Programmheft (Auszug) "THE CLICKWORKERS (UA)"

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uraufführung

THE CLICKWORKERS P ro j e k t 4 de s E u ro pa E ns e m bl e s von Dino Pešut und Selma Spahić unter Mitwirkung des Europa Ensembles Eine Koproduktion mit dem Nowy Teatr, Warschau und dem Zagreb Youth Theatre (Zagrebačko kazalište mladih) Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes

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THE CLICKWORKERS P ro j e k t 4 de s E u ro pa E ns e m bl e s von Dino Pešut und Selma Spahić unter Mitwirkung des Europa Ensembles auf Englisch mit deutschen Übertiteln Deutsche Fassung von Mascha Dabić und Christina Schlögl Mit

Tenzin Kolsch Claudia Korneev Adrian Pezdirc Jaśmina Polak Anđela Ramljak Jan Sobolewski

Inszenierung Bühne und Kostüme Musik Licht Dramaturgie Übertitelung

Selma Spahić Selena Orb Draško Adžić Stefan Schmidt Carolin Losch Agnieszka Fietz

Regieassistenz Bühnenbildassistenz Kostümbildassistenz Dramaturgieassistenz

Annalisa Engheben / Frida Bräumer Helen Stichlmeir Natalie Nazemi Christina Schlögl

Inspizienz Roberto Rochow / Thomas Hoffmann Kostümhospitanz Lena Rickenstorf

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Technische Direktion Schauspiel Guido Schneitz | Technische Leitung Kammertheater

Stephan Abeck | Technische Einrichtung Nils Marstaller | Beleuchtung Walter Bühler | Ton Thomas Tinkel | Video Jochen Gehrung | Requisite Adrian Vajzovic | Direktor der Dekorationswerkstätten Bernhard Leykauf | Konstruktion Tobias Laaber | Technische Produktionsplanung Monika Höger | Leitung Malsaal Lisa Fuß | Leitung Bildhauerei Maik Glemser | Leitung Dekorationsabteilung Dirk Herle | Leitung Schreinerei Peter Reisser | Leitung Schlosserei Patrick Knopke | Maskendirektion Jörg Müller | Leitung Maske Nena Frei | Kostümdirektion Elke Wolter | Produktionsleitung kostüme Petra Bongard | Gewandmeister*innen Mareile Eder, Vivien Schlickel (Damen), Anna Volk, Aaron Schilling (Herren) | Leitung Färberei Martina Lutz, Milenko Mociljanin | Leitung Modisterei Eike Schnatmann | Leitung Rüstmeisterei Achim Bitzer | Leitung Schuhmacherei Verena Bähr, Alfred Budenz | Leitung Kunstgewerbe Nicola Baumann, Daniel Strobel

Kammertheater Aufführungsrechte Aufführungsdauer Uraufführung

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henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin 1:30 Stunden, keine Pause 07. März 2020


OPFERTIERE AUF DEM ALTAR Regisseurin Selma Spahić und Autor Dino Pešut im Gespräch mit Dramaturgin Carolin Losch

Carolin Losch: In unserem Stück „The Clickworkers“ sehen wir eine Gruppe junger Menschen, die durch Online-Verkäufe möglichst viel Geld generieren sollen, um es in Tierschutz zu investieren. Die Umgebung scheint perfekt – die Arbeitsbedingungen jedoch prekär. Wie seid ihr auf das Sujet gekommen? Selma Spahić: Die Idee entstand ausgehend vom Begriff der Utopie, denn das ist das thematische Motiv des Projekts Europa Ensemble. Wir haben darüber nachgedacht, welche Umstände zwei Menschen aus Polen, zwei aus Deutschland und zwei aus Kroatien verbinden und dazu bringen könnten, eine Art Gemeinschaft zu bilden, und zwar eine utopische. Was könnte einen gemeinsamen Nenner für alle drei Gesellschaften bilden, oder, breiter betrachtet, für Europa? Dabei wollten wir uns nicht mit der Schönheit unserer Unterschiede beschäftigen und mit der Idee, dass die europäische Gemeinschaft etwas Gutes ist, denn diese Ideen stehen außer Frage. Zweifelsohne haben alle unsere Gesellschaften etwas gemeinsam, nämlich das kapitalistische Wirtschaftssystem, und so hat sich das Thema Arbeit ganz natürlich ergeben. Auf der Bühne stehen sechs Millennials, Frauen und Männer. Die meisten Mitglieder des AutorenTeams gehören dieser Generation an, sie hat uns geformt und unsere Idee von Arbeit als einem entscheidenden Aspekt für die Identität geprägt. Ebenso den Gedanken, dass alles einen Sinn haben wird, wenn man bloß genug arbeitet. Dazu kommt das permanent schlechte Gewissen und die Angst vor dem Wettbewerb auf einem Markt, der dich ausspucken wird,

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wenn du nicht genug arbeitest. Nach einigen Gesprächen mit den Schauspieler*innen und anderen Mitarbeiter*innen erfuhr ich nachträglich, dass die meisten von uns auf die eine oder andere Weise schon Erfahrungen mit dem Phänomen Burnout hatten. Dino Pešut: Ich denke, das Thema speist sich aus der Lebenserfahrung, nicht nur meiner eigenen, sondern auch der meiner Freunde, die, so wie ich, seit kurzem mit dem Arbeitsmarkt konfrontiert sind. Meines Erachtens befinden wir uns in einer gewissen Übergangsperiode. Wir beschäftigen uns nicht mehr mit den Rechten von Arbeiter*innen, stattdessen findet eine Ausbeutung in einem Wirtschaftssystem statt, das immer offensichtlicher ungerecht wird, und das wiederum wird kompensiert auf Kosten der Qualität der Arbeitsumgebung. Gearbeitet wird prekär, zugleich werden sämtliche lebensnotwendigen Dinge teurer. Der psychologische Druck sowie die Kluft in der Gesellschaft und zwischen den Generationen wächst. Es hat mich interessiert, das tief verwurzelte Gefühl von Unsicherheit in einer Welt, die von der Idee der Optimierung besessen ist, auszuloten. Carolin Losch: Wie sah eure Zusammenarbeit aus? Selma Spahić: Wir haben bereits mehrfach zusammengearbeitet, ich habe Dinos Theaterstücke inszeniert, wir haben an dramatischen Texten anderer Autor*innen gearbeitet, wir haben auch einen Roman auf die Bühne gebracht. In diesem Fall haben wir gemeinsam das Thema und den Rahmen festgelegt. Wir haben viele hypothetische Settings in Betracht gezogen, von einem Bio-Labor für die Zukunft bis hin zum Atelier eines berühmten Konzeptkünstlers, dessen Kunst von Assistentinnen und Assistenten gemacht wird. Am Ende entschieden wir uns für eine kleine, neu eröffnete Abteilung eines großen Konzerns, die dazu dient, das Image des Konzerns aufzupolieren und einen gesellschaftlich verantwortungsvollen Tonfall in der Firma anzuschlagen.

entwickeln, der die Basis für die weitere Arbeit am Stück abgab. In dieser ersten Phase konzentrierten wir uns auf die Charaktere, die wichtigsten Handlungslinien und Schwerpunkte. Danach schrieb ich einen Stücktext, und Selma und das Ensemble setzten die Arbeit fort, ausgehend vom vorgegebenen Text und ihren Erfahrungen und schauspielerischen Improvisationen. Carolin Losch: Als wir vor einem Jahr über mögliche Inhalte für diese Inszenierung sprachen, skizziertet ihr sehr schnell die Idee, Figuren in einem geschlossenen Raum den strengen Regeln der political correctness auszusetzen. Was für Überlegungen stehen hinter dieser Entscheidung? Dino Pešut: Ich bin nicht sicher, ob es sich um political correctness handelt, oder eher um einen Versuch, Regeln aufzustellen, die den menschlichen Faktor und die zutiefst menschliche Eigenschaft, auch mal Fehler zu machen, ausschließen. All das ist wiederum selbstverständlich der Versuch, eine Utopie und bessere Bedingungen zu schaffen, in diesem Fall Arbeitsbedingungen. Aber es ist eine Gratwanderung. Denn eine übertriebene Ausbeutung der menschlichen Schwächen ebenso wie ein Ignorieren derselben bilden die Grundlage für jeglichen Totalitarismus. Aber, wie bereits gesagt, global fühlt es sich so an, als erlebten wir eine Zeit des Übergangs, als würden wir erst jetzt den unendlichen Raum des Internets erforschen. Die Generationenabfolge wird aufgeschoben, das Recht auf Wohnen, Bildung, Zugang zur gesundheitlichen Versorgung und zum Bildungssystem werden auf Grund der ökonomischen Schieflage in Frage gestellt. The Clickworkers beschäftigt sich mit einem Versuch, ein besseres Stückchen Welt aufzubauen. Doch selbst wenn wir in der Wüste auf eine Oase stoßen, sind wir noch immer in der Wüste. Und wenn wir weiterwandern, werden wir nicht mehr sicher sein, ob es eine Oase war oder bloß eine Fata Morgana. Das ist die Metapher des derzeitigen Arbeitsmarkts.

Dino Pešut: Die Herausforderung für dieses spezifische Projekt und das besondere Ensemble bestand darin, ein Sujet für sechs junge Menschen aus unterschiedlichen Ländern zu finden. Wir begannen, einen Text zu

Selma Spahić: Es ist ein Stück über den Missbrauch eines Diskurses mit dem Zweck, die Mitarbeiter*innen noch stärker auszubeuten. Scheinbar ist es eine utopische Welt, die maximalen Respekt in der Sprache einfordert, und in der niemand beleidigt werden darf. Aber im Widerspruch

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dazu darf jede und jeder als Arbeitskraft nahezu uneingeschränkt ausgenutzt werden. Ich denke, jede Ausschließlichkeit kann in letzter Konsequenz negative Folgen haben, und es ist nicht gut, uns einer Autozensur zu unterwerfen, wenn wir über bestimmte Themen sprechen – und das sage ich als Feministin und Linke. Jede Form von Rigidität, auch eine, die sich aus sehr edlen Absichten speist, muss hinterfragbar bleiben, damit wir nicht in die Falle der Radikalität tappen. Es ist wichtig, über sich selbst lachen zu können, und wir haben während des Probenprozesses viele Themen der political correctness im Bezug auf unser eigenes Leben angesprochen und uns mit unseren eigenen Identitäten beschäftigt. Carolin Losch: Entstanden ist kein dezidiert sozialkritisches Stück, das sich mit den negativen Folgen der Digitalisierung auf die Arbeitswelt auseinandersetzt, sondern eine surreale Welt. Wie sieht diese Welt aus? Und warum hast du dich gegen eine Form des Realismus entschieden? Selma Spahić: Das Stück ist gesellschaftskritisch, es wurde bloß eine Sprache gewählt, die die Heuchelei bis ins Absurde übertreibt, nämlich die Heuchelei einer Welt, die in jeder gesellschaftlichen Frage ein Bewusstsein entwickelt, das Individuum und dessen Besonderheit ins Zentrum rückt und zugleich all das so rigide durchführt, dass niemand auch nur ein Minimum an Freiheit spürt. Es geht um die Kritik eines Gesellschaftssystems, für das wir alle potenzielle Opfertiere auf dem Altar sind – das ist der Gedanke, der uns von Anfang an beschäftigt hat, sowohl ideell als auch visuell. Zu Beginn befinden wir uns noch in einem realistischen Büro, im Hier und Jetzt, später finden zunehmend Ereignisse statt, die mit Motiven des Horrors spielen. Die Kombination dieser beiden Genres, die sich zum Teil überlappen, fand ich aufregend, denn so hatte ich die Plattform, mich vom alltäglichen Charakter des Themas zu entfernen.

den anderen Aspekten des Lebens Priorität einzuräumen – das gilt insbesondere für kreative Berufe. Wir sind eine Generation, die es verinnerlicht hat, ständig arbeiten zu müssen. Alles, was wir tun, ob lesen, Musik hören oder entspannen, tun wir nur, um noch besser arbeiten zu können und noch produktiver zu sein. Wir haben einen Satz ins Stück aufgenommen, gepostet von Steve Buckley aus der Firma WeWorks. Der Satz lautet: „Don’t stop when you’re tired, stop when you’re done.“ Auf dem Foto ist der Satz in eine Gurke eingeritzt, die zu einem gesunden Saft verarbeitet werden soll. Wir haben eine Welt geschaffen, die gesunde Ernährung, einen trainierten Körper, Bewusstsein für jede gesellschaftliche Frage und einen Imperativ der Empathie am Arbeitsplatz propagiert, zugleich aber Überstunden verlangt, die Mitarbeiter*innen ausbeutet, emotional erpresst und zwingt, in Gedanken immer bei der Arbeit zu sein. Dabei gibt man ihnen kontinuierlich zu verstehen, dass sie jederzeit durch Bessere, Jüngere und Produktivere zu ersetzen sind.

Selma Spahić: Burnout bei der Arbeit ist eine Diagnose, die im Zusammenhang mit den Millennials häufig zur Sprache kommt. Von unserer Generation wird erwartet, die Arbeit zu lieben und ihr im Vergleich zu

Dino Pešut: Wir leben im Schatten einer Rezession, die erst vor kurzem zu Ende gegangen ist. Wir haben uns noch immer nicht mit den Folgen dieser Rezession befasst. Wir betreten einen Arbeitsmarkt, der sich im survival mode befindet, der Glaube an Institutionen und Herrschaftsapparate ist erschüttert. Das ist in Deutschland vielleicht weniger zu spüren, aber man muss berücksichtigen, dass Deutschland als nahezu einziges Land in Europa nach der Krise wieder erfolgreich wirtschaftet. Dieses Gefühl erreicht Deutschland nur durch die vielen Arbeiter*innen, die gezwungen sind, von zu Hause wegzuziehen und in größeren Volkswirtschaften Arbeit zu finden. Die prekäre Beschäftigung führt zu einem Gefühl der Unsicherheit, Instabilität und leichter Panik. Es gibt immer mehr Arbeit, und man muss sie immer schneller erledigen; die Grenze zwischen der Privatperson und der Arbeitsperson existiert fast nicht mehr. Wir sind unsere Arbeit, denn die Arbeit wird zu unserer Identität. Und darauf beruht die Ausbeutung. Eine neue Welt wird aufgebaut, obwohl die alte Welt noch immer die Grundlage bildet und die Regeln diktiert. Das heißt, die Regeln sind nicht die gleichen für eine junge Frau, eine Migrantin und einen älteren einheimischen Mann. Die neuen Technologien haben alles nur beschleunigt, aber auch die Belastung ist größer geworden. Es wäre logisch, wenn wir schneller und kürzer arbei-

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Carolin Losch: In der Generation der „Digital Natives“ breiten sich Stressphänomene wie das Burnout aus. Was könnte ein Grund dafür sein?


ten würden, aber in Wirklichkeit arbeiten wir mehr. Denn wir können nun unsere Arbeit in die Hosentasche stecken und nach Hause mitnehmen. Das Burnout wird eines der wichtigen Probleme der westlichen Welt sein. Carolin Losch: Dino, du hast einige Zeit in einer Wohngemeinschaft in Berlin gelebt. Inwiefern sind diese Erfahrungen in den Text eingeflossen? Dino Pešut: Ich denke, ich konnte mir einen guten Überblick verschaffen über das, was in den zwischenmenschlichen Beziehungen passiert, wenn die äußere Welt zunehmend ungerechter wird. Die Immobilienpreise sind nach der Krise explodiert, weil die Menschen den Banken nicht mehr vertrauen. Immobilien werden von Menschen und Unternehmen gekauft, für die diese Wohnungen nichts weiter als eine Investition darstellen; die Käufer blenden aus, dass in dieser Investition Menschenleben stattfinden: Lieben, Sex, Trennungen, Partys, Freundschaften, existenzielle Krisen, Netflix-Bingewatching … Ein schönes und günstiges Zimmer oder eine Wohnung in Berlin zu finden, aber auch in Zagreb, Ljubljana oder London, ist genauso unwahrscheinlich, wie im Lotto zu gewinnen. Daher muss man sich anpassen, so lang wie möglich in einer Wohnung bleiben, sich an Verhaltensregeln halten, die manchmal nicht okay sind. Denn seinen Wohnraum zu verlieren ist schlimmer, als das unverständliche Verhalten von jemandem zu ertragen. Die Angst ist der erfolgreichste Zensor für die Gedanken und Verhaltensweisen von Menschen. Carolin Losch: Selma, wie hast du die Zusammenarbeit mit den Mitgliedern des Europa Ensembles erlebt? Selma Spahić: Es war ein Privileg für mich, an einem solchen Prozess beteiligt zu sein. Man bekommt eine Idee davon, wie es sein kann, wenn das Theater tatsächlich unter internationalen Bedingungen stattfindet, mit Menschen aus unterschiedlichen Staaten, mit unterschiedlichen Wurzeln, Weltanschauungen, einer unterschiedlichen Sensibilität im Hinblick auf das Theater. Ich habe viel über die Vorteile solcher Unterschiede nachgedacht, aber auch über die Herausforderungen, angefangen bei der Sprache. Es ist interessant, dass mich beispielsweise Dino Pešuts Gedanke: „Ich bin eine erschöpfte Tochter der Rezession“ stark berührt,

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die anderen Mitglieder des Ensembles aber nicht unbedingt, denn nicht alle haben die Rezession auf die gleiche Art zu spüren bekommen. Ich fand es wichtig, diese Nuancen aufzudecken, herauszufinden, was für uns alle wichtig ist und was nur für einen Teil der Gruppe Relevanz hat, an welchen Punkten man das Gefühl bekommt, dass etwas die Wahrheit einer Generation ist, und wo das nicht der Fall ist. Carolin Losch: Was sind eure Hoffnungen und Befürchtungen für die Zukunft Europas? Selma Spahić: Ich mache mir Sorgen wegen des Nationalismus, und weil die faschistoiden politischen Gesten in Europa und in der Welt allmählich Normalität werden. Etwas, das vor fünfzehn Jahren einen politischen Skandal zur Folge gehabt und zu politischen Rücktritten geführt hätte, ist heute Alltag, und wir alle tolerieren das. Meine Hoffnung ist, dass es nicht eskalieren wird, dass wir unsere Lektion aus der Geschichte gelernt haben und dass der gesunde Menschenverstand Oberhand gewinnen wird. Dino Pešut: Der Brexit ist noch frisch, und ich denke, wir wissen noch gar nicht, was das heutige Europa überhaupt ist. Daher fällt es uns wohl leichter, vom Exit von Meghan Markle und Prinz Harry besessen zu sein, als über den Brexit zu diskutieren. Die globale Welle der radikalen Rechten erobert souverän Plätze in den Parlamenten, sogar ganze Regierungen. Europa hielt zusammen, solange es einen gemeinsamen Feind hatte, nämlich die globale Krise, von der sich manche Länder besser und andere schlechter erholten. Dort, wo die Krise tiefe Wunden geschlagen hatte, sind Krusten entstanden, in Form einer radikalen Rechten. Das schließt Ostdeutschland mit ein. Der Nationalismus schafft grandiose Mythen und den Glauben an eine Souveränität, die eigentlich nicht mehr existiert. Die Länder werden zwischen der Kluft der Generationen und der Klassen aufgerieben. Während die Großeltern von irgendwelchen halbkolonialen souveränen Kleinstaaten träumen (und von einem Imperium fantasieren), nutzen ihre Enkel die TikTok-App und reisen mit einer Daumenbewegung von Hong Kong nach Los Angeles. Ich denke, jetzt ist es höchste Zeit, dass Europa sich vereinigt und versucht, Bedingungen zu schaffen für eine gemäßigte Entwicklung aller Mitgliedsstaa-

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ten (auch jener, die erst noch Mitglied werden sollen). Ich bin überzeugt, wir müssen an den Menschenrechten in allen Mitgliedsstaaten arbeiten. Derzeit ist Europa nur im Hinblick auf die Wirtschaft streng. Meine Hoffnung ist, dass wir an der europäischen Identität weiterarbeiten werden, die auf den Unterschieden beruht, geeint durch kleine Einheiten, weiche Grenzen und widersprüchliche staatliche und private Geschichten. Wir sind eine Kraft nach dem Untergang, und ich denke, das ist, wie Europa zeigt, ein guter Ort für Vergnügen und Gemeinschaft. Denn jedes Land ist auf seine eigene Art abgef*ckt, dennoch können wir uns in jedem Land mühelos selbst erkennen, trotz des Terrors der kleinen Unterschiede. Ich schließe nun ab wie eine kleine Miss Europe, aus der eigenen Lebenserfahrung: Ich glaube an offene Grenzen, an ein Europa, das seine wichtigsten Lektionen über Widerstand und Mitgefühl aus seinen größten Traumata gelernt hat (ich denke an meine eigene Großmutter), und darauf müssen wir zwischen den Städten und Staaten unsere Leben, Freundschaften, Lieben, Partys, Sex-Affären, Dialoge und hoffentlich auch wieder Solidarität aufbauen.

Selma Spahić wurde 1986 in Bosnien geboren und studierte Regie an der Akademie für Darstellende Künste in Sarajevo. Sie inszeniert an Theatern in Bosnien und Herzegowina, Slowenien, Kroatien, Serbien und Montenegro und lehrt Regie an der Akademie für Darstellende Künste in Sarajewo. Ihre Arbeiten wurden zu zahlreichen internationalen Festivals sowie zur Wiesbadener Biennale eingeladen. Dino Pešut wurde 1990 im kroatischen Sisak geboren und studierte Drehbuch, Dramaturgie und Szenisches Schreiben in Zagreb. Als Theatermacher arbeitet er in Kroatien, Slowenien, Serbien und Deutschland. Seine Stücke wurden im Forum junger Autoren Europas der Theaterbiennale Wiesbaden und auf dem Stückemarkt des Berliner Theatertreffens vorgestellt und vielfach ausgezeichnet.

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Nico Formanek: Zunächst scheint es, dass in der Silicon Valley-Ideologie widersprüchliche Positionen vermischt werden. Sie speist sich einerseits aus Ideen der Hippiebewegung, die ja auch in Kalifornien ihren Ausgang nahm, andererseits aus dem starken Individualismus, den ein radikaler Libertarismus propagiert. Eine prominente Vertreterin dieser Haltung ist etwa die Schriftstellerin Ayn Rand. Aus der Hippiekultur kommt eine Aufgeschlossenheit gegenüber utopischen Lebensentwürfen, die in den 1968er Jahren ihren Niederschlag in diversen Kommunen und der Abkehr vom traditionellen Familienbild fand. Die Silicon Valley-Ideologie transformiert diese Aufgeschlossenheit in einen schier grenzenlosen Technoutopismus; jegliche Probleme lassen sich demnach durch geeignete technologische Maßnahmen lösen, und zwar besser als es früher durch politische oder gesellschaftliche Prozesse möglich war. Der radikale Libertarismus stellt das Individuum und seine schöpferische Leistung in den Mittelpunkt. Die erstrebte Technokratie kann nur

durch geniale Individuen erreicht werden, Erfolg wird zum persönlichen, schöpferisch-unternehmerischen Erfolg. Gemeinsame gesellschaftliche Anliegen und Ziele treten in den Hintergrund und sind, wenn überhaupt, eine Nebenwirkung der individuellen Verwirklichung. Die Vorstellung des freien Künstlers, wie sie bereits in der Renaissance geprägt wurde, wird von Ayn Rand auf Architekten und Ingenieure übertragen. Dieser neue Typ Mensch soll aus eigener Kraft und durch individuelle Zielsetzung sich selbst verwirklichen. Die Silicon Valley-Ideologie verallgemeinert dies noch einmal: Es entsteht ein Geniekult um Unternehmer. Da sich jedes Individuum als Unternehmer betrachten soll, wird die Ideologie plötzlich universell. Gefordert wird eine Art Ich-AG der Selbstverwirklichung. Probleme ergeben sich an Reibungspunkten mit anderen Individuen oder der Gesellschaft. Die zentrale ethische Prämisse des radikalen Libertarismus besteht darin, dass gesamtgesellschaftliche Ziele den persönlichen unterzuordnen sind. Staatliche Interventionen oder auch Solidargemeinschaften wie Sozialversicherungen werden deshalb grundsätzlich skeptisch betrachtet. Sie alle schränken die Freiheit des Individuums ein. In der Ideenwelt der Hippies wurden staatliche Eingriffe auch kritisch gesehen, allerdings weniger aus fundamental philosophischen Gründen, sondern aus Enttäuschung gegenüber dem staatlichen Handeln im Vietnamkrieg und gegenüber der Bürgerrechtsbewegung. Die Silicon Valley-Ideologie schließt an die Ablehnung staatlicher Interventionen nahtlos an, ohne die alten Begründungen gelten zu lassen. Es herrscht die Überzeugung, dass technische Lösungen, die aus individuellem Antrieb entstehen, besser seien. Gerechtfertig wird dies mit aus dem Wirtschaftsliberalismus allgemein bekannten Trickle-down Begründungen. Individueller Erfolg bewirke immer gesamtgesellschaftliche positive Effekte, wie z.B. die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen und Erhöhung des Bruttoinlandsprodukts. Die Ablehnung staatlicher Eingriffe und der radikale Individualismus führen in der Silicon Valley-Ideologie zu einem Geniekult, an dem sich Unternehmer wie auch Arbeiter messen müssen. Praktisch wird jeder Arbeiter zum Unternehmer stilisiert, was sich in der Inflation von Berufsbezeichnungen wie Consultant oder Manager widerspiegelt. Als Genie-Unternehmer sind die Arbeiter nun verpflichtet, sich nach allen

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SCHÖNE NEUE ARBEITSWELT Fragen an Nico Formanek, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundeshöchstleistungsrechenzentrum der Universität Stuttgart (HLRS) Carolin Losch: In unserem Stück „The Clickworkers“ arbeiten junge Menschen in einem kleinen Verkaufsunternehmen mit ökologischen Zielen, nicht in der traditionellen, sehr auf Wissenschaft ausgerichteten Silicon Valley Start-up-Welt. Trotzdem stehen die geläufigen, damit verbundenen Werte im Vordergrund – die Bedeutung des Einzelnen, flache Hierarchien und ein Bewusstsein für Umwelt und Politik. Wodurch zeichnet sich die Silicon Valley Start-up Arbeitsideologie aus, und welche Grundsätze stehen dahinter?


Regeln der Kunst selbst zu optimieren – Versagen ist immer persönlich und nie externen Ursachen geschuldet. Gleichzeitig ist Erfolg auch immer dem individuellen Genius zuzurechnen, Verweise auf historische, oder gesellschaftliche Gründe werden abgelehnt. Technologische Revolutionen sind disruptiv, und Disruption kann nur Ergebnis eines brillanten Geistes sein. Interessanterweise wurde bereits 1995 in dem bahnbrechenden Artikel „The Californian Ideology“ von den Medientheoretikern Richard Barbrook and Andy Cameron bemerkt, dass die meisten technologischen Entwicklungen des Silicon Valleys mit Hilfe der finanziellen Unterstützung des US Militärs entstanden (Arpanet, der Vorläufer des heutigen Internets, ist nur ein Beispiel). Dieser stark regulierte, fast planwirtschaftlich arbeitende Sektor wird von den Silicon Valley-Ideologen ausgeblendet, und seine Wirkung auf die Ideenkultur wird ignoriert. Auch heute hat die militärische Förderung noch einen starken Einfluss auf die vermeintlich frei handelnden Unternehmer.

(Installateur, Monteur etc.). Die Ideologie wirkt also nicht nur auf unsere Bewertung von Berufen aus der digitalen Branche. Durch ihre Hervorhebung des künstlerisch schaffenden Individuums ist dies vielleicht nicht ganz verwunderlich. Allerdings bleibt offen, warum gerade die digitale Branche es geschafft hat, sich den Anstrich eines freien und kreativen Unternehmertums zu geben, während andere Bereiche ähnliche Arbeitsbedingungen bieten und unter dem altbackenen Image des rheinischen Kapitalismus leiden.

Carolin Losch: Welchen Einfluss hat diese Ideologie auf unsere heutige Arbeitswelt? Nico Formanek: Zunächst wird Arbeit zu einem sakral überhöhten Begriff der persönlichen Erfüllung. Selbstverwirklichung findet nur durch Arbeit statt, und hierfür sind sämtliche Energien und Ressourcen aufzuwenden. Arbeit wird auch nur als sinnvoll empfunden, wenn ihr Resultat zur Selbstverwirklichung beiträgt. Ob diese erfolgreich war, ist individuell nicht festzustellen, sondern wird medial zurückgespiegelt. Ein Arbeiter kann also nur durch Beobachtung des Umfeldes feststellen, ob die Selbstverwirklichung gelungen ist. Da die kollektiv-wirtschaftlichen Ziele von (Silicon Valley-) Unternehmen im Allgemeinen zu den individuellen Zielen der Selbstverwirklichung im Widerspruch stehen, binden diese ihre Arbeitskräfte durch Illusionen der Selbstverwirklichung. Der gesellschaftliche Stellenwert des Individuums hängt plötzlich von der Wirksamkeit dieser Illusionen ab. Berufe, die ein hohes Maß an Selbstverwirklichung versprechen, werden bevorzugt. Paradoxerweise geht damit eine steigende Popularität traditionell handwerklicher Berufe einher (Bäcker, Töpfer, Landwirt), während andere abgewertet werden

Nico Formanek: Das selbstbestimmte und hierarchielose Arbeiten ist eine der zentralen Verheißungen der Silicon Valley-Ideologie. Jegliche Hierarchie würde die Forderung nach eigenständiger Zielsetzung konterkarieren. Wie man an den paradigmatischen Unternehmen des Silicon Valley sieht, lässt sich dieses Versprechen aber immer nur für eine Elite einlösen. Für die hochbezahlten Entwickler entsteht die Illusion eines selbstbestimmten, kreativen Arbeitens, die Bedingungen für ihren Erfolg werden allerdings von einer unsichtbaren und entrechteten Kaste von Clickworkern geschaffen. Als Beispiel mag hier Google Books dienen – hunderttausende Bücher wurden natürlich nicht von eigenständig, kreativen und vor allem sozialversicherten Google-Angestellten gescannt, sondern durch extern beschäftigte Zeitarbeiter. Im digitalen Kapitalismus verschwinden Hierarchien nicht, sie werden nur unsichtbar. Vor dem Hintergrund der Entwicklungen auf dem Feld der Künstlichen Intelligenz oder des Machine Learnings stellt sich auch die Frage, ob die menschliche Arbeitskraft auf vielen Gebieten eingespart werden kann. Diese Hoffnung ist nicht neu und wird im Zuge jeder technologischen Neuerung immer wieder diskutiert und hat sich (leider?) bislang nicht bewahrheitet. Dies mag einerseits daran liegen, dass neue Technologien,

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Carolin Losch: In unserer Inszenierung ist die Atmosphäre im Büro auf absolute Gleichberechtigung und gegenseitigen Respekt ausgelegt. Das Individuum soll im Vordergrund stehen, doch der Leistungsdruck scheint so groß und die Bezahlung so gering, dass sich die Versprechungen dieser Arbeitsutopie nicht einlösen. Denken Sie, dass die Maxime einer Arbeitswelt ohne Hierarchien, in der auf die Bedürfnisse aller eingegangen werden kann, jemals funktionieren kann?


nach einer gewissen Transformationsperiode, ein Surplus an Arbeit erzeugen und damit jeglicher Einsparungseffekt auf anderen Gebieten eingefangen wird. Andererseits wäre auch zu überlegen, ob Arbeit für Menschen nicht so fundamental ist, dass sie notwendigerweise neue Arbeitsmöglichkeiten erfinden, wenn alte wegbrechen. Falls Arbeit, gemäß der Silicon Valley-Ideologie, tatsächlich das einzige Mittel zur Selbstverwirklichung darstellt, wäre dies nicht überraschend. Im Umkehrschluss hieße dies, dass wir alle dieser Ideologie unterliegen – eine für mich erschreckende Vorstellung.

Nico Formanek ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand in der Abteilung Wissenschafts- und Technikphilosophie der Simulation am Bundeshöchstleistungsrechenzentrum der Universität Stuttgart (HLRS). Die Abteilung beschäftigt sich mit den philosophischen und ethischen Fragen, die mit den Neuerungen der Forschung in Computersimulation und im maschinellen Lernen einhergehen.

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SIND WIR MILLENNIALS DIE GENERATION BURNOUT? von Jonas vogt

Ich bin müde. Ich hab seit zehn Tagen in keiner Nacht mehr als sechs Stunden geschlafen. Kurz bevor ich ins Bett gegangen bin, habe ich noch meine Mails gecheckt. Am Wochenende habe ich am Samstag und Sonntag jeweils ein paar Stunden gearbeitet und es davor lange vor mir hergeschoben. Über Weihnachten habe ich einen Text überarbeitet und einen weiteren so halb geschrieben, damit ich ihn nach Neujahr mit Verspätung abgeben konnte. Nach allen diesen Aufgaben konnte ich einen Punkt auf meiner To-do-Liste durchstreichen. Ich mag meine Arbeit. Ich bin nicht unglücklich, halt nur ein wenig müde. Anfang 2019 erschien auf der US-Website Buzzfeed ein Essay von Anne Helen Petersen mit dem Titel How Millennials Became The Burnout Generation. Die Reporterin gestand sich darin ein, an „Millennial-Burnout“ zu leiden. Sie beschrieb, wie der ständige Drang zu arbeiten, die fortlaufende Erosion zwischen Arbeit und Freizeit sie in einen stetig ausgebrannten Status versetzt habe. Einen Status, der es ihr und ihren

Freunden ermögliche, im Groben zu funktionieren. Aber sie daran hindere, die kleinen, alltäglichen Aufgaben zu erledigen, die man mit dem Erwachsensein verbinde: den Gang zur Post, die Steuer, den Besuch beim Arzt. Petersen nennt das „errand paralysis“. Der Begriff lässt sich nur unzureichend übersetzen („errand“ heißt so viel wie „Botengang“, also eine kleinere Aufgabe), das Gefühl glaubt man aber zu kennen. Petersen traf einen Nerv. In den darauffolgenden Tagen musste ich notgedrungen mehrfach über diesen Text reden. Beim Essen, an der Bar, auf Whatsapp. Es scheint also irgendetwas dran zu sein an dieser Sache mit dem Millennial-Burnout. Nur wie viel? Ich bin ein Millennial, weil mein Geburtsjahr es so sagt. Die grobe Definition lautet meist: Menschen, die zwischen 1984 und 1999 geboren wurden, heute also 18 bis 34 Jahre alt sind. Das umspannt ein großes Raster. Die Mitglieder dieser Alterskohorte haben aber ein paar Dinge gemeinsam: eine analoge Kindheit, die in eine digitale Adoleszenz

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überging; einen Berufseinstieg in einer Krisenzeit; Unsicherheitserfahrungen durch globalen Terror. Diese Definition hat aber auch ihre Tücken. Wie alle Generationenporträts ist sie eine grobe Vereinfachung, bearbeitet ein kompliziertes soziologisches Phänomen mit der Brechstange. Das Problem ist, dass sie aus der Sicht von Soziologen und Journalisten geschrieben ist. Also urbanen, gut gebildeten Mitgliedern der Mittelschicht. Das gaukelt Uniformität vor, wo keine ist. Generationenporträts beschreiben meist ein Milieu, keine Generation. Alle meine Freunde sind auf Tinder, niemand schaut mehr lineares Fernsehen, und niemand kann sich eine Wohnung leisten. Das verengt den Blick. Wäre ich Handwerker in Oberösterreich, würde das vielleicht anders ausschauen. Die schreiben aber für gewöhnlich keine Generationenporträts. Versucht man die Frage nach dem Millennial-Burnout nicht mit Gesprächen im Freundeskreis, sondern mit Statistiken zu beantworten, wird es kompliziert. Aber eine Sache zieht sich durch: Millennials blicken vergleichsweise pessimistisch in die Zukunft. Als eine Beratungsfirma 2017 Millennials befragte, ob sie glauben, dass es ihnen einmal finanziell besser gehen werde als ihren Eltern, antwortete nur ein Drittel mit Ja. Die exakten Zahlen unterscheiden sich stark nach Ländern und Fragestellung, die Grundstimmung ist aber ähnlich: 18- bis 34-Jährige sind tendenziell verunsichert. Laut Berechnungen des Internationalen Währungsfonds besitzen Millennials 40 Prozent weniger Vermögen als ihre Eltern im selben Alter. Millennials haben eine geringere finanzielle Sicherheit und weniger Gewissheit, Karriere zu machen. In Deutschland ist mittlerweile je-

de zweite sozialversicherungspflichtige Stelle nur noch befristet ausgeschrieben. Natürlich macht das etwas mit Menschen, der Pessimismus kommt nicht aus dem Nichts. Millennials haben ein tiefes Misstrauen gegen die Finanzwelt und die Wirtschaft. Weniger als die Hälfte der Millennials unterschrieb in einer Studie die Aussage, dass Unternehmen Gutes für die Gesellschaft tun. Das ist wenig verwunderlich: Das erste Mal, dass viele in meiner Generation bewusst mit so etwas wie Wirtschaft in Verbindung gekommen sind, war zur Zeit der Finanzkrise und der Bankenrettung. Dass es ohne diese Bankenrettung vielleicht viel schlimmer gekommen wäre, mag ein legitimes Argument sein, ist aber eben auch eine Kopfantwort auf ein Bauchgefühl. Die düstere Sicht auf die persönliche Zukunft hat Auswirkungen auf höchstpersönliche Lebensbereiche. Millennials denken mehr an ihren Job als ihre Eltern. Und sie haben weniger Sex: In einer Umfrage der BBC gaben 45 Prozent der Erwachsenen an, dass Stress einen negativen Effekt auf ihr Sexualleben habe. Millennials sind im Durchschnitt gestresster als die Generation X und die Babyboomer. Das sind die Fakten. Die These, dass die verschwimmenden Grenzen zwischen Job und Privatleben mit dem wachsenden Stress zu tun haben, ist zumindest plausibel. Fast jeder, den ich kenne, schreibt Mails nach 18 Uhr oder am Wochenende. Viele meiner Freunde trafen die Entscheidung, ihren letzten Job zu kündigen, während des ersten längeren Urlaubs, den sie nach langer Zeit hatten. Weil sie vorher zu tief drinsteckten, um überhaupt auf die Idee zu kommen. Es wird oft geschrieben, dass für Millennials die Work-Life-Balance sehr wichtig ist, aber es ist, glaube

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ich, ein wenig komplizierter. Der Begriff Work-Life-Balance trifft auf das Leben, wie ich es kenne, eigentlich nicht zu. Das Bild einer Waage, auf der sich zwei getrennte Sphären ausbalancieren, bedarf eben einer Trennung dieser Sphären. Die Wahrheit ist aber, dass viele Millennials immer im Arbeitsmodus sind. Und wenn sie es nicht sind, fühlen sie sich so, als sollten sie es sein. Die Frage, wie Millennials mit dieser Situation umgehen, spielt in Petersens Text eine zentrale Rolle. Ihre These ist: durch Selbstoptimierung. „Wir haben nicht versucht, das System zu brechen, weil wir so nicht erzogen wurden. Wir wollten innerhalb des Systems gewinnen“, lautet einer der Kernsätze. Und trotzdem fühle sich das Gewinnen an wie Verlieren. Das sind, wie so oft, natürlich völlig vereinfachte Antworten. Millennials stellten den Löwenanteil der Menschen hinter Occupy Wall Street, dem Erfolg von Bernie Sanders und den Protestbewegungen in Südeuropa. Und doch gelten sie wohl zu Recht als Generation von Selbstoptimierern. Als Menschen, die auf erhöhten Druck von außen mit erhöhtem Druck nach innen reagieren. Es gibt die These, dass Millennials bereits von ihren Eltern als Projekt aufgezogen wurden, in das man nur genug Energie stecken muss, um einen bestimmten Output zu erreichen. Als die Ersten von ihnen rund um die Jahrtausendwende auf die Unis strömten, wurde der Begriff „helicopter parents“ populär: Eltern, die ständig über dem Leben ihrer Kinder schwebten und bereit waren, bei Schwierigkeiten hinabzustoßen und zu helfen. Als singuläres Erklärungsmuster überzeugt das eher nicht. Wahrscheinlich ist, dass eine Vielzahl von Faktoren zusammenspielt. Millenni-

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als sind eine Alterskohorte, die von Menschen aufgezogen wurde, bei denen der Begriff Arbeit positiv besetzt ist; die früh realisiert hat, tendenziell in einer Abstiegsgesellschaft zu leben; und deren Alltag von technischen Neuerungen bestimmt wird, die Abgrenzungen zwischen den verschiedenen Sphären des Lebens schwierig machen. Sind wir Millennials die Generation Burnout? Die Frage ist so zu einfach gestellt. Innerhalb der Millennials gibt es viele unterschiedliche Milieus mit unterschiedlichen Vorstellungen vom Job, einem unterschiedlichen Level an Pragmatismus und unterschiedlichen Strategien, mit der Situation umzugehen. Und nicht zuletzt auch mit unterschiedlichen Möglichkeiten und Ressourcen: Das Nachdenken über das eigene Ausbrennen muss man sich auch erst einmal leisten können, und das geht besser, wenn zumindest einmal die Miete verdient ist. Und doch ist das Millennial-Burnout kein völliges Hirngespinst. In einer großen Studie von Gallup gaben 28 Prozent der Millennials an, in ihren Jobs konstant ausgebrannt zu sein, in anderen Alterskohorten waren es 21 Prozent. Sieben von zehn Millennials verspüren zumindest gelegentlich das Gefühl von Burnout. Das Arbeitsleben und die Generation, die heute den größten Anteil der arbeitenden Bevölkerung stellt, sie scheinen noch ihre Probleme miteinander zu haben. Man wird Wege finden müssen, damit umzugehen. Wenn nicht freiwillig, dann notgedrungen.

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DAS EUROPA ENSEMBLE Tenzin Kolsch wurde 1994 in Hamburg geboren und war Mitglied im Jugendclub des Hans Otto Theaters Potsdam. Nach seinem Schulabschluss verbrachte er ein Jahr bei seinen Verwandten im tibetischen Exil in Indien, um die Verbindung zu seiner Kultur und seiner tibetischen Identität zu erneuern. Anschließend studierte er Schauspiel an der Otto Falckenberg Schule in München. Beim Theatertreffen deutschsprachiger Schauspielschulen 2018 gewann er mit seinem Jahrgang den Ensemblepreis. Seit 2016 war er als Gast mehrfach an den Münchner Kammerspielen engagiert, ab 2019 ist er Mitglied des Europa Ensembles. Claudia Korneev wurde 1992 in Schwerin geboren. Erste Theatererfahrungen sammelte sie im Jugendclub und in der Statisterie des Staatstheaters Schwerin. Nach ihrem Abitur und einem Freiwilligen Sozialen Jahr in Argentinien nahm sie 2015 ein Schauspielstudium an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig auf. 2017 bis 2019 war sie Mitglied des Schauspielstudios am Staatsschauspiel Dresden, ab 2019 gehört sie zum Europa Ensemble.

Jaśmina Polak wurde 1990 in Chicago geboren und wuchs in Polen auf. Während ihres Studiums spielte sie in der preisgekrönten polnischen Fernsehen-Theater-Show The Morality of Dulska mit. Nach dem Studium arbeitete sie mit zahlreichen jungen Theaterregisseur*innen zusammen, u.a. für The Death Star von Krzysztof Garbaczewski (2010), Crime von Ewelina Marciniak (2012), Uprising und On a summer August day von Radosław Rychcik (2012), bevor sie Ensemblemitglied am Helena Modrzejewska National Old Theater wurde. Dort war sie u.a. in Inszenierungen von Marcin Libera, Jan Klata, Anna Smolar und Janiczak & Rubin zu sehen. Für ihre darstellerische Leistung in ihrem Filmdebüt in Krzysztof Skoniecznys Hardkor Disko wurde sie auf dem 39. Gdynia Film Festival ausgezeichnet. Es folgten Auftritte in weiteren Spielfilmen. Seit 2018 ist Jaśmina Polak festes Ensemblemitglied am Nowy Teatr in Warschau und arbeitete dort unter anderem mit Krzysztof Warlikowski und Wojtek Ziemilski. Ab 2019 ist sie außerdem Mitglied des Europa Ensembles. Jan Sobolewski wurde 1988 in Polen geboren. Nach seinem Studium an der Staatlichen Schauspielschule Ludwik Solski in Krakau sammelte er erste Theatererfahrungen mit Krzysztof Garbaczewski in der Produktion Podwórko beim Four Cultures Festival in Łódź. Danach wurde er Ensemblemitglied am Polnischen Theater in Bydgoszcz, wo er mit Regisseuren wie Rabih Mroué, Anna Smolar, Wiktor Rubin, Michal Borczuch, Weronika Szczawińska, Paweł Wodziński und Bartek Frąckowiak zusammenarbeitete. Zudem spielte Sobolewski in der freien Szene, u.a. in preisgekrönten Produktionen von Oliver Frljić und Magda Szpecht. Im Anschluss an sein Engagement in Bydgoszcz arbeitet er freiberuflich, u.a. 2018 mit She She Pop am HAU Berlin für Oratorium und in Michal Borczuchs Performance Żaby im Studio Theater in Warschau. Für diese Produktion wurde er 2018 beim 11. Internationalen Divine Comedy Theaterfestival in Krakau als Bester Schauspieler ausgezeichnet. Seit Januar 2019 ist Sobolewski Ensemblemitglied am Nowy Teatr in Warschau, sowie Mitglied des Europa Ensembles.

Adrian Pezdirc wurde 1990 in Zagreb geboren und absolvierte eine Schauspiel- und Tanzausbildung am Zagreb Youth Theater College. Im Jahr seines Abschlusses 2014 wurde er für seine außergewöhnlichen Leistungen mit dem Kroatischen Theaterpreis für Künstler unter 28 Jahren ausgezeichnet. Adrian Pezdirc war bislang u.a. in Produktionen am Kroatischen Nationaltheater in Zagreb, an der Akademie für Darstellende Kunst Zagreb, im Rahmen des Dubrovnik Sommerfestivals und zusammen mit dem Zagreb Dance Ensemble zu sehen. Außerdem führten ihn Workshops an die Zürcher Hochschule der Künste, die Universität der Künste Berlin, das Goethe-Institut und die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Seit 2016 ist Adrian Pezdirc fest im Ensemble des Zagreb Youth Theater Zagreb (Zkm) engagiert, ab 2019 ist er zudem Mitglied des Europa Ensembles.

Anđela Ramljak wurde 1986 im bosnischen Mostar geboren. 1992 zog sie mit ihrer Familie aufgrund der Jugoslawien-Kriege nach Zagreb und studierte nach ihrem Schulabschluss an der Academy of Dramatic Art in Zagreb. Anschließend wurde sie externe Mitarbeiterin am Zagreb Youth Theatre und 2017 festes Ensemblemitglied des Zkm. Sie gewann den Dean’s Award und war für den Croatian Theater Award nominiert. Zu sehen war sie unter anderem in #workingtitleantigone (#radninaslovantigona), Night Life (Noćni život), und Alice in Wonderland (Alisa u zemlji čudesa) am Zagreb Youth Theatre. Seit 2020 gehört sie zum Europa Ensemble.

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Textnachweise

Das Interview mit Selma Spahić und Dino Pešut sowie der Text von Nico Formanek sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. Jonas Vogt: Sind wir Millennials die Generation Burnout? In: Der Standard, 20. Januar 2019 Bildnachweis

Fotograf Björn Klein Titel Adrian Pezdirc, Anđela Ramljak, Jan Sobolewski | S. 6 Jaśmina Polak, Claudia Korneev | S.12 Tenzin Kolsch, Anđela Ramljak, Jaśmina Polak | S. 16 – 17 Jaśmina Polak, Tenzin Kolsch, Jan Sobolewski, Anđela Ramljak, Claudia Korneev, Adrian Pezdirc | S. 23 Jaśmina Polak, Jan Sobolewski | S. 26  Anđela Ramljak, Jan Sobolewski, Adrian Pezdirc

Impressum THE CLICKWORKERS (Programmheft Nr. 34) Herausgeber Intendant stellv. Intendant & Chefdramaturg Künstlerische Betriebsdirektorin Redaktion Gestaltung Herstellung

Schauspiel Stuttgart Burkhard C. Kosminski Ingoh Brux Mary Aniella Petersen Carolin Losch, Christina Schlögl Sophia Josefine Rau Offizin Scheufele

Spielzeit 19/20

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