PONY # 69 12/11

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Die Studentin stört sich nicht daran, dass Leonard in einer muffigen Einzimmerwohnung haust und über seine Familie aus Portland nur wenig Erbauliches zu berichten weiß: „Mein Vater ist ein Depressiver, der sich mit Alkohol selbst medikamentiert. Meine Mutter ist ungefähr ebenso drauf.“ Der schillernde Charakter Leonards erinnert Madeleine an die unwiderstehlichen, düsteren Männer in den Romanen von Wharton und Austen. Doch dann wird ihr Freund eines Tages mit einer schweren bipolaren Störung ins Krankenhaus eingeliefert – mit einer Krankheit, auf deren Schrecken sie der viktorianische Roman mit seinen gepflegten Verwicklungen nicht im Mindesten vorbereitet hat. Stück für Stück wird nun eine grausige Anatomie der Melancholie entfaltet. In beklemmenden Rückblicken erinnert sich Leonard an seine Jugend – an eine Zeit, in der eine noch namenlose Krankheit vorerst nur zaghaft an seine Tür klopfte. Anfangs hört er mit seinem Freund Godfrey Bands wie Pentagram und entwickelt einen glühenden Hass auf Politiker, Hippies, die Sportskanonen an der Schule und einen Angestellten im 7-Eleven. Doch dann nehmen die Wolken eines Tages die Farbe von Blutergüssen an und Leonard schafft es nicht mehr, auch nur einen Fuß vor die Tür zu setzen: „Ihm war, als würde er gewaltsam ausgeleert, als zöge ein großer Magnet sein Blut und seine Flüssigkeiten hinunter in die Erde. Er weinte wieder, unaufhaltsam, und sein Kopf glich dem Kronleuchter im Haus seiner Großeltern, der zu hoch hing, als dass sie drangekommen wären (…). Sein Kopf war ein alter Kronleuchter, der allmählich erlosch.“

Das Bandana des Axl Rose Immer wieder ist Eugenides in Interviews mit der These konfrontiert worden, in Leonard habe er seinem depressiven Schriftstellerkollegen David Foster Wallace ein Denkmal setzen wollen. Der Autor hat intendierte Ähnlichkeiten zwischen seiner Romanfigur und dem Schriftsteller, der sich 2008 erhängt hat, zurückgewiesen. Das Bandana, das Leonard im Forschungslaboratorium von Cape Cod trägt, habe nichts mit dem postmodernen Kultautor zu tun, vielmehr gehe das Accessoire auf Axl Rose, den Sänger der Guns N’ Roses, zurück. Doch ganz gleich, bei wem Eugenides nun Anleihen für seinen Helden gemacht haben mag – sein zwischen manischer Hitze und depressiver Kälte schwankender Leonard ist glänzend getroffen. Er gehört zum Besten, was Eugenides in seinem ambitionierten Campus-Roman auf Papier gebannt hat. Für Madeleine, die zentrale Figur in dem studentischen Liebesdreieck, gilt dies nicht. Sie ist mit ihrem hemmungslosen akademischen Enthusiasmus vielversprechend konzipiert, doch in der Ausführung ist Eugenides der Charakter verrutscht. Mit penetranter Regelmäßigkeit wird die Normalität der Heldin betont; selbst der chronisch in Madeleine verliebte Mitch erkennt im Objekt seiner Begierde „die Dummheit der Reichen und Schönen, (...) die im Leben bekommen, was sie bekommen wollen“. Doch wie kann es sein, dass eine Frau, die labile Menschen von Kindheit an wie Pestkranke gemieden hat, plötzlich bereit ist, ihr Leben mit einem Mann wie Leonard zu verbringen – einem Mann, der ihre Eltern vor den Kopf stößt, seine Karriere zerstört und sein Geld in Monaco verspielt? Unmöglich ist es nicht, eine solche Geschichte zu erzählen. Jonathan Franzen etwa, der in seinem letzten Roman ebenfalls eine Menage à trois unter die Lupe genommen hat, hätte die leeren Hüllen unscheinbarer Menschen so lange zerbrochen, bis von ihrer vermeintlichen Normalität nichts mehr übrig geblieben wäre. Eugenides aber ist kein Echolot, das selbst noch in die Tiefe des Biederen hinabreichen könnte. Seine Madeleine bleibt trotz ihrer überschäumenden Leselust seltsam langweilig und musterschülerinnenhaft. Ein bedauerlicher Konstruktionsfehler: Ohne eine charismatische weibliche Hauptfigur muss diese Liebesgeschichte abstürzen wie eine defekte Rakete. 10

Jeffrey Eugenides: „Die Liebeshandlung“. Rowohlt, 2011, 621 Seiten, 24,95 Euro


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