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EIN MOMENT ÄNDERT ALLES
Wie Philipp Kuttins Unfall den Blick nach vorne schärfte, die Freundschaft zu Kollegin Lisa Hauser stärkte – und warum sein Rollstuhl ihn Flexibilität lehrt.
Eine Vollmondnacht im Sommer
2020 veränderte alles für Philipp Kuttin. Beim Schlafwandeln stürzte der damals 21-Jährige von einem Balkon acht Meter in die Tiefe und prallte dabei derart unglücklich auf einer Betonkante auf, dass er seine Beine nicht mehr bewegen konnte. Der Gedanke an eine Querschnittsverletzung war sofort präsent. Doch natürlich klammert man sich an die Hoffnung, dass es bei einem selbst anders ausgehen wird als etwa bei Lukas Müller (siehe Seite 14), den der Kärntner vom Skispringen und durch seinen Vater Heinz Kuttin, den Ex-Trainer der österreichischen Skisprung-Nationalmannschaft, kannte. Als die Ärzte schließlich die Diagnose überbrachten, war der Schock entsprechend groß. Doch Philipp Kuttin erlaubte sich nicht, in ein Loch zu fallen. „Ich habe mir gesagt: Ja, Scheiße, aber ist halt passiert. Das Leben geht weiter. Meine Eltern und ich haben schon fünf oder sechs Tage nach meinem Unfall darüber zu reden begonnen: Was müssen wir jetzt tun? Wie bauen wir das Haus um? Verkaufen wir das Auto?“
Nach vorne blicken. Die neue Situation annehmen. Weitermachen. Für diese Stärke zollt ihm Lisa Hauser, Österreichs erste Biathlonweltmeisterin, Respekt. Philipp und Lisa kennen einander schon lange: Sie besuchten dasselbe Skigymnasium. Philipp fungierte später im Biathlon-Zirkus als Servicemann. „Da ist man viel gemeinsam unterwegs, es geht von Rennen zu Rennen“, sagt Hauser. „Und auch wenn Philipp heute im Rollstuhl sitzt, zeigt er vor, dass jede Lebenssituation irgendwie zu meistern ist. Beim Weltcup konnte ich beobachten: Es war null Problem für ihn, aus seinem Auto auszusteigen und ins Teamauto zu wechseln.“
Endlich wieder Muskelspannung
Philipp Kuttin schreibt seine Resilienz seiner Sportler-Mentalität zu. In seiner Jugend war er Nordischer Kombinierer, eine Disziplin, die Skilanglauf und Skispringen vereint. „Vor allem beim Skispringen ist man ständig mit Dingen konfrontiert, die man nicht ver-
LISA HAUSER, 29
Österreichs erste Weltmeisterin im Biathlon
Längste Wings for Life World RunStrecke: 23 km
Dieser Song motiviert mich beim Training immer: „Learn to Lose“ von Bakermat featuring Alex Clare
Ein wichtiger Schritt in meinem Leben war vom Langlauf zum Biathlon zu wechseln. Als Langläuferin wäre ich wahrscheinlich nicht mehr aktiv, aber im Biathlon konnte ich Erfolge feiern und tolle Menschen kennenlernen. ändern kann.“ Ungünstiger Wind. Schneefall. „Man lernt, mit dem, was möglich ist, etwas umzusetzen.“ Und dass immer etwas möglich ist, daran erinnert er sich selbst täglich. Seine Beine mögen ihn vielleicht nicht mehr tragen und sich anfühlen, als wären sie eingeschlafen. „ Aber ich merke bei der Arbeit mit den Physiotherapeuten, dass die Oberkörperstabilität zurückkommt und dass ich heute, zweieinhalb Jahre nach dem Unfall, Muskeln anspannen kann, die davor nur lasch waren.“
Welcher Sache muss man freien Lauf lassen?
Der Entspannung. Ohne Regeneration gibt es keine Leistung, das gilt nicht nur für den Sport.
Das gibt mir immer Hoffnung: Familie und Freunde. Ich bin viel unterwegs, aber wenn was schiefläuft, sind sie immer für mich da.
Situationen wiederum, die nicht zu ändern sind, versucht er mit Gelassenheit zu nehmen. Der Rollstuhl, sagt Philipp, zwinge ihn aber nicht nur, fexibel zu bleiben.
„So wie ein Kleinkind alles von Grund auf lernen muss, ist auch für mich vieles neu. Wie funktioniert mein Körper jetzt, wenn ich dieses und jenes mache? Vor zwei Wochen etwa bin ich zum ersten Mal auf einem Monoski gefahren. Es war saumühsam, aber am Ende hat’s mir so gefallen, dass ich mir sofort einen bestellt habe.“
PHILIPP KUTTIN, 25
Sportgerätebau-Student, zuvor Nordischer Kombinierer
Längste Wings for Life World RunStrecke: 17,8 km
Dieser Song motiviert mich beim Training immer: „Go Like“ (D&B-Remix) von Fox Stevenson
Ein wichtiger Schritt in meinem Leben war … zu akzeptieren, dass alles so ist, wie es ist.
Welcher Sache muss man freien Lauf lassen?
Dem Bauchgefühl. Aber vor allem sollte man darauf vertrauen, dass es richtig ist.
Das gibt mir immer Hoffnung: Zum einen, dass in Sachen Rückenmark mehr geforscht wird. Zum anderen meine Trainingsmotivation, die zeigt, dass ich mich immer verbessern kann.
Wenn Philipp über seinen RollstuhlAlltag erzählt, wird Lisa nachdenklich. Vieles hat man als Nicht-Betroffene nicht am Radar. Zum Beispiel, dass gut gemeinte Hilfsbereitschaft vielleicht auch nach hinten losgehen kann. „In der U-Bahn in Wien hat mich neulich jemand gefragt, ob ich beim Einsteigen Hilfe brauche, aber mein Kopfschütteln offenbar übersehen“, erzählt Philipp. „ Letztlich wurde ich dann beim Aufk ippen dermaßen nach vorn gedrückt, dass ich fast einen Köpfler in die U-Bahn gemacht hätte.“
Voneinander lernen Querschnitt heißt für beide Seiten, für Gesunde und Querschnittsverletzte, voneinander zu lernen. „Es ist Wahnsinn, wie viele Leute, die ich eigentlich schon aus den Augen verloren hatte, sich nach meinem Unfall wieder gemeldet haben“, sagt Philipp. „Mein Bekanntenkreis hat sich defnitiv erweitert.“
Lisa selbst hat im Jahr nach Philipps Unfall mehr als 400 Leute für den Wings for Life World Run zusammengetrommelt. „Wir waren immer als Team unterwegs – die Athleten, die Trainer, die Serviceleute. Also haben wir als Team probiert, wieder etwas zu erreichen und für diejenigen zu laufen, die es nicht mehr können“, sagt sie.
Und dass das Ganze nicht ganz uneigennützig war: „Man geht aus jedem Wings for Life World Run immer mit einem Grinsen raus. Man hat was Gutes getan – und alles passiert ohne Leistungsdruck, weil es nicht wichtig ist, ob man gut oder schlecht war. Hauptsache, man war dabei.“
