Dorf-Blitz

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Monatsinterview

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10/2012

Das Hotel und Restaurant Löwen in Bassersdorf hat eine bewegte Geschichte hinter sich

«Schon meine Grossmutter hat hier gewirtet» Statt «Mexican Fiesta» trägt das Hotel und Restaurant Löwen künftig wieder seinen ursprünglichen ­Namen. Dessen Besitzer Stefan Wasik erzählt aus der 200-jährigen Familiengeschichte und der bewegten Chronik des traditionellen Bassersdorfer Gasthofs. von Mano Reichling Seit wann existiert der «Löwen» eigentlich? Erste Zahlen gibt es seit Mitte des 16. Jahrhunderts. Dannzumal existierten in Bassersdorf offenbar zwei Gasthäuser, der «Adler» und der «Löwen». Wobei dank der Lage der «Löwen» wohl das ältere Haus ist. Ganz genau konnte das Baujahr nicht eruiert werden. Namentlich erwähnt wurde das Gebäude um 1620. Bestand der «Löwen» damals schon in dieser Form und Grösse? Das Haus besteht aus drei Teilen. Der älteste Teil ist der nördlich gelegene bei der Kirchgasse. Der jüngste beherbergte eine Stallung für die Kutschen-Pferde, die hier früher ausgewechselt wurden. Bei verschiedenen Umbauten wurde entdeckt, dass die Böden auf einem unterschiedlichen Niveau sind. Das Haus wurde demnach einige Male umgebaut? 1853 wurde anstelle der Pferdeställe eine Metzgerei und darüber liegend ein grosser Saal mit Bühne eingebaut. Als wir im Jahre 2000 umbauten, entdeckten wir zum Teil verkohlte Holzbalken im ältesten Hausteil, welche von einem Brand um 1920 zeugten. Von diesem Brand hat mir auch meine Grossmutter erzählt. Der Metzgerei waren zwei Räucherkammern angegliedert, in der grösseren wurden die Bassersdorfer Schüblige geräuchert. Der Bassersdorfer Schüblig ist schon so alt? Ja, der Schüblig war beliebt. Zu der Zeit pilgerten am Sonntag viele Zürcher Familien nach Bassersdorf. Sie fuhren mit dem Tram bis zur Endstation in Seebach und spazierten über den Hardwald nach Bassersdorf. Im «Löwen»

Stefan Wasik bei der Lektüre von Menü-Vorschlägen aus dem Jahr 1927. (re)

kehrte man ein und verzehrte ein Stück Bassersdorfer Schüblig, welcher der riesigen Nachfrage wegen im Gross­ format hergestellt wurde. Erst mit der Motorisierung nahm das Interesse an diesen sonntäglichen Ausflügen ab und dann wurden wieder normal grosse Würste produziert. Wissen Sie, seit wann die berühmte Wurst hergestellt wird? Ganz genau kann ich es nicht sagen. Aber unter meinen Vorfahren existier­ ten einige Metzger. Mein Grossvater beispielsweise. Er hatte sich am Techni­ kum in Winterthur zum Diplom­kauf­ mann ausgebildet und plante, für eine Handelsfirma nach Indien auszuwandern. Doch diese Pläne konnten nicht realisiert werden, weil ein Todesfall die Auswanderung verhinderte. So musste sich mein Grossvater Jean Siber plötzlich und unerwartet zum Metzger umschulen, unter anderem

«Als wir im Jahre 2000 umbauten, entdeckten wir zum Teil verkohlte Holzbalken» erlernte er das Handwerk in Lyon. Von dort brachte er natürlich einige Wurstrezepte nach Hause, darunter war auch der Schüblig. Lange Zeit war das Originalrezept noch im Haus, irgend-

wann ist es leider verschwunden. Aber auf alten Fotos ist der Schriftzug «Boucherie – Charcuterie» über den Schau­fenstern der Metzgerei gut er­ kenn­bar. Mein Grossvater übernahm also den Betrieb mit Metzgerei und Gast­hof und kurze Zeit später starb seine Frau an Typhus. Er stand plötzlich alleine da mit zwei Töchtern. Das zweite Mal vermählte er sich mit Klara Siber-Mächler, das Paar bekam zwei weitere Töchter; die jüngste Tochter Elsie ist meine Mutter. Während meine Grossmutter sich im Restaurant an der Front um die Gäste kümmerte, arbeitete meine Mutter in der Küche. Und jetzt kommt der Name Wasik ins Spiel? Woher ist seine Abstammung? Mein Vater Stephan Wasik kam durch die Kriegswirren 1940 als Internierter der polnischen Armee in die Schweiz. Nach der Niederlage der polnischen Armee 1939 wurden im Ausland neue Militäreinheiten gebildet. Zielpunkt war insbesondere auch Frankreich, wo sie sich einer neugebildeten Exilarmee unter französischer Führung anschlossen. Nach dem Angriff Deutschlands auf Frankreich blieb den Soldaten am Schluss nur der Rückzug. Und so überquerten in der Nacht vom 19. auf den 20. Juni 1940 rund 50 000 Soldaten im Neuenburger Jura die Schweizer Grenze. Unter

den Soldaten befanden sich rund 13 000 Polen, darunter insbesondere auch die zweite polnische Schützendivision unter dem Oberbefehl von General Bronislaw Prugar-Ketling. Unter ihnen war auch mein Vater. Den Soldaten wurde erlaubt, die Ausbildung fortzuführen, auf dem Niveau der

«Nach der Niederlage der polnischen Armee 1939 wurden im ­Ausland neue Militär­ einheiten gebildet» Hochschule. In Fribourg und Herisau wurden die Universitätslager geschaffen. Bis Ende des Krieges konnten die Internierten an den Universitäten in Fribourg und Zürich, sowie an der Handelshochschule in St. Gallen 445 Lizentiat-Diplome erwerben. Wie lernten sich Ihre Eltern kennen? Das ist eine lustige Episode: Mein Vater hat meine Mutter erstmals in Bassersdorf gesehen und wollte sie kennenlernen. Bei einem Besuch im «Löwen» bestellte er zwei Spiegeleier. Im Anschluss an das Essen bat mein Vater die Serviertochter, ihm die ­Köchin vorzustellen, welche derart feine Spiegeleier kochen könne. Meine Mutter ging also zum interes-


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