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ALLES FLIESST

Der Abenteurer YANN SCUSSEL, 21, will etwas gegen die Flut an Plastikmüll tun. Also lässt er sich die Rhone entlang einmal quer durch die Schweiz treiben – wie eine weggeworfene Plastikfasche. Seine 29 Stunden im eiskalten Wasser sollten Wirkung zeigen.

Text ALEXANDER NEUMANN-DELBARRE Fotos DOM DAHER

TREIBGUT MENSCH

Umweltaktivist Yann Scussel auf seinem Hydrospeed-Board im Schweizer Flussabschnitt der Rhone. Die Wassertemperatur beträgt hier höchstens acht Grad.

D

ie Sonne ist eben erst aufgegangen, als Yann Scussel hoch oben am Rhonegletscher in das eisige Wasser steigt. Die Kälte schnürt ihm fast den Atem ab. Hektisch schnappt er nach Luft, während er in den kleinen türkisfarbenen Schmelzwassersee hineinsinkt, der sich hier am unteren Ende des Rhonegletschers zwischen Schnee und Felsen gebildet hat. Mit den Armen umklammert Yann sein HydrospeedBoard, auf dem Rücken trägt er 20 Kilo Gepäck, am Körper einen Neoprenanzug, fünf Millimeter dick und doch viel zu dünn. Schon nach wenigen Minuten sind Yanns Füsse und Hände so gefroren, dass er sie nicht mehr spürt. Dabei hat sein Abenteuer noch gar nicht richtig begonnen.

Knapp 160 Kilometer weit will er sich von der Rhone tragen lassen. Vom Ursprung des Flusses, hier oben auf 2250 Metern in den Walliser Alpen, bis nach Bouveret, wo er in den Genfersee mündet. 160 Kilometer durch Stromschnellen, idyllische Täler, Industriegebiete – und durch die Nacht. Rund 30 Stunden im eisigen Wasser. Vielleicht mehr, so genau weiss das keiner. Denn das, was Yann vorhat, hat vor ihm noch keiner gewagt.

Die Rhone ist anfangs nicht mehr als ein Wildwasserbach, der aus dem Gletschersee entspringt. Etwa eine halbe Stunde lang gleitet Yann mit seinem Begleiter ClaudeAlain Gailland, einem erfahrenen Bergführer und HydrospeedSpezialisten, relativ entspannt auf dem drei Grad kalten Wasser dahin – dann beginnen die Stromschnellen.

BOTSCHAFTER

Scussels Abenteuer sollen aufklären. Als Achtzehnjähriger tauchte er etwa mit Tigerhaien und widerlegte so falsche Mythen über diese Tiere.

Auf den ersten 60 Kilometern rauscht die Rhone hunderte Höhenmeter ins Tal hinab. Den Oberkörper auf dem Hydrospeed, die Beine im oft fachen Wasser, rauscht Yann mit. Immer wieder schlägt er mit den Knien gegen Felsen, manchmal so heftig, dass er fürchtet, sich etwas gebrochen zu haben. Den Kopf nur knapp über der Wasseroberfäche, sieht er Felsen oder Baumstämme oft nur spät, mehrmals schiesst er über kleine Wasserfälle, Kopf voraus, nur das Hydrospeed Board als Schutz. Die Rhone reisst ihn mit, als wäre er nicht mehr als ein Stück Plastik. Und genau um diese Metapher, um dieses Bild, geht es Yann bei der ganzen Sache.

Bern

SCHWEIZ

Rhonegletscher

Genfersee

Monthey Sitten

Sierre Visp

Rhone

KANTON WALLIS Brig

YANNS ROUTE: 160 Kilometer weit liess sich Aktivist Scussel die Rhone hinuntertreiben, vom Rhonegletscher bis zum Genfersee.

«Um drei Uhr früh begann ich zu halluzinieren. Ich sah Krokodile in den Fluss kriechen.»

Der junge Schweizer, 21 Jahre, breites Kreuz, noch breiteres Lächeln, unternimmt seit Jahren immer wieder Expeditionen, die er unter einem Motto zusammenfasst: «Adventures with Conscience» – Abenteuer mit Gewissen. «Ich möchte mit meinen Unternehmungen immer auch eine Botschaft vermitteln», sagt er im Videointerview. «Das ist mir sehr wichtig.»

Als Achtzehnjähriger tauchte Yann auf den Bahamas mit Tigerhaien und drehte eine Doku, in der er einige der Mythen über sie widerlegte. Mit neunzehn schwamm er in der Türkei durch die Dardanellen von Europa nach Asien, um eine Krebsstiftung zu unterstützen. Und mit zwanzig wollte er den Kilimandscharo besteigen, um auf die Arbeitsbedingungen der Träger dort aufmerksam zu machen. Doch kurz bevor es losgehen sollte, kam die Pandemie dazwischen. Weil das Kamerateam, das ihn nach Afrika begleiten sollte, nun aber schon mal in Genf war, beschlossen er und die Kollegen spontan, ein anderes, zunächst klein angedachtes Projekt anzugehen: Sie wollten den Plastikmüll im Genfersee dokumentieren.

Die Menge an Plastik im Genfersee schockierte Yann Schon lange ging Yann eine Statistik nicht aus dem Kopf: 14.000 Tonnen Plastikabfall landen jedes Jahr in der Schweizer Natur, allein 50 Tonnen davon im Genfersee. Um diese Zahlen mit Bildern zu verdeutlichen, gingen Yann und das Filmteam an der Rhonemündung tauchen und flmten die Verschmutzung vor Ort. «Wie wäre es, wenn wir uns wie eine weggeworfene Flasche ein paar hundert Meter auf der Rhone in den See hineintragen lassen?», schlug jemand aus dem Filmteam plötzlich vor. Yann sah ihn an. Dann machte es Klick. Die Idee für das Projekt «La Grande Descente» – der grosse Abstieg – war geboren. Er würde sich wie ein Stück Plastik die Rhone hinabtragen lassen und mit dem Kamerateam eine KurzDoku daraus machen, die den Plastikwahnsinn zum Inhalt hat.

Yann kontaktierte also ClaudeAlain Gailland, der bereits mit ProfAbenteurern wie Mike Horn gearbeitet hat und das Rhonetal extrem gut kennt. Die Sache sei schwierig, aber machbar, sagte er. Schnell stellte sich auch heraus, dass im Mai der perfekte Zeitpunkt für das Projekt wäre, weil die Rhone dank der Schneeschmelze viel Wasser führt. Yann sah sich Karten an, machte mit seinem Team Erkundungsbesuche an der Rhone und sich selbst ein wenig mit dem HydrospeedBoard vertraut. Und dann, nur drei Wochen nachdem die Idee geboren worden war, stieg Yann mit ClaudeAlain ins eisige Wasser am Rhonegletscher.

Für die ersten 60 Kilometer brauchen sie etwa zwölf Stunden. Die Stromschnellen sind heftig, manche schlicht nicht manövrierbar. Immer wieder müssen Yann und ClaudeAlain aus dem Wasser steigen und einzelne Passagen am Ufer zurücklegen. Weil sich gegen Ende der ersten 60 Kilometer ein Damm befndet, schleppen sie sich und ihr Gepäck etwa zehn Kilometer weit am Fluss entlang. Sie freuen sich, als sie wieder ins nun etwas ruhigere Wasser der Rhone steigen können. Doch nun steht ihnen schon die nächste Herausforderung bevor: eine Nacht auf dem Fluss.

Nachts trieben Yann und sein Partner schweigend vor sich hin Als die Sonne untergeht, verschwindet mit ihr auch die letzte Wärmequelle für Yann. Im kalten, nassen Neoprenanzug treibt er auf dem Hydrospeed durch die einsetzende Dunkelheit. «Als es Nacht wurde, war die Stimmung sehr speziell», sagt Yann. «Anfangs, in den Stromschnellen, sprachen ClaudeAlain und ich noch viel, aber jetzt trieben wir schweigend vor uns hin.» Bald ist es so dunkel, dass sie nur noch sehen, was im Lichtkegel ihrer Stirnlampen auftaucht, und so kalt, dass es unerträglich wird.

IM DUNKELN

Der Lichtkegel von Scussels Stirnlampe im Ortsgebiet von Sitten, dem einzig erleuchteten Stück Weg auf der Nachtstrecke der Flussfahrt.

MUT VS. RISIKO

An extrem gefährlichen Stellen muss Yann (links im Bild) kurz aus dem Wasser steigen und an Land weiter.

HARTER UNTERGRUND

Immer wieder schlug Scussel an solchen Stellen gegen Felsen im Flussbett. Manchmal so hart, dass er dachte, sich etwas gebrochen zu haben.

«Wenn das Zittern aufhört, wird es bedenklich. Dann droht die Unterkühlung.»

«Solange du zitterst, ist alles okay», sagt Yann, «dein Körper versucht damit ja, Wärme zu produzieren. Bedenklich wird es, wenn das Zittern aufhört.» Dann nämlich droht eine ernsthafte Unterkühlung, die sogar zum Bewusstseinsverlust führen kann. Als es bei Yann so weit ist, müssen sie aus dem Wasser. Sie gehen 15 Minuten, um sich aufzuwärmen, dann steigen sie wieder für 45 Minuten ins Wasser. Es ist ein Rhythmus, den sie die ganze Nacht über beibehalten. Hin und wieder essen sie etwas; eine echte Pause, um sich auszuruhen oder gar 15 Minuten zu schlafen, legen sie nicht ein. Zu gross ist Yanns Angst, nachher nicht mehr aufstehen und ins Wasser steigen zu können. Dann gleiten sie durch das nächtliche

«Früher wollten Abenteurer nur ihre Flagge auf dem Gipfel hissen. Diese Zeiten sind vorbei.»

Sitten, die Lichter der 35.000-EinwohnerStadt leuchten, spiegeln sich im Wasser, es ist das einzige einigermassen hell erleuchtete Stück Weg der ganzen Nacht. Dann herrscht wieder völlige Finsternis.

Immer wieder blickt Yann auf die Uhr. Die Sekunden kriechen. Gegen drei Uhr morgens etwa ist er so erschöpft, dass er eine Halluzination hat. «Ich dachte plötzlich, hinter mir sei ein Krokodil vom Ufer in den Fluss gekrochen und verfolge mich. Es war verrückt. Ich wusste, dass das gar nicht sein konnte, und brauchte dennoch eine Weile, um mir klarzumachen, dass ich halluzinierte.» Woran Yann sich in diesen Stunden festhält? «Ich dachte an die grosse Sache, die ich mit dieser Aktion transportieren wollte: auf den Plastikmüll aufmerksam zu machen, auf die Verschmutzung der Seen und Meere.»

Wenn sich Scussel etwas in den Kopf setzt, gibt er nicht nach Das Wasser ist schon seit der Kindheit Yanns Element. Als kleiner Junge fährt er mit seinem Grossvater, der in Portugal lebt, frühmorgens zum Fischen aufs Meer hinaus. «Mich hat damals schon immer fasziniert, wie das Leben unter der Wasseroberfäche wohl aussieht.» Als Teenager nimmt er an Schwimmwettkämpfen teil, spielt Wasserball, sieht gerne Umwelt-Dokumentationen an – und beschliesst mit siebzehn, selbst eine zu drehen. Für sein Schulabschlussprojekt möchte er auf die Fidschi-Inseln reisen, dort bei einer NGO mitarbeiten, die sich für den Schutz der Haie einsetzt – und mit den Tieren tauchen. Weil ihm

CO-PILOT

Claude-Alain Gailland, hier links im Bild, kennt das Rhonetal extrem gut. Er begleitete den jungen Genfer Yann Scussel bei seinem Abenteuer.

GLÜCK UND UNGLÜCK

Yann bei der Ankunft am Ufer des Genfersees – Plastikmüll, wohin das Auge fällt

das Geld dafür fehlt, macht er sich auf Sponsorensuche und fndet nach vielen Rückschlägen tatsächlich welche. Wenn du deine Ziele erreichen willst, brauchst du Durchhaltevermögen – das lernt Yann schon damals. Als über dem eisigen Wasser der Rhone endlich die Sonne aufgeht, kehrt in Yanns durchgefrorenen Körper etwas Energie zurück. Er muss noch immer mehrere Dutzend Kilometer zurücklegen, aber er hat die Stromschnellen überstanden. Und die Nacht. «Die härteste meines Lebens», wie er sagt.

Das nächste Abenteuer mit Botschaft ist bereits geplant Kilometer für Kilometer nähert er sich nun dem Genfersee. Das Wasser der Rhone, oben am Ursprung klar und sauber, trägt zunehmend mehr Schlamm und Müll mit sich. Als Yann nach 29 Sunden schliesslich in den Genfersee hineingespült wird – das Seewasser erscheint ihm warm wie in einer Badewanne – und am Ufer ankommt, ist er glücklich und erschrocken zugleich: Überall liegt Plastikmüll. Ein auf deprimierende Weise perfekter Ort für das Ende einer symbolhaften Reise.

Rund 4000-mal wurde Yanns Kurzflm über den Rhone-Trip mittlerweile auf YouTube angeklickt. Die Aktion zeigt Wirkung. Und das macht ihm Mut, auch das Kilimandscharo-Projekt weiterzuverfolgen. Neben seinem Studium der Internationalen Beziehungen, das er in Genf absolviert, arbeitet er weiterhin daran. Mittlerweile hat er es etwas erweitert: Neben dem höchsten Berg Afrikas will er auch den Mont Blanc und das Matterhorn besteigen, jeweils völlig autonom, also ohne fremde Hilfe, und ohne Müll zu hinterlassen. Er möchte damit Menschen dafür sensibilisieren, welche sozialen und ökologischen Folgen es hat, wenn sie im Gebirge unterwegs sind, und zeigen, dass es auch anders geht.

«Die Zeit der Abenteurer, die einen Gipfel bestiegen, nur um dort oben ihre Flagge hineinzustecken, ist meiner Meinung nach vorbei», sagt Yann. «Wenn ich eine Expedition mache, dann möchte ich dem Ort, den ich besuche, etwas zurückgeben. Zum Beispiel, indem ich auf eines der Probleme dort aufmerksam mache. Beides gehört für mich zusammen.»

Video «La Grande Descente»: Yanns abenteuerliche Reise in der Kurzdokumentation – QR-Code scannen

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