Nr 9 1935

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F I S - R E P O R T A G E A U S MURREN, 22.-25.

F E B R U A R 1935

V o n Othmar Qurtner, S A H , Zürich Der Abdruck der nachstehenden FIS-Reportage aus dem ,,Sport" sei an dieser Stelle verdankt. Schriftleitung.

Prolog: I n den vier Jahren, die seit der erstmaligen Abhaltung der FIS-Rennen in Mürren verstrichen sind, hat der Skisport eine beispiellose Entwicklung durchgemacht. Zu Hunderttausenden sind die schnellen, wendigen Skifahrer aus dem Boden gewachsen, i n allen Ländern Europas hat sich das Können der besten Rennfahrer gehoben; wo damals noch mit Messing- und Stahlkanten auszukommen war, müßte man heute eigentlich Diamantkanten verwenden, wo ein Federzug genügte, um den Ski am Fuß zu halten, müßte eigentlich jetzt der Schuh aufs Holz geschraubt werden und die allgemeine Auffassung von der Harmlosigkeit jeder Strecke ist so ausgeprägt geworden, da8 sich die großen Sterne am Rennfahrerhimmel emsiger über die Abgründe jagen, als ein Kometenschwarm am Nachthimmel. Tollkühnheit grenzt heute an Todesverachtung, aus dem einstigen geliebten Favoriten ist heute eine Nummer geworden, die eigentlich nur noch für den Totalisator oder für das Nervenfutter der Öffentlichkeit taugt. Naht die Zeit, da der Staat seine künftigen FIS-Leute vom Schoß der Mutter weg in die Trainingsanstalt holt, weil im Skisieg das Heil des Volkes, der Freibrief der Heldennation erblickt zu werden h a t ? Mürren hat an diesem steilen Aufstieg zum Irrsinn brav und recht mitgewirkt, indem sein durch und durch dem Abfahrtssport hingegebenes Herz die Begeisterung der Zehntelssekunde immer und immer wieder gewaltig spürte und zu spüren gab; als Brutanstalt der härtesten Fahrtechnik und als Versuchsstation für die ausgekochtesten Slalomkniffe, hat Mürren in all den Jahren stets vorwärts gestrebt. Glücklicherweise hat die enge Einzäumung der Slalompisten, Testhänge und Säuglingswiesen den alten guten Geist nicht erwürgt, der von jeher über Wald und Port wachte und aus dem schließlich die weit über den Namen dieses kleinen Bergdorfes um sich greifende Berühmtheit des wahren Skifahrens erwuchs. Das ist der Geist der wagemutigen Entfesselung des Menschen, die Kameradschaft der Kühnen, ein Freimaurertum aus Blut und Schnee. Wohl dem Lande, das den Ursprung solcher welteroberndeu Bewegung rein zu halten weiß ; wohl dem Mürren, das immer wieder ein Fuder Schnee auf seine Rennpisten bekommt, damit die alten Gesellen ihre Waldschlüpfe und Schleichwege bisweilen wieder im Zustand der jungfräulichen Reinheit vorfinden können, die dem Skisport dieser Gegend vor einem Vierteljahrhundert Reiz und Befriedigung gab. Voller Freude bin ich nach Mürren gefahren, u m alle die erinnerungsreiclien Pörter, Gräben, Waldschueisen und Gräts wieder zu sehen und manchem alten Freunde die Hand zu schütteln. Auftakt im pfeifenden S t u r m

Mürren Palace, den 22. Februar

Da stehen wir also wieder wie vor vier Jahren auf dem windüberpfiffenen Allmendhubel. Aus vollen Backen wird hier geblasen. Die Windstöße fegen den harten Hang, wirbeln aufgedrehte Schneetiirme in der allgemeinen Schußrichtung. Wenn man oben auf dem Hügel mit einem der zahlreich eintreffenden Skikorsaren plaudern will, muß man sich in den Wind lehnen und die Ski verkanten, weil man sonst zum Segelschlitten wird. Walter Amstutz schiebt sich in die schlotternde Zuschauerreihe, lüftet sein Visier und schreit mir ins Ohr: „Hie chamu numen nidsi prichten!" So ist es, und weil die über den Bergen herumfliegenden Wolkenfetzen sich immer garstiger zu uns herab bücken, kommt keine richtige Stimmung in das kleine Heerlager der Freunde, Betreuer und Daumenhalter, die jetzt hier Spalier stehen, um das dreiunddreißigköpfige Damenfeld im Slalom zu sehen. Godi Michel hat mit hübsch gestrichenen Latten einen sehr wechselvollen Lauf ausgesteckt. Lotte Baader hat das Pech, nach einem sehr guten ersten Lauf, im zweiten Lauf ein Tor auszulassen. Helene Zingg, die an Stelle der fieberverfolgten Niny von Arx startet, ist noch nicht fit; sie karamboliert im langen Rückenschuß mit Zaunpflöcken und kann sich motz wesentlich besserem zweiten Lauf nicht für die Schweiz placieren. Christ1 Cranz gibt den ganzen Seelos heraus, der in ihr steckt; im ersten Lauf hält sie die Bestzeit, verliert im zweiten Lauf in wildem Sturmgebraus kurz vor dem Ziel durch eine augenblickliche Schwäche ein paar Sekunden, die auf Konto Rüegg dankbar gutgeschrieben werden. Der Lisa Resch passiert auf dem Rücken aus mächtigem Schuß ein zeitraubender Sturz, sie landet als Schlußperle der deutschen Kette. Turid Jespersen ist sehr gleichmäßig und erstaunlich slalomtüchtig; hübsch ist der außerhalb der Menschenpalisaden mithuschende Schatten eines Norskers, der jede Phase dieses Polarsterns erleben will. Elvira Osirnig ist sehr gut, absolut gleichmäßig, für die Schweiz das Nä11 im Spiel. Nun die immer besser fahrende Anny Rüegg: sie hat seit letztem Jahr unglaublich Stil gewonnen; diese genau geführten Skier, diese berechnet durch die Tore gedrehten Schwünge - sie fährt, abgesehen von einem kleinen Geplänkel mit einer Torlatte, ein ganz hervorragendes Rennen, das ihr irn zweiten Lauf die absolute Bestzeit einbringt und das schon besprochene Telegramm an Mutter Germania hinfällig macht. Hady Pfeiffer ist genau, wie es ihr angedrillt worden ist, doch die Trägerin der fliegenden Zöpfe, die Käte Grasegger, hat noch mehr Seelos geschluckt und ihre beiden Läufe sind von wunderbarer Gelassenheit und Präzision. Rösli Streiff erntet viel Beifall; sie fährt mit eingebundenem Knöchel trotz eines Trainingsunfalls und das noch dazu sehr sicher und auch schnell. Leider hat die holländische Raronin


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