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Interview Friedemann Haag zu Liebe und Erotik im Alter
Liebe und Erotik im Alter
Interview mit Friedemann Haag, Paar- und Sexualtherapeut
Liebe und Erotik sind im Alter genauso aktuell wie in jungen Jahren. Friedemann Haag gibt Antworten, wie die Liebe und Erotik im Alter aufrechterhalten werden kann.
Herr Haag, Sie sind Paar- und Sexualtherapeut. Der Renteneintritt ist auch für Paare oft eine Herausforderung. Wie gross ist die Gefahr, dass man sich, wenn man im Ruhestand plötzlich immer zusammen ist, auf die Nerven geht?
Es kommt darauf an, wie man die gemeinsame Zeit gestaltet. Zufriedenheit in einer Beziehung basiert auf Vertrautheit, und das schafft Nähe
Friedemann Haag, zVg und Verbundenheit. Manche Paare mögen es, Zeit in der gemeinsamen Wohnung oder im gemeinsamen Haus zu verbringen, die gleiche Luft zu atmen und sich ohne reden miteinander verbunden zu fühlen. Gleichzeitig braucht Beziehung auch Distanz und Autonomie, wo beide sagen: «Jetzt macht jeder sein eigenes Ding und dann treffen wir uns zu Zeiten, in denen wir etwas Gemeinsames miteinander tun – weil wir beide es so wollen.» Dies kann dann ein Konzert, Kinobesuch oder Sex sein. Dann ist es wichtig, sich weiterzuentwickeln und neue Wege zu gehen. Frauen im mittleren Alter werden qualitätsbewusster und können klarer formulieren, was ihre Bedürfnisse und Wünsche sind, auch auf sexueller Ebene. Der Austausch über Wünsche ist enorm wichtig. Die grösste Schwierigkeit vieler Paare ist, zu sagen, was man wirklich will, und dafür einzustehen. Dabei braucht es Mut, Farbe zu bekennen, ohne zu wissen, wie der andere darauf reagiert.
Was gibt es für Möglichkeiten, dem plötzlichen Aufeinandersitzen entgegenzuwirken?
Es ist eine grosse Herausforderung, wenn Paare nach der Pensionierung feststellen, dass sie plötzlich ganz viel gemeinsame Zeit haben, nicht voneinander loskommen und in Langeweile verharren. Jetzt ist es wichtig, dass sich beide Partner Dinge raussuchen, die ihnen guttun und persönlichen Freiraum schaffen. Jeder der beiden Partner sollte eigene Welten (Freundeskreis, Freizeitaktivitäten) pflegen. Somit hat man wieder etwas zu erzählen und kann Neues einbringen. Es ist schwer, auf Dauer jemanden interessant zu finden, der immer da ist.
Wie läuft eine Paarberatung ab?
Es gilt die Frage zu klären, wofür jeder in der Praxis da ist und weshalb. So kann jeder seine Sichtweise über die Problemlage schildern und Veränderungswünsche aussprechen, während der andere zuhört. Erstmals vom anderen gehört zu werden, ohne sich verteidigen zu müssen, schafft oft ein freundliches Klima zwischen Paaren, die sonst in destruktiven Streitmustern verharren.
Friedemann Haag
Welchen Stellenwert hat die Erotik im Alter?
Im Alter verändert sich viel – beruflich, privat, körperlich. So verändert sich auch die Erotik und Sexualität. Ältere Paare werden oft qualitätsbewusster. Es muss nicht mehr alles so schnell und impulsiv sein. Werte wie Verbundenheit und Vertrauen gewinnen an Bedeutung – Lust und Hingabe lassen Tiefe entstehen. Primär geht es nicht um Orgasmen; diese sind aber nicht ausgeschlossen. Zufriedene Paare sagen: «Wir haben seltener und unspektakuläreren, dafür aber freund-
licheren Sex miteinander.» Erotik ist nicht wie früher, sondern besteht auch aus Wertschätzung, Nähe und Vertrautheit. Manchmal reicht schon eine innige Umarmung.
Was können Paare tun, wenn im Alter die Erotik eingeschlafen ist?
Paare mit einer gut funktionierenden Beziehung haben über die Jahre eine erotische «Speisekarte» entwickelt und wissen, was das Gegenüber mag. Sie können ihre Bedürfnisse kommunizieren und sind offen für Neues. Dies setzt voraus, dass jeder weiss, was er will, und das auch formulieren kann. Für ein erfülltes Miteinander gilt es, Verantwortung für eigene Wünsche und Bedürfnisse zu übernehmen. Wenn solche Bedürfnisse nicht geäussert werden, geht man Kompromisse ein und ist nicht mit dem Herzen dabei. Diese Vermeidungsstrategie ist auf Dauer nicht zielführend. Keinen gemeinsamen Sex zu haben, kann jedoch auch eine Variante sein.
Was empfehlen Sie einer Partnerin oder einem Partner, der mehr Lust auf Erotik verspürt als der andere?
Ratschläge sind hier nicht zielführend. Vielmehr sollte herausgefunden werden, ob ein Paar in der «verkehrsberuhigten Zone» oder bereits in der «verkehrsfreien Zone» steht. Wenn sich das Paar in der «verkehrsfreien Zone», also ohne sexuelle Aktivität, befindet und es für beide stimmt, dann ist das kein Problem. Sobald einer der beiden Partner darunter leidet, dann stellt sich die Frage, ob die Sexualität lediglich eingeschlafen oder bereits «tot» ist. Wenn sie eingeschlafen ist, kann sie wieder belebt werden. Erotik kann man nicht erzwingen; man kann sie jedoch einladen, wieder zu kommen. Bestimmte Wünsche äussert man vor allem deshalb nicht, weil man fürchtet, den anderen zu verletzen oder zu ängstigen. Es gilt, diese innere Schwelle zu überwinden. Nicht jeder Wunsch geht in Erfüllung. Kommt von einer Seite ein klares Nein, dann ist die Sache vom Tisch. Ist einer aber unsicher, kann man darüber reden und sich vielleicht mal auf eine andere Sichtweise einlassen und etwas anderes ausprobieren. Manchmal ist es nur schon wichtig, dem Partner zuzuhören und seine Wünsche nicht abzuwerten. Die Freiheit in der heutigen aufgeklärten Sexualität besteht darin, dass man nicht alles tun muss, was man tun kann.
Friedemann Haag
Welche persönlichen Hemmschwellen verhindern, dass man sich aktiv damit auseinandersetzt?
Gesellschaftliche Einstellungen und Klischees wie die Ansicht, dass ab einem Alter von 50 Jahren Sexualität nicht mehr existiert. Das hat auch mit dem alten Frauenbild zu tun, dass sich ein aktives Sexualleben nicht mehr gehört. Bei den Männern kommt hinzu, dass die Erektion des Penis nicht mehr so sicher ist und diese beginnen, an sich zu zweifeln. Wichtig ist hier, ein «Nichtklappen» als normal zu sehen und keinesfalls persönlich zu nehmen.
Welche Strategien empfehlen Sie Menschen, die den Wunsch nach körperlicher Nähe verspüren, aber unter Blockaden leiden?
Das ist abhängig davon, ob es mit einem selbst zu tun hat oder auf Grund vergangener Einflüsse entstanden ist. Innere Blockaden sollten erforscht und angenommen werden. Wichtig ist es, sich als eigenständiges, sexuelles Wesen zu positionieren. Das gibt Selbstvertrauen, und dieses wird vom Gegenüber wahrgenommen.
Welche Arten von gesellschaftlichen Hemmschwellen existieren?
Die Sexualität älterer Menschen wird noch zu wenig thematisiert und als negativ gewertet. Älteren Paaren wird sexuelle Aktivität nicht mehr zugetraut. Viele Studien beweisen aber, dass Sexualität im Alter gar an Qualität gewinnen kann.
Wird das Thema Erotik in der älteren Generation offen angesprochen?
Sexualität im Alter ist ein Thema, das erst seit kurzem angesprochen wird.
Friedemann Haag
Friedemann Haag hat vor mehr als 30 Jahren mit seiner Tätigkeit als Paar- und Sexualtherapeut begonnen. Damals hat er als einer der Ersten in seiner Branche das Thema Sexualität mit seinen Klienten thematisiert. Dies stiess anfänglich auf Konsternation/Erstaunen. Schnell hat sich aber gezeigt, dass seine Klienten dieses Nachfragen und Thematisieren sehr begrüssten. Friedemann Haag berät heute Menschen aus allen Altersgruppen. Seine ältesten Klienten waren ein Paar, 85 und 87 Jahre, die jüngsten 17 und 19 Jahre alt.
Paar- und Sexualtherapeut, SYSTEMIS.CH Poststrasse 9 6300 Zug
www.paartherapie-zug.ch haag@paartherapie-zug.ch Früher wurde das oft tabuisiert. Sexualität ist aber ein vitales Bedürfnis, das bestehen bleibt bis zum Tod.
Aus welchem Grund suchen Menschen im Alter nochmals einen Partner?
Klischeehaft gesagt; Männer sind schnell entschlossen und eher interessiert an Bindung. Frauen können besser alleine leben und finden Erfüllung in Familie und Freundeskreis. Frauen sind qualitätsbewusster und stellen eine Beziehung auf den Prüfstand. Männer hingegen sind weniger anspruchsvoll und eher bereit, Kompromisse mit einer neuen Partnerin einzugehen.
Gilt für Menschen der älteren Generation immer noch, dass sie sich in Vereinen, beim Sport oder über Bekannte kennenlernen oder sehen Sie auch eine verstärkte Nutzung von OnlinePlattformen?
Die Portale sind altersmässig komplett offen und werden auch von älteren Generationen aktiv genutzt, manchmal mehr und manchmal weniger erfolgreich.
Was empfehlen Sie Seniorinnen und Senioren, die auf diese Art eine neue Partnerin oder einen neuen Partner kennenlernen wollen?
Allgemein gilt: Wenn jemand auf einer Plattform registriert ist und jemand ansprechendes findet, sollte er so schnell wie möglich in die reale Welt kommen und sich mit der Person treffen.
Für alleinstehende Menschen im Alter oder Behinderte wächst seit einigen Jahren ein Angebot an Körpertherapeutinnen und Berührerinnen.
Körpertherapie ist ein sehr wichtiges Thema und gleichzeitig ein interessantes Konzept. Es besteht lebenslang das starke Bedürfnisse nach Berührung und Angenommensein. Berührungen stärken alle Sinne und bewirken Hormonausschüttungen, welche im Hirn für gute Erlebnisse sorgen. Gerade auch in Zeiten wie aktuell mit COVID-19 leiden viele Menschen unter der Isolation.
Konnten Sie in Ihrer Tätigkeit eine Nachfrage nach Sexualbegleiterinnen feststellen?
Konkret hatte ich noch keine Anfrage. Es scheint mehr ein Bedürfnis in stationären Einrichtungen zu sein. Sexualität ist vorhanden und kann nicht unter den Teppich gewischt werden.
Kennen Sie Anlaufstellen zu Sexualbegleiterinnen?
Ich kenne Einzelpersonen beziehungsweise Frauen, welche ausgebildet sind als Körpertherapeutin und Berührerin. Diese Kontakte können auch helfen, das eigene sexuelle Profil zu entwickeln und sich selber zu erforschen.
Zu guter Letzt: Haben Sie einen einfachen Tipp, den unsere Leserschaft beherzigen kann, wenn ihr oder ihm jemand gefällt?
Mutig sein! Seien Sie risikobereit und zeigen Sie sich. Ich empfinde es als erfrischend, wenn Menschen, gleich welchen Alters, spielerisch und verführerisch unterwegs sind und zeigen, dass Sie sich interessieren, wenn ihnen jemand gefällt. Der Wunsch, sich anderen Menschen anzunähern, ist altersunabhängig. Vieles hängt vom Selbstbild und dem, was man sich traut, ab. •