The Red Bulletin AT 03/23

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ABSEITS DES ALLTÄGLICHEN

DAS GEFÜHL KÜHL

Freediverin Johanna Nordblad hält den Weltrekord im Eistauchen. Und verrät, wie du am Gefrierpunkt entspannst.

ÖSTERREICH, € 3,50 MÄRZ 2023 JETZT ABONNIEREN getredbulletin.com STEFANOS TSITSIPAS / TOKIO HOTEL / GRETA GERWIG / ALEX KRISTAN

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Elegance is an attitude

Marco Odermatt

LONGINESLONGINESSPIRITSPIRIT

COOL DOWN

103 Meter mit einem einzigen Atemzug, ohne Flossen, ohne Neopren, nur im Swimsuit: Johanna Nordblad, 47, aus Finnland hält den Weltrekord im Eistauchen. Ab Seite 40 verrät sie, wie cool sich Kälte anfühlen kann. Und wie entspannend sie wirkt, wenn die Zeiten des Zitterns vergessen sind.

Cool, allerdings bei wesentlich höheren Temperaturen, bleibt auch das griechische Tennis-Ass Stefanos Tsitsipas. Auf Seite 24 erzählt uns der 24-jährige Lockenkopf (der seine Haare mediterran mit Olivenöl pfegt), wie und warum die Geduld sein stärkster Schlag wurde. Und wie er sich selbst den perfekten Flow serviert.

Schauspielerin und Regisseurin Greta Gerwig, 39, wiederum erklärt ihren Weg der sanften Revolution. Aber was hat ausgerechnet ein Schlafanzug von Gucci damit zu tun? Die Antwort auf Seite 22.

Hellwach ist Top-Triathlet und Ironman-Weltmeister Kristian Blummenfelt, 29. Wir begleiteten den Mann, der schon fast alles erreichte, auf der Suche nach neuen Zielen. Auf Seite 66 beginnt er seine Heldenreise. Im Schweiße seines Angesichts. Aber trotz allem mit kühlem Kopf …

Bis hierher war Alltag – ab hier ist Abenteuer!

Die Redaktion

Contributors

ELINA MANNINEN

Elina ist eine in Finnlands Hauptstadt Helsinki ansässige Fotografin, die international arbeitet – oft in Australien und Neuseeland. Sie setzte unter anderem Thor-Darsteller Chris Hemsworth für die Dokumentarserie „Ohne Limits“ in Szene. Für unsere Coverstory von Autorin Karin Cerny lichtete sie ihre Schwester, die Eistaucherin Johanna Nordblad, eindrucksvoll unter Wasser ab. Seite 40

NICOL LJUBIĆ

Der Journalist und Schriftsteller kommt aus Zagreb und lebt in Berlin. Abseits seiner Romane taucht er auch gerne in die Welt der Popkultur ab: Tom und Bill Kaulitz, die mit ihrer Band Tokio Hotel drei Nummer-einsAlben herausgebracht haben, erzählen Ljubic´, wie sie einander als Kids prügelten, bis Mama die Polizei rufen wollte – und wie sie das unzertrennlich machte. Seite 50

BRATISLAV MILENKOVIĆ

Der Illustrator aus Belgrad behübscht unsere Biohacking-Serie mit Tipps für ein optimiertes Leben – das Thema diesmal: die Kraft des Grinsens. Bratislavs Motto: „Strong colors, bold shapes“. Zuletzt werkte der Kreative für Apple, Nike, BMW, Google, „The New York Times“, „Esquire“, „Wired“ und „The Guardian“. Der Kaffee-Liebhaber teilt sein Studio mit seinem Hund Vito. Seite 84

EDITORIAL
6 THE RED BULLETIN ELINA
MANINNEN (COVER), TEEMU KUUSIMURTO, JENS OELLERMANN

Bewegt dich sicher.

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Wir leben in einer Welt, in der sich alles um uns herum bewegt. Kann man da die Menschen selbst noch bewegen? Der Kia Sportage kann, und das sogar mit Sicherheit: dank modernstem Allradantrieb und überragender Sicherheitstechnologie. Erlebe ihn jetzt - bei deinem Kia-Partner.

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RED BULL MIT DEM GESCHMACK VON MARILLE-ERDBEERE.

GEKOMMEN, UM ZU BLEIBEN.

BELEBT GEIST UND KÖRPER ® .

Die Schauspielerin und Hollywood-Regisseurin („Little Women“, „Barbie“) und ihre sanfte Revolution

STEFANOS TSITSIPAS 24

Das griechische Tennis-Ass erklärt Geduld und den FlowZustand zu Geheimwaffen.

PAMELIA STICKNEY 26

Die Virtuosin am berührungslos gespielten Instrument Theremin und ihr Date mit der Musikwelt

PORTFOLIO ALS DER WINTER FLIEGEN LERNTE 28

Anfang des Jahrtausends rockten Snowboarder den Wintersport. Eine Bildgeschichte.

FREEDIVING

DIE EISBRECHERIN 40

Die Finnin Johanna Nordblad taucht durch zugefrorene Seen –atemlos unterm Eis.

MUSIK STARKES DOPPEL 50

Tom und Bill Kaulitz wurden mit ihrer Band Tokio Hotel zu Stars. Ein Gespräch über die Superpower von Zwillingen.

AMERICA’S CUP

EIN BOOT HEBT AB 60

Was ist ein AC75? Warum kann er fiegen? Und wohin rast er 2024? Alles zur Rennyacht, die auf See neue Maßstäbe setzt.

Kristian Blummenfelt ist der beste Triathlet der Welt – aber eine Rechnung hat er noch offen. Ein Porträt von seiner Fahrt zum Ziel.

INHALT März 2023 GALLERY 12 ZAHLEN, BITTE! 18 FUNDSTÜCK 20 HEROES GRETA
GERWIG 22
50
TRIATHLON WOHIN SO EILIG? 66
UND JETZT DU! REISEN 75 HÖREN 80 DENKEN 83 BIOHACKING 84 ERLEBEN 86 FAHREN 88 MICHAEL KÖHLMEIERS BOULEVARD DER HELDEN 94 IMPRESSUM 96 CARTOON 98 66 THE RED BULLETIN 9 DANIEL TENGS/RED BULL CONTENT POOL, LADO ALEXI

BREITLING BOUTIQUE

KOHLMARKT 3

VIENNA

Erling Haaland Pro footballer, member of the all star squad

Eindhoven, Niederlande

SEIN GRÖSSTER AUSRUTSCHER

Hauptsache rein in den Gatsch! Aaron Zwaal, der Mann mit dem doppelten Doppelvokal, hat ein Faible fürs Militärische. Deswegen fotografiert er fürs niederländische Verteidigungsministerium. Hier allerdings holte er sich einen geländegängigen Zivilisten vor die Linse, nämlich BMX­Ass Daniel Wedemeijer. Daniel hatte Aaron gebeten, den Flyer für eine Veranstaltung zu produzieren. Doch daraus wurde mehr: nämlich ein Bild, das Aaron bei Red Bull Illume, dem weltweit größten Bewerb für Actionsport­Fotografie, einen Halbfinalplatz bescherte. Ein Ausrutscher, völlig gewaltfrei abgeschossen. aaronzwaal.com; redbullillume.com

GALLERY 12 THE RED BULLETIN AARON ZWAAL/RED BULL ILLUME DAVYDD CHONG

Wattenmeer, Niederlande

WATT IS’N

DAS ROTE DA?

Oft liegen die Dinge anders, als sie auf den ersten Blick erscheinen: Das brüchige Land in seinen schimmernden Schattierungen ist – der Meeresgrund. Und der Fluss, der es durchzieht, ist – das Meer. Das niederländische Wattenmeer bei Ebbe, fotografiert von Rein Rijke im Rahmen des Projekts „The Last Line“, das bedrohte Surfparadiese dokumentiert. Und das Rote, watt is’n das? Das Segel von Kitesurfer Roderick Pijls, das sich im Wind bläht. zoutfotografie.nl; redbullillume.com

GALLERY
REIN RIJKE/RED BULL ILLUME, JOSÉ PATRÍCIO/RED BULL ILLUME DAVYDD CHONG

Region Santiago, Chile

WAND DER STILLEN WUT

In der Sportfotografie geht es nicht immer darum, den coolsten Stunt festzuhalten. Manchmal geht es –auch wenn der chilenische Kletterer Hernán Rodríguez schon weit oben ist – um höhere Ziele. Etwa Ökologie. Der Cajón del Maipo, der sich hier unter Hernán auftut, ist eine Schlucht in der Nähe von Santiago – und durch das Alto-Maipo-Wasserkraftwerk-Projekt gefährdet. „Das Tal droht auszutrocknen“, sagt Fotograf José Patrício. Und sein Bild ist eine stille Anklage. redbullillume.com

THE RED BULLETIN 15
GALLERY NOAH DAVID WETZEL/RED BULL ILLUME DAVYDD CHONG

Alta, Utah, USA

WILD IM WALD

Friedlich ruht der Winterwald. Nur ab und an ein Ästchen, das unter der Schneelast bricht. Sonst Stille. Doch mit einem Mal wird’s wild! Ein Vermummter in grellem Gelb, zuckend wie ein Blitz, auf seinem irrwitzigen Slalom zwischen den Stämmen. Fährt er? Fliegt er? Nun ja, eigentlich macht er nur seinen Job. Er, das ist der US-amerikanische Freeski-Profi Conor Pelton, genannt Peltski, der in der Dämmerung noch einmal abfährt und von seinem langjährigen Kumpel Noah Wetzel – ganz alte Schule – mit der Leica verewigt wird. Der eine klickt, den anderen kickt’s. Und Frieden ward’s wieder im Winterwald. noahdavidwetzel.com; redbullillume.com

THE RED BULLETIN 17

300 JAHRE RAMBASAMBA

Vom Watschentanz zu Hüftschwung und Mega-Event: Der Karneval von Rio feiert Jubiläum – die nackten Fakten.

1928

10

wurde „Deixa Falar“, die erste SambaSchule, gegründet. Heute gibt es in Rio an die 200 – und sie haben ähnlich treue Fans wie die großen Fußballklubs.

51

Tage vor dem Ostersonntag beginnt der Karneval in Rio nach alter Tradition – heuer ist das der 17. Februar.

500

Blocos, also private Megapartys, finden auch heuer wieder parallel zur großen Parade statt –und ziehen rund fünf Millionen Gäste an.

863

Euro kosten heuer die teuersten der 90.000 Tickets für die Tribünenstraße Sambódromo, die billigsten 23.

Millionen Liter Bier werden beim Karneval in Rio vor Beginn der Fastenzeit noch rasch gekippt. 100

Kilo kann ein opulentes Karnevalskostüm wiegen. Tanzen kann man darin dank einer Vielzahl geschickt eingebauter Rädchen.

1723

fand der erste Karneval von Rio statt: Die Teilnehmer bewarfen einander mit Lebensmitteln und Schlamm, die Straßenparty endete mit Massenschlägereien.

12

Samba-Schulen mit jeweils bis zu 5.000 Performern tanzen auf der großen Parade und versuchen 90 Minuten lang, die Jury zu begeistern.

40

Juroren küren den Sieger der Samba-Parade. 2022 gewann „Grande Rio“ mit einer Hommage an die afrobrasilianische Gottheit Exu.

700

Meter lang ist die 1984 eröffnete Tribünenstraße Sambódromo da Marquês de Sapucaí, die Architekt Oscar Niemeyer designte.

8.000.000.000

Real, umgerechnet 1,44 Milliarden Euro, Umsatz beschert die Karnevalssaison der brasilianischen Wirtschaft pro Jahr. Die Hälfte davon generiert der Karneval von Rio.

ZAHLEN, BITTE!
18 THE RED BULLETIN GETTY IMAGES (5) HANNES KROPIK CLAUDIA MEITERT

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ASS OHNE ÄRMEL

Das teuerste Trikot der Sportgeschichte – Basketball-Ikone Michael Jordan

Einmal noch, ein letztes Mal, machte sich der 1,98-Meter-Gigant auf: Die Saison 1997/98 ging als Michael Jordans „letzter Tanz“ in die Geschichte ein und wurde in der Netfix-Serie „The Last Dance“ dokumentiert. Auf dem Weg zu seinem sechsten und letzten NBA-Titel traf „His Air-

ness“, wie der Shooting Guard der Chicago Bulls genannt wurde, in der Finalserie auf Utah Jazz. Das Jersey, das er im ersten Spiel durchschwitzte, wurde in seiner Geburtsstadt New York versteigert: Ein Fan zahlte 10,1 Millionen Dollar (9,8 Millionen Euro) – Rekord für Sportler-Reliquien.

trug es zu seinem letzten Saisonfnale.
Michael Jordan, 60, galt als weltbester Basketballer. Er wurde sechsmal NBA-Champion.
FUNDSTÜCK 20 THE RED BULLETIN PICTUREDESK.COM, GETTY IMAGES

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GRETA GERWIG

prägt die sanfte Revolution der Hollywood-Regisseurinnen

Statt platter Erotik macht sie den Gucci-Pyjama zum Lebensprinzip.

TEXT RÜDIGER STURM

Doch Gerwig, die Anti-Barbie vom Dienst, hatte stets zu kämpfen. Schon als sie am College eigene Filme drehen wollte, standen immer wieder männliche Kommilitonen im Weg: „Wenn ich mir eine Kamera ausleihen wollte, war nie etwas verfügbar, weil die Jungs die Geräte in Beschlag genommen hatten. Als Mädchen warst du ausgegrenzt, wenn es um technischere Berufe ging. Die männlichen Studenten nahmen immer an, dass mich das doch gar nicht interessieren könne.“

Klare Worte statt harter Bandagen Zugegebenermaßen war es dann aber dennoch ein Mann, der Greta Gerwigs Karriere entscheidend beeinfusste: Regisseur Noah Baumbach, der auch zu ihrem Lebenspartner wurde, verhalf ihr mit Rollen wie in „Greenberg“ zum Durchbruch als Darstellerin – doch sie forderte diese Hilfe auch stets proaktiv ein. „Ich hatte zwar schon vorher geschrieben, aber dann Drehbücher mit ihm gemeinsam verfasst. Und ich habe ihn dabei ständig gefragt, wenn ich etwas Regietechnisches wissen wollte. So habe ich mich weitergebildet.“

Greta Gerwig ist derzeit in „Weißes Rauschen“ auf Netflix zu sehen. Instagram: @officialgretagerwig

Die Oscars werden dieses Jahr am 12. März verliehen.

Guten Morgen! Und gute Nacht? Zum Interview tritt Greta Gerwig in einem Outft an, das wie ein Schlafanzug aussieht. Immerhin von Gucci, wie sie auf Nachfrage ausführt. Die preisgekrönte Schauspielerin und Filmemacherin betrachtet Textilien als Stoff der Freiheit. „Ich ziehe mich so an, weil ich niemandem außer mir selbst gefallen muss. Und diese Klamotten fühlen sich gerade richtig an.“

Nein, Gerwig, 39, hat nicht die geringste Lust, festgefahrene Erwartungen an ihr Aussehen zu erfüllen. Auch in ihren Filmen „Greenberg“ oder „Frances Ha“ porträtiert sie als Darstellerin Frauen, die sich nicht über die Optik defnieren. Gleiches gilt für ihre jüngste Literaturverflmung „Weißes Rauschen“ (derzeit auf Netfix), wo sie als Mutter einer PatchworkFamilie gegen ihre innere Todesangst kämpft: „Ich mag es, wenn ich die Nische der Rollen, die nicht sexy sind, ausfüllen kann.“

Doch längst ist die New Yorkerin mehr als nur eine Nischenfüllerin. Sie zählt zur Riege junger Regisseurinnen, die nach Jahrzehnten männlicher Übermacht das Filmbusiness endlich weiblicher machen: Als sie 2017 in „Ladybird“ ihr Regiedebüt gab, erhielt sie prompt Oscar-Nominierungen für Regie und Drehbuch. An diesen Erfolg knüpfte sie zwei Jahre später mit „Little Women“ an; der Film war für einen Oscar für das beste adaptierte Drehbuch nominiert. Und heuer startet ihr bereits vorab hoch gehyptes Movie „Barbie“ mit Margot Robbie und Ryan Gosling.

Vielleicht ist das auch der wichtigste Faktor ihres Erfolgs: Greta Gerwig musste keine Ellbogen einsetzen, sie hat einfach ihren Mund aufgemacht. Wenn sich Baumbach im Wochenrhythmus mit bekannten Regiekollegen wie Wes Anderson oder Brian De Palma zum Abendessen traf, sagte sie: „Ich komme mit, ich will hören, worüber ihr euch unterhaltet.“

Und prompt war sie Teil eines exklusiven Dinnerzirkels. „Wenn du kreativ sein willst, musst du dich im Umfeld der Kreativen bewegen. Dieser Austausch ist ganz wichtig.“ Auch ihre Hauptrolle in „Weißes Rauschen“, bei dem Noah Baumbach Regie führte, bekam sie, indem sie klipp und klar ihre Wünsche äußerte: „Bei der Lektüre des Romans (von Don DeLillo; Anm.) fragte mich Noah, wer denn die Mutterrolle übernehmen könnte, und ich sagte: ‚Ich!‘“

Bei der Oscar-Verleihung 2020 kam es dann zu einem offziellen Aufeinandertreffen zwischen Greta und Noah, da ihre Filme „Little Women“ (sie) und „Marriage Story“ (er) für jeweils sechs Auszeichnungen nominiert waren. Doch Gerwig bestreitet jedes Konkurrenzdenken, und sie wirkt in ihrer sanften Ausstrahlung glaubwürdig. „Ich hätte mich auch nicht von Noah getrennt, wenn er mich nicht für ‚Weißes Rauschen‘ besetzt hätte.“

Ja, diese Greta Gerwig wirkt sanft. Doch ihre Marschrichtung ist klar und unverrückbar. Das zeigt sich, wenn sie über junge Filmstudentinnen, die Generation eins nach Greta, spricht: Wenn sie da eine sehe, die beim Dreh „Nein, das passt so nicht“ sagt, gehe ihr das Herz auf.

„Yeah, zeig’s ihnen!“, sagt sie dann.

HEROES
22 THE RED BULLETIN ROBBY KLEIN/CONTOUR BY GETTY IMAGES FOR THE RECORDING ACADEMY
„ Rollen, die nicht sexy sind: Diese Nische will ich ausfüllen!“
THE RED BULLETIN 23
Greta Gerwig, 39, über ihren Job jenseits der Hollywood-Klischees

STEFANOS TSITSIPAS

hat Geduld zu seiner Geheimwaffe gemacht – je schwerer die Gegner des 24 ­jährigen Tennisstars, desto größer dessen innere Leichtigkeit.

Wie hat Geduld dein Spiel auf dem Platz verbessert?

Zwei vergleichbare Matches, zwei ähnliche Spielsituationen, derselbe Gegner – aber ein völlig unterschiedlicher Stefanos: Das erste Mal, als ich 2019 bei den Australian Open im Halbfnale auf Rafael Nadal traf, war ich sehr ungeduldig. Ich dachte: „Okay, ich spiele gegen einen der Besten. Ich muss mich mit wirklich großen Schlägen beweisen und alles geben.“ Und ich verlor. Zwei Jahre später stand ich ihm beim gleichen Turnier erneut gegenüber, diesmal im Viertelfnale. Nachdem ich zwei Sätze verloren hatte, verstand ich plötzlich, was ich bisher falsch gemacht hatte. Ich sagte dann zu mir selbst: „Okay, du wirst jetzt geduldig bleiben, du wirst jetzt abwarten. Du wirst jede einzelne Minute auf dem Platz genießen und es einfach zu einem unterhaltsamen Spiel machen.“ Es wurde eines der besten Comebacks in meiner bisherigen Kar riere (Tsitsipas kämpfte sich zurück und gewann überraschend in fünf Sätzen; Anm.)

Wie hat sich dieses ganz spezielle Spiel für dich angefühlt?

Instagram:

@stefanostsitsipas98

Das griechische Tennis­Ass Stefanos Tsitsipas nahm im Alter von drei Jahren zum ersten Mal ein Racket in die Hand – und heute, mit 24 Jahren, ist er Teil der globalen FilzballElite. Der Weltranglistenvierte (Platzierung zum Saisonende 2022) gewann 2019 die ATP ­ Finals, also die „Weltmeisterschaften“ der acht erfolgreichsten ATP­ Spieler des Jahres. Übrigens: Es gibt einen eigenen Instagram­Account, der Tsitsipas’ opulenter Mähne gewidmet ist, @ tsitsihair. Es heißt, das Geheimnis seiner wallenden Locken seien Olivenöl und Oregano.

the red bulletin: Was ist deine größte mentale Stärke?

stefanos tsitsipas: Geduld. Ich glaube, das ist etwas, was unserer Generation fehlt. Vor allem wegen der sozialen Medien wollen alle alles hier und jetzt erledigen.

Warst du immer schon geduldig, oder musstest du dir Geduld erst aneignen? Ich war ein aufgedrehtes Kind, aber ich habe gelernt, langsamer zu werden. Es ist wichtig zu wissen, wann man loslassen soll, wann man refektieren und wann man die kleinen Dinge schätzen soll. Manche Menschen wollen zu schnell große Ergebnisse erzielen. Natürlich ist es auch für mich oft nicht einfach, diese Denkweise beizubehalten, aber in schwierigen Momenten erinnere ich mich daran, dass ich eigentlich für die Reise hier bin, nicht für das Ziel.

Als wäre ich in einem Käfg gesessen und jemand hätte ihn geöffnet. Ich hab mich plötzlich total frei gefühlt. Jede Entscheidung hat sich richtig angefühlt. Ich nenne das gerne „Flow“ – und ich habe diesen Flow erreicht, indem ich meine Erwartungen heruntergeschraubt habe. Es war ein mentaler Kampf, aber ich glaube, ich habe noch nie so lange mit so hoher Konzentration gespielt. Du spielst nicht mehr mit deinem Können, du spielst mit deiner Seele.

Gibt es diesen Flow jederzeit?

Ich habe das immer wieder mit meinem Mentaltrainer diskutiert. Die Antwort ist, dass man einfach loslassen muss. Man darf nicht groß überlegen, wie man in diesen Flow­Zustand der absoluten Leichtigkeit kommen könnte, sonst erreicht man ihn nämlich ziemlich sicher nicht. Es geschieht allmählich – wenn man aufhört, zu viel zu denken, und ganz einfach handelt.

Wie viel deines Spiels macht physische Stärke aus und wie viel mentale?

Ich habe nicht viele Matches wegen meiner körperlichen Verfassung verloren – sondern wegen der Dinge, die mir auf dem Platz durch den Kopf gingen. Körperlich sind viele Spieler auf dem gleichen Niveau. Man braucht Nahrung für den Körper, um körperlich ft zu sein, aber auch Nahrung für das Gehirn, um geistig ft zu sein. Tennis ist ein sehr mentaler Sport. Und mein Ziel ist es, der positivste Mensch auf der Welt zu sein.

HEROES
24 THE RED BULLETIN
TEXT TARA BROCKWELL FOTO ANTOINE TRUCHET
Im Flow spiele ich mit meiner Seele, nicht mit meinem Können.“
THE RED BULLETIN 25
Stefanos Tsitsipas, 24, über seinen mentalen Matchplan

Mehr

PAMELIA STICKNEY

ist Musikerin und eine Virtuosin am Theremin. Mit dem schrägen Uropa aller Synthesizer erobert die Wahl-Wienerin die Pop-Welt.

„Was macht die da?“ ist die normale Reaktion, wenn Pamelia Stickney mit ihren Händen die Luft dirigiert und um zwei Antennen herum elektromagnetische Felder manipuliert. Da steht sie wie in Trance, steuert mit einer Hand die Lautstärke, die Finger der anderen streckt und spreizt sie, um die Noten zu treffen. Ihr Theremin sieht aus wie ein Rednerpult – ist aber das älteste elektronische Instrument und Vorläufer des Synthesizers. Pamelia vergleicht das Spielen mit einem Drahtseilakt. „Es ist, als würde ich mit verbundenen Augen balancieren und mit meinen anderen Sinnen aufpassen, das Gleichgewicht zu halten.“ Es habe viel mit Risikobereitschaft zu tun, sagt sie.

Ludwig van Nepal

Allein, das Risiko scheint überschaubar, denn die südkalifornische Künstlerin ist die wohl beste Thereministin der Welt. Doch sie selbst würde sich nie so bezeichnen, die 46-Jährige ist dafür zu bescheiden. „Ich will nicht wie eine Wichtigmacherin klingen“, sagt sie. „Ich weiß nur, dass ich mit diesem Instrument Dinge mache, die noch nie zuvor gemacht wurden.“

Die meisten assoziieren das Theremin, das aktuell eine Renaissance erlebt, mit dem Sound alter Horrorflme. Doch Pam hat vielleicht mehr als jede andere lebende Künstlerin getan, um dieses berührungslose Instrument auf neue Wege zu bringen – weg von den Klischees. Heute spielt sie mit Chris Janka und Mark Holub in der Avantgarde-Band Blueblut,

die vieles mit dem „Horror-Instrument“ kombiniert – von Vogelzwitschern über Beethoven bis hin zur nepalesischen Nationalhymne.

Als Pamelia Mitte der Neunziger das Theremin in Steven Martins Kult-Doku „Theremin – An Electronic Odyssey“ entdeckte, war sie wie elektrisiert. Der russische Physiker Leon Theremin mag es vor mehr als hundert Jahren erfunden haben, aber es war eine Frau, die Geigenspielerin Clara Rockmore, die es revolutionierte und die Stickney bis heute als ihre große Inspiration ansieht. „Ich dachte mir: Wow, so kann es klingen, so melodisch! Das wollte ich auch, das hat bei mir Eindruck hinterlassen.“ Kurz vor Rockmores Tod hat Stickney die Künstlerin getroffen. „Du hast das gewisse Etwas“, sagte Rockmore noch zu Pamelia.

Stickney hatte sich anfänglich von einem Instrument zum nächsten gehantelt: Klavier, Geige, Bratsche, Flöte, Cello. „Du musst aber auch realistisch sein“, betont sie. „Es ist in Ordnung, Grenzen zu haben.“ Seit sie denken kann, ist sie von Musik besessen. „Ich habe Bach und Mozart gespielt, dann wurde mir langweilig“, lacht sie. Sie spielte lange Kontrabass in der Band Geggy Tah, die im von Talking-Heads-Legende David Byrne gegründeten Label Luaka Bop erscheint. Als sie dann im Alter von 23 Jahren mit dem Theremin anfng, übernahm sie quasi die Bassline. Daher ihr Spitzname: „Walking Bass“. Sie spielt auf einer Spezialanfertigung von Bob Moog, dem Erfnder des Synthesizers – und berät dessen Firma heute noch.

Zu Tisch mit Mr. Reed

Ihre einzigartige Technik führte zu gemeinsamen Produktionen mit Künstlerinnen und Künstlern wie Lou Reed, Yoko Ono, deren Sohn Sean Lennon, Grace Jones und DJ und Produzent Patrick Pulsinger. Als Rocklegende Lou Reed sie zum Abendessen einlud, wusste sie nicht, wer er war. „Mir war klar, dass es eine große Sache sein musste, aber ich wusste nicht, wie groß.“ Sie erzählte es ihrem Freund. „Er ist ausgefippt. Hast du nie von Velvet Underground gehört?!“ Lou hat sie dazu gebracht, in der Comedy-Show „Saturday Night Live“ aufzutreten. „Das Theremin war ein Geschenk, weil es mir ermöglichte, mit Menschen zu arbeiten, die ich sonst nie getroffen hätte, und mich mit meinen selbst auferlegten Hindernissen auseinanderzusetzen“, erzählt Pam.

Ihr Weg hat Stickney schließlich nach Wien geführt, wo sie seit 2009 lebt. Früher war es „zu provinziell“ für die umtriebige Grenzgängerin. Sie war Adrenalinschübe gewohnt, aber die lässt sie nun lieber aus. „Deshalb habe ich das Faultier zu meinem Maskottchen gemacht. Ich will mich auf eine gesunde Art und Weise pushen – und mich von Dingen inspirieren lassen, von denen ich es am wenigsten erwarte.“

Infos und TourDaten zur Künstlerin: pamelia.weebly.com
HEROES
26 THE RED BULLETIN
TEXT MARIETTA STEINHART FOTO PHILIPP HORAK
„ Lou Reed?
Nie gehört! Bis er mich zum Essen einlud.“
THE RED BULLETIN 27
Pamelia Stickney, 46, über ihren Appetit auf musikalische Abenteuer
28 THE RED BULLETIN

FLIEGEN LERNTE DER WINTER ALS

In der Snowboard-Szene ist der Schweizer Patrick Armbruster eine Fixgröße: Als Fotograf dokumentierte er, wie junge Wilde um die Jahrtausendwende den Winter rockten – hier sein Album des Aufbruchs.

UND DIE POINTE SITZT IM AUTO

Braunwald, 1995

Eine von Patrick Armbrusters früheren Aufnahmen. Das Auto wurde extra besorgt, um den Obstacle-Park im Schweizer Kanton Glarus aufzupeppen. Der Fliegende ist Andy Weber, eine frühe SnowboarderIkone. Der Sitzende ist Oliver. Er wurde später Pilot.

THE RED BULLETIN 29
TEXT DAVID PESENDORFER

BIG IN JAPAN

Tokio, 2001

Das ist Jonas Emery, einer der ersten Schweizer WinterRockstars im Konzert der ganz Großen. Soeben hat er vor 75.000 Zuschauern den X-Trail Jam gewonnen – bis heute der größte Snowboard-Event weltweit.

ZILLERTALER PULVERJÄGER

Tenjin, Japan, 2000

Das Bild zeigt Thomas „Beckna“ Eberharter aus dem Tiroler Zillertal – und zwar ein paar Schwünge von daheim entfernt: in Tenjindaira, kurz Tenjin. Frei übersetzt bedeutet das „Pulver-Paradies“. Patrick Armbruster: „Und glaubt mir, die Destination macht ihrem Namen alle Ehre.“

THE RED BULLETIN 31

SOMMER AM GLETSCHER

Saas-Fee, 1998

Hand ohne Schuhe, Winter mit Sommer: Hier springt der coole Schwede Marius Sommer barhändig am Gletscher. Man beachte den doch eher legeren Zustand der Halfpipe über dem unteren Bildrand.

AUF DIE HARTE TOUR

Prag, 2013

17 Top-Snowboarder auf ihrer Reise durch die Berge Europas und Nordamerikas – das ist der Plot des Films „Dopamine“. Links Sylvain Bourbousson, rechts Manuel Diaz, in der Mitte Fotograf Silvano Zeiter auf Promo-Tour im Bus.

32 THE RED BULLETIN

ULTRAVIOLETT

Zillertal, Tirol, 2000

Das ist Camus – nicht Albert, der Absurde, sondern Sebastian, der Abgefahrene, Snowboard-Profi aus Chile. In Mayrhofen im österreichischen Zillertal ist er schwer gestürzt. Die Folge: ein großflächiges Hämatom am Oberschenkel – zum Glück war er nicht gebrochen, nur absurd violett.

MÜLLER WECHSELT DIE SEITEN

Lappland, 2000

Es war am 25. April, und Nicolas Müller aus Laax feierte an diesem Tag in Riksgränsen in Schwedisch Lappland seinen 18. Geburtstag. Und wie! Es passierte nach den letzten Aufnahmen für den Snowboardfilm „Tribal“ auf dem Heimweg ins Hotel, als Nicolas plötzlich die Straßenseite wechselte.

34 THE RED BULLETIN
„ Snowboarden war für mich die Straße zur Freiheit.“
Patrick Armbruster, 46, über die Reise seines Lebens
36 THE RED BULLETIN

NACHTFLUG, GANZ OHNE SCHNEE

Hawaii, 2003

Was macht der Schneemann im Sommer? Er legt, wie hier US-Profi Travis Rice, den Overall ab und boardet einen Pick-up-Truck. Travis und ein paar andere Fahrer besuchten Armbruster und seine Kollegen, als sie die Filme des vergangenen Winters schnitten. Da zog man nachts ein paar Runden.

„Und plötzlich war da was Neues, irgendwie Revolutionäres. Es war fast wie Skateboarden, nur auf Schnee.“
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Patrick Armbruster

DER AUFTAKT ZUM ABSCHIED

Laax, 1995

Hier hebt der Schwede Ingemar Backman ab – zur Tour der International Snowboarding Federation. Im Hintergrund schwelte der Streit mit der FIS, die sich den cooleren Wintersport wegen dessen steigender Beliebtheit einverleiben wollte. Und es am Ende auch schaffte.

DER FOTOGRAF

PATRICK ARMBRUSTER

„Der Geruch von verdunstetem Regen auf heißem Beton in der Sommerhitze …“ Auf einem Brett zu stehen, das hatte für Patrick Armbruster schon etwas zutiefst Sinnliches, als er damals – in den frühen Neunzigern –noch ein Teenager in Dietikon unweit von Zürich war. „Das Skateboard war für mich mehr als ein Fahrzeug, es war ein Lebensstil.“ Und dann sah er wenig später seinen ersten Snowboard-Film: „ Das war wie Skateboarding, nur auf Schnee“, erinnert sich Armbruster, heute 46, an die Verlagerung seiner Leidenschaft. Vom verdunsteten Regen zum gefrierenden, von der Hitze zum Eis. Er schmiss seine Elektronikerlehre, tauchte ganz in die rasant wachsende Snowboard-Szene ein und produzierte legendäre Reportagen mit seiner Firma Absinthe Films. In seinem Buch zieht der Grandseigneur der Snowboard-Fotografe nun Bilanz über die wilden Anfangsjahre.

Der 340 Seiten starke Fotoband „Barely Made It“ (31 × 24 cm) ist über Patricks Website erhältlich: patrickarmbruster.com

SIE SEHEN WAS, WAS DU NICHT SIEHST

Saas-Fee, 1996

Da wollen die Schweizer Nils Frei, am obersten Bild links, und sein Kumpel Philipp Merz nur ihr Equipment fürs Gletscher-Sommercamp ausladen – als ein paar holpernde, stolpernde Inlineskater ihre Aura crashen. Fürs Snowboarder-Auge eine veritable Beleidigung!

THE RED BULLETIN 39

EISDIE BRECHERIN

Wenn ihr Herz nur noch zehnmal pro Minute schlägt, wirkt Freedive-Weltmeisterin Johanna Nordblad, 47, ein wenig frostig. Dabei sind Tauchgänge unter die Eisdecke für sie pure Erholung.

TEXT KARIN CERNY FOTOS ELINA MANNINEN

Unter der Decke: Johanna Nordblad unter der Eisschicht des Sonnanen-Sees im Süden ihrer Heimat Finnland. Das Wasser hat zwei Grad.

THE RED BULLETIN 41

tell dir vor, du sitzt im Badeanzug auf einem zugefrorenen See. Vor dir ein Eisloch, das Wasser ist dunkel, wirkt bedrohlich. Du gleitest langsam unter die Eisdecke. Und tauchst mit allem, was in deiner Lunge an Sauerstoff ist, die Länge eines Fußballfeldes.

Im März 2021 stellte die Finnin Johanna Nordblad, heute 47, einen neuen Weltrekord auf. Kein Mann, keine Frau ist bisher ohne Sauerstoff fasche weiter unter Eis getaucht: 103 Meter mit nur einem Atemzug. Ohne Flossen, ohne Neoprenanzug. Allein aus eigener Körperkraft. Bei einer Wassertemperatur von rund zwei Grad Celsius, bei einer Lufttemperatur von minus sieben Grad. Für die vierzigminütige Netfix­Doku „Hold Your Breath: The Ice Dive“ wurde die Extremtaucherin mehr als ein Jahr lang begleitet, um ihre Selbstzweifel, ihr Training, aber auch ihre Willensstärke in dämmerungsblauen Bildern in einer Welt aus Eis und Schnee einzufangen.

Bleibt die Frage: Was geht in einem vor, wenn man bis zu drei Minuten unter dem Eis verschwindet? In eine lebensfeindliche Welt abtaucht? „Es ist unheimlich, einen solchen Rekord aufzustellen, weil es keine Erfahrungswerte gibt“, sagt Nordblad ein Jahr später an einem warmen Frühlingstag. Sie wohnt in Helsinki, natürlich nahe am

SWasser. „Ich bin an meine absolute Grenze gegangen. Nach 80 Metern fühlte es sich an, als ob mein Herz nur mehr einmal in der Stunde schlagen würde. Die letzten Meter wirkten wie Tage. Ich dachte, jetzt hört mein Herz gleich ganz auf zu arbeiten.“

Und dann kommt dieses typische Nordblad­Lachen, tief und warm, bekräftigt durch das Leuchten der Augen. Vielleicht sei sie ja wie einer dieser Grönlandhaie, die dreimal so alt werden wie ihre Artgenossen in wärmeren Gewässern. In der Kälte läuft der Stoffwechsel auf Sparfamme, alles wird beängstigend langsam. „Somniosus“ nennt man diese gigantische Spezies, den „Schlaftrunkenen“. Nordblad musste sich an dieses Leben in Slow Motion erst gewöhnen. An dieses irritierende Gefühl, dass Körper und Geist lethargisch werden.

Im Überlebensmodus

Eistauchen ist eine paradoxe Angelegenheit: Man befndet sich in einer lebensbedrohlichen Extremsituation, muss aber ruhig und entspannt bleiben. Unter Wasser setzt der Tauchrefex ein, der Körper weiß, er muss Sauerstoff sparen, und schaltet auf Überlebensmodus: Die Herzfrequenz sinkt (bei Apnoe­Profs auf unglaubliche zehn Schläge pro Minute), das Blut zieht sich ins Innere zurück, um nur die lebensnotwendigen

Am Z-Z-Ziel: die Frau, die aus der Kälte kam – Johanna Nordblad, frisch aufgetau(ch)t

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Cooler Abgang: Johanna stützt sich mit den Händen an der Eisdecke ab –noch ein Moment, dann wird sie sich abstoßen und untertauchen.

Organe zu versorgen. Eine Art Trance stellt sich ein. Die schnell in ein tödliches Blackout führen kann.

Aber wie geht das: dahindämmern und zugleich hellwach sein, um den richtigen Zeitpunkt nicht zu verpassen, um aufzutauchen? „Die Kälte ist so mächtig, du empfndest so viele unterschiedliche Dinge gleichzeitig“, sagt Nordblad. „Deshalb musst du total im Moment sein, um zu entscheiden: Kann ich bis zum nächsten Loch tauchen?“

Wer zu schnell ist, trifft womöglich falsche Entscheidungen, die tödlich sein können. „Bei Wettkämpfen war ich schon immer die langsamste Taucherin“, sagt sie. Mittlerweile ist dieses Handicap zur Stärke geworden. „Die Langsamkeit ist mein persönlicher Weg, um mit dieser lebensbedrohlichen Herausforderung umzugehen.“

Das Eistauchen hat sie eine Lektion fürs Leben gelehrt, sie ruhiger, gelassener, aber auch fokussierter gemacht. Wer sich in diese fremde Welt aus Dunkelheit und Kälte wagt, der muss eins mit sich selbst sein, jeder falsche Gedanke kostet wertvollen Sauerstoff. „Das Geheimnis beim Freediven ist, dass es absolut keinen Platz für Angst gibt“, sagt Nordblad. „Das macht für mich auch die Schönheit aus. Ich muss all meine Probleme an Land lassen, mein Geist muss beim Tauchen entspannt sein.“

Wenn sie etwas nervös macht, ihr im Kopf herumgeistert oder sie ängstigt, dann trägt sie im Kalender einen Termin ein, zu dem sie sich der Sache widmen wird. „Das gibt mir eine Art von Frieden: Zu diesem späteren Zeitpunkt werde ich versuchen, dieses Problem zu lösen. Aber im Moment muss ich nicht mehr daran denken.“ Man kann sich Johanna Nordblad, die freiberuflich als Grafkdesignerin arbeitet, als

glücklichen Menschen vorstellen. Und das Eistauchen ist dafür der beste Coach.

Schon als Kind war sie süchtig nach Wasser, verbrachte jede freie Minute im Schwimmbad. Im Jahr 2000 entdeckte sie das Freitauchen. Sie legte sich auf den Boden des Pools und beobachtete die Menschen, die über ihr schwammen. „Sie sahen aus wie Tiere. Alles war so friedlich. Ich fühlte mich wie ein Teil der Natur und wusste bald, dass ich süchtig bin nach diesem Gefühl“, sagt sie. Bereits 2004 brach sie den Weltrekord der Frauen im Distanztauchen mit Flossen über 158 Meter in sechs Minuten und 39 Sekunden. Sie war Trainerin der Herren-Freitauch-Nationalmannschaft in Finnland, nahm an Weltmeisterschaften in Serbien und in ihrer Heimat teil.

2006 die erste Krise. „Plötzlich war alles kein Spaß mehr, sondern irgendwie ein Job geworden. Ich wollte nicht mehr gegen andere antreten. Ich wollte mich selbst erforschen“, sagt sie. Sie suchte nach unerprobten Wegen. „Ich habe begonnen, nach eigenen Methoden zu trainieren, ich bin 20 Minuten so langsam geschwommen, wie es nur ging. Um den Kopf freizubekommen für Ideen.“

Die Kälte war eigentlich nicht Teil ihres Plans. Erst durch einen Unfall lernte sie das Eis lieben: 2010 machte Nordblad eine Downhill-Radtour. Der Weg war rutschig, ihr Bike kippte. Der linke Fuß blieb am Pedal hängen. Ihr Bein war schwerstens lädiert, sah aus wie ein verdrehter Ast. Zehn Tage lang musste es im Krankenhaus offen gehalten werden, um eine Nekrose zu vermeiden. Johanna bekam Morphium gegen die unerträglichen Schmerzen.

Die Knochen verheilten, aber die Nervenbahnen wollten sich nicht beruhigen.

Johannas Paradox – hellwach und doch wie im Dämmerschlaf
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Noch drei Jahre später wachte Nordblad in der Nacht auf und schrie vor Schmerz. „Ich dachte, ich werde verrückt“, sagt sie. Bis ein Arzt ihr eine Kaltwassertherapie verschrieb. „Ich fand es am Anfang grauenhaft, saß am Beckenrand, streckte meinen Fuß ins kalte Wasser und weinte.“ Nach zwei Minuten aber kam die Erleichterung, der Schmerz verschwand. Die Kälte ließ Nordblad innerlich ruhig werden. Sie erfüllte sie mit einer tiefen Zufriedenheit.

Tränen der Entspannung

„Die Verletzung hat mir eine neue Welt eröffnet“, sagt sie heute. Sie begann mit dem ganzen Körper ins kalte Wasser zu gleiten – der Schock machte sie kurzatmig. Doch sie lernte, damit umzugehen – dass die Kälte in den Kopf kriecht, sich im Gehirn festsetzt. Dass sie die Haut wie Nadelstiche malträtiert. Nordblad verstand: Man kann die Kälte nicht bekämpfen, man muss sie akzeptieren. Die Belohnung dafür: ein unglaubliches Gefühl der Freiheit. Als würde in ihrem Kopf ein Reset­Knopf gedrückt.

„Du kommst – ohne zu meditieren – in einen meditativen Zustand: Eisschwimmen ist Wellness für Faule. Ein paar Minuten im kalten Wasser fühlen sich an wie eine Auszeit von zehn Tagen.“ Und das Eistauchen?

„ Das ist Wellness für Superfaule: Bereits 30 Sekunden verändern deine Wahrnehmung komplett. Das Eisloch ist ein Tor zu einem schönen, ruhigen Ort, an dem die Zeit stillsteht.“

Ihr Weltrekord war kein Spaziergang. Zu viele Hindernisse türmten sich auf. Eigentlich wollte Nordblad ja „nur“ 81 Meter

Lange Leine: Nordblad bei ihrem Training für den Weltrekord im ÖllöriSee in Finnland. Ein waagerecht gespanntes Seil weist ihr den Weg.

„Hier unter der Eisdecke steht die Zeit still.“
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Ruhig Blut:

Beim Freediven fühlt sich Johanna als Teil der Natur, alles ist still und friedlich.

„30 Sekunden Eistauchen – das ist wie Wellness für Superfaule.“

unter Eis tauchen, um die Bestmarke der Männer von knapp über 70 Metern zu überbieten. Aber dann kam die Pandemie, ihr Versuch musste verschoben werden. In der Zwischenzeit legte eine Russin einen inoffziellen Rekord von 102 Metern vor. Die Latte lag plötzlich sehr hoch. Erschwerend kam hinzu: Die Pools waren während Covid-19 geschlossen, Nordblad hatte das Gefühl, nicht genug trainiert zu haben. Wie geht man mit diesem Druck um?

Einmal mehr rettete sie ihr Galgenhumor.

„A m Tag vor meinem Rekordversuch habe ich mit einer Freundin telefoniert und ihr erklärt, dass es zwei Möglichkeiten gibt“, erzählt die Sportlerin. „Ich höre unter Wasser nicht auf meine innere Stimme, tauche zu lange – und sterbe. Oder ich komme beim ersten Loch wieder hoch. Und sterbe vor Scham.“ Innerlich wusste Nordblad, dass es für sie ohnehin nur einen Weg gibt: Sie muss auf ihre Langsamkeit vertrauen. „Wenn ich mir schon am Morgen gedacht hätte, ich muss heute 103 Meter tauchen, dann hätte ich es nie geschafft“, sagt sie. „Du kannst nichts vorher planen, du musst im Moment entscheiden.“

Nun hält Nordblad den Rekord für beide Geschlechter. In der Netfix-Doku sagt sie: „ Frauen können alles, was Männer können.“ Aber eigentlich sei das verkürzt, meint sie heute. „Diese Unterteilung ist kein Ding für mich: Ich habe immer gemacht, was ich wollte. Es war mir dabei nie wichtig, ob ich eine Frau bin.“ Sie war die Jüngste in der Familie, stets mit ihrem Bruder und dessen Freunden unterwegs. Auch als Kleinste gab es für sie keine Zweifel, beim Fun Stuff und den Abenteuern dabei zu sein. „Ich habe

mir nie gedacht, dass ich anders wäre, nur weil ich ein Mädchen bin. Es sollte diese Unterscheidung in Boys- und Girls-Sachen nicht geben.“

Perfekt ungleich

Für ihre ältere Schwester Elina Manninen, 49, war das nicht immer einfach. „Wir nannten Johanna als Kind einen Affen“, sagt sie. „Ich erinnere mich, dass sie immer etwas Seltsames tat.“ Die beiden sind grundverschieden: Elina ist etwas ängstlicher, keine große Abenteurerin. Trotzdem sind die beiden ein perfektes Team. Die ungleichen Schwestern haben eine enge Verbindung: Johanna taucht, Elina ist ihr emotionaler Support. Natürlich wissen beide, dass es sich um eine gefährliche Leidenschaft handelt. Elina ist Fotografn, macht atemberaubend schöne Unterwasserbilder von ihrer Schwester, auch einige dieser Geschichte. Sie trägt dabei einen Neoprenanzug – bewegt sich aber ebenfalls freitauchend.

„Noch fünf Minuten“, sagt eine Männerstimme. Johanna Nordblad liegt im Skianzug auf einer Yogamatte auf dem zugefrorenen Öllöri-See in Nordfnnland. Ihre Augen sind geschlossen, die Atmung ist ruhig. „Noch eine Minute.“ Starr wie eine Statue sitzt sie unter einem wärmenden Bademantel. „Noch dreißig Sekunden.“ Sie wirft den Mantel ab, noch ein paar Züge Sauerstoff. Und dann taucht sie ab. In eine dunkle, eisige Welt, in der alles in einer Art Zeitlupe abläuft. Wie ein Grönlandhai gleitet sie schwerelos durchs Wasser. Zwei Minuten und 42 Sekunden. Aber für sie waren es Tage.

johannanordblad.com

elinamanninen.com

Instagram: @johannanordblad @elinamanninen

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Bill & Tom Kaulitz von Tokio Hotel und die kontroverse Kraft der Zwillinge: Der eine ist Draufgänger und ledig, der andere geduldig und Heidi Klums Mann. Früher prügelten sie sich, heute sagen

ICH BIN BIN

Bill Kaulitz: Nasenring, gefärbte Haare, schrille Outfits: Der Leipziger Frontmann von Tokio Hotel ist bekannt für seinen extravaganten Stil.
sie: „Wir zwei sind eins.“
INTERVIEW NICOL LJUBIĆ

ER! BIN BIN

Tom Kaulitz: Der Gitarrist von Tokio Hotel ist der reifere der Zwillinge – ganz präzise um zehn Minuten. 2019 heiratete er ModelIkone Heidi Klum.

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Große Bühne: Im Mai rockten Tokio Hotel beim Red Bull Soundclash 2022 die Dortmunder Westfalenhalle. Die vier nahmen auch schon Songs in den Red Bull Music Studios auf.

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ill und Tom Kaulitz, 33, schalten sich auf die Minute pünktlich in den Zoom-Chat. In Los Angeles, wo sie seit 2010 leben, ist es neun Uhr morgens. „Früh für mich“, sagt Bill. Er sei niemand, der sich morgens aus dem Bett beame und denke: Let’s start the day. Erst abends werde er kreativ. „Ich liebe die Nacht.“ Dafür sieht er sehr frisch und gestylt aus. Auch Tom, sein zehn Minuten älterer Zwillingsbruder, ist gut gelaunt. Die beiden haben allen Grund dazu. Gerade erschien ihr neues Album „2001“.

„Es ist unser mutigstes Album, weil wir dafür auch mal mit anderen Leuten zusammengearbeitet haben, auch mit anderen Künstlern, etwa Daði Freyr“, sagt Bill.

Die beiden waren gerade einmal fünfzehn, als sie mit ihrer Band Tokio Hotel von heute auf morgen von der ostdeutschen Provinz an die Weltöffentlichkeit gefegt wurden: 2005 erreichte ihre Debütsingle „Durch den Monsun“ auf Anhieb Platz eins der deutschen Charts, bis heute hat die Band, zu der noch Gustav Schäfer und Georg Listing gehören, mehr als zehn Millionen Tonträger verkauft.

Als der Erfolg über sie hereinbrach, lebten Bill und Tom noch in einem Dorf bei Magdeburg, brachen kurz darauf die Schule ab und zogen nach Hamburg. Als die Fan-Belagerung auch dort zum Dauerzustand wurde, sogar in ihr Haus eingebrochen wurde, füchteten sie weder ins Hotel noch nach Tokio, sondern gleich nach Los Angeles, wo sie heute leben.

Seit 2019 ist Tom mit Model-Ikone Heidi Klum verheiratet, seit 2021 sprechen er und Bill im Podcast „Kaulitz Hills – Senf aus Hollywood“ über ihren Alltag. Die beiden Exilanten sind die erfolgreichsten Zwillinge Deutschlands – und die symbiotischsten: „Wir sind wie eine Person“, sagen sie, „aber trotzdem wahnsinnig unterschiedlich.“ Wie geht das?

the red bulletin: Welche Erinnerungen habt ihr an eure Kindheit?

bill kaulitz: Wir sind ständig umgezogen. Wir waren sieben, als sich unsere Eltern getrennt haben. Zu dem Zeitpunkt waren wir schon viermal umgezogen. Erst lebten wir in Hannover, dann in Magdeburg, wo wir mit unserer Mutter zusammen bei unserer Oma gewohnt haben, das war die Zeit, als wir eingeschult wurden. Danach sind wir mit unserer Mutter in die erste eigene Wohnung gezogen und dann mit neun aufs Dorf. Dort haben wir zum ersten Mal eigene

B
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Zimmer bekommen. Jeder durfte seines tapezieren und gestalten, wie er wollte. Meines war orange, Toms war blau, vorher hatten wir immer ein gemeinsames Zimmer gehabt. Ich erinnere mich, wie wir in unserem Doppelstockbett lagen und stundenlang miteinander plapperten. Aber auch an unsere Pyjamas, wir hatten die gleichen, nur in unterschiedlichen Farben.

Wie würdet ihr die Beziehung zu eurer Mutter beschreiben? Hattet ihr eine strenge Mutter?

tom kaulitz: Unsere Mutter war eigentlich immer ein bisschen wie unsere beste Freundin. Sie hat uns mit ganz viel Vertrauen großgezogen. Rückblickend frage ich mich manchmal, wie sie das überhaupt gepackt hat mit zwei Jungs, Zwillingen, die völlig außer Rand und Band waren. Wir hatten viele Probleme in der Schule, Autoritätsprobleme, Auffälligkeiten im Verhalten. Zwischendurch war unsere Mutter alleinerziehend, bis dann unser Stiefvater dazukam. Wir waren schon sogenannte Schlüsselkinder, als wir ganz klein waren, sind nach der Schule allein nach Hause gegangen und verbrachten dann den Nachmittag allein. Das war wegweisend für alles, was danach kam. Unsere Mum hat sich darauf verlassen, dass wir – wahrscheinlich auch, weil wir zu zweit waren – irgendwie klarkommen. Wir sind dann ja auch mit fünfzehn schon ausgezogen, als es mit Tokio Hotel so richtig losging.

bill: Man muss dazusagen, dass wir eine sehr, sehr junge Mama hatten. Sie hat uns mit einundzwanzig bekommen, auch deshalb waren wir uns immer sehr nahe.

Ihr seid als Brüder sehr symbiotisch, ihr habt mal erzählt, dass ihr nie länger als 24 Stunden voneinander getrennt

wart. Hattet ihr auch Phasen, in denen ihr euch voneinander abgegrenzt habt? bill: Wir kamen immer im Doppelpack, wir wurden oft auch nur „die Zwillinge“ genannt, und ich glaube, dass wir unbewusst ganz früh, schon im Kindergarten, angefangen haben, nach außen hin unsere ganz eigene Persönlichkeit auszuleben mithilfe unseres Styles. Als wir angefangen haben, richtig zu denken und eine Meinung zu haben – ich würde sagen, so mit fünf, sechs Jahren –, wollten wir uns schon selber anziehen und nicht mehr die gleichen Sachen tragen. Wir waren dann ganz verschieden, einer hatte lange Haare, einer kurze. Obwohl wir so symbiotisch waren, so eng und unzertrennlich, waren wir nach außen hin, im Musikgeschmack, im Styling, immer wie Yin und Yang. Es gab auch Momente, in denen sich Tom vor seiner Gang geschämt und mir gesagt hat, ich dürfe nicht mit ihm in der Schule rumhängen, weil er gerade als Punk unterwegs war und ich in meiner Techno­Welt.

Seid ihr euch charakterlich ähnlich oder eher verschieden?

tom: Das ist wahnsinnig schwer zu sagen, weil wir eigentlich komplett gleich ticken. Wir haben ein Grundverständnis füreinander, weil wir uns zu tausend Prozent in den anderen hineinempfnden können. Wir sind wie eine Person, aber gleichzeitig wahnsinnig unterschiedlich. Manchmal fühlt es sich an, als wären wir eine schizophrene Person. bill: Ich bin auf jeden Fall extrovertierter als Tom und auch viel mehr Bauchmensch. tom: Ich bin eher der Kopfmensch, der Planer. Und natürlich klüger, hübscher und lustiger …

Gab es zwischen euch auch eine brüderliche Rivalität?

„ Im Styling waren wir wie Yin und Yang: Tom schämte sich ein bisschen, als ich in meiner Techno - Phase war.“
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BILL KAULITZ

Die Band: Drummer Gustav Schäfer, die KaulitzTwins und Bassist Georg Listing (v. li.)

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Backstage: „Letzte Worte“ in der Garderobe, dann der Weg auf die Bühne –Tokio Hotel beim Red Bull Soundclash in Dortmund

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tom: Nein, es war nie so, dass wir uns wirklich ernsthaft gestritten haben um Mädchen oder Aufmerksamkeit. Gegenseitiger Neid oder Rivalität sind uns völlig fremd. bill: Aber wir hatten früher natürlich auch Phasen, in denen wir uns geprügelt haben. tom: Aber nicht aus Rivalität. bill: Da ging es dann um Meinungsverschiedenheiten, wir haben uns gegenseitig geärgert und Grenzen ausgetestet. Und wenn wir uns geprügelt haben, dann war das wirklich so, als ginge es um Leben und Tod, meist haben alle anderen den Raum verlassen, weil das echt scary war. Meine Mutter dachte, sie müsse gleich die Polizei rufen. Aber auch das gehörte dazu, dass die anderen dachten, um Gottes willen, die werden nie wieder miteinander reden – und fünf Minuten später haben wir einander schon wieder gefragt: „Was bestellst du dir zum Essen?“ – „Ach, okay, ich nehme das Gleiche.“ Wir konnten nie lange sauer aufeinander sein. Die längste Zeit, in der wir nicht miteinander geredet haben, waren vielleicht zwölf Stunden.

Was ist denn im Nachhinein gesehen das Schlimmste, was ihr euch gegenseitig angetan habt?

bill: Physisch, würde ich sagen, dass wir uns geprügelt haben mit allem, was im Raum zur Verfügung stand. Wir haben aber nie etwas gemacht, was den anderen wirklich nachhaltig emotional verletzt hat. Das waren alles Kindergartensachen, mal ein Geheimnis verraten oder einander mit Handyfotos erpressen. Wir waren wahnsinnig eitel als Kinder und fühlten uns natürlich unglaublich cool. Jeder hatte seine Clique und seinen Style. Und da haben wir einander ungestylt heimlich zu Hause fotografert und uns dann gegenseitig mit den Fotos erpresst. Aber wir hatten nie einen wirklich großen Streit, weder als Geschwister noch in der Band.

Was bewundert ihr am anderen?

tom: Wäre ich ein Einzelkind gewesen, was ich mir natürlich nur wahnsinnig schwer vorstellen kann, hätte ich ein komplett anderes Leben geführt. Das verdanke ich Bill: Ich glaube, ich wäre ohne ihn ein ganz anderer Typ geworden.

In welcher Hinsicht?

tom: Ich hätte ein wesentlich unkreativeres Leben geführt. Bill hat sich immer alles getraut, nie über Konsequenzen nachgedacht, sondern einfach gemacht. Bill hat sich mit zwölf auf eine Bühne gestellt und „It’s Raining Men“ gesungen. Ich hingegen habe schon immer auch auf das Umfeld geachtet, ein bisschen mehr geschaut, was gerade cool ist. Ich habe mich mehr angepasst als Bill. Da wir aber zu zweit waren und Bill der kreativere und freiere Geist war, ist diese Seite dann auch in mir zum Vorschein gekommen.

bill: Tom hat eine Geduld, die ich nicht habe. Er sitzt im Studio, produziert unsere ganze Musik – das könnte ich im Leben nicht, das würde mich wahnsinnig machen. Tom kann Tage im Studio verbringen und mit irgendwelchen Sounds experimentieren. Er ist auch sehr viel musikalischer als ich. Ich bin da eher der Frontmann, ich liebe es zu singen und auf der Bühne zu stehen.

So eng, wie ihr miteinander seid –geht ihr einander nie auf den Geist?

bill: Wir haben unser ganzes Leben zusammen verbracht, und natürlich hat uns die Karriere noch enger zusammengeschweißt. Mit fünfzehn ging es bei uns mit dem Erfolg los, wir sind raus aus der Schule, saßen zusammen im Tourbus, haben diesen ganzen Wahnsinn gemeinsam erlebt. Wir waren einander engste Vertraute, wir waren einander Familie, hatten oft ja nur uns – und natürlich auch Georg und Gustav, die an

„Wir hatten unsere Lows und Dämonen – aber wir haben uns gegenseitig aufgefangen.“
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BILL KAULITZ

Du hast immer jemanden,

ähnlich, als würde ich Tom sagen: „Komm, wir probieren mal ein paar Outfts für die nächste Tour an.“ Auf so etwas hat er gar keinen Bock. Es gibt aber auch Sachen, die Tom nie ohne mich machen würde.

tom: Ich würde ganz selten mal ein Interview allein führen. Ich könnte mir auch nie vorstellen, irgendwas zu moderieren oder Fotoshootings zu machen. Das sind die Dinge, die Bill liebt.

Glaubt ihr, dass alles, was über euch hereingebrochen ist, schwerer zu ertragen gewesen wäre, wenn ihr keine Zwillinge wärt?

bill: Jeder von uns hatte während all dieser Jahre seine eigenen Dämonen, mit denen er gekämpft hat. Wir hatten unsere Lows, dachten, wir können nicht mehr, wir wollen nicht mehr – aber wir haben uns gegenseitig immer wieder aufgefangen. Allein wäre das in dem Ausmaß, in dem es nötig war, nicht möglich gewesen.

Ist die Bindung zwischen Zwillingen dann doch noch mal stärker als zwischen „normalen“ Brüdern?

bill: Wir erleben viele Brüder, und Tom und ich denken dann: Wie? Ihr wohnt nicht zusammen? Telefoniert ihr nicht jeden Tag? Wir haben auch schon andere Zwillinge getroffen, die uns erzählen, dass sie in unterschiedlichen Städten leben und unterschiedliche Jobs haben. Wir sind dann immer ganz fasziniert, weil das für uns völlig unvorstellbar wäre.

Ihr habt in den siebzehn Jahren, seit ihr quasi über Nacht berühmt wurdet, Höhen und Tiefen erlebt, die sich andere kaum vorstellen können. Ihr konntet eine Zeitlang nicht mal das Haus verlassen, weil Fans vor dem Grundstück campiert haben, und seid dann regelrecht nach Los Angeles gefüchtet. Wie habt ihr das alles geschafft? Woher hattet ihr die Kraft?

deren zwei aus der Band. Wir vier waren immer unser allerengster Kreis, und so ist es bei Tom und mir auch. Es gab nie Momente, in denen wir gedacht haben: „Jetzt muss ich mal alleine sein oder hätte gerne meine Ruhe.“ Wenn wir einsam waren, waren wir zusammen einsam, wenn wir glücklich waren, waren wir zusammen glücklich. Geteiltes Leid ist halbes Leid.

Brüder messen sich ja gerne. Wer ist denn der Stärkere von euch beiden?

tom: Wir haben unterschiedliche Stärken.

bill: Es gibt Sachen, die würde ich gar nicht probieren, da weiß ich gleich, die muss Tom machen: Was tragen, was anbohren, was anbringen; ich würde auch niemals eine Glühbirne austauschen, solche Sachen kann ich null und will es auch gar nicht können. Ich kriege bei so etwas sofort schlechte Laune.

tom: Wenn ich im Studio mal sage: „Komm, fass mal kurz mit an!“, ist für Bill der Tag schon gelaufen.

bill: Wenn ich das schon höre, werde ich richtig schlecht drauf. Aber das wäre so

bill: Ich glaube, wir schöpfen Kraft daraus, dass wir wissen: Zum Glück bin ich nicht allein. Und so eine Zwillingsbindung wie unsere ist schon wahnsinnig intensiv. Ich wünsche eigentlich jedem Menschen auf der Welt einen Zwilling.

tom: Du hast immer jemanden, der fast genauso aussieht, der fast das Gleiche fühlt wie du. Du hast einfach dich noch mal ein bisschen anders.

bill: Mir tut das fast leid, dass nicht jeder einen Zwilling hat. Ich fnde, Zwilling sein ist das Allerbeste, was einem Menschen passieren kann.

Weitere Infos zur Band: tokiohotel.com

der fast genauso aussieht, der fast das Gleiche fühlt wie du.“
TOM KAULITZ
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Showtime: Die Zwillinge teilen sich das Rampenlicht wie hier beim Red Bull Soundclash 2022 genauso wie ihr Leben abseits der Bühne.

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Flaps

Wie die Flügel eines Flugzeugs hinten Klappen haben, um mehr Auftrieb für den Start zu erzeugen, so helfen auch die Flaps (Klappen) an den Foils dabei, das Einrumpfboot AC75 aus dem Wasser zu heben. Sobald es über der Wasseroberfläche ist, richten sich die Klappen aus und verringern so den Luftwiderstand.

Countdown zum AMERICA’S CUP

CODEWORT WASSERVOGEL

Die ultimative Segelregatta erreicht 2024 das nächste Level – mit Rennyachten, die abheben wie Flugzeuge. Hier kommt unser Technik-Check.

Tragflügel

Jeder der zwei an den Seiten des Boots angebrachten Foil­Arme (Tragflügel) wiegt 1,2 Tonnen. Dafür müssen sie extreme Kräfte ausgleichen und ein Boot ausbalancieren, das voll beladen 7,6 Tonnen wiegt. Für ein optimales Verhältnis von wenig Masse und hoher Stabilität besteht die Konstruktion aus Karbon.

Rumpf

Die Form der Einrumpfkonstruktion hat zwei Aufgaben: erstens, das Boot so schnell wie möglich vom Verdrängungsmodus (im Wasser schwimmen) zum Foiling­Modus (in der Luft fliegen) zu bringen. Und zweitens, den Luftwiderstand zu minimieren. An der Frontseite wird der Wind so umgeleitet, dass die Unterseite die Foils mit Auftrieb unterstützt.

Balanceakt: Statt des Kiels halten die FoilArme das Boot aufrecht.

THE RED BULLETIN 61 INEOS BRITANNIA/C.GREGORY

eit 172 Jahren sprengt der America’s Cup die Limits im Segelsport – er ist die älteste noch heute ausgetragene Sportveranstaltung der Welt. Alle vier Jahre duellieren sich zwei Boote, zwei rivalisierende Yachtclubs, am offenen Meer, Herausforderer gegen Titelverteidiger. Jedes Mal erleben Yacht-Design und -Technologie einen Entwicklungsschub. Doch im Jahr 2024, bei der 37. Austragung, wird etwas anders sein. Zum ersten Mal wird es mehr ums Fliegen gehen als ums Segeln.

Der Evolutionssprung lässt sich genau datieren: Er fand am 21. November 2017 statt. An diesem Tag präsentierten die amtierenden Cup-Sieger USA-17 – zugleich das Team, das traditionellerweise die Regeln für den nächsten America’s Cup festlegen darf –das Design des Tragfügel-Einrumpfbootes AC75: Der Prototyp für 2021 sollte auf einem Foil, einem gewölbten Tragfügel, über die Wellen fiegen, das Ruder der einzige Berührungspunkt mit der Wasseroberfäche sein. Unmöglich, ereiferten sich die Zweifler.

Über das Wasser fiegende Foiler – zugespitzt formuliert: Flugzeuge mit nassen Füßen – stehen für die Neuerfndung des Segelns. Zwar sind die Grundlagen dieser Technik bekannt. Aber die unvorstellbar schnelle AC75-K lasse hebt alles auf eine

Es fliegt, es fliegt! Über dem Wasser entscheidet die Aerodynamik.

S„ Allein der Start ist eine eigene Wissenschaft: Es geht langsam los – und dann so richtig ab!“
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GILES SCOTT, CHEF DES TEAMS INEOS BRITANNIA
THE RED BULLETIN 63 INEOS BRITANNIA/C.GREGORY

DAS IST

BRITANNIA AC75 CLASS RACING YACHT

36th America’s Cup (2021) edition

1.

oben

Wenn das dem Wind zugewandte Foil aus dem Wasser gehoben wird, fungiert es als Gegengewicht zur Kipplast der Segel.

2. Foil unten

Im gesenkten Zustand erfüllt das Foil zwei Funktionen: Die horizontalen Teile erzeugen wie Flugzeugflügel Auftrieb, der das Boot aus dem Wasser hebt. Der vertikale Teil verhindert wie ein Autoreifen mit gutem Grip, dass das Boot aus der Spur kommt.

Die meiste Zeit fährt der AC75 auf einem der Foils. Es gibt jedoch Situationen, in denen man beide Foils im Wasser haben will. Das gilt zum Beispiel bei engen Manövern oder vor dem Startschuss, wenn das Boot im niedrigen Tempo in der Luft bleiben soll.

4. Hauptsegel

Anders als bei gewöhnlichen Regattaoder CruisingYachten, bei denen die traditionellen Segel nur eine Oberfläche haben, ist das „zweischichtige“ Segel hinter dem Mast stabiler als herkömmliche Segel. Es ist aerodynamischer und leichter, hergestellt aus Kohlefaser und Kevlar.

5. Ruder Der vertikale Teil steuert das Boot. Der horizontale Teil erzeugt den Auftrieb, um das Heck aus dem Wasser zu hieven. Mit einer Klappe an der Hinterkante können Auftrieb und Widerstand variiert werden.

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DIE INEOS
Foil 3. Beide Foils unten

neue Ebene. Buchstäblich. Mit herkömmlichen Segelbooten haben die Foiling­Raketen – Spitzentempo: an die 50 Knoten (90 km/h) bei 40 km/h Windgeschwindigkeit – nicht mehr viel zu tun. Die neue Boot­Generation hat klappbare Foil­Arme auf jeder Seite des Rumpfs und verzichtet dafür auf den Kiel –das schwere, unter Wasser liegende Rückgrat des Rumpfs, das das Boot normalerweise aufrecht hält und ausbalanciert. Die Folge: Die AC75 sind alles andere als stabil und kippen leicht, sobald das Tempo zu niedrig wird – ungefähr so wie ein Fahrrad.

Doch beim 2021er­Cup war schnell klar: Das Konzept funktioniert. Mehr noch: Segeln hat jetzt mehr mit der Formel 1 gemeinsam als mit altmodischen Yacht­Regatten. Und Team New Zealand beherrscht es so gut, dass das Team 2024 in Barcelona zum zweiten Mal den Titel verteidigen darf, den es 2017 in Bermuda errungen hat. Zum Einsatz kommt dabei ein fast gleiches Boot wie beim letzten Mal. Mit einem kleinen Unterschied: Es ist noch schneller.

Foiling hat auch die Jobs der Crew verändert. Bisher spielte der Steuermann die erste Geige. Sein Einfuss ist noch immer groß, genauso wichtig ist jetzt aber die Rolle des Flight Controller oder Piloten. Er kontrolliert nämlich nicht nur die Foil­Arme, er steuert auch die Position der Flaps (Klappen) an den Auftriebsfügeln. Dafür braucht er ein Händchen für Strömungsdynamik (Wie verhält sich der Monohull, also ein Einrumpfer, im Wasser?) und Aerodynamik (Wie verhält er sich oberhalb der Wasseroberfäche?). Der Flight Controller muss also Segel­ und Flugkunst beherrschen.

Laut Giles Scott, Doppelolympiasieger und Head of Sailing beim britischen America’s­Cup­Herausforderer INEOS Britannia, ist schon der Start mit einer AC75 eine Wissenschaft für sich. Denn anfangs beschleunigt das Boot nur zögerlich, doch dann geht es urplötzlich ab wie ein geölter Blitz. In der kurzen und nicht ganz ungefährlichen Phase zwischen Stillstand und maximaler Power muss jeder Handgriff sitzen. Der Steuermann, der Pilot und die Trimmer (die die Segel für den maximalen Vortrieb optimieren müssen) führen diesen Balanceakt gemeinsam aus. „ Am schwierigsten ist es, das Boot von 6 auf 10 Knoten

(11 auf 19 km/h; Anm.) zu bringen. Von 10 auf 14 (19 auf 26 km/h) wird es einfacher, aber es gibt noch immer einiges zu tun. Und von 14 auf 40 (26 auf 74 km/h) geht es richtig, richtig schnell. Denn in dieser Phase entfalten die Foils ihre Wirkung. Wir können die Segel dichter holen und dadurch noch mehr Power generieren.“

Ganz am Anfang beschränkten die Segler der AC75 die Flugphasen auf die geraden Streckenabschnitte eines Kurses. Jetzt konzentriert man sich darauf, auch durch die Kurven zu fiegen. Und was früher normal war, gilt heute als mittlere Katastrophe: mit dem Rumpf das Wasser zu berühren. In so einem Moment wird die Rakete zur lahmen Ente, denn der Verdrängungswiderstand des Wassers verwandelt den Foiler zurück in ein altmodisches Segelboot. Binnen ein, zwei Sekunden schrumpft das Tempo auf ein Drittel oder Viertel im Vergleich zur Sekunde davor. Und bis das Boot zurück in der Luft ist, geht wertvolle Zeit verloren.

Und da ist noch etwas, was die seltsamen Zwitterwesen – halb Yacht, halb am Kopf stehendes Flugzeug – von ihren Vorgängern unterscheidet: Sie sind zwar schneller denn je, aber außerhalb der Küstengewässer nicht seetauglich. Die AC75 sind nämlich die ersten Boote in der Geschichte des America’s Cup, die dich nicht auf offener See von A nach B transportieren können. Dazu sind sie zu fragil, zu schnell, zu instabil – und das sogar bei ganz ruhigem Seegang. Eine Überquerung des Ärmelkanals? „Das kannst du dir in einem AC75 gleich aus dem Kopf schlagen“, lacht Giles Scott, der olympische Seebär vom Dienst. „Das Ding hätte einen Totalschaden, bevor du die Küstenlinie aus dem Blick verloren hast.“

Die revolutionäre Bootsklasse wird trotzdem das Yacht­Design der Zukunft von Grund auf verändern, davon ist Scott absolut überzeugt. Der schönste Bonus dabei: das Tempo. „Klar, da fährt natürlich das Adrenalin ein, aber mir geht es vor allem um den Delta­Speed“, sagt Scott. Das ist der Tempounterschied zwischen dem eigenen und dem gegnerischen Team. „ Denn das ist das Einzige, was für uns Racer zählt: schneller zu sein als die anderen.“ Und das ganz knapp an der Wasseroberfäche. Und doch wie im Flug.

Alle Infos zum America‘s Cup-Countdown: americascup.com

SO GEHT’S SCHIEF

Das sind die drei schlimmsten Fehler

Kentern

Bevor er in Fahrt kommt, ist der AC75 verdammt instabil, bei niedrigen Geschwindigkeiten kann er sogar kippen. Die Foils stabilisieren das Boot wie Stützräder am Kinderfahrrad.

Nosediving

Wenn man auf dem Fahrrad zu ruckartig bremst, wird man über den Lenker geschleudert. Das ist auf einem AC75 nicht anders. Stellt man die Foils falsch ein, taucht man ab. Bei etwa 90 km/h hat das katastrophale Folgen. Sicherheitsgurte gibt es keine, deshalb trägt die Besatzung auch Schutzhelme und Neoprenanzüge.

Breaching

Manchmal schießt ein AC75 wie ein Killerwal aus dem Wasser. Das sieht zwar spektakulär aus, bremst aber ein und ist verdammt gefährlich. Wie sehr, testete das Team American Magic beim America’s Cup 2021, als eine starke Windböe mitten in einem Manöver die Segel traf und das Boot aushebelte. Der Aufprall am Wasser schlug ein Loch in den Rumpf und brachte das Boot zum Kentern. Glücklicherweise ging es nicht unter, und niemand wurde verletzt.

THE RED BULLETIN 65 INEOS
BRITANNIA/C.GREGORY ALEX PANG, INEOS BRITANNIA
Das Leben als langer gerader Weg: Triathlet Kristian Blummenfelt trainiert in den Bergen nahe der Stadt Bergen.

WOHIN SO EILIG?

THE RED BULLETIN 67
TEXT BRAD CULP FOTOS EMIL SOLLIE
68 THE RED BULLETIN

Kristian Blummenfelt gewann bereits einmal OlympiaGold und den WM-Titel. Aber blickt so etwa jemand, der sich damit zufriedengibt?

Top-Triathlet

of All Time, gilt, kurz: the GOAT. Wie das englische Wort für Ziege. Und Ziege, das ist auch Blummenfelts großes Ziel. Doch einfach nur besser als Frodeno zu sein reichte ihm nicht. Wer der Beste sein will, muss den Besten schlagen. Nicht nur abstrakt in Sekunden, sondern direkt, Meter um Meter, Mann gegen Mann.

Bis zum Mai des Vorjahres war Frodeno der einzige Triathlet in der Geschichte dieses Sports, der sowohl die olympische Goldmedaille als auch den Weltmeistertitel im Ironman gewonnen hat. Wegen der divergierenden Distanzen und des unterschiedlichen Rennstils hielt man das einst für unmöglich. Der olympische Wettbewerb erfordert 1500 Meter Schwimmen, 40 Kilometer Radfahren und 10.000 Meter Laufen. Beim Ironman müssen 3,86 Kilometer schwimmend, 180,2 Kilometer auf dem Rad und eine Marathonstrecke (42,2 Kilometer) laufend bewältigt werden. Frodeno gewann den olympischen Triathlon in Peking (2008) und den Weltmeistertitel im Ironman sieben Jahre später beim zweiten Versuch.

DIn den meisten Sportarten mögen sieben Jahre wie eine Ewigkeit erscheinen, im Triathlon wird diese Zeitspanne als bemerkenswert kurz angesehen – um einen Wettbewerb zu meistern, der nahezu viermal so lang wie der ursprüngliche dauert. Es galt als unwahrscheinlich, dass so ein Kunststück jemals wiederholt wird. Zumindest bis Mai 2021. Denn da gewann Blummenfelt den Weltmeistertitel im Ironman bereits beim ersten Versuch – und das nur neun Monate nachdem er in Tokio die olympische Goldmedaille errungen hatte. Ein immenser Kraftakt, der noch keinem zuvor gelungen war. Doch trotz der Siege, Frodeno bleibt die Ziege.

er Name deutet es bereits dezent an: Das Zentrum der norwegischen Stadt Bergen ist von stattlichen Anhöhen umgeben, sieben, um genau zu sein. Vom Stadtkern kriecht eine Bergbahn, die jede Stunde hunderte Kreuzfahrtpassagiere nach oben transportiert, auf den Fløyen. Doch Kristian Blummenfelt, 29, Ironman-Weltmeister und Olympiasieger im Triathlon, kennt den Gipfel besser als jeder Schaffner – auch wenn er noch nie in die Bahn gestiegen ist. Während der vier oder fünf Wochen, die er jährlich in seiner Heimatstadt verbringt, ist er täglich laufend oder auf seinem Fahrrad am Berg unterwegs. Und praktisch immer regnet es. „Training kann eine wunderbare Balance zwischen Schmerz und Freude sein“, sagt Blummenfelt. Und auch so symbolschwer.

In Gipfelnähe steht eine kleine Scheune, die einer Handvoll Ziegen Unterkunft bietet. Und immer, wenn Blummenfelt daran vorbeiläuft oder vorbeistrampelt, grüßt er den unscheinbaren Verschlag mit „Jan Frodenos Haus“ – in Anspielung auf den 41-jährigen Deutschen, der weltweit als größter Triathlet aller Zeiten, the Greatest

Brutal steil, brutal hart – aber nicht Hawaii Wegen der Sorgen in Sachen Covid und einer stark begrenzten Anzahl von Krankenhausbetten in Kona, Hawaii, dem Zuhause des Wettbewerbs seit 1978, hatten die Ironman-Macher einen der härtesten Kurse ihrer 65 Rennstrecken als Ersatz gewählt – und trugen den Wettbewerb im Mai 2021 in St. George, Utah, aus. Dabei sind Ironman und Kona praktisch untrennbar miteinander verbunden, ähnlich wie die Masters im Golf mit Augusta, Georgia. Und: In St. George fehlte ausgerechnet Frodeno, der beim Training für die Weltmeisterschaft einen Achillessehnenriss erlitten hatte.

In der Zeit nach Tokio hat Blummenfelt den Triathlonsport dominiert. Der Goldmedaille folgten sein erster Titel in der World-Triathlon-Serie und der Erfolg beim Ironman. Er ist der einzige Athlet, der die Goldmedaille und den Weltmeistertitel im selben Jahr gewann. Aber beim Ironman gilt eben: Entweder hast du es in Kona geschafft, oder du hast es nicht geschafft.

Es ist egal, dass Blummenfelts Zeit von sieben Stunden und 49 Minuten in St. George um zwei Minuten schneller war als Frodenos Kursrekord in Kona und

Olympia-Gold hat er, Weltmeister im Ironman ist er. Nun steht auch noch sein ewiger Rivale vor dem Rücktritt.
Kristian Blummenfelt, 29, braucht ein neues Ziel. Wir suchten mit.
THE RED BULLETIN 69

dass es in St. George beim Lauf doppelt so lange bergauf ging. Vom analytischen Standpunkt aus war Blummenfelts Leistung besser als alles, was Frodeno je auf Hawaii geschafft hatte. Allerdings in dessen Abwesenheit.

Doch auch im vergangenen Oktober, als der Ironman wieder heimkehrte nach Kona, gab’s für Blummenfelt nur einen schwachen Trost Hawaii: dritter Platz, drittbeste Ironman-Zeit, die jemals auf den Blumeninseln gemessen wurde. Allein, Jan Frodeno war wegen der langwierigen Folgen eines Trainingsunfalls wieder nicht im Starterfeld; und heuer fndet wegen Terminkollisionen kein Herren-Bewerb auf Hawaii statt; und Frodeno, der siegessatte Rekonvaleszent mit seinen insgesamt drei Hawaii-Triumphen, avisiert im „Spiegel“ für kommendes Jahr sein Karriereende: „Ich will nicht der nächste alte Mann sein, der nicht den Absprung fndet.“

Aber was tun, fragte sich nun Blummenfelt, wenn die Ziege vom Dienst keinen Bock mehr hat? Der Gipfel des Fløyen und seine Scheune liegen zwar weiter auf Blummenfelts täglicher Tour, doch Ziel musste schleunigst ein neues her. So funktioniert Blummenfelt, so funktioniert seine Heimatstadt Bergen, wo, so scheint es, jeder seinen eigenen Berg versetzt.

Zwischen Sehnsucht und Selbstvertrauen

Mit knapp 300.000 Einwohnern ist das an der Südwestküste gelegene Bergen Norwegens zweitgrößte Stadt –und größte Kuriosität. Es gibt hier eine skandinavische Lebenshaltung, die als „hygge“ bekannt ist. Das Wort beschreibt die Sehnsucht, ein Leben in Zufriedenheit zu leben, ohne je laut oder pampig oder egoistisch zu sein. Skandinavier posaunen nicht herum, dass ihre Heimat der beste Platz auf Erden ist, wenngleich ihr das Prädikat „lebenswert“ nach vielerlei Kriterien beständig anhaftet. In Bergen ertönt vor internationalen Fußballspielen des SK Brann Bergen zunächst die Hymne der Stadt, dann erst die Nationalhymne. „Wir reden, als wären wir die tollsten Menschen der tollsten Stadt auf Erden“, sagt Gustav Iden, Blummenfelts Freund und Rivale im norwegischen Triathlon-Team, über die gemeinsame Heimatstadt. „Unser Fußballteam ist wirklich grottenschlecht, gerade noch gut genug für die zweite Liga. Aber wir sagen alle, dass es die größte Fußballmannschaft der Welt ist. Das ist typisch Bergen. Wir haben immenses Selbstvertrauen.“

Und das hat auch Blummenfelt. Auch wenn er eher introvertiert ist und behauptet, dass Dates mit Frauen

das Einzige sind, wovor er Angst hat. „Wenn ich auf ein Date gehe, bin ich nervöser als vor dem Start zu einer Weltmeisterschaft“, sagt er. Am wohlsten fühlt er sich, wenn er voll in seinem Sport abtaucht. Das wären also drei Trainingseinheiten täglich – und in den wenigen freien Stunden die Netzsuche nach allem verfügbaren Triathlon-Content: Denn er liebt Social Media, liest fast alles, was über ihn gepostet wird, und führt sogar Buch darüber, wer an ihn glaubt und wer nicht. Er nimmt das als Motivation. Es verhilft ihm zu seinem TriathlonTunnelblick. Und zu seiner Triathlon-Härte verhilft ihm die Erfahrung der eigenen Biografe.

Der Kleine von der harten Seite Blummenfelt ist das jüngste von drei Kindern, die alle, so scherzen die Teamkollegen, auf der harten Seite von Bergen groß geworden sind. Der Vater war Bauarbeiter, die Mutter Krankenschwester. Beide waren nicht sonderlich sportlich, seinen Vater erlebte der Sohn als starken Raucher. Aber wie bei den meisten norwegischen Familien wurde die Freizeit außer Haus verbracht, mit Wandern, Skifahren und Camping. Schwimmen war der Grund, weshalb sich Kristian in den Leistungssport verliebte. Er war ein guter, wenn auch kein herausragender Schwimmer.

Seine bescheidene Größe begrenzte seine Möglichkeiten im Wasser, aber an Land war er ausgesprochen stark. Im Alter von zwölf Jahren lief er zehn Kilometer in 36 Minuten – eine Weltklassezeit für einen Jungen, der gerade einmal ein Teenager war. Nachdem ein Coach Kristians Talent erkannt hatte, schlug er ihm vor, an einem der ersten Triathlons in Westnorwegen teilzunehmen. Mit vierzehn war er der jüngste der 32 Teilnehmer, holte sich aber dennoch den Sieg. Im chronisch selbstbewussten Bergen erregte das Resultat die Aufmerksamkeit der heimischen Sportakademie.

Roger Gjelsvik kommt auch aus Bergen und ist, einmal geht’s noch, ein Berg von einem Mann. Mit dröhnender Stimme – und einem Auge für talentierte Athleten. Eine seiner vielen Aufgaben war, Athleten mit olympischem Potenzial für die Toppidrett(= Spitzensport)-A kademie im Stadtteil Tertnes zu rekrutieren. „Es war nicht etwas Körperliches, was uns an Kristian auffel – sondern wir erkannten auf den ersten Blick, dass er da oben anders drauf war“, sagt Gjelsvik und deutet auf seinen Kopf. „Er wurde mit einer Hartnäckigkeit geboren, die du nicht lernen kannst. Er ist ein Wikinger.“

Eisernes Training: Kristian Blummenfelt bei einer Laufeinheit am Rande seiner Heimatstadt Bergen

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„Er ist ein Wikinger, geboren mit einer Hartnäckigkeit, die du nicht lernen kannst.“
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Schwimmtraining in Bergen: für einen Spitzenschwimmer zu klein – dafür aber der Größte im Triathlon

Ehe Blummenfelt im Jahr 2010 auftauchte, hatte Gjelsvik keine Triathleten an der Schule. Auch hatte Norwegen nie einen Triathleten zu den Olympischen Spielen entsandt. Aber es gab Schwimmer und Radfahrer und Läufer, also passte Blummenfelt, der kleine Wikinger, perfekt. Das Ziel war einfach, aber ambitioniert: der Gewinn einer Medaille bis spätestens 2020.

Der Sportwissenschaftler und Triathlet Arild Tveiten wurde engagiert, der mit einem schnell wachsenden Trainerstab ein Programm entwickelte, das sich streng an wissenschaftliche Daten und Tests hielt. Was nicht gemessen werden konnte, fog aus dem Programm. Wickie wurde mit einer Unmenge einfacher Rad- und Laufübungen eingedeckt. Nach drei Jahren Ausbildung war er in Europa die Nummer eins bei den Junioren und bereit, sich ganz dem Triathlon zu widmen.

Monumental niederschmetternd

Die Höhentrainingslager in den Pyrenäen und den Alpen erstreckten sich auf Monate, und auch hier säumten immer wieder Ziegen die Trainingsparcours. Vom GOAT war damals zwar noch nicht die Rede, dennoch erreichte die Professionalität im Triathlonbereich ein neues Niveau. Andere Athleten zahlten viel Geld, um internationalen Trainingsgruppen beitreten zu können, die von Trainern mit großen Namen geleitet wurden. Norwegen hielt seine kleine Gruppe zusammen und gab ihr das nötige Geld. Bei den Spielen in Rio (2016) wurde der 22-jährige Blummenfelt Norwegens erster Triathlet, der sein Land bei Olympischen Spielen vertrat. Er erreichte den 13. Rang, als zweitjüngster Mann der 55 Teilnehmer. Für Außenstehende war es die monumentale Leistung eines blutjungen Verbandes. Für Blummenfelt selbst fühlte es sich wie Totalversagen an. Die postolympische Depression, die so viele Athleten befällt, machte auch vor ihm nicht halt. Aber sie erschuf den Superathleten Kristian. In all ihren Dimensionen.

Was die Leute an Blummenfelt besonders verblüfft, ist seine Figur. Mit 173 Zentimetern Körpergröße und 74 Kilo Gewicht ist er für einen außerordentlichen Triathleten außerordentlich schwer. Frodeno zum Beispiel ist 20 Zentimeter größer, aber nicht einmal um einen Kilo schwerer. Blummenfelt hat mit dem lange etablierten Glaubenssatz aufgeräumt, dass lang und schlank der einzig ideale Körpertyp für den Ultra-Ausdauersport ist. Sowohl er als auch seine Trainer betonen, dass der Motor wichtiger sei als die körperliche Hülle.

Auf Blummenfelts Triathlon-Bike prangen in goldenen Buchstaben die Worte „It hurts more to lose“ (Verlieren schmerzt noch mehr). Irgendwann nach Rio wurde es ein Mantra, das ihm zum unwahrscheinlichsten Jahr in der Geschichte des Triathlon-Sports verhalf. Doch zunächst brachten die fünf Jahre zwischen Rio und Tokio mehr Niederlagen als Siege, wie es eben häufg der Fall ist, wenn nur Sekunden über Sieg und Niederlage entscheiden. Sein einziger großer Sieg bei den Vorbereitungen zu Tokio kam im letzten Rennen des Jahres 2019 – das „World Triathlon Grand Final“ in der Schweiz, bei dem er auf der großen Strecke erstmals gewann. Er gehörte nun plötzlich zum kleinen Kreis der olympischen Favoriten.

Am Ende erreichten die drei Norweger im 50 Mann starken Starterfeld den ersten, achten und elften Platz. Als Blummenfelt verlautete, dass er nach seinem Olympiasieg auch Weltmeister im Ironman werden wolle, wurde er im Internet verspottet. In der 44-jährigen Geschichte des Sports hat nur ein Athlet bei seinem Debüt gewonnen. Und nie zuvor hatte einer bei den Olympischen Spielen und im Ironman im selben Jahr brilliert. Aber Blummenfelt und sein Team waren im Besitz wissenschaftlicher Daten, die zeigten, dass sie die drei Teildisziplinen auch über weit größere Strecken als bei Olympia hinlegen könnten. Doch wie ohne ein direktes Duell mit the GOAT selbst zum Größten werden? Da erkannte Kristian Blummenfelt: Seine einzige Chance ist der Weg zurück. Zurück zu kürzeren Distanzen. Und das binnen kürzester Zeit – bis 2024, zu den Olympischen Spielen in Paris.

„Es gibt bisher noch keinen Athleten, der vom Erfolg auf der Langstrecke wieder auf die Kurzstrecke zurückgekehrt ist“, sagt Blummenfelt. „Innerhalb eines Jahres vom Titel in der Kurzdistanz zum Titel in der Langdistanz zu kommen, um dann bis zum kommenden Jahr wieder zur Kurzdistanz zurückzukehren – das wird die größte Erfahrung meiner Karriere, das wird in absehbarer Zeit schwer zu schlagen sein.“

Es ist einer dieser Regentage. Und wieder passiert Kristian Blummenfelt beim Training am Fløyen, seinem Hausberg in Bergen, die unscheinbare kleine Scheune. Er zieht an den arglos wiederkäuenden Vierbeinern vorbei. Blummenfelt weiß: Es sind doch bloß Ziegen. Denn GOAT kann nur einer werden. Es ist einer dieser Regentage. Doch irgendwo hinter den schweren, düsteren Wolken leuchtet das neue Ziel.

Er ist kleiner und schwerer als der Rest. Doch was zählt, ist dieser innere Motor.
THE RED BULLETIN 73

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SKITOUR IN PAKISTAN Asiatisches Wintermärchen mit Bergführer Tom Grant
REISEN, HÖREN, DENKEN, ERLEBEN, FAHREN – UND GRINSEN
THE RED BULLETIN 75 AARON ROLPH

ABFAHRT ASIEN - SÜD

Der britische Fotograf Aaron Rolph suchte eine neue Schweiz. Und fand sie in Pakistan. Hier erzählt er sein Ski-Abenteuer.

Es ist später Nachmittag, ich bin schon seit acht Stunden am Klettern. Ich atme tief durch und wuchte meine Spitzhacke mechanisch ins Eis. An der freiliegenden Westwand des Falak Sar – des höchsten Punkts im pakistanischen Swat Valley, 5957 Meter über dem Meeresspiegel – Halt zu fnden ist ein endloser Kampf. Und mein Körper steht unter ständiger Spannung.

Aaron Rolph, 33, ist ein britischer Outdoor-Fotograf und Skitourengeher. Seine Mission: andere zu Abenteuern zu animieren.

Vor zwei Wochen hat unsere Skitour auf den Falak Sar begonnen. Wir – das sind mein langjähriger Skipartner, der Bergführer Tom Grant, der slowenische Ex­Freestyler und nunmehrige Skitourengeher Bine Žalohar und ich, Aaron Rolph, der britische Abenteurer und Fotograf. Bloody hell! Aber warum Pakistan? Nun, das mag nicht die nächstliegende Destination für einen Skiurlaub sein, hat aber eine der spektakulärsten Gebirgslandschaften der Welt zu bieten. Unser Ziel, Swat Valley, ist Teil des Hinduraj, eines 240 Kilometer langen Gebirgszugs im Süden des berühmten KarakorumGebirges. Das Gebiet wird wegen seiner schneebedeckten Felsformationen samt grünen Ausläufern manchmal auch die „pakistanische Schweiz“ genannt.

Da uns unser Unterfangen weit über die Grenze von 2500 Metern führt, ab der sich für gewöhnlich die Höhenkrankheit einstellt, brauchen wir Zeit, um uns an die dünne Luft zu gewöhnen. Aber als sich überraschend ein Wetterfenster von zwei wolkenlosen Tagen öffnet, kommen wir dennoch überein, die Gelegenheit zu ergreifen – obwohl unsere Akklimatisierung noch nicht abgeschlossen ist.

Schlechtwetterpause im Swat Valley: auf ein Glas Chai in einer Schäferhütte

REISEN
76 THE RED BULLETIN

Wir kämpfen uns zu einem vorgeschobenen Basislager auf 5000 Meter Seehöhe empor. Unsere Köpfe dröhnen –bis wir den Gletscher am Fuße der Spitze erreichen und endlich unsere voll beladenen Rucksäcke abstreifen können.

Beim ersten Tageslicht schälen wir uns aus dem Zelt. Der Nordwind bläst, jedes Stück Haut, das freiliegt, brennt vor Kälte. Als wir die ersten Eisstellen erreichen, greifen wir zu Steigeisen und Pickel. Wadenkrämpfe kommen und gehen, ehe wir endlich eine Passage mit weicherem Schnee erreichen. Das Eis hat mir fast meine gesamte Energie geraubt, zudem ist nur etwa halb so viel Sauerstoff verfügbar wie auf Meeresniveau. Meine Lunge rasselt und schmerzt mit jedem Atemzug.

Noch eine letzte, brutale Steigung, dann sind wir am Gipfel des Falak Sar. Was für ein erhebendes Gefühl! Nach den obligatorischen Fotos schnallen wir uns die Skier an und beginnen die Abfahrt

Lohn für Qual: Aarons Freund Bine Žalohar bei der Abfahrt

unseres Lebens, hinunter über den Kamm, den wir die letzten zwölf Stunden hinaufgeklettert sind. Wir ziehen die ersten Kurven auf dem freiliegenden Steilhang. Stürze sind hier verboten, und wir passen verdammt auf, nicht in den Sluff zu geraten – also jenen lockeren Schnee, der in der Nachmittagssonne immer wieder kleine Lawinen auslöst.

Unser Selbstvertrauen wächst, und innerhalb kürzester Zeit fahren wir Ski, wie sich’s gehört: fröhlich, gelöst, einander immer wieder überholend. Die gesamte Tortur des Aufstiegs – vergessen. Nach 15 Minuten erreichen wir das vorgeschobene Lager, packen unsere Zelte und gleiten weiter hinab, während der Sonnenuntergang die Gletscherspalten in surreales Rosa taucht.

Im Basislager empfängt uns das Team, das uns mit Ferngläsern stets im Auge hatte. Da rundherum wenig Schnee liegt und keine Lawinengefahr besteht, feuert Sattar, unser Koch und Guide,

HINKOMMEN

Mit dem Flugzeug Von Wien gehen täglich Flüge mit Zwischenstopp in Istanbul in die Hauptstadt Pakistans, zum Islamabad International Airport. Der Flug dauert zehn Stunden. Von dort sind es anschließend noch sechs Stunden mit dem Auto ins Swat Valley.

ANKOMMEN

Die Berge hinunter

Im Swat Valley liegt Malam Jabba. Es ist eins von nur zwei Ski-Resorts im Land. Seit 2016 gibt es dort einen 800 Meter langen Sessellift.

Die Berge hinauf

Die ganze Region Kalam ist ein perfekter Startpunkt für Abenteuer in den Bergen, zum Beispiel ausgedehnte Wandertouren. Und dann die Beine hochgelagert

2020 eröffneten PearlContinental Hotels & Resorts (pchotels.com) ein Fünf-Sterne-Hotel in Malam Jabba, wo man sich nach einem actionreichen Tag entspannen kann.

Mehr Infos: visitswatvalley.com

im Hauptberuf Polizist, zur Feier unserer Rückkehr sogar ein paar Schüsse aus seiner Kalaschnikow ab. Und als wir schließlich Kalam erreichen, wartet ein Fest mit traditioneller Musik und Tanz am Lagerfeuer auf uns. Die Menschen hier teilen mit großer Leidenschaft und Offenheit ihre Kultur, und in uns wächst nach Tagen der Kälte ganz langsam dieses wärmende Glücksgefühl: Es gibt Qualen – und Qualen, die sich absolut auszahlen.

Bine (an der Spitze) und Fotograf Tom (dahinter) mit zwei weiteren Touristen kurz vor dem Gipfel

Informationen:

britishadventurecollective.com

Pakistan Falak Sar Islamabad Kalam KHYBER PAKHTUNKHWA
THE RED BULLETIN 77 AARON ROLPH AARON ROLPH

THE SPIRIT OF LÄSSIG

32 Lifte, 12.400 Höhenmeter und 65 Kilometer

Top-Pisten – ein weißes Wunder zwischen Salzburg und Tirol …

Warum Saalbach als „Skicircus“ bezeichnet wird? Weil man hier mit Pauken, Trompeten und heißem Eierlikör das Après-Ski genießt? Auch, aber nicht nur. Das Wintersportgebiet zieht sich über Saalbach, Hinterglemm und Leogang im Salzburger Land bis nach Fieberbrunn in Tirol. Da es rund um das Glemmtal und die Gemeinde Saalbach Hinterglemm angelegt ist, ergibt die Bezeichnung tatsächlich Sinn. Eine runde Sache eben.

Die spannendste Aktivität ist mit Abstand „The Challenge – Ski your limit“. Das ist eine Skirunde mit 12.400 Höhenmetern, 65 Pistenkilometern und rund sieben Stunden Ski-

genuss, der sich einige tausend Wintersportler im Jahr stellen. Besonders kompetitive Gäste gönnen sich bei der größten Skirunde der Alpen mit 32 Liften nicht einmal ein kurzes Mittagessen.

Der Ski-Marathon kann an jeder Seilbahn im Gebiet gestartet werden. Am Ende zählt nur, ob alle 32 Seilbahnen passiert wurden. Das Ganze ist kein Wettrennen, sondern wird oft als Erlebnis im Freundeskreis unternommen. Denn Platz genug gibt es auf den top präparierten Pisten, die zum entspannten Carven einladen.

Dazu gehören auch die Weltcup-Piste in Hinterglemm oder die Steinbergpiste in Leogang. Pisten-Hungrige können die Tour auch aufzeichnen und das Ergebnis als Höhenmeterdiagramm auf skiline.cc einsehen. An den Hauptkassen winkt außerdem eine kleine Belohnung.

G’schmeidiges

Carving auf frisch gegroomten Pisten in Saalbach Hinterglemm Leogang Fieberbrunn

... AUCH AUF

DEINER BUCKET LIST?

Easy up – wild down 70 Liftanlagen eröffnen den Freeride-Fans Tiefschneehänge. Die Routen sind ausgeschildert, an Bergstationen sind LVSCheckpoints installiert. Am Schattberggipfel und am Zillstattlift sind LVS-Suchfelder zu finden, die den Umgang mit dem eigenen LVS-Gerät trainieren.

Food tut gut Zur Stärkung nach den Abfahrten: Die Hausmannskost im Wildalpgatterl in Fieberbrunn sowie der Hirschburger und die Bauchripperl im Spielberghaus in Saalbach haben’s in sich.

Wie sich Freeriderin

Anne Wangler im Tiefschnee sicher fühlt

Doch auch abseits der Pisten lässt sich’s rasant carven: Wer sich etwa ganz dem Backcountry verschreibt, sollte das stets zur besten Tages- und Jahreszeit und mit vollständigem Equipment tun, rät Freeriderin Anne Wangler.

Skibegeisterte Wiedereinsteiger fnden am Hang der Turmwiese in Saalbach faches Übungsterrain, empfehlt Skilehrer Andreas Putz aus dem Glemmtal. Auch der obere Bereich des Bernkogels ist ganz ohne steile Stellen perfekt zu fahren. Für jeden Geschmack das passende Gefälle! Wem gefällt das nicht?

Mehr Infos unter saalbach.com

REISEN
78 THE RED BULLETIN
„ Backcountry nur mit verlässlicher Crew ...“
CHRISTOPH JOHANN, FRANK SHINE

Wir sprechen mit zwölf Expert:innen über die Herausforderung, umweltfreundlich zu essen, zu reisen oder einzukaufen –und welche Fragen uns dabei helfen können, sie zu bewältigen.

Fairsuchen wir ’s mal!

Die neue Podcast-Staffel der Innovator Sessions ist grün hinter den Ohren –jedenfalls, was nachhaltiges Leben betrifft.

Ab sofort

überall, wo’s Podcasts gibt.

Danger Mouse veröffentlichte sein neues Album als Teil der Band Broken Bells. Mehr Infos: brokenbells.com

DAS STREAMING MIT DER MAUS

Der Klangtüftler Danger Mouse produzierte für Adele und Gorillaz. Hier sind die Songs, die ihn prägten.

Der QR-Code führt zur Podcast-Playlist von und mit Danger Mouse auf Spotify.

Brian Burton, auch bekannt als Danger Mouse, hat für die größten Namen produziert, darunter Adele, Gorillaz und die Black Keys. Doch auch als Künstler hat er eine beeindruckende Vita vorzuweisen: Der Solo-Durchbruch gelang ihm 2004 mit „The Grey Album“. Darauf mischte er Gesang aus Jay-Zs „The Black Album“ mit Ausschnitten aus dem „White Album“ der Beatles (1968). Als eine Hälfte von Gnarls Barkley war er für den Riesenhit „Crazy“ im Jahr 2006 mitverantwortlich. Aktuell arbeitet er mit The-Shins-Sänger James Mercer zusammen, die Band heißt Broken Bells. Anlässlich der Veröffentlichung von „Into the Blue“, ihrem dritten Album, hat uns Burton vier Songs verraten, die sein musikalisches Leben prägten.

„Ein wunderschöner Song vom ehemaligen Byrds-Mitglied Clark darüber, wie man sich Menschen nähert, die einem wehtun können. Damit sie einen nicht noch mehr schmerzen, begibt man sich in ihre Obhut. Musikalisch ist das ein Mix aus Country und Gospel, sehr gefühlvoll, mit melancholischer Note. Es ist einfach einer meiner Lieblingssongs. Wer ihn nicht kennt: unbedingt anhören!“

„Ich weiß noch, wie ich auf Tournee das erste Mal ‚Phantom Limb‘ gehört habe. Mein Bandkollege bei den Broken Bells, James Mercer, hat einen einzigartigen Sinn für Klang. Fast wie die Beach Boys kann er einen Song fröhlich klingen lassen, gleichzeitig schwingt so eine Traurigkeit mit. Keine Ahnung, worum’s im Text geht – ich will es gar nicht wissen, so kann ich mir den Song ganz zu eigen machen.“

„Dieser Song der australischen Band The Church gehört zu meinen absoluten Lieblingen. Ich wäre gern ein richtiger Teenager gewesen, als er rauskam, aber ich war erst elf. Trotzdem fühlte es sich an, als hätte ich meinen ersten Herzschmerz erlebt! Der Song strahlt die ganze Melancholie des Jungseins und der unglücklichen Liebe aus. Diese Ära hat mich sehr stark beeinflusst.“

(1969)

„Dieses geniale Cover von Burt Bacharachs ‚Walk On By‘ hat das Gefühl und den Sound meiner College-Zeit bestimmt. Die Soul-Musik, die meine Eltern gehört haben, das HipHop-Feeling, das für meine Jugend wichtig war, und dieses psychedelische Pink-Floydmäßige Zeug, auf das ich damals stand – das steckt da alles drin. Und es dauert zwölf Minuten, ein tolles künstlerisches Statement.“

HÖREN
Isaac Hayes WALK ON BY Gene Clark FROM A SILVER PHIAL (1974) The Shins PHANTOM LIMB (2007) The Church UNDER THE MILKY WAY (1988)
80 THE RED BULLETIN SHERVIN LAINEZ, NIKKI FENIX MARCEL ANDERS

7. MAI 2023

WIR LAUFEN FÜR ALLE, DIE ES NICHT KÖNNEN

WINGSFORLIFEWORLDRUN.COM LAUF MIT UNS

100 % DER STARTGELDER FLIESSEN IN DIE RÜCKENMARKSFORSCHUNG

„ICH BRAUCHE SO VIELE BARRIEREN WIE MÖGLICH“

Nico Langmann ist Tennisprofi – und Rollstuhlfahrer. Hindernisse machen den Wings for Life-Botschafter stark. In unserem Podcast erzählt er, warum.

kann sich durchaus sehen lassen: Er gewann drei Staatsmeistertitel und zwei Junioren­WM­Titel im Doppel und belegt in der Weltrangliste der Rollstuhltennisspieler derzeit Platz 17. Statt Selbstmitleid pfegt Nico die Selbstironie. Doch woher nimmt er die? Hier erzählt er von seiner ersten Therapie in Moskau, die seine Lebenseinstellung prägte:

denn man sollte doch denken, dass man einem querschnittsgelähmten Kind nicht einfach den Rollstuhl wegnehmen darf. Genau das war aber die Einstellung. Also bin ich überall raufgeklettert und hingekrochen. Und ich brachte mir auch bei, wie ich ganz ohne Hilfe in der Küche an die oberste Schublade mit den Süßigkeiten rankam – indem ich mich auf den Herd hievte und von dort weiterkletterte.

Tennisprofi Nico Langmann, 25, über seine frühkindlichen Workouts: „Rehabilitation auf Russisch –das war die absolute Brachialmethode.“

Als er zwei Jahre alt war, erlitt Nico Langmann, heute 25, bei einem Verkehrsunfall eine Rückenmarksverletzung. Seitdem kann der Wiener seine Beine nicht mehr bewegen und spürt unterhalb der Hüfte nichts mehr. Seine Eltern setzten alles daran, ihm eine Rehabilitation zu ermöglichen. Dennoch entschied sich Nico bereits als Teenager dafür, das Beste aus seiner Querschnittslähmung zu machen. Und sein Bestes

„In Österreich kommt man mit einer Querschnittslähmung in ein Reha­Zentrum. Dort lernt man, mit der Situation umzugehen. Nur waren diese Kliniken zu meiner Zeit, also 1999, noch nicht auf Kinder ausgerichtet. Überall, wo meine Eltern anfragten, bekamen sie zu hören: ‚Sucht euch bitte etwas anderes!‘ Fast schon entmutigt, fanden meine Eltern einen Therapieplatz – in Moskau. Dort verbrachten wir ein ganzes Jahr in damals noch sehr sowjetischen Verhältnissen. Niemand konnte Englisch und meine Mutter kein Wort Russisch, wir mussten uns mit Händen und Füßen verständigen. So lernte ich die russische Art der Rehabilitation kennen, eine absolute Brachialmethode: Mit drei Jahren begann ich Gewichte zu stemmen und hart zu trainieren. Das war meine erste ‚Therapie‘.

Diese permanente Herausforderung wurde zur Lebenseinstellung, die ich nach diesem Jahr in Russland auch mit heim nach Wien nahm: Du darfst dir dein Leben nicht so angenehm und barrierefrei wie möglich gestalten. Ganz im Gegenteil! Du musst so viele Barrieren wie möglich haben und lernen, sie zu überwinden. An diese Philosophie hielten sich auch meine Eltern. Bis ich dreizehn war, durfte ich zu Hause keinen Rollstuhl verwenden. Das klingt beinah grausam,

Was ich von all meinen Rosskuren lernte: nicht mit dem Schicksal hadern, sondern lösungsorientiert handeln. Das mache ich auch jedes Jahr beim Wings for Life World Run. Seit 2014 bin ich bei dem globalen CharityLauf dabei. 2023 fndet er am 7. Mai statt. Der Spirit vor Ort ist so unglaublich, weil sich alle gegenseitig pushen und in voller Freude laufen. Es geht darum, Spendengelder für die Forschung zu sammeln, um Querschnittslähmung heilbar zu machen. 2019 habe ich beim Wiener Run 28,7 Kilometer geschafft. Da hatte ich dann aber auch Blasen an den Händen. Ich freu mich schon auf den diesjährigen World Run!“

„Mein erstes Mal“ ist die The Red Bulletin PodcastSerie, in der Athleten über ihre Anfänge sprechen. Zu finden im Kanal von The Red Bulletin – auf Plattformen wie Spotify und auf redbulletin.com/podcast

HÖREN
82 THE RED BULLETIN KONSTANTIN REYER

LESSING RELOADED

Lernen von legendären Geistesgrößen.

Diesmal: Gotthold Ephraim Lessing über den Wert von Toleranz auf Social Media.

Bitte lassen Sie mich zunächst eines loswerden: Was Ihre Zeitgenossen da in diesen sogenannten sozialen Medien veranstalten, das ist, mit Verlaub, ziemlich abgeschmackt. Einander so zu beschimpfen und gegenseitig fertigzumachen, so gehässig miteinander umzugehen – also wirklich!

Technisch mögen eure Umgangsformen ja fortschrittlich sein, geistig aber sind sie es nicht. Da frage ich mich, was aus alledem geworden ist, wofür wir im 18. Jahrhundert, im Zeitalter der Aufklärung, so hart gekämpft hatten: Vernunft, freies, selbstbestimmtes Denken, Abkehr von verstaubten Dogmen – und vor allem: Toleranz im Miteinander.

Schauen Sie, zu meiner Zeit waren die meisten Menschen in den Dogmen der Kirche gefangen. Sie schalteten ihren Verstand ab und folgten

blind dem, was man ihnen sagte. Manchmal scheint es mir, die heutige Welt hätte sich zu diesem Punkt zurückgedreht. Form und Inhalt der Dogmen mögen sich zwar verändert haben, aber sie werden genauso stur gepredigt und hirnlos befolgt wie damals.

Manchmal treten sie als Verschwörungstheorie auf, manchmal als Wissenschaftsgläubigkeit, manchmal als Fundamentalismus, manchmal als Ideologie. All diesem giftigen Zeug ist eines gemein: Jene, die es predigen, fordern für sich Toleranz, sind selbst aber zutiefst intolerant.

Wissen Sie, was mich daran so ärgert? Da wird so getan, als sei man selbst im Besitz der Wahrheit und alle anderen wären verblendete Dummköpfe, die man bekehren müsse. Ha, als ob es so einfach wäre! Da kommt mir doch gleich und nicht ganz zufällig mein „Nathan der

Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) war einer der führenden Köpfe der Aufklärung in Deutschland. Zeit seines Lebens warb er für Toleranz und freies Denken und betonte mit Nachdruck, dass es in Fragen von Religion und Ethik keine endgültigen Wahrheiten geben könne.

Weise“ in den Sinn. Was sagte er doch gleich in seinem großen Monolog, den ich ihm in den Mund gelegt habe? Man solle nicht meinen, die Wahrheit sei wie eine bare Münze, die man einfach so in seine Tasche stecken kann!

Nein, die Wahrheit kann man nicht besitzen. Wahrheit ist, wonach man immer wieder suchen muss, weil man sie niemals endgültig fnden kann. Nicht die Wahrheit, in deren Besitz sich jemand wähnt, macht den Wert eines Menschen aus, sondern die Mühe, die er aufwendet, um nach ihr zu fahnden. Aber dafür muss man eines tun: denken! Dafür muss man bereit sein, seine eigene Meinung von anderen infrage stellen zu lassen. Ja, mehr noch: Dafür muss man sogar bereit sein, sich selbst infrage zu stellen.

Christoph Quarch, 58, beantwortet neue Fragen im Namen der alten Denker. Er ist Philosoph, Hochschullehrer, Gründer der Neuen Platonischen Akademie (akademie-3. org) und Autor zahlreicher philosophischer Bücher, u. a. „Kann ich? Darf ich? Soll ich? Philosophische Antworten auf alltägliche Fragen“, legendaQ.

Und deshalb beginnt die Wahrheit mit der Toleranz, dem Zulassen. Toleranz heißt nicht: „Ist mir doch egal.“ Denn das nennt man Gleichgültigkeit. Toleranz bedeutet vielmehr: „Okay, es könnte sein, dass etwas Wahres dran ist, schauen wir mal …“ Toleranz ist keine Haltung, sondern eine Aufgabe. Eine, die sich immer neu stellt. Sie gedeiht nur dort, wo ich davon ausgehe, dass weder ich noch jemand anderer die Wahrheit für sich beanspruchen kann – und dass es „wahrhaftig“ keinen Grund gibt, rumzupöbeln oder andere zu diffamieren. Diese Lektion müssen heute viele Menschen wieder lernen, vor allem für ihren Umgang mit den sozialen Medien. Deshalb bin ich für eine neue Aufklärung.

DENKEN
THE RED BULLETIN 83 PICTUREDESK.COM,
ULRICH MAYER DR. CHRISTOPH QUARCH

DIE KRAFT DES GRINSENS

Wenn die Muskeln

das Gehirn überlisten: Je verkrampfter du lachst, desto besser fühlst du dich, verrät Profi-Biohacker

Andreas Breitfeld

Was ich mache, wenn sich meine Stimmung zu verfnstern droht?

Wenn mich etwas traurig macht oder ärgert? Ich fange an zu grinsen! Ich begegne Trübsinn mit strahlender Miene – nicht, weil ich von buddhistischer Gelassenheit wäre (ich bin auf dem Weg dorthin, aber noch nicht ganz am Ziel), und auch nicht, weil ich mein Talent für Zynismus auslebe. Ich grinse, und zwar möglichst breit, weil ich als Biohacker weiß, dass Grinsen ein mächtiges Tool ist, um gute Laune zu triggern.

Die dahinterliegenden Regelkreisläufe erscheinen recht einfach und sind gerade deswegen faszinierend: Um ein Grinsen zu produzieren, spannen wir unsere Gesichtsmuskeln an. Über Nervenreize wird das Gehirn über diesen Vorgang informiert: „Hey, die Muskeln A, B, C und D –im Gesicht sind es insgesamt nicht weniger als 17 – sind aktiv!“ Und was fängt das Gehirn mit dieser Information an? Es bleibt ausnahmsweise einmal gedankenlos und

DIE KÜCHE IN DEINEM OBERSTÜBCHEN

Je stärker die entsprechenden Gesichtsmuskeln arbeiten, desto deutlicher erreicht das Fake­Signal das Hirn – und desto zuverlässiger folgt

dessen Reaktion: Die Hormonküche startet ihre Arbeit und setzt Serotonin und Dopamin frei.

hinterfragt sie nicht groß, sondern zieht eine banale Schlussfolgerung, nämlich: Es muss ja einen Grund dafür geben. Denn Grinsen, das ist im Gehirn gespeichert, ist immer mit einer positiven Emotion gekoppelt.

Findet sich kein unmittelbarer Anlass, gerät das Gehirn nicht ins Zweifeln, sondern geht davon aus, es habe den Anlass übersehen, und setzt folgsam die passenden Hormone frei: die mächtigen Glückshormone Serotonin und Dopamin.

Wir haben unser Gehirn mit dem Fake­Grinsen ausgetrickst. Vielleicht nicht besonders nett, aber wirksam: Das Gehirn passt den Regelkreislauf an den Zustand an. Die Laune bessert sich, nach rund einer Minute spürst du erste Effekte.

Hoch mit den Mundwinkeln! Eine Minute Grinsen setzt Glückshormone frei.

Die Biohacking-Praxis ist der Performance­LifestylePodcast für alle, die mehr über Biohacking (und sich selbst) erfahren wollen. QR­Code

BIOHACKING
Andreas Breitfeld, 49, ist Deutschlands bekanntester Biohacker. Er forscht in seinem speziellen Lab in München. Biohacking umfasst, vereinfacht gesagt, alles, was Menschen eigenverantwortlich tun können, um Gesundheit, Lebensqualität und Langlebigkeit zu verbessern. scannen und reinhören.
84 THE RED BULLETIN PRIVAT ANDREAS BREITFELD BRATISLAV MILENKOVIC ´
redbull.com/wingfnder „Meine größte Stärke ist meine Intuition.“ Finde auch du heraus, worin deine wahren Stärken liegen und lerne diese mit gezieltem Coaching auszubauen.
Give wings to your career
Fernanda Maciel, Ultraläuferin

IM WORKFLOW

DER WUCHTELN

Alex Kristan zählt zu Österreichs erfolgreichsten Comedians. Zurzeit ist er wieder auf Tour. Uns erzählt er, wie er sich selbst auf Touren bringt.

Alex Kristan glaubt nicht an Zufälle: „Es fällt einem zu, was fällig ist“, sagt er. Und so kickte ihn sein Trainer damals bei Admira Wacker ganz geschmeidig aus dem Verein, weil das Fußball-Talent des jungen Kristan leider maximal Mittelmaß war. „Das war eine klare Aussage. Aber das ist mir eh lieber als irgendein Herumgeeiere.“

Wir führen unser Gespräch telefonisch. Der Fünfzigjährige ist gerade auf dem Weg nach Oberösterreich zu einem Auftritt mit seinem neuen Programm „50 Shades of Schmäh“ vor rund tausend Menschen. Im Auto mit Freisprechanlage hat er Zeit zum Reden. Aber was isst er da dauernd währenddessen? „Ich esse nicht, ich lutsche Zuckerln!“

Denn zwei Stunden auf der Bühne sind für sein Publikum kurz, für seine Stimme aber lang. Und: „Bei so vielen Leuten musst du vor allem den einen ganz hinten in der letzten Reihe erreichen.“ Aber wie merkt man sich eigentlich sage und schreibe 120 Minuten Text, ohne auch nur ansatzweise einen Hänger zu haben? „Wenn ich das Programm geschrieben habe, lese ich es mir selbst laut vor, nehme das dann auf und gehe damit in den Wald. Sehr, sehr oft! Mit den Ohrstöpseln. Und so studier ich das ein. Laut.“

Die genauen Koordinaten „seines“ Waldes will der gebürtige Mödlinger freilich nicht verraten. Wald ist Wald.

Und G’schäft ist G’schäft. Und Letzteres nimmt Alex Kristan sehr ernst. „Ich versuche immer, aus dem Durchschnitt noch etwas viel Besseres zu machen.“

mit dreißig Jahren beruflich am Grid. Am anderen halt. „Und da musste ich recht schnell überlegen, wie’s jetzt weitergeht.“

Komödiant im dritten Bildungsweg: Alex Kristan auf der Bühne

Nachdem er als Prof-Fußballer foppte, hat er als Formel-1-Reporter angeheuert. Beim Radio. „Super Zeit damals!“ Dumm nur, dass sein Arbeitgeber die Lizenzgebühren irgendwann einmal nicht mehr bezahlen konnte. „Und das hat der Bernie Ecclestone nicht gerne gesehen – dass jemand die Rechnung nicht bezahlt.“ Das Unter nehmen musste in der Folge Insolvenz anmelden. Und Alex stand

Stimmen des Erfolgs

Wenig später startete er schließlich seine Laufbahn als Komödiant – zunächst als Imitator der Stimmen von Niki Lauda, Heinz Prüller und anderen. Kam gut an. Hat die Miete bezahlt. Viel mehr aber auch nicht. „Mein Vorbild war immer der Formel-1-Fahrer Ayrton Senna. Mit welcher Akribie der seinen Job gemacht hat – bewundernswert.“ Spricht’s und lutscht

ERLEBEN
86 THE RED BULLETIN
„Wenn du glaubst, du bist super, bist du’s meistens nicht.“

die dritte Halstablette mit Johannisbeer-Geschmack. „Eigentlich wollte ich immer da hin, wo ich jetzt bin. Ich hab mein Hobby zum Beruf gemacht. Und denk auch gern dreimal um die Ecke, um mein persönliches Mindestmaß an Anspruch zu halten.“

Dafür steht er auch um zwei Uhr nachts auf, weil er eine Idee hat und sie in der Sekunde niederschreibt. Ist für seine Ehefrau – in seinen Programmen liebevoll „Elke“ genannt – nicht immer leicht. Die gemeinsame 15-jährige Tochter bekommt das gar nicht mit.

Hinter der Leichtigkeit der „Wuchteln“, die Alex Kristan auf der Bühne rausschiebt, steckt beinharte Arbeit. Und am Ende tosender Applaus. „Das sind schon Momente, wo ich Glück empfnde, oder sagen wir so: Zufriedenheit.“

Seine stillste Freude

All das Adrenalin, das er über 120 Minuten auf der Bühne und vor ausverkauften Häusern ansammelt – wohin damit, wenn der Vorhang fällt? „Ich geh nach einer Vorstellung noch zum Publikum und plaudere mit den Leuten, mache Selfes und all das. Danach fahre ich meistens mit dem Auto nach Hause, wenn es die Entfernung zulässt. Und da herrscht dann absolute Stille. Ich meine ja: Die Stille ist der neue Luxus.“

Vor ein Uhr nachts kommt Alex Kristan zurzeit jedenfalls nicht ins Bett. Ein weiteres Prinzip, um nicht abzuheben – und der Mann ist über viele Wochen ausverkauft! –, ist seines Erachtens die Demut. „Selbstgefälligkeit ist das Ärgste, was dich bremst. Wenn du glaubst, du bist so super, bist du’s nicht.“ Deswegen glaubt er’s nicht. Und ist’s dafür. Isabella Großschopf

Termine zu „50 Shades of Schmäh“: alexkristan.at

SPRING IN DEN FRÜHLING!

Vier Events zwischen Halfpipe und Vollgas

BIS 17. MÄRZ FREERIDE WORLD TOUR FIEBERBRUNN

Von 11. bis 17. März 2023 hostet der Skicircus Saalbach Hinterglemm Leogang Fieberbrunn den einzigen Stopp der Tour im deutschsprachigen Raum. Seit 2011 ist der Nordhang des Wildseeloders ein Fixpunkt im FWT­Kalender, hier fällt die Vorentscheidung im Kampf um die WM­Titel. Mehr Infos unter fieberbrunn.com

MASTERS OF DIRT

Wehe, wenn sie losgelassen! Die spektakuläre Freestyle­Show mit Motocross, Mountainbike, BMX, Schneemobil und Quadbike steht an – am 4. März in Linz, von 10. bis 12. März in Wien, am 18. März in Salzburg, am 25. März in Innsbruck und am 8. April in Graz. Pyrotechnik und DJ Mosaken machen zusätzlich Stimmung. Tickets: mastersofdirt.com

Zum Spring Battle im Absolut Park in Flachauwinkl treffen sich Freeskiund Snowboard­Profis, um bei diesem Contest ihr Saisonende zu feiern. Die Fahrer haben dabei vier Tage Zeit, an ihren Jumps zu feilen und ihren besten Trick für die jeweilige Kategorie zu zeigen. Mehr Infos unter: absolutpark.com

FEBRUAR FIT MACH MIT!

HYROX ist eine globale Fitness­Challenge, die auch Halt in der Reed Messe Wien macht. Der Wettbewerb besteht aus acht Kilometer Laufen und acht Workouts. Hyrox ist eine offizielle Sportart mit weltweiten Ranglisten und Ergebnissen, bei der eine vergleichbare Bewertung garantiert wird. hyrox.com

BIS 12. MÄRZ IN WIEN 20 JAHRE
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BIS 10. MÄRZ SPRING BATTLE
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Mat Rebeaud bei Masters of Dirt 2022 ADRIAN RIGELE, MATEUSZ SZACHOWSKI/MASTERS OF DIRT, ERIC WITTKOPF/HYROX

VOLVO EX90

BURG MIT ANTRIEB

Der große E-SUV aus Schweden ist wie seine Verbrenner-Kollegen gewissermaßen von innen nach außen gebaut: Hauptsache, allen sieben (!) Insassen geht es gut dank edler Materialien, 3D-Surround-Sound und Sicherheitssystemen, die mit 8 Kameras, 5 Radars und 16 Ultraschall-Sensoren auf das Wohl der Passagiere aufpassen.

Leistung: 408 PS / 300 kW, 770 Nm, Reichweite: 600 km, € 102.600,–

ÖKO ODER CLASSICO?

Mein Nächster wird ein Hier ein paar mobile Möglichkeiten zwischen Benzin und Diesel, Elektro und Hybrid. Sechs Seiten als kleine Starthilfe.

POLESTAR 2 BST EDITION 270

KOMPROMISSLOS

Was, wenn man ein E-Auto nach allen Regeln der Kunst verfeinern könnte? Ganz ohne Kompromisse, als Kleinserie in Handarbeit? Dann kommt das heraus: ein (vorerst) auf 270 Exemplare limitiertes Modell mit SoftwarePerformance-Upgrade, verstellbarem Öhlins-Fahrwerk und für Polestar untypischer grimmiger Optik. Fast ausverkauft! 476 PS / 350 kW, 680 Nm, Reichweite: 462 km, ab € 76.900,–

FAHREN ELEKTRO
88 THE RED BULLETIN
TEXT WERNER JESSNER

VW ID.BUZZ STROMLADER

Wenn Bulli-Charme auf den aktuellen Stand der E-Technologie trifft, ist ein Bestseller programmiert – zumal es im Moment kein praktischeres E-Auto am Markt gibt. Selbst bei kompletter Bestuhlung bleibt hinten mehr als ein Kubikmeter Laderaum frei. Geht es gar rein um den Nutzwert, ist die Transporter-Variante „Cargo“ eine interessante Option. 204 PS / 150 kW, 319 Nm, Reichweite: 417 km, ab € 70.863,–

THE RED BULLETIN 89

AUDI Q8 SPORTBACK E-TRON INGOLSTADT, EXTRASCHARF

Es gibt immer was zu tun: Die nachgeschärfte Version von Audis ElektroFlaggschiff kommt mit mehr Batteriekapazität, höherer Ladeleistung und frischem Exterieur, wobei besonders auf die Aerodynamik geschaut wurde. Drei Varianten mit bis zu 370 kW stehen im Angebot. Ehrensache: Eher wird der Rücken mürbe als der Akku leer. Ab 340 PS / 250 kW, ab 664 Nm, Reichweite: bis 600 km, ab € 59.990,–

ID.7 ANHEIZER

Der Passat-Nachfolger wird rein elektrisch. VWs Elektro-Topmodell basiert wie seine Brüder auf dem „Modularen Elektro-Baukasten“ (MEB), teilt sich also die Architektur mit ID-Buzz & Co. Allerdings: mehr Radstand und Reichweite. Die Klimaautomatik erkennt, wenn der Fahrer kommt – und heizt oder kühlt vor. 204 PS / 150 kW, 319 Nm. Reichweite: 700 km. Ab Frühjahr 2023.

MERCEDES EQE SUV REISEFÜHRER

2023 kommt der bislang als Limousine bekannte EQE auch als hochgestelltes SUV und übersetzt die bekannten Qualitäten auf eine höhere (Sitz-) Ebene: keine Kompromisse bei Konnektivität oder Assistenzsystemen, langstreckentaugliche Akustik und Reichweite plus natürlich Kofferraumvolumen im Großformat. 292 PS / 215 kW, 565 Nm, Reichweite: 590 km. Ab Frühjahr 2023.

BLADE RUNNER

Der Name des chinesischen Newcomers ist das Kürzel für „Build Your Dream“. Dieser kann zum Beispiel ein gefälliges Kompakt-SUV mit Frontantrieb sein, voll am Puls der Zeit bei Sicherheit, Konnektivität und technischen Features. Besonders fortschrittlich sind die schmalen „Blade“Akkuzellen, die Teil der Karosserie sind. 204 PS / 150 kW, 310 Nm, Reichweite: 420 km, € 42.600,–

VW
ELEKTRO 90 THE RED BULLETIN

ABARTH 500E SCORPIONISSIMA SCHNELLER ALS VERBRENNER

Auf 1949 Stück limitiert ist der elektrische Abarth – eine Reverenz an das Gründungsjahr der Fiat­Tochter. Alcantara innen trifft auf Acid Green oder Poison Blue außen und einen E­Motor, der den benzinbetriebenen Bruder bei der Beschleunigung in allen Bereichen aussticht – und wie! Beispiel: 7 Sekunden von 0 auf 100 km / h. 155 PS / 113 kW, 235 Nm, Reichweite: 250 km, € 43.000,–

ŠKODA ENYAQ COUPÉ RS IV E - MOTION IM ALLTAG

Es ist ein klares Zeichen, wenn der stärkste (Serien-)Škoda ein Elektriker ist: Das Enyaq Coupé gibt es nun auch als sportliche RS-Variante mit bildschönen Sportsitzen und Schaltwippen zur Justierung der Energie-Rückgewinnung. Genauso kompromisslos ist seine Alltagstauglichkeit: Wien–München nonstop? Kein Problem!

299 PS / 220 kW, 460 Nm, Reichweite: 513 km, ab € 70.095,60

KIA EV9 RANGE LOVER

Im dritten Quartal 2023 kommt das große E­SUV von Kia, ein mächtiges Auto mit fast fünf Meter Länge. Da lassen sich nicht nur viele Speicherzellen unterbringen, sondern auch drei Sitzreihen. Dazu Heck­ oder heckbetonter Allradantrieb, autonomes Fahren auf Level 3 und ein riesiges Innenraum­Display. 223 PS / 164 kW bzw. 326 PS / 240 kW, Reichweite: 600 km, Preis steht noch nicht fest.

FAHREN
„ Die Mobilität der Zukunft ist zweifelsohne elektrisch: Um sie in die Breite zu bringen, braucht es neben innovativen E - Modellen auch eine gut ausgebaute Ladeinfrastruktur und deutlich mehr Grünstrom.“
Markus Tatzer, GF Moon Power
THE RED BULLETIN 91 FOTO FLAUSEN

ALPINE A100 R LIFE IS LEICHT

Wenige Autos machen in Kurven mehr Spaß. Für die neue „R“-Version wurden die Alpine-Talente – punktgenaues Handling, direktes Feedback – nachgeschärft, ist sie doch 34 Kilo leichter als das Standardmodell. Ebenfalls neu gezeichnet: Motorhaube, Heckscheibe und Diffusor, wodurch man die R-Version auf den ersten Blick als solche erkennt. 300 PS / 221 kW, 320 Nm, Verbrauch: 11,3 l, € 112.000,–

Wenn es das Auto deiner Träume nicht mehr gibt, baust du es selbst! So wie Sir Jim Ratcliffe, Chef des Chemiekonzerns Ineos, nach Auslaufen des Land Rover Defender. Der Grenadier, benannt nach Sir Jims Stammpub, hat uneingeschränkte Offroad-Tauglichkeit und vertraut beim Antrieb auf BMW-Komponenten. Ab sofort am Red Bull Ring zu fahren! 286 PS / 210 kW, 450 Nm, Verbrauch: 14,4 l, € 76,790,–

FORD RANGER

TOTAL TRAGFÄHIG

Vom Arbeitstier hat sich der Pick-up zum tragfähigen Fahrzeug für alle Lebenslagen hochgearbeitet. Kein Modell illustriert das besser als Fords Ranger, bestverkaufter Pick-up im Land. Ob Einzel-, Doppel- oder ExtraKabine, die Nutzlast beträgt stets mehr als eine Tonne, die Diesel-Power wird optional von einer ZehngangAutomatik gebändigt. 170 PS / 125 kW, 405 Nm, Verbrauch: 8,4 l, € 45.400,–

Galt schon sein Vorgänger als ultimative Fahrmaschine, verspricht sein Nachfolger, ab Frühjahr noch eine Schaufel draufzulegen: 460 PS aus einem Dreilitermotor werden auf reinen Heckantrieb treffen. Schon die brachiale Optik zeigt, dass es hier ums angewandte Schnellfahren gehen wird – eine Vermutung, die Gewindefahrwerk, Carbon-Schalensitze und Drift Analyzer am Infotainment-Bildschirm unterstützen. 460 PS / 338 kW, 550 Nm, Verbrauch: 9,7 l, € 88.000,–

VERBRENNER
„ Das angekündigte Verbrennerverbot verunsichert. Trotz steigender Auswahl an E - Autos dominieren 2023 sparsame und teilelektrifizierte Benziner und Diesel. Fahrzeuge werden länger gefahren, die Nachfrage am Gebrauchtwagenmarkt wird hoch bleiben.“
INEOS
VOM PUB ZUM RING
Oliver Schmerold, ÖAMTC-Direktor
GRENADIER
BMW M2 M WIE MACHT
92 THE RED BULLETIN ÖAMTC/APA-FOTOSERVICE/HÖRMANDINGER

HYBRID

DAS MANTA - MANTRA

Seit sich Opel mit der „Vizor“-Optik an den Ur-Manta anlehnt, gewinnt die Marke wieder Traktion. Technisch war kaum je etwas auszusetzen, das hat sich mit dem Wechsel von GM zum Stellantis-Konzern nicht geändert. Als Fünftürer ist der Astra zusätzlich praktisch, sein Antrieb tadellos, seine Ausstattung pfiffig und hochwertig. 180 PS / 133 kW, 360 Nm, Reichweite: 67 km (elektrisch), € 39.149,–

CUPRA FORMENTOR E-HYBRID UND DER STROM KOMMT AUS DEM HANDY

HONDA CIVIC E:HEV GANZ AUTO - NOM

Vollhybride versprechen – im Gegensatz zu Mild-Hybriden – mehr Effizienz. Das Auto wechselt je nach Situation von selbst zwischen Verbrenner- und E-Antrieb, wobei der Akku nicht per Steckdose, sondern über den Benzinmotor und Brems-Rekuperation geladen wird. Honda ist Pionier, und der brandneue Civic überzeugte bei ersten Testfahrten. 184 PS / 135 kW, 315 Nm, Verbrauch: 4,7 l, ab € 32.790,–

Dass Cupra die Sportmarke bei Seat ist, sollte sich mittlerweile herumgesprochen haben – zumindest liegt diese Vermutung nahe, wenn man sich das aktuelle Straßenbild ansieht. Am Puls der Zeit ist der Formentor mit seiner Kombination aus 1,4­Liter­Benzin­ und E­Motor für 59 km. Praktisch: Laden über die Cupra­Handy­App. 204 PS / 150 kW, 250 Nm, Reichweite: 59 km (elektrisch), € 42.040,–

JAHRE SUZUKI VITARA FÜR IMMER JUNG

Sind wir wirklich schon so alt? Scheint so, denn der Suzuki Vitara feiert bereits seinen 35. Geburtstag. Und das tut er in aller Frische mit zwei Hybrid-Motoren, wobei beim 1,4 die E-Unterstützung durch den StarterGenerator erfolgt, der 1,5 hingegen ein Vollhybrid ist. Allrad-Kompetenz versteht sich beim Vitara von selbst. Ad multos annos! 115 PS / 85 kW, 138 Nm, Verbrauch: 5,8 l, € 31.990,–

FAHREN
35 OPEL ASTRA 5-TÜRER HYBRID
THE RED BULLETIN 93

Menge an Spermien, und wenn die aufgebraucht sei, könne der Mann keine Kinder mehr zeugen. Zur selben Zeit bezeichnete der Papst die Geburtenkontrolle mithilfe der Antibabypille als „immer unerlaubt“. Zur selben Zeit durften Frauen in der Schweiz nicht wählen. – Das ist alles lange her. Aber eigentlich ist es nicht lange her.

Und zu ebendieser Zeit eröffnete eine Frau in der deutschen Provinzstadt Flensburg den ersten Sexshop der Welt: Beate Uhse. Die Produkte in ihrem Geschäft wurden vorsichtshalber „Mittel zur Ehehygiene“ genannt. Das meinte Reizwäsche ebenso wie Kondome oder Aufklärungsbücher – Aufklärung hauptsächlich für Männer, denn über weibliche Sexualität wurde in der damaligen Zeit meist nur in abwertender, ordinärer Weise gesprochen. Weibliche Lust wurde oft als ekelhaft und hurenhaft denunziert. Dass ausschweifende Begierde schön und harmoniefördernd sein und sogar die Scheidungsrate senken könne, das wurde in den ersten Broschüren in dem Shop von Beate Uhse verkündet. Der Erfolg war gewaltig. Männer – am Beginn waren es nur Männer –, die den Laden betraten, taten das zwar mit gesenktem Kopf und hochgestelltem Kragen, sprachen mit dem Verkäufer – am Beginn waren nur Männer als Verkäufer angestellt – oftmals mit verstellter Stimme, aber sie kamen. Und immer mehr kamen. Und sei es auch nur, um sich die Bilder in den diversen Heften anzusehen. Flensburg allein genügte bald nicht mehr.

Michael Köhlmeier

erzählt die außergewöhnlichen Geschichten inspirierender Figuren – faktentreu, aber mit literarischer Freiheit.

MUTTER CORSAGE

Folge 33: Beate Uhse entstaubt die Moral und wird mit Sexshops reich.

Es gab eine Zeit, da waren in den Badeanstalten von Vorarlberg Bikinis verboten. Zur selben Zeit war „Das Schweigen“, ein Meisterwerk des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergman, in den Kinos ebendieses Bundeslandes verboten. Zur selben Zeit war es in ganz Österreich für eine Frau verboten, ohne die ausdrückliche Zustimmung ihres Ehemannes einen Beruf zu ergreifen. Zur selben Zeit war Homosexualität in Österreich verboten. Zur selben Zeit warnten katholische Geistliche pubertierende Buben davor, zu onanieren, denn der Körper speichere nur eine bestimmte

Beate Uhse, die Frau, die es gewagt hatte, ein granitenes Tabu zu brechen, war damals dreiundvierzig Jahre alt, und sie hatte bereits eine ungewöhnliche Karriere hinter sich. Eigentlich müsste es heißen: mehrere Karrieren. Als Teenager wollte sie Sportlerin werden, mit fünfzehn war sie hessische Meisterin im Speerwerfen. Sie sei auch eine gute Läuferin gewesen, eine gute Weitspringerin, eine besonders gute Seglerin und eine Schwimmerin dazu. Warum sie sich ausgerechnet auf den Speerwurf konzentriert habe, wurde sie später einmal gefragt. Sie habe sich für alte Sagen interessiert, sagte sie, am meisten habe sie die Geschichte der Amazonen begeistert. Bogenschießen wäre noch infrage gekommen, aber dieser Sport sei für Frauen nicht angeboten worden. Also der Speer.

Sie stammte aus einer freidenkerischen Familie. Ihre Mutter gehörte in Deutschland zu den ersten Ärztinnen, ihre Praxis in einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Kiel sei immer voll gewesen, hauptsächlich Frauen hätten sich von ihr behandeln lassen, bis von Hamburg herauf seien sie gekommen, manche sogar von Berlin. Beate und ihre Schwester wurden so erzogen wie ihr Bruder, das war zu dieser Zeit mehr als ungewöhnlich. Die Eltern klärten die Kinder früh auf, sprachen über Sexualität ohne Vorurteil und Tabu. Wenn sie sich mit Gleichaltrigen unterhalten habe, erzählte Beate Uhse, sei sie sich vorgekommen, als wäre sie aus einer anderen Welt hier gelandet. Sie habe sich nicht getraut, über Sexualität zu sprechen, nicht aus Prüderie, sondern weil sie nicht gewusst habe, was als unanständig empfunden werde und was nicht, sie

BOULEVARD DER HELDEN
94 THE RED BULLETIN
MICHAEL KÖHLMEIER GINA MÜLLER, CLAUDIA MEITERT GETTY IMAGES (7)

wollte als „junges Ding“ keine Außenseiterin sein, sie habe in der Sexualität nie etwas Unanständiges gesehen, sie habe gedacht, sie sei zwar in puncto Liebe, aber nicht in puncto Unanständigkeit von ihren Eltern genügend aufgeklärt worden.

Ob sie wollte oder nicht, sie war eine Außenseiterin. Und später fand sie daran Gefallen. Sie war erst siebzehn Jahre alt, da beschloss sie, Pilotin zu werden. Gegen massive Widerstände, aber mit Unterstützung ihrer Mutter, setzte sie durch, dass ihr an der berühmten Fliegerschule Rangsdorf in Brandenburg wenigstens zehn Flugstunden gewährt wurden. Ihr Vorbild war Charles Lindbergh, der hatte 1927 als Erster im Alleinfug den Atlantik überquert. An ihrem achtzehnten Geburtstag bekam sie den Flugzeugführerschein überreicht. Ein hoher Politiker aus Berlin soll den Ausbildnern in Rangsdorf dringend geraten haben, mit niemandem darüber zu sprechen, sonst könne das andere Frauen ermutigen, ebenfalls in Männerberufe vorzudringen. Beate wurde von einer Flugfrma als Pilotin eingestellt, während des Krieges fog sie Einsätze mit einer Messerschmitt und einer Focke-Wulf. Im Oktober 1944 wurde sie zum Hauptmann der Luftwaffe ernannt.

Über diese Zeit wollte sie später nicht sprechen. Weil sie ein Vorbild für die Emanzipationsbewegung der Frau sei, werde darauf verzichtet, ihre Zeit während des Nationalsozialismus näher zu beleuchten, wurde mehrfach kritisiert. Die von Alice Schwarzer gegründete Zeitschrift „Emma“ brachte die Kritik auf den Punkt: „Beate Uhse ist eine Emanze. Eine, die sich auf Kosten von Frauen emanzipiert und es mit Kerlen hält. Eine, die alles kann und alles tut. Eine, die immer dabei ist. An vorderster Front. Seite an Seite kämpft sie mit den Kameraden. Im Nazi-Krieg wie im Sex-Krieg. Gestern mit Bomben. Heute mit Pornos.“

Nach dem Krieg wurde Beate Uhse von den Besatzungsmächten verboten, weiter ihren Beruf als Pilotin auszuüben. Sie war als Nazi-Frau gebrandmarkt. Diesen schändlichen Ruf wollte sie loswerden. Man kann einen schlechten Ruf am besten loswerden, indem man sich einen noch schlechteren erwirbt. Das ist eine Weisheit, die sich nur mit Erfahrung erwerben lässt. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren bis in die Umbruchzeit der Studentenbewegung, für die das Jahr 1968 steht, wog der Ruf, ein Nazi gewesen zu sein, weniger schwer als jener, jemand zu sein, der offen über Sexualität spricht, der offen über Lust spricht. Und wenn dieser Jemand noch dazu eine Frau war, dann stand der Skandal in voller Blüte. Noch immer, vor allem auf dem katholischen Land, herrschte die Doktrin, die Sexualität, ganz gewiss aber die weibliche, diene ausschließlich der Fortpfanzung.

Beate Uhse gab eine Broschüre heraus, in der offen und pragmatisch über Verhütung diskutiert wurde, besonders über die Kalendermethode, eine Broschüre, in der den Frauen empfohlen wurde, mit ihrem Mann offen und lustvoll über Methoden des Coitus interruptus zu sprechen, und dass es viele Arten gebe, einander zu befriedigen. Die Broschüre – Beate Uhse nannte sie reißerisch „Schrift X“ – wurde für 50 Pfennig vertrieben und war ein unglaublicher Erfolg. Die wirksamste

Werbung war – wie so oft in ähnlichen Fällen – die Verteufelung. Von den Kanzeln herab wurde gegen die Verkommenheit gewettert. Verhütung ist Sünde! Aber die soziale Lage in jenen Jahren erlaubte es vielen Ehepaaren nicht, eine Familie zu unterhalten, wie sie den strengen Kirchenmännern vorschwebte. Mehr als zwei Kinder konnten sich viele Familien nicht leisten. Aber auf Sexualität verzichten wollten Männer und Frauen nicht. Also machte man sich kundig – mit gesenktem Kopf, hochgestelltem Kragen und verstellter Stimme.

Michael Köhlmeier

Der Vorarlberger Bestsellerautor gilt als bester Erzähler deutscher Zunge. Zuletzt erschienen: der Roman „Matou“, 960 Seiten, Hanser Verlag.

Von nun an wurde von Beate Uhse nicht mehr als der Nazi-Bomberin gesprochen, sondern als der „Mutter Courage des Tabubruchs“. Und das war positiv gemeint. Die Mutter Courage war spätestens seit dem Theaterstück von Bertolt Brecht eine Heldenfgur der Nachkriegszeit. Sie war eine, die mitgemacht hatte, die vom Krieg proftiert hatte, die aber getan hatte, was jeder an ihrer Stelle tun würde, nämlich sich selbst und ihre Kinder durch eine schwere Zeit zu bringen. Manche meinten, Frau Uhse habe diese Bezeichnung sehr gefallen, andere mutmaßten, sie selbst sei es gewesen, die sie in Umlauf gebracht habe. Eine gute Geschäftsidee war es allemal.

Die Eröffnung des ersten Sexshops in Flensburg war minutiös geplant. Es war mit Protesten zu rechnen. Der Volkswartbund, VWB, hatte Aktionen angekündigt. Es war dies eine Vereinigung der katholischen Kirche, die Niederlassungen in der ganzen Bundesrepublik unterhielt. Ihr Anliegen war es, in Presse und Film nach Unsittlichem zu suchen und es anzuprangern. Frau Uhse verlegte die Öffnung ihres Sexshops auf den Heiligen Abend, weil sie meinte, am Tag des Friedens und der Versöhnung werde sich die Wut der „braven“ Bürger in Grenzen halten. Ihr Anwalt befürchtete, es könnte zu Übergriffen bis zur Zerstörung des Geschäftes kommen. Das geschah nicht. Der VWB aber erstattete Anzeige, und immerhin gelang es ihm, dass viele Artikel aus dem mit rosa Neonschrift beleuchteten Geschäft verboten wurden, nämlich solche Artikel, die „der unnatürlichen, gegen Zucht und Sitte verstoßenden Aufpeitschung und Befriedigung geschlechtlicher Reize“ dienten. Lange hielt das Verbot nicht.

Der Podcast Michael Köhlmeiers Geschichten gibt es auch zum Anhören im The Red BulletinPodcast-Kanal. Zu finden auf allen gängigen Plattformen wie Spotify, auf redbulletin.com/ podcast oder einfach den QR-Code scannen.

Mit der sexuellen Befreiung, als Folge der 68erBewegung, legte sich die Aufregung, die Sexshops der Beate Uhse gehörten bald zum Bild der Einkaufsstraßen aller großen Städte in der Bundesrepublik Deutschland. Beate Uhse wurde endlich als eine der bedeutendsten Unternehmerinnen des Landes anerkannt und geehrt. Sie selbst verneigte sich vor ihren „Befreiern“, als sie 1970 das später legendäre Loveand-Peace-Festival auf der Ostseeinsel Fehmarn sponserte – bei dem übrigens Jimi Hendrix das letzte Mal auftrat, zwölf Tage später starb er.

Schließlich bekam Beate Uhse das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen, und – was sie noch mehr freute – zu ihrem achtzigsten Geburtstag wurde sie gebeten, sich in das Goldene Buch der Stadt Flensburg einzutragen. Am 16. Juli 2001 starb Beate Uhse, eine der umstrittensten Persönlichkeiten nach dem Krieg, im Alter von einundachtzig Jahren.

THE RED BULLETIN 95

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