht immer mit Sicherheit ermittelt werden.

Wir haben in den vorstehenden Ausführungen einige leitende Richtlinien für die Auslegung der Bundesverfassung zu gewinnen versucht. An Hand dieser Kriterien haben wir sodann festgestellt, daß der Bundesgesetzgeber sich nicht immer im Rahmen der Verfassung gehalten hat. Das Fazit unserer Untersuchung besteht also darin, daß die Bundesverfassung zu verschiedenen Malen durch Bundesgesetz materiell abgeändert worden ist; es 1) Lukas : Zur Lehre vom Willen des Gesetzgebers, in der Festgabe für L ab a n d Band I S. 397. ff.

2 ) Gm ü r: Die Anwendung des Rechts nach Art. 139 B (xgo8) S. 55· 3 ) Heck a. a. 0. S. 73 ff.

4) Heck a. a. 0. S. 68.

30

-

gibt also mit andern Worten matedell verfassungsändernde Bundesgesetze ; Bundesgesetzesrecht qricht materiell Bundesverfassungsrecht. Die Bundesverfassung befindet sich daher gleichsam in einem labilen Zustand. Es mag vielleicht als übertriebener Formalismus erscheinen,· diese Diskrepanz zwischen Verfassungszustand und Verfassungsgesetz · besonders zu betonen, denn die betreffenden materiell verfassungsändernden Bundesgesetze sind politische Notwendigkeiten gewesen. Ich denke hier vor allem an das Staatsnotrecht des Bundes, an die in Anwendung des Art. 34 ter der Bundesverfassung ergangene soziale Gesetzgebung usw. Vor dem Forum der Jurisprudenz ist nun aber jede Kompetenz des Bundes, mag sie politisch noch so notwendig sein, an Hand des Rechts zu erweisen ; sie muß, wie ich bereits oben betont habe, eine Stütze in der Bundesverfassung besitzen. Das erheischt vor allem das Postulat der Rechtssicherheit, d. h. in casu das Erfordernis, daß die Grundlagen, auf denen das Verhältnis zwischen Bund und Kanton sowie zwischen Bund und Bürger beruht, nicht ohne Verfassungsrevision verschoben werden. Aber nicht nur . vom rechtlichen, sondern auch vom politischen Standpunkte aus müssen die verfassungswidrigen Bundesgesetze abgelehnt werden;· denn sie sind undemokratisch. Diese verfassungswidrigen Bundesgesetze schalten nämlich die Aktivbürgerschaft von der ihr verfassungsmäßig zustehenden Mitwirkung bei Abänderung der Bundesverfassung faktisch aüs. Der Interessenkonflikt zwischen einer politischen Notwendigkeit und einem dieser Notwendigkeit entgegenstehenden Verfassungsrechtssatz kann daher nicht durch Sprengung des Verfassungsrahmens gelöst werden. Die Lösung dieses Konfliktes ·ist einzig und allein auf dem Wege der Verfassungsrevision zu suchen.

Welche rechtlichen Garantien bestehen nun gegen verfassungswidrige Bundesgesetze? Die Gewähr gegen materiell verfassungsändernde Bundesgesetze sollte in erster Linie im Bundesgesetzgeber selbst, in seinem verfassungsnormmäßig gestimmten Willen

liegen. Die Bundesversammlung vermag nun aber, wie gesehen, keine Garantie gegen verfassungswidrige Bundesgesetze zu bieten. Das liegt auch ohne weiteres in der Natur der Dinge begründet. Eine politisch zusammengesetzte Behörde wie die Bundesversammlung läßt sich bei der Verfassungsauslegung selbstverständlich vorab von politischen Gesichtspunkten leiten und ordnet jeweils die juristischen Erwägungen den politischen unter. So soll, wie beispielsweise in der Bundesversammlung kürzlich ausgeführt worden ist, bei der Lösung einer Auslegungsfrage im Zweifel das Wohl des Landes entscheiden 1). Eine weitere rechtliche Gewähr gegen verfassungswidrige Bundesgesetze stellt das richterliche Prüfungsrecht der Gesetze auf ihre materielle Uebereinstimmung mit der Verfassung dar. Dieses richterliche Prüfungsrecht ist nun aber im Bunde durch den berühmten Absatz 3 des Art. I I 3 der Bundesverfassung ausgeschlossen. Weder Bürger noch Kanton genießen Rechtsschutz gegen verfassungswidrige Bundesgesetze. So ist der staatsrechtliche Rekurs an das Bundesgericht gemäß Art. I I 3 Ziff. 3 der Bundesverfassung wegen Verletzung verfassungsmäßiger Rechte durch ein Bundesgesetz ausgeschlossen. Ebenso ist aber auch die Erhebung des Kompetenzkonfliktes vor dem Bundesgericht gemäß Art. I I 3 Ziff. I der Bundesverfassung seitens eines Kantons wegen verfassungswidriger Eingriffe in den kantonalen Kompetenzbereich durch ein Bundesgesetz unzulässig. Als eine gewisse rechtliche Garantie gegen verfassungswidrige Bundesgesetze erscheint hingegen das fakultative Gesetzesreferendum. Praktisch stellt aber auch dieses keine genügende Gewähr dar. Mag auch ein Bundesgesetz offensichtlich die Bundesverfassung verletzen, deswegen allein wird doch selten je das Referendum ergriffen werden; die rein juristische Frage der Verfassungsmäßigkeit eines Bundesgesetzes vermag wohl kaum eine Referendumsbewegung im Volke auszulösen. I<;;h erinnere nur an die Referendumskampagne gegen das Hotelbauverbot, die schon in ihren 1)

Stenographische Bulletins der Bundesversammlung 1924, Nationalrat, S, 578.

32 ersten Ansätzen im Sande verlaufen ist. Irgendwelche genügenden Rechtsgarantien gegen verfassungswidrige Bundesgesetze bestehen somit nicht. Die Bundesversammlung entscheidet selbst ohne an irgendwelche rechtlichen Schranken gebunden zu sein, . über ihre Zuständigkeit. Angesichts ·dieses Rechtszustandes drängt sich die Frage nach der Schaffung solcher rechtlicher Garantien gebieterisch auf. Die beste Gewähr gegen verfassungswidrige Eingriffe des Bundesgesetzgebers in die Freiheitssphäre des Bürgers sowie in den Kompetenzbereich der Kantone würde selbstverständlich in der Einführung des richterlichen Prüfungsrechts mitteist Revision des Art. I I 3 Abs. 3 der Bundesverfassung bestehen. Diese Partialrevision der Bundesverfassung stellt, wenn ich so sagen darf, eine staatsrechtliehe Notwendigkeit dar; eine andere Frage ist es aber, ob sie heute auch politisch möglich sei, was höchst zweifelhaft erscheint. Die verschiedenen Gründe, die für den Ausschluß des richterlichen Prüfungsrechts im Bunde wirkten 1), bestehen im großen und ganzen auch heute noch zu Recht. Mangels eines richterlichen Prüfungsrechts wäre sodann zu erwägen, ob nicht eine gewisse Garantie gegen verfassungswidrige Bundesgesetze d ur eh Aufnahme von bestimmten Auslegungsregeln 'in die Bundesverfassung geschafft werden könnte. Es würde sich darum handeln, in der Bundesverfassung ein Verbot der extensiven, analogen oder ein Gebot der teleologischen restrektiven Auslegung aufzustellen. Solche gesetzlichen Auslegungsregeln sind keine Seltenheit. Ich erinnere nur an den berühmten Art. I des schweizerischen Zivilgesetzbuches, der eine solche Auslegungsnorm enthält. Ich verhehle mir dabei keineswegs die Schwierigkeit, die eine gesetzliche Auslegungsregel dadurch verursachen würde, daß sie· ja selber als positiver Verfassungsrechtssatz Gegenstand der Auslegung wäre.

1) Vgl. D i e tri c h Sc hin dIe r: Die Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Nordamerika und in der Schweiz, in der Zeitschrift für Schweizerisches Recht n. F. Band 44 (1925) S. 40 ff.

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