SchreibRÄUME 1/2023

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MAGAZIN FÜR JOURNAL WRITING, TAGEBUCH & MEMOIR

ÜBER THEMA GRENZEN HINWEG SCHREIBEN

1/2023

„Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“, schrieb der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein in seinem Tractatus logico-philosophicus. Wenn wir schreiben, wenn wir auf dem Papier nachdenken, loten wir die Grenzen unserer Sprache und unserer Welt aus, wir erweitern sie, wir spielen mit ihnen, wir stellen Grenzen in Frage.

Das Thema der Grenzen mit seinen vielen Aspekten und seiner politischen, philosophischen, geografischen, kulturellen Dimension hat uns als Thema für das aktuelle Magazin fasziniert und neugierig gemacht. „Über Grenzen hinweg schreiben“ ist auch das Thema des diesjährigen zweiten Personal-Writing-Onlinekongresses, der am 24. und 25. März 2023 stattfindet. Viele der Vortragenden, die zu ihrer beruflichen oder persönlichen Sicht auf das Thema „Grenzen und Schreiben“ sprechen, sind auch Autor:innen in dieser Ausgabe der SchreibRÄUME.

Grenzen geben Sicherheit, einen Rahmen, sind Schutzwälle – genauso können sie aber auch Grenzen im Kopf erzeugen, einschränken und Angst machen. Für Schreibende sind sie ein aufregendes Experimentierfeld, etwa wenn wir auf Reisen über andere Kulturen und Länder schreiben, uns schreibend über gedankliche Grenzen hinwegsetzen und auf dem Papier Unmögliches möglich machen.

In dieser Ausgabe geht es zudem um die Beziehung von Schreiben und Wandern, um ein Schreibcafé hinter den Mauern eines Gefängnisses, um das Beschützen unserer individuellen Grenzen.

Deborah Ross erläutert neurowissenschaftliche Erkenntnisse, wie wir schreibend Grenzen im Kopf auflösen, Alexander Grei ner lässt in seinem Essay an seiner Erfahrung teilhaben, durch eine Krebsdiagnose eine markante Grenze vor Augen zu haben: den möglichen nahen Tod. „Wo persönliche Hilfe fehlt, wo noch Scham spürbar ist, wo der Drang zum Schreiben ist, wo die Stille Halt gibt, können Worte ein Kraftort sein“, schreibt er.

Ana Znidar gibt uns Einblicke in ihr Travel Writing Schreiben auf Reisen, in ihr Wechseln zwischen Sprachen, Ländern und Kulturen.

Die Illustrationen stammen diesmal von der Wiener Künstlerin Sandra Biskup, die besonders gerne auf Reisen zeichnet – sozusagen über Grenzen hinweg. Das und noch mehr erwartet Sie in dieser Ausgabe der SchreibRÄUME.

Wir wünschen Ihnen grenzenloses Lesevergnügen,

EDITORIAL
MICHAELA MUSCHITZ JULIA RUMPLMAYR

GRENZEN ÜBERWINDEN

05 Travel Writing. Reisend und schreibend Grenzen überwinden Ana Znidar

12 Mit dem Stift über Mauern fliegen. Ein Schreibcafé im Gefängnis Angelika Knaak-Sareyko

16 Mit dem Tagebuch Zeitgrenzen überwinden Janina Pollak

25 Lasst uns die Grenzen sprengen! Gesine Hasselmeier alias Friederike Hermanni

32 FÜR EUCH GELESEN

GRENZEN KREATIV BETRACHTET

35 Am Platz der anderen schreiben Susanne Buchberger & Ute Habenicht

43 Biografien für alle Claudia Riedler-Bittermann

48 Let’s adore Jelinek! Let’s praise Ernaux! Ba Ossege

55 Um Erfolg zu haben, musst du über Grenzen gehen Interview mit paper republic

60 Worte suchen Bilder suchen Worte Ruth Schneidewind

63 PORTRÄT SCHREIBRAUM Ute Habenicht

GRENZEN ERKENNEN

65 Es ist passiert Alexander Greiner

71 Ja zu mir selbst Carola Kleinschmidt

76 Die Grenzen Phantasiens / Humorapotheke Evi Hammani-Freisleben

GRENZEN NUTZEN

79 Pen And Page: Our Passport Deborah Ross

87 Über Grenzen hinweg schreiben, reden, hören, erkennen Gundi Haigner

93 Mit oder ohne Ziel: Schreibwandern als Kreativtechnik Ilona Matusch

99 My Favourite F-Words Daniela Reiter 107 PORTRÄT ILLUSTRATORIN Sandra Biskup 108 Impressum, Vorschau
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TRAVEL WRITING

Reisend und schreibend Grenzen überwinden

Von Wien auf der A2 über den Wechsel Richtung Süden unterwegs. Unzählige Male fuhr ich diese Strecke hin und zurück in den letzten 25 Jahren. Die ersten 20 Jahre mit dem Zug. Meine Ziele: Maribor, Ljubljana, Zagreb. In den letzten Jahren mit dem Auto, um meine Großmütter in Slowenien und Kroatien an Orten zu besuchen, die man nicht so leicht mit dem Zug erreichen kann, oder um mit all meinen Workshop-Unterlagen nach Piran zu kommen. Oder um mein ganzes Büro und halbes Leben auf die Insel Brač umzusiedeln.

ANA ZNIDAR

Vier Stunden dauert die Fahrt zu der einen Oma über die Grenze nach Slowenien und genauso lange fahre ich von Wien über zwei Grenzen zu meiner baka nach Kroatien. Nur vier Stunden, und doch sind die Welten und die Erinnerungen, in die ich da eintauche, für mich wie Lichtjahre entfernt. In meiner Kindheit, im Sozialismus, fuhren wir oft ehrfürchtig bis fast ängstlich über die Grenzen: Immerhin hatten wir, auch wenn es harmlose Sachen waren, immer was Verbotenes im Auto: meistens Schokolade und Kaffee. Und auch wenn nicht, blieb diese Angst, dass man irgendwie „erwischt wird“, noch lange.

Meine Großmutter hat zwei Weltkriege und den Jugoslawien-Krieg erlebt. Obwohl sie ihr kleines Dorf nie verlassen hat, hat sie in fünf verschiedenen Staaten

gelebt. Als Kind war es mir nicht bewusst, was für einen Schatz ihre Erinnerungen und Erzählungen darstellen – für mich war sie einfach meine geliebte baka. Wenn ich jetzt ihre Hand berühre − diese Hand, die so viel harte physische Arbeit gewöhnt war und die mir in meiner Kindheit so oft Trost gespendet hat − oder in ihre Augen schaue, bin ich mir dieser Verbindung mit einer Welt und einer Zeit, lange bevor es mich gab, sehr bewusst.

Sie und ich haben Schwierigkeiten, die Realitäten der jeweils anderen zu begreifen, aber wir versuchen es. Für sie ist es schwer zu verstehen, dass ich in meinem Alltag

5 TRAVEL WRITING

Mit dem Stift

Ein Schreibcafé im Gefängnis

Im Gefängnis geht es darum, vorherrschende Grenzen nicht unerlaubt zu übertreten. Mauern, Stacheldraht, ein einengendes Regel- und Kontrollsystem bestimmen den gesamten Alltag an einem von der Außenwelt abgegrenzten Ort. Jegliches Überschreiten von Grenzen wird sanktioniert. Der individuelle Mensch mit seinen Fähigkeiten rückt in den Hintergrund. Relevant ist die Straftat. Kann Schreiben im Gefängnis Grenzen überwinden?

12 GRENZEN ÜBERWINDEN
über Mauern f l i e g e n
ANGELIKA KNAAK-SAREYKO

Komponieren auf der Grenze

Freitag, 14 Uhr. Die teilnehmenden Männer, die sich von mir zum Schreibcafé haben einladen lassen, kommen zielstrebig aus dem Hafthaus in den Gruppenraum der Seelsorge. Kaffee, Kekse und Tee stehen als Gaumenfreuden auf dem Tisch. Eine lockere Atmosphäre. Freitagmittag beginnt hier das Wochenende. Die Arbeitszeit für die Gefangenen ist zu Ende. Wir begrüßen uns, füllen unsere Tassen, nehmen Platz, holen unsere DIN-A4-Schreibhefte hervor, schreiben das Datum und los geht’s. Zehn Minuten Freewriting mit dem Impuls „Ich um zwei Uhr mittags …“. Stille atmet sich durch den Raum. Nur die Stifte machen Laute. Alles darf auf das Papier, alles darf frei und unzensiert komponiert werden. Freude, Frust und Ärger aus der Woche finden ebenso Eingang in die Worte wie das körperliche Befinden, das Essen oder die Vögel draußen. Herr N. sieht ganz versonnen aus dem Fenster in den Himmel. Ich weiß, am Ende wird er ein Haiku komponiert haben. Für das Schreibcafé hat er extra seine Psychologengespräche verlegt.

Auch ich schreibe in mein Heft, sehe fasziniert, wie alle in ihr Tun vertieft sind, betrachte die Gitter an den Fenstern und finde Lücken zwischen den Stäben. Unsere Sinne entpuppen sich derweil aus ihrer starren Begrenztheit. Die Innengeräusche, Schlüssel, Durchsagen, Kommandos weichen und geben den Außentönen der Vögel, Flugzeuge und Regentropfen Raum. Nach zehn Minuten lasse ich alle wartenden Gedanken in drei Pünktchen wandern. Ich spreche diese Worte, wie ich sie bei Brigitte Leeser in meiner Poesietherapie-Ausbildung gehört habe: „Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen.“ Tiefe Atemzüge richten die Körper an den Tischen auf. Ich fange freu-

dig strahlende Blicke ein und beende das Freewriting für alle damit, eine Verdichtung zu schreiben. Die Fülle in ein knappes Hier und Jetzt zu bringen. Wir überraschen uns beim Vorlesen mit Elfchen, Haikus oder Vierzeilern, nicken Beifall und üben uns im wertfreien Resonanzgeben. Ein unverhohlenes Glücksgefühl findet Ausdruck: „Ich wusste gar nicht, dass ich das kann!“

Individuell sein dürfen

Das Gefängnis versammelt ein weites Spektrum an Straftätern und Haftzeiten. Manche leben im Schutz von Therapiegruppen. Das Bedürfnis ist groß, sich voneinander abzugrenzen. Beim Schreiben hebt sich diese Grenze plötzlich auf. Es spielt keine Rolle mehr, wer was getan hat. Zugegeben, anfangs war ich mir nicht sicher, ob sich die Gruppe aushält. Nun umfasst der drohende Zeigefinger den Stift, der damit beschäftigt ist, über das Papier zu fliegen. Später teilen alle miteinander ihre Gedankenausflüge und die Tränen ihrer Seelenlandschaften. In diesem Moment zählt nur die Poesie, die entstanden ist, die Würdigung dieser und das Erkennen ihres je eigenen Wertes.

Das Vorlesen ist freiwillig. Ich bin beeindruckt und gerührt, mit welcher tiefen Ernsthaftigkeit die Männer ihre Geschichten teilen und einander zuhören. Endlich mal ohne Therapie-Ohr. Sonst wird alles, was sie sagen, in ihrer Akte dokumentiert. Unauslöschbar. Das Schreibcafé ist ein Ort jenseits therapeutischer Reglementierung und Festschreibung. Es wird zum geistigen und kreativen Freiraum, in dem sich die Gefangenen im Schreiben ausprobieren können.

Schreiben als Raumerweiterung

Sie denken sich in die Zukunft, ins Universum, in Listen, zwischen die Zeilen eines

13 MIT DEM STIFT ÜBER MAUERN FLIEGEN
34 GRENZEN KREATIV BETRACHTET

Aufstellungsphänomene

Eine von uns wurde kurzfristig gefragt, ob sie einen Artikel zu diesem Heft beisteuern könne. „Ja, klar!“, dachte sie sich und hatte keine Ahnung, wie sie innerhalb weniger Wochen einen Artikel aus dem Boden stampfen sollte. „Hast du Lust, gemeinsam einen Artikel zu schreiben?“

Ein Griff zum Telefon, ein leiser Hilferuf und die Antwort „Ja, sehr gerne, ich schreibe am liebsten zu zweit!“, waren der Ausgangspunkt für einen ko-kreativen Prozess, der überraschende und überwältigende Erkenntnisse brachte.

Wir vereinbaren einen gemeinsamen Schreibtag, mit dem Ziel, an einem Tag diesen vorliegenden Artikel zu produzieren. Wir haben zu diesem Zeitpunkt noch keine Ahnung, was wir schreiben werden, bestenfalls ein paar lose Ideen. Unser vorhandenes Material: Der Titel Über Grenzen hinweg schreiben und der Auftrag, dass es „irgendwas zum Thema Komfortzone“ werden soll. Im Telefonat war ein erstes Brainstorming entstanden. Aber eigentlich hatten wir nur besprochen, dass wir uns auf einen gemeinsamen Schreibprozess einlassen wollen, etwas ausprobieren werden und uns dabei zusehen, wie es uns damit geht. Wir kannten einander zumindest in dem Ausmaß gut, dass wir davon überzeugt waren, dass bei zwei so genialen Frauen wie uns nur was Gutes

herauskommen kann, wenn sie gemeinsam kreativ werden.

Als gebürtige Wienerin nur für einen Workshop nach Kärnten zu fahren, ist per se bereits eine Grenzüberschreitung. Ute ist Klagenfurterin und reist selbstverständlich und regelmäßig für Tagesworkshops nach Wien. Sie ist verwundert, dass Susanne bereit ist, für einen gemeinsamen Schreibtag extra nach Klagenfurt zu fahren. Das kommt nicht oft vor.

Nach einem gemeinsamen Frühstück richten wir unsere Schreibutensilien in Utes neuem Coaching-Raum her und kochen eine Kanne Tee. Bis hierher war uns das Vorhaben klar gewesen, ab jetzt gibt es nur mehr ein großes weißes Blatt vor uns. Was sind unsere besten Hoffnungen für diesen Schreibtag?

35 AM PLATZ DER ANDEREN SCHREIBEN
Am Platz der anderen schreiben für den Schreibprozess nutzen
42 GRENZEN KREATIV BETRACHTET

Biografien für alle

Biografien wurden schon immer geschrieben, aber nur von Herrscher:innen,

Künstler:innen, Monarch:innen und anderen Prominenten. Man ließ sich porträtieren, auf der Leinwand und in Büchern. Heute existiert diese Grenze

nicht mehr – jeder und jede kann die eigene Lebensgeschichte zu Papier bringen, sie als Buch drucken lassen und ins Regal stellen.

„Ich möchte mit diesem Buch das Leben meiner Ahnen würdigen und es gleichzeitig mir selbst ins Gedächtnis rufen. Ich erinnere mich an alles, was ich erlebt habe, um noch einmal zu spüren, wie schön, lustig und aufregend es war.“ Das schreibt eine, die es schon getan hat. Anneliese ist in ihre Erinnerungen eingetaucht, hat sie der Biografin erzählt, um schließlich die Geschichten garniert mit vielen Fotos als Buch herauszubringen. An ihrem 70. Geburtstag schenkte sie die Bücher an ihre Familie und enge Freund:innen weiter. Als Vermächtnis.

Wer

schreibt, der bleibt!

Die eigenen Erfahrungen und Erinnerungen an die Familie weiterzugeben, ist eine wichtige Motivation für eine Biografie. Der

Psychoanalytiker Erik Erikson beschreibt das als Phase der „Generativität“, in der man Sinn daraus zieht, etwas für die Nachkommen zu hinterlassen und seine Erfahrungen zu übertragen. Umgekehrt hängen die Enkelkinder an den Lippen der Großeltern, wenn diese Geschichten von früher erzählen. Wie habt ihr Weihnachten gefeiert? Musstet ihr wirklich zehn Kilometer in die Schule gehen? Was gab es zu essen? − Es sind die ganz alltäglichen Ereignisse, die eine Biografie besonders lebendig machen. „Mein Leben ist doch gar nicht so interessant“, sagen manche zu Beginn des Schreibprozesses. Das sind Grenzen in den Köpfen der Menschen aus der Kriegs- und Nachkriegsgeneration, die manchmal noch überwunden werden müssen. „Eigenlob stinkt!“ und ähnliche Glaubenssätze haben sich fest

43 BIOGRAFIEN FÜR ALLE

Let’s adore Jelinek!

praise Ernaux!

Ein Plädoyer für selbstgewählte Ahninnen Let’s

Frau hat Frauen in ihrem Leben als Stärkung, Inspiration, Spiegel und auch als Schutz. Das sind nicht nur Verwandte und Freundinnen. Das sind ganz besonders Große Frauen. Es sind die erfundenen, virtuellen, imaginierten Figuren aus Märchen, Mythen, der Literatur oder dem Film. Das sind die reellen Frauen aus der Vergangenheit bis ganz gegenwärtig. Sie kreuzen unseren Lebensweg, beein-drucken, inspirieren, bestärken und fordern uns heraus. Mein Vorschlag: Geben wir ihnen, die Vorbilder und Idole sind, den Titel AHNINNEN und nehmen sie in eine Ahninnen-Galerie auf!

48 GRENZEN KREATIV BETRACHTET

Der Frauen Mangel

Wir haben ein Defizit in unserem Bezug auf Frauen, wenngleich unser privates Leben voll mit ihnen ist. Aber Frauen als Idole, Vorbilder oder eben Ahninnen wahrzunehmen, sie so zu titulieren, daran sind wir nicht gewöhnt. Nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich und historisch.

Frauen mit ihren vielfältigen Leben und Abenteuern, ihrem Tun und Wissen werden schneller vergessen, weniger zitiert und dienen selten der Legendenbildung.

Wir kommen aus den „Großen Erzählungen“ mit ihren Helden und Experten, den Großen Männern als Repräsentanten der Öffentlichkeit und wachsen mit ihnen auf. So habe ich ein Übermaß an Männerliteratur in meinem kulturellen Gedächtnis, angefüttert in der Schulzeit und weiter ge-

füttert mit Buchbesprechungen im Feuilleton und immer ein Ungleichgewicht von Autorinnen und Autoren. Selbstverständlich kann ich das jetzt wettmachen mit meiner Auswahl dessen, was ich lese.

Schwieriger wird es im öffentlichen Raum. Wann begegne ich Statuen von Frauen, die weder eine Allegorie (für Schönheit, Jugend oder Tod) noch Heilige (Muttergottes) oder eine historische Ausnahme (Kaiserin Maria Theresia) sind?

Auch Museen oder Medien halten das Ungleichgewicht lebendig mit der x-ten Präsentation von Bildern, Reden, Besprechungen von/zu Männern in allen wichtigen Positionen der Gesellschaft.

So verwundert es nicht, worauf das Konzept des Stammbaumes aufbaut: Es ist erzählt über die Blutlinie der ältesten Söhne, ursprünglich nur über die erstgeborenen

49 LET’S ADORE JELINEK! LET’S PRAISE ERNAUX!
64 GRENZEN ERKENNEN

Es ist passiert

Arthrose. Multiple Sklerose. Krebs. Ein Unfall. Einschränkung. Schmerzen. Körperliche Veränderung. Konfrontation mit dem Sterben. Zu Ende ist das Leben, wie wir es kannten. Solch ein Schlag fürs Schicksal zwingt uns, Halt zu machen, uns auf uns selbst zu besinnen, vielleicht einen anderen Weg einzuschlagen. Was wäre, wenn wir den Einschnitt nutzten? Wenn wir versuchen würden, die neuen Grenzen zu überwinden?

Ich will die Scheidung. Du nervst, seit wir uns kennen. Wäre es möglich gewesen, gegen dich Einspruch zu erheben, irgendwie, ich hätte es noch im Zimmer der Ärztin getan. Schneller hättest du nicht schauen können. Kaum verheiratet, schon getrennt. Ich hör die Glocken nur noch verhallen. Du gehst deinen Weg, ich meinen. Ohne zurückzuschauen. Mir egal, wo du hergekommen bist. Bleib, wo du willst. Nur nicht bei mir. Ich brauche dich nicht. Hab ich um dich gebeten? Hab ich um deine Hand angehalten? Sicher nicht. Ja, ich will mich scheiden lassen. Das wär’s. Wenn es ginge. Das mit uns ist eine Zwangsehe. Ich kann nicht anders, als das Auslangen mit dir zu finden. Kann mich noch so weigern, dich verfluchen, zu ignorieren versuchen. Du wirst da sein. Nicht von meiner Seite weichen. Nicht

aus mir verschwinden. Mir Schmerzen zufügen. Mich erinnern. Mich mahnen. Mir die Zähne in die Eingeweide schlagen. Nichts anderes bleibt mir. Nichts bleibt, als zu akzeptieren. Es ist so, wie es ist.

Die Diagnose

Wie ist es denn? Frage das eine:n Betroffene:n und du wirst jeden Tag eine andere Antwort bekommen. Manchmal sogar jede Stunde. Bei mir war es damals ganz klassisch. Wie es die Redewendungen überliefern. Boden unter den Füßen weggezogen. Nicht mehr vor und zurück gewusst. Wie im falschen Film gefühlt. In ein tiefes Loch gefallen. Welche anderen Worte gibt es noch dafür? Eine Diagnose reißt aus dem Leben, wie es zuvor war. Egal ob aufregend

65 ES IST PASSIERT
ALEXANDER GREINER
70 GRENZEN ERKENNEN

Ja zu mir selbst

Vieles am guten Leben scheint ja eigentlich nicht so schwer: ein bisschen Zeit für sich selbst nehmen, häufiger gesunde Grenzen setzen, das Gute sehen. Und doch fällt es uns unendlich schwer, unseren Lebenskompass auf dieses Leben auszurichten. Das ging mir nicht anders als vielen. So entstand die Idee, das gute Leben in so kleinen Schritten in den Alltag zu holen, dass wir gar nicht merken, wie wir den Kurs verändern. Am Beispiel des Themas „Nein sagen“ zeige ich, wie das funktioniert.

Die Sache fängt mit einem Denkfehler an. Wenn wir an das gute Leben denken, fällt uns häufig ein, dass wir dafür mehr Platz in unserem Tag bräuchten. Mehr unverplante Zeit, mehr Raum für Muße, weniger Verpflichtungen. Und sofort spult unser Gehirn die immergleichen Gedanken ab, gerne mit einem „Du musst“ davor: Du musst dich mehr abgrenzen. Du musst häufiger Nein sagen. Du musst auch mal an dich denken.

Doch schon während unsere Gedanken rattern, sind wir in der Regel dabei, weitere Pflichten zu erfüllen. Wir erledigen eine Aufgabe im Job, kümmern uns um jemand anderen, meistern unseren Alltag. Und am Ende stellen wir erschöpft fest: Ich kann eben nicht Nein sagen.

Genau hier liegt der Denkfehler. Denn

wir sagen den ganzen Tag Nein. An erster Stelle zu uns selbst: Wenn wir uns um andere kümmern, obwohl wir gerade selbst so nötig eine Pause bräuchten, sagen wir Nein zu uns selbst und unserem Bedürfnis nach Ruhe. Wenn wir noch eine Aufgabe im Job übernehmen, obwohl wir bis zum Hals in Arbeit stecken, sagen wir Nein zu unserer Belastungsgrenze.

Aber wir sagen auch häufig zu anderen mit leichtem Herzen Nein. Oftmals ganz ohne zu merken, dass wir klare Grenzen setzen und gut Nein sagen können: wenn wir dem bettelnden Menschen an der Straßenecke kein Geld geben, wenn wir dem Kind verbieten noch länger auf dem Handy zu daddeln oder wenn wir das Sonderangebot im Supermarkt nicht mitnehmen. Alles klare Neins!

71 JA ZU MIR SELBST
78 GRENZEN NUTZEN

Pen and Page:

Our Passport

Inspiration

On December 24, 1968, the astronauts aboard the Apollo 8 spacecraft became the first to see that awe inspiring sight that has come to be known as Earthrise. Deep black space with the drab moonscape in the foreground framed the blues of the rising earth, a living, fragile oasis in the vastness of space. From this perspective our political, economic and social borders had vanished. And space, often referred to as the final frontier by science fiction writers, was offering an inspirational invitation. Deeply reflect and use those reflections in service of keeping our house, our only home, in order. So how are we doing with that invitation?

Not so well it would seem. Initially this change in perspective ushered in a deep stirring of humanitarian and environmental concerns. Around the world, programs that sought to protect and honor a covenant that acknowledged a common humanity sharing finite resources began to emerge. Indeed, a new magazine called, “World,” was creat-

ed by renowned editor Norman Cousins. Global peacemaker and winner of the UN Peace Medal sought to create a publication that was the first of its kind. In the inaugural issue he stated that our mind’s ability to convert marks on paper into meaning is a basic source of energy for civilization. And this energy would serve as a platform for world thought and creativity.

Marks on the Paper

The question/challenge that he was putting before us was whether we would become a global community or wasteland, a single habitat or battlefield? Calling for a new kind of wisdom, one that would champion cooperative stewardship of our home planet, Cousins also called for a wisdom that would restore essential trust in one another through a cultivation of sensitivity to one another. A dazzling vision to be sure and one that inspired hope and created a forum for written engagement.

79 PEN AND PAGE: OUR PASSPORT
86 GRENZEN NUTZEN

Musik verbindet?

„Ihr singt wirklich NIE in eurer Familie?“

„Nein“, sagt Shejma.

„Auch nicht Happy Birthday? In einer anderen Sprache vielleicht?“

„Nein, auch das nicht.“

„Gibt es religiöse Feiertage, an denen gesungen wird?“

„Nein.“

„Gibt es in der Moschee Gesänge?“

„Nein.“

Shejma schaut mich an. Ich schaue sie an.

Wir können den Blick nicht voneinander abwenden, so erstaunt sind wir über das, was die andere gerade gesagt hat.

In der Klasse wird es ganz still. Shejmas

Mitschüler:innen beobachten neugierig, was da vor sich geht. Wir schauen noch immer,

Shejma und ich, in der Musikstunde, und plötzlich müssen wir lachen. Beide. Gleichzeitig. Wir werden dieses Gespräch fortführen. Da sind wir uns ganz sicher.

Shejma und die anderen 24 Schüler:innen der 3b gehen die Fragen auf dem Arbeitsblatt durch, kreuzen an, schreiben dazu. Den Fragebogen Meine musikalische Biografie habe ich erstellt, als ich von der Musikmittelschule in eine Mittelschule ohne musikalischen Schwerpunkt gewechselt bin und nicht gewusst habe, wo mir der Kopf steht, weil alles für mich neu war. Jahre später wundere ich mich noch immer über ihre Antworten, aber inzwischen reden wir einfach über die Unterschiede unseres Aufwachsens.

Bei uns im Haus war es so: Dort lebten zwei Familien – acht Kinder und vier

87 ÜBER GRENZEN HINWEG SCHREIBEN, REDEN, HÖREN, ERKENNEN
Über Grenzen hinweg
GUNDI HAIGNER
schreiben, reden, hören, erkennen
92 GRENZEN NUTZEN

Mit oder ohne Ziel

Schreibwandern als Kreativtechnik

Denk- und Schreibgrenzen überwinden –oder einfach nur die frische Luft genießen

ILONA MATUSCH

Wandern und Bewegung in der Natur sind derzeit die absolute Mode. Die Rax, eineinhalb Zugstunden von Wien entfernt, hat sich in den vergangenen fünf Jahren bestimmt um ein paar Zentimeter gesenkt. Niedergetrampelt, festgetreten, abmarschiert. Ich rufe: Kein Wunder! Dieser Berg besitzt magische Anziehungskraft, die er seit der Pandemie verstärkt freisetzt, und damit lockt er Menschen an. Schon vor Jahren überraschten mich bei Klettertouren oder gemütlichen Wanderungen über das Raxplateau Ideen und Geistesblitze, ich führte innere Monologe, entwarf Kommunikationskonzepte, ersann Kochrezepte. Und ich sponn so manchen roten Faden für ein schwieriges Gespräch. Angenehmer Nebeneffekt: Dies ließ mich die körperliche Anstrengung von

steilen, langen Touren vergessen. Doch zu Hause hatte ich alles wieder vergessen. Ich schrieb nur ab und an eine Notiz auf einen Bierdeckel auf der Hütte oder ins Gipfelbuch (wobei das nur zu empfehlen ist, wenn man diese Gipfelbuchnotizen fotografiert, sonst muss man wieder rauf, um nachzusehen).

Heute setze ich Wanderungen auf der Rax gezielt ein, um meine Kreativität zu locken und um überhaupt ins Schreiben zu kommen. Als Methode nenne ich das „Schreibwandern“ oder „Freiwandern“.

Mein Ziel: Denk- und Schreibgrenzen erkennen und überwinden. Schreibwanderungen wirken mit viel Übung immer besser. Je öfter wir gehen, desto eher kann sich ein Geh- und anschließender Schreibflow einstellen. Schreibende kennen diese Wirkung:

93 SCHREIBWANDERN ALS KREATIVTECHNIK
98 GRENZEN NUTZEN

My Favourite F-Words

Viele Wörter, die mir Wichtiges bezeichnen, beginnen mit dem Buchstaben F:

Finnland, Feminismus, Frauengruppen, Freiraum, Freewriting, Freund:innen, Familie.

Wie es dazu kam, und was das Ganze mit Selbstfürsorge und Wut zu tun hat.

First Words

Ich habe mir heuer ein Kinderbuch in der Akademischen Buchhandlung in Helsinki gekauft, diesem lichtdurchfluteten Tempel für das geschriebene Wort, der von Finnlands Lieblingssohn Alvar Aalto, dem Universalkünstler, geplant worden war. Das deutsche Exemplar dieses Buchs haben wir schon aus meiner Kindheit zu Hause. Es ist eines dieser Bücher, die jedem Buchstaben des Alphabets eine Doppelseite widmen, mit launigen Texten, die den jeweiligen Buchstaben möglichst oft verwenden, dazu passend lustige Illustrationen. In diesem Text hier würden nun alle F und f fett gedruckt sein, vielleicht in einer anderen Farbe. Dieses Buch haben wir jetzt auch auf Finnisch. Vielleicht habe ich mit der deut-

schen Ausgabe lesen gelernt, daran kann ich mich nicht mehr erinnern, nur daran, dass ich es schon vor Eintritt in die Volksschule konnte, das Lesen. Und dann musste ich es 20 Jahre später noch einmal lernen.

Wie beim ersten Mal − Buchstabe für Buchstabe −, bevor mehr Übung diese Buchstaben zu Wörtern verschmelzen ließ und das Lesen flüssiger wurde. Beim Lesenlernen mit fünf Jahren war es N-E-U, das mich auf vielen Werbeplakaten herausforderte. Beim zweiten Mal Lesenlernen war es R-A-U-TA-T-I-E-A-S-E-M-A. Das ist das finnische Wort für „Bahnhof“ (oder eigentlich wörtlich „Eisenwegstation“); es steht in Helsinki auf ebe ndiesem. Und dieses Erfolgserlebnis, äh, -erlesnis hatte ich mit 24 Jahren –im ersten Monat meines Auslandsjahres in Helsinki.

99 MY FAVORITE F-WORDS
DANIELA REITER
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